Funktionen der Lyrik - Buch.de · Fokussierung auf moderne Kunst und moderne Lyrik geschuldeten –...

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Rüdiger Zymner Funktionen der LYRIK

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Rüdiger Zymner

„Wozu Lyrik?“ – so lautet die Leitfrage dieses Buches. Die Theorie der Lyrik öffnet sich mit ihr den kulturell-historischen und den anthropo-logischen Dimensionen des Gattungskonzeptes und überschreitet das basale Niveau der Bestimmung von Grundbegriffen. Das Buch knüpft an „Lyrik. Umriss und Begriff“ (2009) an und entwickelt ein Konzept der ‚Funktion’, das an Beispielen der Lyrik von der Präantike bis in die jüngste Gegenwart untersucht wird. Es thematisiert Shakespeares ‚So-nette’ ebenso wie Petrarcas ‚Canzoniere‘, die Lyrik Rimbauds ebenso wie diejenige Goethes, Fontanes, Brechts oder auch Thomas Klings und Durs Grünbeins; es wendet sich dem lyrischen Gebet (Dietrich Bonhoeffer) ebenso zu wie dem Chanson (Jacques Brel), der ‚alltäg-lichen’ Gelegenheitslyrik ebenso wie dem anspruchsvollen lyrischen Kunstwerk – und es schließt mit evolutionsbiologischen und kultur-wissenschaftlichen Überlegungen zur anthropologischen Funktion von Lyrik.

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ISBN 978-3-89785-820-6 Funktionen der LYRIK

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Zymner · Funktionen der Lyrik

Rüdiger Zymner

Funktionender Lyrik

mentisMÜNSTER

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaftder VG Wort

Einbandabbildung: Paul Klee, Seiltänzer, 1923, 121 (Farblithographie)

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Printed in GermanyEinbandgestaltung: Anna Braungart, TübingenDruck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, KemptenISBN 978-3-89785-820-6

Inhaltsverzeichnis

1. Wozu Lyrik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.1 Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.2 Literatur und Poetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.2.1 Sozialsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.2.2 Symbolsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221.2.3 Lyrik: Literatur und Poetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271.3 Diskursfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

2. Lauter ›Funktionen‹ der Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452.1 ›Funktion‹ und ›Funktionen‹ der Lyrik – lyrikologisch . . . 452.2 ›Funktion‹ und ›Funktionen‹ der Lyrik – philosophisch . . 542.3 ›Funktion‹ und ›Funktionen‹ der Lyrik – autorpoetisch . . . 592.4 ›Funktion‹ und ›Funktionen‹ der Lyrik – lyrisch . . . . . . . . 70

3. Zu einer literaturwissenschaftlichen Theorieder ›Funktion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

3.1 Der dynamische Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763.2 Zuschreibung und Zuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783.3 Zum Wandel der potentiellen Dienlichkeit . . . . . . . . . . . . 843.4 Typologie der Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

4. Funktionen der Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1134.1 Spezielle Funktionen der Lyrik: i love concrete . . . . . . . . . 1134.1.1 Interne Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Adam und andere: Die Traditionsbildungsfunktion . . . . . . 114Die Ahnen verfluchen: Die Innovationsfunktion . . . . . . . . 137Wo weilst du, Muse?: Die Reflexionsfunktion . . . . . . . . . . 165Singt alte, liebe Lieder: Die Überlieferungsfunktion . . . . . 183

4.1.2 Externe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211Vorwärts! und nicht vergessen: KommunikativeFunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211Endlich wird der Trost erscheinen: DispositiveFunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227Wir, alle, jeder: Soziale Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239Sinnliche Erkenntnis: Kognitive Funktionen . . . . . . . . . . . 254Geschichten und Geschichte: Mimetisch-mnestischeFunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

6 Inhaltsverzeichnis

Glück und Heil!: Dekorative Funktionen . . . . . . . . . . . . . 2844.2 Generelle Funktionen der Lyrik: Das große Lalula . . . . . . 2914.2.1 Zu Evolution und Ethologie lyrischer

Sprachverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292Geräusche, Laute, Eigenrede und Erleben . . . . . . . . . . . . . 296Von der Protolyrik zur Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

4.2.2 Zur Kulturgeschichte der Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307Sprechen, singen: hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307Schreiben: lesen, sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

1.Wozu Lyrik?

1.1 Die ProblemstellungDieses Buch befasst sich als zweiter Teil einer Untersuchung zu Lyrik undLyriktheorie1 mit Funktionen der Lyrik. Wozu Menschen so etwas wieLyrik machen und wie es sich erklären lässt, dass Menschen überhauptsolche unwahrscheinlichen Formen der Sprachverwendung hervorbringen,ist literaturwissenschaftlich ebenso relevant wie die Frage, was Lyrik über-haupt ›ist‹. Die Theorie der Lyrik öffnet sich damit den kulturell-histo-rischen und den anthropologischen Dimensionen des Gattungskonzeptes2

und überschreitet das basale Niveau der Bestimmung von Grundbegriffen,auf dem sich literaturwissenschaftliche Theorien der Lyrik bislang (wennauch vielfach nur unsicher tastend) hauptsächlich bewegen.3 Erst mit einersolchen Überschreitung aber wird man von einem ernsthafteren Versuchder lyrikologischen Theoriebildung sprechen dürfen, insofern es nicht mehrallein oder vor allem um eine Objekttheorie der Lyrik und um die Explizit-heit und Expliziertheit der jeweiligen Grundbegriffe geht, sondern überdiesum die systematische und historische Zusammenfassung und Koordination,die wissenschaftliche Erklärung und die Voraussage dieser Möglichkeit derSprachverwendung, die wir als ›Lyrik‹ bezeichnen.

Ich schlage im ersten Teil der Untersuchung vor, Lyrik als – vor allem:graphische oder phonische – Repräsentation von Sprache zu bestimmen,deren generisch distinkte Besonderheit darin zu sehen ist, ein Display sprach-licher Medialität und dabei ein Katalysator ästhetischer Evidenz zu sein4.Mit dieser Formel meine ich Folgendes: Lyrik zeigt ›einleuchtend‹ oderstellt (nichtbehauptend) vor Augen, dass Sprache ein ›schöpferisches Organdes Gedankens‹ ist, und diese Eigenschaft unterscheidet Lyrik im Kern vonanderen Gattungen, insbesondere aber von den ›Großgattungen‹ Epik undDramatik (auch wenn es ›an den Rändern‹ zu Übergängen kommen kann).

1 Der erste Teil ist: Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn 2009.2 Marion Gymnich/Birgit Neumann: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspek-

te und Dimensionen des Gattungskonzeptes: Der Kompaktbegriff Gattung. In: Marion Gym-nich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hgg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte,Trier 2007, S. 32–52, hier S. 47f.

3 Siehe hierzu Rüdiger Zymner: Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert. In: Dieter Lam-ping (Hg.): Handbuch Lyrik, Stuttgart u. Weimar 2011, S. 21–34.

4 Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff (a. a. O.), bes. S. 139ff.

8 1. Wozu Lyrik?

Im Anschluss an Northrop Frye und Jonathan Culler könnte man etwasumständlicher und dafür weniger abstrakt sagen, dass Lyrik ›Sprachzeichen-Stellung‹ oder ›Redezeichen-Stellung‹ ist und als solche zeigt, wie Bedeu-tung aus der Sprache entstehen kann bzw. dass sie aus Sprache entsteht. IhreGrundkonstituenten mag man mit Frye sogar im »Kritzeln« und »Plappern«sehen. Sie strebt jedenfalls danach, Ereignis zu sein, statt Ereignisse zu schil-dern. Ihre kontingenten und an und für sich sinnfreien Elemente affizierenund infizieren das Denken. Sie sagt nicht: »Schau mich an, ich bin Sprache!«,sondern: »Ich zeige dir, was Sprache kann!«.5

Lyriker selbst haben immer wieder lyrisch oder in poetologischen Refle-xionen auf diese generisch distinkte Spezifik der Lyrik hingedeutet.6 Sea-mus Heaney beispielsweise betont, dass »wir« von »jedem Gedicht eineAhnung dessen« erwarten, »was in der Sprache möglich ist, und [wir] spü-ren sofort, wenn es ihm daran ermangelt«.7 Man könnte außerdem vielleichtan Eichendorffs Formulierung von der »Welt« erinnern, die »an zu singen«hebe, »triffst du nur das Zauberwort«; und man könnte mit Elazar Benyoëtz(dem Aphoristiker unter den Lyrikern und dem Lyriker unter den Aphoris-tikern) sagen, dass Lyrik, ohne dies explizit thematisieren zu müssen, ebenzeige oder erfahrbar mache: »Ohne Sprache gäbe es alles und weiter nichts«.Schließlich könnte man mit Joachim Sartorius feststellen, dass Lyrik beweise,dass ›hinter der geläufigen Sprache eine Sprache‹ sei, die das Vergangene wieauch das Gegenwärtige neu oder zum ersten Mal

formieren kann [. . .]. Als gebe es ein Hinterland, oder besser: eine Tiefsee derSprache, in der der Lyriker, in der Taucherglocke der Kunstform, noch hinab-tauchen kann. Aus ihr bringt er Signale mit, ein Bote, der unsere gewohn-ten Vorstellungsnetze durchlöchert und Widerstand ankündigt, in der Ver-dichtung des sprachlichen Materials, in der behutsamen Erschließung neuerRäume [. . .].8

Die in diesem Buch behandelte Frage nach den Funktionen der Lyrik magnun für manchen an dem »Dogma der Kunstautonomie«9 rütteln, nach demKunst im Allgemeinen und eben auch Lyrik im Besonderen gerade durch

5 Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Four Essays, Princeton 1965, S. 271–280; JonathanCuller: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Aus dem Englischen von Andreas Mahler,Stuttgart 2002, S. 114–119.

6 Einige Belege finden sich in Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff (a. a. O.), bes. S. 96ff.7 [Seamus Heaney:] Im Gespräch: Seamus Heaney. Retten Gedichte unsere Seele, Mr. Heaney?.

In: FAZ 23.12.2011.8 Joachim Sartorius (Hg.): Atlas der neuen Poesie, Reinbek b.H. 1995, S. 15.9 Reinold Schmücker: Funktionen der Kunst. In: Bernd Kleimann/Reinold Schmücker (Hgg.):

Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion, Darmstadt 2001, S. 13–33, hier S. 13.

1.1 Die Problemstellung 9

ihre Funktionslosigkeit sich auszeichnen10: »Was aber schön ist, selig scheintes in ihm selbst« – : der berühmte Schlussvers aus Eduard Mörikes »Auf eineLampe« könnte die Funktion eines illustrierenden Mottos zu dieser Positionübernehmen.11

Aus rezeptionsästhetischer Perspektive ist der – teils einer literaturwis-senschaftlichen Fokussierung auf die so genannte Erlebnislyrik12, teils einerFokussierung auf moderne Kunst und moderne Lyrik geschuldeten – Auf-fassung von der Funktions- und gar Nutzlosigkeit der Literatur im All-gemeinen allerdings zu Recht entgegengehalten worden, dass ›wir‹ grund-sätzlich Funktionen implizieren, »wann immer wir über Literatur reden«.13

Erst von der expliziten oder impliziten Annahme einer Funktion her seien›wir‹ in der Lage, überhaupt sinnvoll über Artefakte zu sprechen. Funkti-onsunterstellungen oder -zuschreibungen seien unter anderem hermeneuti-sche Instrumente der »Sinnreduktion« und der »Sinnhomogenisierung«14,die überdies als »retrospektive Konstrukte«15 angesprochen werden kön-nen. Hierzu wird noch Genaueres zu sagen sein. Im Zusammenhang der ver-meintlichen Funktionslosigkeit der Lyrik ist jedoch zunächst daran zu erin-nern, dass es überhaupt nicht immer (für alle historischen und für alle kul-turellen Kontexte) von vornherein sicher ist, ob es sich bei Lyrik um Sprach-werk oder Sprachkunstwerk handelt.16 ›Die Kunst‹ als Hochwertabstraktumder modernen Gesellschaft ist nämlich nicht allein die institutionelle Erbin

10 Siehe hierzu besonders Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, 4. Aufl., Zürich 1959, bes.S. 43.

11 Eduard Mörike: Auf eine Lampe. In: Ders.: Sämtliche Werke. Nachw. v. Georg Britting, hg. v.Herbert G. Göpfert, 5., erw. Aufl., München 1976, S. 85; siehe hierzu Emil Staiger: Ein Brief-wechsel mit Martin Heidegger. In: Ders.: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschenLiteraturgeschichte, Zürich 1955, S. 9–33; Heinz Schlaffer: Lyrik im Realismus. Studien überRaum und Zeit in den Gedichten Mörikes, der Droste und Liliencrons, 3. Aufl., Bonn 1984,S. 53; Albrecht Holschuh: Wem leuchtet Mörikes Lampe?. In: Zeitschrift für deutsche Phi-lologie 10 (1991), S. 574–593; Benjamin Bennett: The Politics of the Mörike-Debate and ItsObject. In: The Germanic Review 68 (1993), S. 60–68.

12 Siehe hierzu Michael Feldt: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Men-talitätstypus zwischen 1600 und 1900, Heidelberg 1990.

13 Winfried Fluck: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischenRomans 1790–1900, Frankfurt/M. 1997, S. 14.

14 Ebd., S. 344.15 Roy Sommer: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs

in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung.In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch NF 41 (2000), S. 319–341, hier S. 338 u. 341; ähnlichauch Marion Gymnich/Ansgar Nünning: Funktionsgeschichtliche Ansätze: TerminologischeGrundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur. In: Dies. (Hgg.): Funktionen vonLiteratur. Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen, Trier 2005, S. 3–27.

16 Vgl. Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff (a. a. O.), S. 48ff.

10 1. Wozu Lyrik?

der handwerklich konkreteren Künste und insofern schon als historisch-relativ erkennbar. Es gilt daneben, dass etwas beinahe ebenso schnell, wiees sich in der sozialisierten Meinung als Kunst auffassen lässt, diesen Statusim Extremfall auch wieder verlieren kann. Das ›Dogma der Kunstautono-mie‹ im Allgemeinen und das Dogma der Lyrik-Autonomie im Besonde-ren, die Auffassung von der grundsätzlichen Funktionslosigkeit von Kunstund besonders auch der Lyrik beruhen auf essentialistischen Annahmen, diedurch genauere kunst- und lyrikhistorische Rekonstruktion zurückgewiesenund als spekulativ ausgezeichnet werden können.

Wichtig erscheinen hierbei vor allem die Einsicht in die Theorieabhän-gigkeit, in die Subjektgebundenheit und in den Konstruktcharakter abstrak-ter Kategorien wie Kunst, Literatur, Gattung, Lyrik usf. sowie die Ein-sicht in Verfahren der Vergesellschaftung solcher Kategorien zu Normen derKommunikation in jeweils spezifischen sozialen Kontexten. So wenig jeden-falls, wie Lyrik in jedem Fall und immer ›Kunst‹ sein muss (und vielmehrunter bestimmten pragmatischen Bedingungen lediglich als Kunst betrach-tet wird), so wenig muss es sich bei Lyrik in jedem Fall auch um ›Literatur‹handeln (vielmehr ›gibt‹ es Literatur-Lyrik und Nicht-Literatur-Lyrik, alsoLyrik außerhalb ›der Literatur‹). Einige Erläuterungen mögen diese Überle-gung noch einmal plausibilisieren und weiter entfalten.

1.2 Literatur und Poetrie 11

1.2 Literatur und PoetrieDie Frage, was Literatur ›eigentlich‹ ist, ist ein literaturwissenschaftlichgrundlegendes und dauerhaft umstrittenes Problem. Ich greife es hier nocheinmal auf17 und führe im Folgenden einige Bestimmungen und Differenzie-rungen ein, die sowohl von systematisch-theoretischer Bedeutung sind alsauch von Belang im Hinblick auf die Historiographie und die Ethnographieder Lyrik.

Die Diskussion über die ›Literatur‹-Frage tendiert inzwischen – mei-ner Meinung nach zu Recht – dahin, Versuche, ›Literatur‹ über wesentli-che Eigenschaften oder Merkmale (Stichwörter: Literarizität bzw. Poetizi-tät; Autonomie) ein für alle mal bestimmen zu wollen, als gescheitert zubetrachten und stattdessen sozialgeschichtliche ebenso wie kulturgeschicht-liche Diversität und Relativität stärker in den Mittelpunkt der Konzeptuali-sierung von ›Literatur‹ zu rücken.18

Insbesondere Versuche, Literaturgeschichte in einer globalen Perspektivezu betreiben bzw. zu beschreiben, aber auch Versuche, Literaturgeschichtesozialgeschichtlich zu empirisieren, zeigen deutlich, dass angesichts der poe-tologischen ebenso wie angesichts der historisch-sozialen Diversität vonDichtungs- oder Poesiekulturen ›der Welt‹ ein metatheoretischer Begriff von›Literatur‹ nötig wäre, um einen stabilen oder deutlichen Gegenstand einersolchen globalen Geschichte zu konstituieren.19 Anders Pettersson schlägtdaher z. B. vor, »literature« handlungstheoretisch zu bestimmen als

presentational discourse produced with pretensions to being culturally impor-tant, and/or well-formed, and/or conductive to aesthetic experience.20

Ähnliches hat Schneider angesichts leser- oder rezipientenkultureller Diver-sität im Sinn, wenn er als Bestimmung des Ausdrucks ›literarischer Text‹kommunikationstheoretisch vorschlägt:

17 Vgl. hierzu schon Rüdiger Zymner: Lyrik (a. a. O.), bes. S. 48ff.18 Vgl. vor allem den Band von Fotis Jannidis /Gerhard Lauer /Simone Winko (Hgg.): Grenzen

der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin, New York 2009.19 Siehe hierzu besonders: Anders Pettersson: Introduction: Concepts of Literature and Trans-

cultural Literary History. In: Gunilla Lindberg-Wada (Hg.): Literary History: Towards a Glo-bal Perspective, 4 Bde., Berlin, New York 2006, hier Bd. 1, S. 1–35; Christopher Prendergast(Hg.): Debating World Literature, London 2004; John Pizer: The Idea of World Literature.History and Pedagogical Practice, Baton Rouge 2006; David Damrosch: What is World Lite-rature?, Princeton 2003; David Damrosch: Frames for World Literature. In: Fotis Jannidis /Gerhard Lauer /Simone Winko (Hgg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen desLiterarischen, Berlin, New York 2009, S. 374–393, S. 496–515.

20 Anders Pettersson: Introduction (a. a. O.), S. 35.

12 1. Wozu Lyrik?

Ein literarischer Text ist eine finite Sequenz von Laut- oder Schriftzeichen, die(a) fixiert und/oder (b) sprachkünstlerisch gestaltet und/oder (c) ihrem Inhaltnach fiktional sind.21

Solche allgemeinen Begriffsbildungen sind nicht problemlos und werfenin mancher Hinsicht neue Fragen auf. Unter anderem bleibt durch diebloße Verwendung der Begriffsnamen »Literatur«/»literarisch« bzw. »lite-rature«/»literary« der leitende Bezug auf Schriftlichkeit und ihre Überlie-ferungsmedien explizit oder implizit erhalten.22 Substantielle oder für eineglobale Geschichte relevante Unterschiede zwischen tatsächlicher ›oral poe-try‹ oder mündlicher ›Dichtung‹ einerseits und graphisch fixierter ›Litera-tur‹ andererseits werden ebenso verdeckt wie der Umstand, dass das Stich-wort »Literatur« an häufig unangemessen moderne (mit Erhard Schüttpelz:»nordatlantische«23) Vorstellungen oder Konzepte durchaus normativer Artgebunden bleibt.

Hier sind nun vielleicht einige Unterscheidungen für eine diffenzierte undsystematische Analyse ebenso wie für eine globale ethnographisch-historio-graphische Synthese weiterführend, die ich im Folgenden teils aufgreifen,teils für den vorliegenden Zusammenhang einer umfassenderen Untersu-chung der Lyrik zuspitzend modellieren möchte. Ich skizziere vorab einenknappen Überblick, bevor ich weitere Erläuterungen gebe:

(1) Es handelt sich bei den angesprochenen Unterscheidungen zunächst ein-mal um die Bestimmung von ›Literatur‹ in einem engeren Sinn (verse-hen wir diese ›Literatur‹ vorübergehend mit dem Index »1«) und dieUnterscheidung der Literatur1 von der gelegentlich so genannten Lite-ratur vor der Literatur1 (halten wir hier noch etwas an dem problemati-schen Begriffsnamen ›Literatur‹ fest und versehen wir diese sogenannte›Literatur‹ vor der Literatur1 mit dem Index »2«).

(2) Außer der so genannten Literatur2, die historisch der Literatur1 vorgela-gert ist, unterscheide ich aber auch– ›Literatur‹ neben der Literatur1 (also: vorläufig so genannte Literatur3,

die es gleichzeitig mit der Literatur1 in einem gemeinsamen sozialenFeld gibt) ebenso wie die

21 Jost Schneider: Die Sozialgeschichte des Lesens und der Begriff ›Literatur‹. In: Fotis Jannidis /Gerhard Lauer /Simone Winko (Hgg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen desLiterarischen, Berlin, New York 2009, S. 434–454, hier S. 449.

22 Zu diesem Problem siehe auch Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of theWorld, London, New York 1982, S. 10ff.

23 Siehe hierzu Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur undEthnologie (1870–1960). Paderborn 2005; Erhard Schüttpelz: Weltliteratur in der Perspek-tive einer longue durée I: Die fünf Zeitschichten der Globalisierung. In: Özkan Ezli u. a.(Hgg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld2009, S. 335–356.

1.2 Literatur und Poetrie 13

– ›Literatur‹ außerhalb des sozialen Großbereichs der Literatur1 undder Literatur3 (zur besseren Orientierung: Literatur4, die es außer-halb moderner Gesellschaften in gleichzeitigen ›vormodernen‹ sozia-len Gruppierungen gibt).

Insgesamt unterscheide ich also vier Typen von so genannter ›Literatur‹.Das ist auf den ersten Blick vielleicht schon allein wegen der Namens-gleichheit etwas verwirrend, und die Indexikalisierung ist außerdemunbequem.

(3) In einem weiteren Schritt unterscheide ich diese Literatur-Typen deshalbauch terminologisch voneinander und spreche im Fall der Vor-, Neben-und Außer-Literaturen mit einem plausiblen Kunstausdruck von ›Poe-trie‹ oder ›Poetrien‹. Der Kunstausdruck erinnert nicht von ungefähr andie deutsche ›Poeterey‹ ebenso wie an die lateinische ›poetria‹, die engli-sche ›poetry‹ und natürlich auch an ›Poesie‹ und ›poesia‹, ohne das dortjeweils Gemeinte ›deckungsgleich‹ zu bezeichnen. Die mit dem Aus-druck ›Poetrie‹ bezeichneten Vor-, Neben- und Außer-Literaturen unter-scheiden sich kommunikativ wie pragmatisch deutlich von dem, was ichals ›Literatur1‹ oder eben Literatur im eigentlichen und eigentlich moder-nen Sinn bezeichnen möchte. Beide – Literatur und Poetrie – sind Sam-melkategorien und umfassen historisch-kulturell weiter voneinander zuunterscheidende Literaturen und Poetrien. Demgegenüber verwende ichdie Ausdrücke »Dichtung« und »Poesie« sowie Komposita (z. B. »Dich-tungskulturen«), in denen diese Ausdrücke vorkommen, um eher allge-mein und unspezifisch auf ›besondere‹ oder ›besonders‹ gemachte, eben:poetische oder dichterische, phonische oder graphische Repräsentatio-nen von Sprache zu verweisen.

(4) Im Hinblick auf Literatur und Poetrie möchte ich nicht zuletzt jeweilszwischen (a) Handlungszusammenhängen und (b) Gestaltungszusam-menhängen unterscheiden, ich spreche hierbei im Anschluss an einge-führte Redeweisen (und dabei vielleicht rhetorisch etwas dramatisierend)von Sozialsystemen und Symbolsystemen. Beide Ausdrücke – Literaturund Poetrie – bezeichnen Handlungszusammenhänge und/oder Gestal-tungszusammenhänge, und die jeweiligen Handlungszusammenhänge(Sozialsysteme) und Gestaltungszusammenhänge (Symbolsysteme) sindaußerdem nicht vollkommen unabhängig voneinander.

14 1. Wozu Lyrik?

1.2.1 Sozialsysteme

An diesem Punkt setze ich nun mit meinen genaueren Erläuterungen an,die die vorangestellte Skizze etwas ausfüllen und konturenschärfer machensollen. Ich greife dabei auf Konzeptualisierungen zurück, wie sie seit eini-gen Jahrzehnten in gesellschaftswissenschaftlich orientierten Richtungen derLiteraturwissenschaft erörtert werden.

Zunächst möchte ich die Unterscheidung zwischen dem so genannten

(a) ›Sozialsystem Literatur‹24

einerseits und andererseits dem ›Sozialsystem‹ der Poetrie, also der sogenannten ›Literatur‹ vor und neben oder auch außerhalb der ›Literatur‹25

einführen.Das ›Sozialsystem Literatur‹ hat sich nach verbreiteter Meinung erst in

mehreren ›Modernisierungsschüben‹ in westlichen (europäischen) Kulturenungefähr seit dem 18. Jh. etabliert (in Frankreich und England schon etwasfrüher, in Deutschland seit ungefähr dem ausgehenden 18. Jh.) und wurdevon hier aus als Handlungskonzept oder pragmatische Form im wesentli-

24 Siehe hierzu Renate von Heydebrand/Dieter Pfau/ Jörg Schönert (Hgg.): Zur theoreti-schen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural funktionaler Ent-wurf, Tübingen 1988; Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literaturim 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989; Claus-Michael Ort: Sozialsystem ›Literatur‹ – Sym-bolsystem ›Literatur‹. Anmerkungen zu einer wissenssoziologischen Theorieoption für dieLiteraturwissenschaft. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheo-rie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen 1993, S. 269–294; Martin Huber/Ger-hard Lauer (Hgg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwi-schen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, bes.Kap. II (»Sozialsystem/Symbolsystem«); Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische undmethodische Grundlagen der Literaturwissenschaft, Tübingen u. Basel 2004, bes. S. 139ff.;Jörg Schönert: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Pra-xis, Tübingen 2007.

25 Vgl. z. B. Aleida Assmann: The history of the text before the era of Literature. Three com-ments. In: Gerald Moers (Hg.): Definitely: Egyptian Literature. Proceedings of the Sym-posion »Ancient Egyptian Literature: History and Forms«, Göttingen 1999, S. 83–90; siehehierzu auch Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteu-ropas, Tübingen 2001; Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literaturwurde, Amsterdam 2001; Jan-Dirk Müller / Jörg Robert (Hgg.): Maske und Mosaik. Poetik,Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert, Berlin 2007; Christian Kiening: Zwischen Körper undSchrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt/M. 2003; Beate Kellner /Ludger Lieb/Peter Strohschneider (Hgg.): Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studienzur Institutionalität im Mittelalter, Frankfurt/M. 2001; Ursula Peters: »Texte vor der Litera-tur«? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39(2007), S. 59–88.