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Herausgegeben vom Forschungsnetzwerk Fachdidaktik im Rahmen des universitären Forschungsschwerpunktes Lernen – Bildung – Wissen NACHWUCHSFORUM Fachdidaktik Gabriel Hofer-Ranz Die Verzeitlichung des Zeitlosen Eine Untersuchung des didaktischen Potentials der Einbindung von Elementen aus der Geschichte der Mathematik in den Mathematikunterricht Band 8

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Herausgegeben vom Forschungsnetzwerk Fachdidaktik im Rahmen des

universitären Forschungsschwerpunktes

Lernen – Bildung – Wissen

N A C H W U C H S F O R U M

Fachdidaktik

Gabriel Hofer-Ranz

Die Verzeitlichung des ZeitlosenEine Untersuchung des didaktischen Potentials der Einbindung

von Elementen aus der Geschichte der Mathematik in den

Mathematikunterricht

Band 8

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Eine Publikationsreihe des Forschungsnetzwerks Fachdidaktik im Rahmen des

universitären Forschungsschwerpunktes

Lernen – Bildung – Wissen

ISBN 978-3-902897-07-7

REiHEnHERaUsGEbERinnEn:

Gerhard Lieb

Leopold Mathelitsch

Manuela Paechter

Sabine Schmölzer-Eibinger

Michaela Stock

Bernd Thaller

Wolfgang Weirer

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N A C H W U C H S F O R U M

Fachdidaktik

Gabriel Hofer-Ranz

Die Verzeitlichung des ZeitlosenEine Untersuchung des didaktischen Potentials der Einbindung

von Elementen aus der Geschichte der Mathematik in den

Mathematikunterricht

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ZUM EINEN DEM KLEINEN ANDREAS, DER VON GESCHICHTE UND MATHEMATIK NOCH RECHT WENIG

AHNUNG HAT. ZUM ANDEREN DEM GROSSEN RAFAEL PAYÁ ALBERT, DER SOWOHL VON MATHEMATIK ALS AUCH VON IHRER GE-SCHICHTE SEHR VIEL AHNUNG HAT UND MICH DURCH SEINE

HISTORISCH GEWÜRZTEN VORLESUNGEN ZUM SCHREIBEN DIESER

ARBEIT INSPIRIERT HAT.

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INHALTSVERZEICHNIS

I EINLEITUNG ........................................................ 1

II MATHEMATIK & GESCHICHTE – EINE

ERSTE ANNÄHERUNG ..................................... 4

2.1 MATHEMATIKGESCHICHTE IM

LEHRPLAN ............................................................ 4

2.2 DIE BESONDERE ZEITLOSIGKEIT

MATHEMATISCHEN WISSENS ........................ 10

2.2.1 NOTWENDIGKEIT, ZEITLOSIGKEIT UND

METHODIK ........................................................... 11

2.2.2 GESCHICHTE UND SYSTEMATISIERUNG

MATHEMATISCHER ERKENNTNIS ................ 15

2.3 ZWISCHEN GESCHICHTSBEWUSSTSEIN UND AHISTORIZITÄT – EIN ERSTES FAZIT ...................................................................... 17

III PÄDAGOGISCHES PRÄLUDIUM .................. 19

3.1 DAS GENETISCHE PRINZIP IN DER PÄDAGOGIK ......................................................... 21

3.1.1 DAS GENETISCHE PRINZIP – EIN PORTRÄT ............................................................... 21

3.1.2 DAS GENETISCHE PRINZIP BEI WAGENSCHEIN .................................................. 25

3.1.3 VARIANTEN DES GENETISCHEN PRINZIPS ............................................................... 27

3.1.4 DAS BIOGENETISCHE GRUNDGESETZ ......... 32

3.2 DAS HISTORISCH-GENETISCHE PRINZIP IN DER MATHEMATIK ....................................... 36

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3.2.1 DAS HISTORISCH-GENETISCHE PRINZIP BEI

TOEPLITZ .............................................................. 37

3.2.2 INNERMATHEMATISCHES DUELL: KLEIN VS. BOURBAKI ...................................................... 39

3.3 FAZIT: BEDEUTUNG DES HISTORISCH-GENETISCHEN PRINZIPS .................................. 44

IV HISTORISCH-MATHEMATISCHE DIDAKTIK: THEORETISCHE ASPEKTE ...... 46

4.1 SKEPTISCHE STIMMEN ..................................... 46

4.1.1 FÜNF KRITIKPUNKTE AN EINER HISTORISCHEN MATHEMATIK- DIDAKTIK .............................................................. 47

4.1.2 INHÄRENTE UNVEREINBARKEIT .................. 52

4.1.3 EINE ERSTE ANTWORT AUF DIE SKEPTISCHEN STIMMEN .................................. 55

4.2 HOFFNUNGEN UND ERWARTUNGEN ......... 56

4.2.1 AUFLOCKERUNG DES UNTERRICHTS .......... 57

4.2.2 HUMANISIERUNG DER MATHEMATIK ....... 60

4.2.3 PROZESSHAFTIGKEIT DER MATHEMATIK ..................................................... 64

4.2.4 VERTIEFUNG DES MATHEMATISCHEN

VERSTÄNDNISSES .............................................. 65

4.2.5 MATHEMATIKGESCHICHTE ALS QUELLE VON SINN .............................................................. 70

4.2.6 MATHEMATIK ALS KULTURELLE

ERRUNGENSCHAFT ........................................... 74

4.2.7 ERWEITERUNG DES MATHEMATISCHEN

HORIZONTS .......................................................... 77

4.2.8 MATHEMATIKGESCHICHTE ALS

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DIDAKTISCHER WEGWEISER FÜR LEHRENDE ................................................... 79

4.3 MÖGLICHKEITEN DER IMPLEMENTIERUNG ......................................... 81

4.3.1 HISTORISCHE KONTEXTUALISIERUNG

MATHEMATISCHER INHALTE ....................... 82

4.3.2 ANEKDOTEN AUS DER

MATHEMATIKGESCHICHTE ........................... 85

4.3.3 VERWENDUNG HISTORISCHER AUFGABEN BZW. HISTORISCHER QUELLEN .............................................................. 87

4.3.4 EINBEZUG MATHEMATISCHER

ZEITGESCHICHTE ............................................... 90

4.3.5 MATHEMATIKGESCHICHTE ALS MODUL BZW. MATURAPROJEKT ................................... 91

4.3.6 GESTALTUNG DES KLASSENRAUMS ............ 93

4.3.7 EINSATZ ZU UNTERSCHIEDLICHEN PHASEN DES UNTERRICHTS ........................... 94

4.3.8 PRODUKTIVE NUTZUNG VON RANDSTUNDEN .................................................. 95

4.4 PRAKTISCHE HERAUSFORDERUNGEN ....... 96

4.4.1 STOFF-ZEIT-PROBLEM ....................................... 97

4.4.2 PROBLEM DER AUTHENTIZITÄT ................... 98

4.4.3 MANGELNDE AUSBILDUNG DER LEHRKRÄFTE ....................................................... 101

4.4.4 EINBEZUG IN DEN PRÜFUNGSBETRIEB ....... 104

V HISTORISCH-MATHEMATISCHE DIDAKTIK: EMPIRISCHE BEFUNDE ............ 107

5.1 ÜBERBLICK ÜBER EINIGE EMPIRISCHE

ERGEBNISSE .......................................................... 108

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5.2 DARSTELLUNG EINER EMPIRISCHEN

VERGLEICHSSTUDIE .......................................... 112

5.2.1 EMPIRISCHES DESIGN DER GLAUBITZ-STUDIE ............................................. 112

5.2.2 BEFUNDE DER GLAUBITZ-STUDIE ................ 116

5.3 RESÜMEE DER EMPIRISCHEN BEFUNDE ..... 117

VI VIER THESEN ZUR HISTORISCH-MATHEMATISCHEN DIDAKTIK .................. 120

6.1 MATHEMATIKGESCHICHTE UND

UNTERRICHT ........................................................ 120

6.2 MATHEMATIKGESCHICHTE UND

ALLGEMEINBILDUNG ....................................... 123

6.3 MATHEMATIKGESCHICHTE UND

KOMPETENZORIENTIERUNG ......................... 126

6.4 MATHEMATIKGESCHICHTE UND

LEHRENDENBILDUNG ..................................... 130

VII CONCLUSIO ........................................................ 134

VIII QUELLENANGABE ............................................ 137

8.1 BIBLIOGRAPHIE .................................................. 137

8.2 INTERNETQUELLEN .......................................... 142

8.3 ABBILDUNGSVERZEICHNIS ............................ 143

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I EINLEITUNG

Die Verzeitlichung des Zeitlosen. Der Titel dieser Arbeit wirkt auf den ersten Blick womöglich etwas befremdlich, wird bei genauerer Betrachtung jedoch rasch klar. So stellt die Mathematik allgemein ein Sinnbild für Zeitlosigkeit dar. Mit Theoremen, die auf dem soliden Fundament strenger Beweise ruhen und damit gleichsam zeitlos gültig in Stein gemeißelt sind, hebt sie sich kategorisch von anderen wissenschaftlichen Disziplinen ab, deren Erkenntnisse immer nur vorläufig und fallibel sind. Die Mathematik erhebt sich über diese zeitlichen Kontingenzen. Mathematische Erkenntnisse, die vor Jahrtausenden im antiken Griechenland bereits bewiesen waren, haben bis heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt und werden es kraft ihrer Beweise auch in Hinkunft nicht tun. Gerade darin wurzelt der oft beschworene Begriff einer mathematica perennis, einer ewigen Mathematik. Mathematische Erkenntnisse haben auf ewig Bestand.

Dennoch ist die Mathematik der zeitlichen Wirklichkeit – einem platonischen Ideenhimmel gleich – nicht gänzlich enthoben, haben sich ihre Erkenntnisse doch auf vielfach verschlungenen historischen Wegen herausgebildet. Mathematische Erkenntnisse mögen vielleicht zeitlose Gültigkeit besitzen, ihr Ursprung in der Geschichte, in konkreten Personen aus Fleisch und Blut, ist nichtsdestotrotz in der Zeit verhaftet. Salopp formuliert: Die Mathematik ist nicht vor aller Zeit als fertig vollendetes Erkenntnisgebilde vom Himmel gefallen. Der Zeitlosigkeit mathematischer Erkenntnisse steht somit die Zeitlichkeit ihrer historischen Genese gegenüber.

Die zentrale Frage, die im Zuge dieser Arbeit nun gestellt wird, verlagert diesen zeitspezifischen Doppelcharakter mathematischer Erkenntnis in den schulischen Kontext und fragt nach dem didaktischen Potential einer Verzeitlichung zeitlos gültiger, mathematischer Erkenntnis. Mit anderen Worten: Es wird die Frage in den diskursiven Raum gestellt, welche didaktischen Chancen im Einbinden historischer Elemente in den Mathematikunterricht liegen. Welche Möglichkeiten bringt ein Einbeziehen der Mathematikgeschichte in den Unterricht mit sich? Welche Hoffnungen und Erwartungen werden an diese didaktische Neuorientierung des Mathematikunterrichts geknüpft? Auf welche praktischen Heraus-forderungen und Grenzen stößt dieser mathematikgeschichtliche Ansatz? Und wie wirkt sich die Integration historischer Elemente auf das Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler aus? Es steht also das didaktische Potential der Mathematikgeschichte im Mathematikunterricht zur Diskussion.

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Gleich wenig wie die Mathematik an sich ist auch die Themenstellung dieser Arbeit nicht einfach so unvermittelt vom Himmel gefallen. Die prägende Erfahrung, die in mir den Motivationskeim zum Verfassen dieser Untersuchung legte, war der Besuch historisch gewürzter Mathematik-Lehrveranstaltungen im Zuge eines Auslandsstudienjahres an der Universidad de Granada. Das Einbinden mathematikgeschichtlicher Bezüge zur Verdeutlichung und Kontextualisierung des betreffenden fachlichen Inhalts, von der Entdeckung der irrationalen Zahlen durch Hippasos von Metapont über das Leben und Wirken von Joseph-Louis Lagrange bis hin zur Persönlichkeit David Hilberts und der Schilderung des Hilbert-Hotels, hat auf mich nachhaltig so einen tiefen Eindruck ausgeübt, dass in mir der Keim zum Entschluss heranreifte, mich dem didaktischen Potential der Mathematikgeschichte im Unterricht auf systematischem Wege zu nähern.

Dieses Vorhaben hat sich in der vorliegenden Arbeit in Form von 5 Kapiteln materialisiert. Im ersten inhaltlichen Kapitel wird nach dem allgemeinen Verhältnis von Mathematik und Geschichte, von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit gefragt und dabei eine Verhältnisbestimmung dieser beiden Disziplinen versucht. Das darauffolgende Kapitel, ein pädagogisches Präludium, nähert sich dem Thema aus pädagogischer bzw. mathematisch-fachdidaktischer Richtung und nimmt das genetische Prinzip als aussichtsreichen Kandidaten für eine theoretische Fundierung einer historischen Mathematikdidaktik näher unter die Lupe. Im dritten inhaltlichen Kapitel, dem Herzstück der Arbeit, werden schließlich diverse theoretische Aspekte einer Integration mathematikhistorischer Elemente in den Unterricht erörtert, von daran geknüpften Hoffnungen und Erwartungen bis hin zu praktischen Herausforderungen einer Realisation. Im Anschluss daran wird das Thema um einen Blick durch die empirische Linse erweitert und nach Befunden aus der schulischen Praxis im Zusammenhang mit einer historischen Orientierung des Unterrichts gefragt. Den Abschluss der Arbeit im inhaltlich fünften Kapitel bilden schließlich vier persönliche Thesen, die sich als Destillat der vorherigen Überlegungen ergeben.

Um jedoch nicht nur theoretisch über die Mathematikgeschichte als Abstraktum zu sprechen, finden sich überdies in den Text eingestreut insgesamt zehn HISTOMATH-BOXEN (siehe Definition 1.3.), die einen Blick in einzelne ausgesuchte Episoden der Mathematikgeschichte gewähren sollen. Der Hintergedanke dabei ist, die Geschichte der Mathematik für sich sprechen zu lassen, anstatt nur über sie als theoretischen Gegenstand zu philosophieren. Soviel der einleitenden Bemerkungen. Den Übergang zur Arbeit an sich bilden nun – in klassischer Manier für eine mathematische Untersuchung – noch einige zentrale Definitionen als Arbeitsgrundlage:

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Definition 1.1. Das Kürzel S&S steht für die Gesamtheit aller Lernenden. Je nach persönlichen Vorlieben interpretierbar als Schülerinnen und Schüler bzw. Schüler und Schülerinnen. Definition 1.2. Das Kürzel L&L steht für die Gesamtheit aller Lehrenden. Je nach persönlichen Vorlieben interpretierbar als Lehrerinnen und Lehrer bzw. Lehrer und Lehrerinnen. Definition 1.3. Das Kürzel HISTOMATH steht für die Historie bzw. Geschichte der Mathematik. Dies ist durchaus mit einem philosophischen Augenzwinkern zu lesen, gilt in der Philosophie das Kürzel HISTOMAT doch als Abkürzung für die Anschauung des Historischen Materialismus eines gewissen Karl Marx. In aller Kürze postuliert dieses Prinzip, dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern umgekehrt das ökonomisch-gesell-schaftliche Sein das menschliche Bewusstsein bestimmt (vgl. Röd 2000b, 301). In schroffem Gegensatz dazu geht eine HISTOMATH-Didaktik jedoch sehr wohl von der Prämisse aus, dass ein historisch geschultes Bewusstsein das schulische Sein verändern kann. Ende des Augenzwinkerns. Beginn der Auseinandersetzung.

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II MATHEMATIK & GESCHICHTE – EINE ERSTE ANNÄHERUNG

Mathematikgeschichte. Geschichte der Mathematik. Mathematikhistorische Didaktik. Wenn das methodisch-didaktische Potential eines historisch gewürzten Mathematikunterrichts untersucht wird, dann stehen mit der Mathematik und der Geschichte zwei wissenschaftliche Disziplinen im Fokus der Analyse, die prima facie – in der Terminologie der Mengenlehre – über eine eher geringe Schnittmenge verfügen. In der Geschichtsschreibung ist die Mathematik bestenfalls ein Randthema, die Mathematik wiederum scheint sich gar in einem völlig ahistorischen Raum zu entwickeln. Umso wichtiger ist es daher, in diesem ersten Kapitel exemplarisch nach dem Verhältnis dieser beiden Disziplinen zu fragen. In welchem Verhältnis stehen Mathematik und Geschichte zueinander?

Dies soll in einem dialektischen Dreischritt erfolgen: Im ersten Schritt wird ein Blick auf den Status quo der Mathematikgeschichte in den Fachlehrplänen für Mathematik in der Sekundarstufe an österreichischen Schulen geworfen. Welche Rolle wird der Geschichte derzeit im Mathematikunterricht von Lehrplanseite zugemessen? Komplementär dazu wird im zweiten Schritt nach den Gründen für die charakteristische Ahistorizität mathematischen Wissens gefragt. Warum sind mathematische Erkenntnisse, wie bspw. die Irrationalität von �, fern aller historischen Kontingenz von einer Aura der Ewigkeit umgeben? Die Synthese dieser beiden ersten gegensätzlichen Verhältnisbestimmungen erfolgt dann im dritten Schritt, in welchem ein tragfähiges Fundament des Verhältnisses zwischen Mathematik und Geschichte für diese Arbeit angestrebt wird.

2.1 Mathematikgeschichte im Lehrplan

Eine erste aussichtsreiche Fährte bei der Klärung des Verhältnisses zwischen der Mathematik und der Geschichte im pädagogischen Kontext liegt wohl darin, nach der Stellung der Mathematikgeschichte in den Fachlehrplänen des Unterrichtsfaches Mathematik zu fragen. Dies ist nur ein allzu logischer Schritt, legt der Lehrplan mit der Formulierung der Bildungs- und Lehraufgaben, mit der Ausbuchstabierung der didaktischen Grundsätze wie mit der Auflistung des Lehrstoffes überhaupt erst die entscheidenden Rahmenbedingungen fest, innerhalb derer sich die mathematische Unterrichtspraxis bewegen kann. Sowohl für die Unterstufe wie für die Oberstufe ist er der pädagogische Kompass, der in inhaltlicher wie

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methodisch-didaktischer Sicht die grobe Marschroute vorgibt. So weit, so gut.

Bereits ein flüchtiger Blick in die Ausführungen des Lehrplans lässt jedoch klar erkennen, dass die Nadel dieses Unterrichtskompasses alles andere als in eine eindeutig festgelegte Richtung weist, sondern in der konkreten Ausgestaltung vielmehr einen gehörigen Interpretations-spielraum erlaubt. Dies gilt in globaler Hinsicht, wird im Speziellen aber auch bei der Suche nach der Rolle von Mathematikgeschichte im Unterricht deutlich. Neben einer eher einschränkenden Lesart, welche Ansätze einer mathematikhistorischen Didaktik im Lehrplan nur in homöopathisch verdünnten Dosen erkennt, ist gleichzeitig so auch eine befürwortende Lesart möglich, welche im Lehrplan zwar kein flammendes Plädoyer, jedoch ein vielfältig gestütztes Fundament für einen historisch orientierten Mathematikunterricht sieht. Die Kompassnadel des Lehrplans lässt sich diesbezüglich als Ausschlagen in stark gegensätzliche Richtungen inter-pretieren. In Anlehnung an die Sentenz des Philosophen Karl MARX (1818–1883), wonach die Philosophen die Welt stets nur unterschiedlich interpretiert hätten, anstatt sie zu verändern zu versuchen, lässt sich so auch an dieser Stelle festhalten, dass die Mathematikdidaktik den Lehrplan auf unterschiedlichste Art und Weise interpretieren kann. Konkret sollen die einschränkende und befürwortende Lesart des Lehrplans an dieser Stelle nun, zum besseren Verständnis in ihre jeweilige Extremform überspitzt, eingehender erläutert und kontrastiert werden. Zur Marx‘schen Maxime der Veränderung – in diesem Falle der konkreten Veränderung von Unterricht – wird an späterer Stelle zurückgekehrt.

Mathematikgeschichte im Lehrplan – einschränkende Lesart

Viele einzelne Aspekte in den beiden Lehrplänen der Sekundarstufe lassen nahezu unvermeidlich den Eindruck aufkommen, dass die historische Entwicklung der Mathematik im Mathematikunterricht – bestenfalls – einen unbedeutenden Nebenschauplatz darstellt. Wenn überhaupt. So sticht beim Unterstufen-Lehrplan bereits auf der ersten Seite ins Auge, dass als Unter-richtsziel einzig und allein der Punkt angeführt wird, „[d]ie Schülerinnen und Schüler sollen durch Erwerb und Nutzung grundlegender Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten Einsichten in die Gebiete Arithmetik, elementare Algebra und Geometrie gewinnen“ (Int.[1] 2004, 1). Punkt. Von einem Nachvollziehen-können der Dynamik und der historischen Herausbildung der Disziplin Mathematik keine Spur. Ein Erkennen der historischen Verwurzelung und der Prozesshaftigkeit mathematischer Erkenntnis als eigenes Unterrichtsziel sucht man vergebens. In der Formulierung der Ziele liegt die Priorität eindeutig auf klassisch-operationalen Kompetenzen, vom Rechnen mit rationalen Zahlen, über das Umformen algebraischer Ausdrücke und

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Formeln bis hin zur zeichnerischen Darstellung von ebenen und räumlichen Gebilden (vgl. ebd., 1). Auch die darauf folgende Auflistung mathe-matischer Grundtätigkeiten, darunter z.B. Abstrahieren, Konkretisieren, Verallgemeinern und Spezialisieren, bestätigt eher den Eindruck, mathe-matische Unterrichtspraxis vollziehe sich in einem völlig ahistorischen Raum, im Reich abstrakter Rationalität, fernab jeglicher geschichtlichen Bezüge.

Im Lehrplan für die Oberstufe präsentiert sich ein ähnliches Bild. Die via regia zur Erfüllung der primären Bildungs- und Lehraufgaben des Mathematikunterrichts wird in abstrakt-operationalen Fertigkeiten erkannt, konkret soll die Erfüllung dieser Aufgaben gewährleistet werden „durch die Erziehung zu analytisch-folgerichtigem Denken und durch die Vermittlung von mathematischen Kompetenzen“ (Int.[2] 2004, 1). Der folgende Ausschnitt aus dem Lehrplan lässt sich dabei exemplarisch für die kompetenzfokussierte Ahistorizität der Vorgaben lesen, in denen das Herstellen geschichtlicher Bezüge und die Herausbildung eines historischen Bewusstseins nicht als eigene Ziele firmieren:

Die mathematische Beschreibung von Strukturen und Prozessen der uns umgebenden Welt, die daraus resultierende vertiefte Einsicht in Zusammen-hänge und das Lösen von Problemen durch mathematische Verfahren und Techniken sind zentrale Anliegen des Mathematikunterrichts (ebd., 1).

Von Geschichtlichkeit bzw. Prozesshaftigkeit der eigenen Disziplin wiederum keine Spur. Die rein inhaltliche Auflistung des konkreten Lehrstoffes verstärkt dabei sogar noch den Eindruck eines monolithischen, seiner Geschichte enthobenen Mathematikunterrichts (vgl. ebd., 3 f). Innerhalb der logisch perfekt strukturierten Fachsystematik fügen sich in der einschränkenden Lesart scheinbar geschichtslose Teilinhalte zu einem trügerisch abgeschlossen wirkenden Bild von Mathematik zusammen, in dem eine historische Entwicklung nicht wirklich präsent ist. So als wäre – salopp formuliert – dieses mathematische Curriculum bereits fertig vom Himmel gefallen. Auch wenn eingeräumt werden muss, dass diese inhaltliche Auflistung in der Unterrichtspraxis methodisch-didaktisch auf vielfältigste Weise ausgestaltet werden kann, droht die historische Entwicklung in dieser ahistorischen Struktur doch unter die fach-systematischen Räder zu kommen. An ein paar Beispielen verdeutlicht:

Wenn der Lehrplan für die 5. Klasse ein „Reflektieren über das Erweitern von Zahlenmengen an Hand von natürlichen, ganzen, rationalen und irrationalen Zahlen“ (ebd., 3) vorsieht, so kann in dieser geschichtlich entwurzelten Formulierung doch leicht der jeweilige historische Ursprung, bspw. der Bezug zur griechischen Mathematik und die quasi-weltanschauliche Ablehnung inkommensurabler Größen innerhalb der pythagoreischen Schule, vergessen werden. Wenn weiters der Lehrplan für die 6. Klasse kurz und bündig das „Definieren der Eulerschen Zahl“ (ebd., 4) für den Unterricht

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vorschreibt, so ist dies noch immer bestens mit einem Unterricht kompatibel, der in keinster Weise auf Leben und Wirken Leonhard EULERs Bezug nimmt. Ebenso ist die knappe inhaltliche Vorgabe „Rechnen mit komplexen Zahlen“ für die 7. Klasse mit einem völligen Ausblenden der historischen Bedenken zur Akzeptanz dieser Zahlenmenge vereinbar. Natürlich ist die argumentative Kraft dieser geschilderten Beispiele mit Verweis auf die inhaltliche Dimension der Aufzählung anfechtbar. Auf jeden Fall aber zeigen diese Beispiele, dass die Geschichte der Mathematik im Lehrplan keinen Inhalt eigenen Rechts darstellt. Denn kein einziger der aufgelisteten Punkte hat einen explizit mathematikgeschichtlichen Inhalt. In dieses Bild enggesteckter Grenzen fügt sich nicht zuletzt, dass sich im Lehrplan der Oberstufe – im Gegensatz zu jenem der Unterstufe – innerhalb der didaktischen Grundsätze kein expliziter Verweis mehr auf die Geschichte der Mathematik findet. Soweit die einschränkende Lesart bezüglich der Verankerung von Mathematikgeschichte im Lehrplan.

Mathematikgeschichte im Lehrplan – befürwortende Lesart

Die einschränkende Lesart ist eine mögliche – und prima facie auch nachvollziehbare – Interpretationsweise. Man kann den Lehrplan so verstehen, muss dies aber nicht. Konkret lässt sich die anfängliche Plausibilität dieser Lesart auch nur aufrechterhalten, wenn einige Aspekte der Lehrpläne bewusst ausgeblendet werden. So zeigen sich in den beiden Lehrplänen secunda facie sehr viele Elemente, die mit einer historisch orientierten Didaktik nicht nur vereinbar sind, sondern diese vielmehr sogar einfordern. Am deutlichsten wird dies im Lehrplan der Unterstufe, wo an letzter Stelle der für die L&L verbindlichen didaktischen Prinzipien das Herstellen historischer Bezüge im Unterricht explizit eingemahnt wird:1

Den Schülerinnen und Schülern ist an geeigneten Themen Einblick in die Entwicklung mathematischer Begriffe und Methoden zu geben. Sie sollen einige Persönlichkeiten der Mathematikgeschichte kennen lernen. Die Mathematik soll als dynamische Wissenschaft dargestellt und ihre Bedeutung bei der Entwicklung

1 Dass gerade dieser didaktische Grundsatz im Lehrplan der Oberstufe nicht mehr

explizit aufscheint, wo gerade in Kombination mit anderen Unterrichtsgegenständen große Synergiemöglichkeiten bestünden, ist natürlich Wasser auf den Mühlen der einschränkenden Lesart des Lehrplans. So könnte argumentiert werden, dass das Fördern einer Historisierung des Mathematikunterrichts in der Unterstufe nicht mehr als ein oberflächliches Lippenbekenntnis ist, wenn in der Oberstufe gänzlich darauf vergessen wird. Allerdings muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass der Lehrplan der Oberstufe explizit den kulturell-historischen Aspekt der Mathematik anführt, wonach die maßgebliche Rolle mathematischer Erkenntnisse und Leistungen in der Entwicklung des europäischen Kultur- und Geisteslebens diese zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Allgemeinbildung macht (vgl. Int.[2], 2).

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der abendländischen Kultur gezeigt werden. Die Bedeutung der Mathematik in der Gegenwart soll in den Unterricht einfließen (Int.[1] 2004, 4).

Deutlicher könnte ein Bekenntnis zur didaktischen Einbeziehung historischer Elemente in den Mathematikunterricht kaum sein. Das Fördern eines historischen Bewusstseins, das Gewinnen von Einblicken in die Prozesshaftigkeit der Mathematik und das Entwickeln einer breiten Metaperspektive auf diese Disziplin scheinen klar und deutlich als didaktische Wegweiser des Unterrichts auf. Diese Würdigung von Mathematikgeschichte als zentraler Bestandteil eines jeden Mathematik-unterrichts lässt sich auch mit der allgemeinen Bildungs- und Lehraufgabe in Einklang bringen, wonach im Unterricht „Handlungen und Begriffe nach Möglichkeit mit vielfältigen Vorstellungen [zu] verbinden“ (ebd., 1) sind. Denn gerade eine historische Betrachtungsweise lässt mathematische Begriffe und Handlungen, die womöglich abstrakt eingeführt wurden, oft in einem neuen Licht erscheinen und trägt damit zu einer Diversifizierung der Vorstellungswelt in den Köpfen der S&S bei. Wer die Existenz irrationaler Zahlen beispielsweise mit dem tragischen Schicksal ihres Entdeckers HIPPASOS verbindet, wird sie womöglich in einem gänzlich anderen Licht sehen (siehe HISTOMATH-BOX I). In dieselbe Kerbe schlägt auch die Bildungs- und Lehraufgabe, wonach „die Schülerinnen und Schüler die vielfältigen Aspekte der Mathematik und die Beiträge des Gegenstandes zu verschiedenen Bildungsbereichen erkennen“ (Int.[2] 2004, 1) sollen. Einer dieser Aspekte, der geradezu prädestiniert dazu ist, die Beiträge der Mathematik zu anderen Bereichen aufzuzeigen, ist sicherlich die Geschichte. Worin sonst könnte der mathematische Einfluss auf Naturwissenschaft und Technik, Philosophie und Weltanschauung deutlicher zum Ausdruck kommen? Gerade diese historisch orientierte Perspektive auf die eigene Disziplin ist es sicher auch, welche die „Mathematik zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Allgemeinbildung“ (ebd., 2) werden lässt.

HISTOMATH-BOX I

Die pythagoreische Schule der griechischen Antike war nicht nur eine bedeutende Mathematikerschule, auf die zahlreiche wichtige Erkenntnisse zurückgehen (z.B. der Beweis für die Winkelsumme im Dreieck), sondern auch eine sich nach außen stark abschottende, quasi-religiöse Vereinigung. Der zentrale Eckpfeiler der pythagoreischen Weltsicht bestand in der Idee, dass das Wesen der Welt in der Harmonie der Zahlen liegt (vgl. Wußing 2008, 174). In diese ideologische Überzeugung von der Rationalität der Welt und der Zahlen fügte sich etwa auch die Musiktheorie nahtlos ein, in welcher der Zusammenhang zwischen dem Verhältnis ganzer Zahlen und dem Empfinden musikalischer Harmonie erfahrbar wird (vgl. Beutelspacher 2011, 62).

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Die Weltsicht von der Harmonie der Zahlen war jedoch nicht auf solidem mathematischen Grund gebaut. Dem Mathematiker HIPPASOS von Metapont – selbst Mitglied der pythagoreischen Schule – wird die für die pythagoreische Zahlenmystik vernichtende Entdeckung zugeschrieben, dass es inkommensurable, d.h. sich gegenseitig nicht messende Strecken gibt. Modern ausgedrückt hatte er die Existenz irrationaler Zahlen entdeckt. Von besonderer Ironie ist dabei, dass auch das Pentagramm – das Emblem der Pythagoreer – inkommensurable Strecken enthält. Damit war das Fundament der pythagoreischen Weltsicht zerstört. Die Legende erzählt, dass Hippasos für diese zerstörerische Entdeckung und für deren Kommunikation nach außen bei einem Schiffsunglück mit seinem Leben bezahlen musste (vgl. Wußing 2008, 177).

Auch wenn explizite Bezugnahmen wie diese auf den didaktischen Nutzen der Mathematikgeschichte im Lehrplan eher spärlich gesät sind, finden sich darin doch sehr viele Kondensationskeime, an die eine historisch orientierte Didaktik anknüpfen kann. Drei dieser Anknüpfungspunkte seien an dieser Stelle angeführt: So empfiehlt der Lehrplan – erstens – ein Lernen in anwendungsorientierten Kontexten, an denen die Nützlichkeit der Mathematik deutlich wird (vgl. ebd., 2). Neben der Technik ist sicherlich auch die Mathematikgeschichte zu diesen Kontexten zu zählen, zeigt sich darin doch in vielfältigster Weise, wie nützlich Mathematik sein kann. Angefangen bei der Bestimmung von Sonnenfinsternissen, über die Berechnung von Planetenbahnen bis hin zur komplexen Wechsel-stromrechnung. Zweitens enthält der Lehrplan den didaktischen Grundsatz des Lernens in Phasen, welches seinen Anfang auf einer konkret-anschaulichen Ebene nimmt und schrittweise in Richtung erhöhter Abstraktion fortschreitet (vgl. ebd., 2). Insofern dieser Wandel vom Anschaulichen zum Abstrakten nicht nur in den Köpfen der Lernenden, sondern auch historisch greifbar ist (z.B. im geschichtlichen Wandel der natürlichen Zahlen ℕ von konkreten Zähl-Zahlen hin zur Struktur eines kommutativen Halbringes) bietet die Mathematikgeschichte ein reich-haltiges Feld an intuitiv-heuristischen Konzepten, die aufgrund ihres geringen Abstraktionsgrades und ihrer Nähe zu ursprünglichen Frage-stellungen für den Schulkontext gut verwendbar sind.

Drittens sei noch darauf hingewiesen, dass auch die inhaltliche Auflistung des Lehrstoffes implizit viele Anknüpfmöglichkeiten für eine historisch-mathematische Didaktik bietet. An einem Beispiel verdeutlicht: Für die 8. Klasse sieht der Lehrplan das „Deuten einer Summe von ‚sehr kleinen Produkten‘ der Form ∙ ∆ als Näherungswert des bestimmten Integrals“ (ebd., 6) vor. Wenn auch nicht zwingend notwendig, legt diese inhaltliche Vorgabe doch einen kleinen Exkurs in die historischen Ursprünge der Integralrechnung mit einer Zwischenstation beim Philosophen und

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Mathematiker Gottfried Wilhelm LEIBNIZ (1646–1716) und dessen mathematischen Vermächtnis nahe. Bei genauerer Betrachtung lässt sich somit im Lehrplan eine Vielzahl an Kondensationskeimen erkennen, an die eine historisch orientierte Mathematikdidaktik sinnvoll anknüpfen kann. Es gilt somit auch hier: Wer suchet, der findet.

Blicken wir kurz zurück: Der mit der uneindeutigen Kompassnadel des Lehrplans einhergehende Interpretationsspielraum hat bezüglich der Rolle von Mathematikgeschichte im Unterricht zwei stark verschiedene Lesarten ergeben. Während die einschränkende Lesart die Möglichkeiten einer historischen Mathematikdidaktik innerhalb sehr eng gesteckter Grenzen sieht, erkennt die befürwortende Lesart im Lehrplan hingegen zahlreiche Anknüpfungspunkte, die gerade für eine historische Bezugsetzung mathematischer Inhalte sprechen. Neben dem expliziten Verweis auf historische Betrachtungen als didaktischer Grundsatz sind es tatsächlich diese vielen impliziten Kondensationskeime, welche die befürwortende Lesart in einem plausibleren Licht erscheinen lassen. Zumal die einschränkende Interpretationsweise nur unter Ausblendung einiger zentraler Vorgaben des Lehrplans als plausibel aufrechterhalten werden kann. Wenngleich der Lehrplan damit kein vollmundiges Bekenntnis zu einer historisch orientierten Mathematikdidaktik abgibt und Mathematik-geschichte darin nicht als Inhalt eigenen Rechts aufscheint, erkennt er doch – global betrachtet – den zentralen Stellenwert einer historischen Bewusstseinsbildung im Fach Mathematik an. Womit sich eine prima facie paradoxe Spannung zur Zeitlosigkeit mathematischer Erkenntnis allgemein auftut. Diese auszuleuchten ist Ziel des kommenden Abschnitts.

2.2 Die besondere Zeitlosigkeit mathematischen Wissens

Die befürwortende Lesart des Lehrplans, welche dem Bemühen um eine historische Tiefendimension im Mathematikunterricht eine zentrale Stellung beimisst, steht in überaus schrillem Kontrast zu der Beobachtung, dass Mathematik „in aller Regel fast vollständig ahistorisch vermittelt [wird]“ (Nickel 2013, 253). Gregor NICKEL, Professor für Geschichte und Philosophie der Mathematik an der Universität Siegen, trifft mit dieser Feststellung den Nagel – womöglich den Sargnagel für den aktuellen Zustand mathematikhistorischer Didaktik – auf den Kopf.

Der Grund für diese feststellbare Zurückhaltung, Mathematikgeschichte in den Unterricht zu integrieren, liegt sicherlich zum Teil auch im überzeitlichen Charakter der Mathematik als Fachdisziplin begründet. Keine andere akademische Disziplin trägt mit derart stolzgeschwellter Brust den Anspruch auf geschichtslose Unvergänglichkeit ihrer Erkenntnisse vor sich her (vgl. Ullrich 2008, 202). Beispielhaft zum Ausdruck kommt dieser

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erkenntnistheoretisch nicht gerade bescheidene Anspruch etwa in dem auf den ungarischen Mathematiker Paul ERDŐS (1913–1996) zurückgehenden Mythos eines Buches, in welchem Gott höchstselbst die perfekten Beweise für mathematische Sätze aufbewahrt (vgl. Aigner/Ziegler 2010, V). Auch wenn dieser Mythos nicht wortwörtlich als Dogma einer mathematischen Weltanschauung verstanden wird, schwingt darin doch deutlich die Idee einer mathematica perennis, einer ewigen Mathematik mit, die unbeeindruckt von allen historischen Entwicklungen in einem überzeitlichen Raum angesiedelt ist. Die platonische Ideenlehre, welche die gesamte sinnlich fassbare Wirklichkeit nur als Abbild ewiger, zeitlich unveränderlicher Formen versteht, ist als philosophische Wiege dieses Gedankens deutlich erkennbar. Ahistorizität, die Überzeitlichkeit von Erkenntnis erstrahlt in diesem Mythos als leuchtendes Ideal von Wissenschaft. In dieselbe Kerbe schlägt mit David HILBERT (1862–1943) ein nicht minder bedeutsamer Mathematiker, wenn er fordert, dass sich die akademische Mathematik in der Lehre primär auf das Unvergängliche konzentrieren solle (vgl. Ullrich 2008, 199). Auch hier schimmert deutlich das Ideal von Mathematik als einer von aller geschichtlichen Kontingenz befreiten Wissenschaft durch.

In einem ersten Schritt ist daher nach dem der Mathematik inhärenten Grund für diese Tendenz zur Geschichtslosigkeit zu fragen. Worin liegt dieses Ideal begründet? Zumal sie mit diesem großen Anspruch im weiten Felde aller wissenschaftlichen Disziplinen ziemlich allein auf erkenntnis-theoretischer Flur ist. Im Anschluss daran wird – aufbauend auf diese Frage – die Rolle der Geschichte im Kontext der Systematisierung mathematischen Wissens aufgegriffen.

2.2.1 Notwendigkeit, Zeitlosigkeit und Methodik2

Worin wurzelt die inhärente Geschichtslosigkeit der Mathematik, was ist der epistemologische Ursprung der Ahistorizität ihrer Erkenntnisse? Und warum ist naturwissenschaftliches Wissen etwa nicht derart dem zeitlichen Wandel enthoben? Die Frage ist mehr als berechtigt, scheinen sich mathematische Sätze prima facie von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in struktureller Hinsicht nicht wesentlich zu unterscheiden. Während die einen über Dreiecke, Funktionen und Mengen sprechen, beziehen sich die anderen auf Gene, Quarks und Moleküle. Ein Blick unter diese oberflächliche Ähnlichkeit offenbart jedoch einen bedeutenden Unterschied.

2 Dieser Abschnitt stellt in Teilen ein überarbeitetes Kapitel aus der Diplomarbeit „Vier

Farben und ein Problemfall“ aus dem Jahre 2013 über die philosophischen Implikationen von Computerbeweisen für den mathematischen Beweisbegriff dar (vgl. Ranz 2013, 36 ff).

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So scheinen mathematische Sätze von ihrer Natur aus derart zu sein, dass sie gar nicht anders sein könnten, wohingegen im Falle natur-wissenschaftlichen Wissens ein größerer Spielraum bemerkbar ist. An einem Beispiel verdeutlicht: Dass sich die Innenwinkel eines ebenen Dreiecks zu 180° addieren, scheint sich nicht einem besonderen Zufall zu verdanken. Vielmehr ist die Summe auf gewisse Weise gezwungen, genau diesen speziellen Wert zu betragen. Diese Unausweichlichkeit scheint es aber im Bereich der Naturwissenschaft nicht zu geben. So wäre es beispielsweise durchaus vorstellbar, dass fundamentale physikalische Konstanten wie die Lichtgeschwindigkeit, die Elementarladung oder das Wirkungsquantum einen anderen numerischen Wert hätten. Nichts scheint sie auf ihren tatsächlichen Wert so festzulegen wie es bei mathematischen Sachverhalten der Fall ist. Auch die Anzahl der Planeten in unserem Sonnensystem ist im philosophischen Sinne nicht notwendig, sondern den Zufälligkeiten bei der Herausbildung des Planetensystems geschuldet.

Dieser wichtige Unterschied wird von der metaphysischen Differen-zierung zwischen „notwendigen“ und „kontingenten“ Wahrheiten auf-gegriffen. Während sich die Wahrheit kontingenter Aussagen den besonderen Umständen der empirischen Welt verdankt, sind notwendige Wahrheiten völlig unabhängig von der speziellen Beschaffenheit der Wirklichkeit. Oft wird dieser metaphysische Unterschied auch in der Sprache möglicher Welten verdeutlicht (vgl. Musgrave 1993, 188): So sind notwendige Wahrheiten in allen möglichen Welten wahr. Es ist z.B. keine Welt vorstellbar, in der die Summe der Innenwinkel eines ebenen Dreiecks nicht 180° beträgt. Dagegen sind kontingente oder zufällige Wahrheiten nicht notwendigerweise in allen möglichen Welten wahr. Beispielsweise lassen sich problemlos Welten denken, in denen die Elementarladung größer und das Wirkungsquantum kleiner wären, als sie es de facto in unserer Welt sind. Dass der Planetenstatus selbst in unserer Welt nicht notwendig im philosophischen Sinne ist, musste erst vor Kurzem der nunmehrige Zwergplanet Pluto schmerzlich an sich selbst erfahren. Im Gegensatz zu den kontingenten Erkenntnissen der Naturwissenschaften gilt die Mathematik dagegen geradezu als Paradigma notwendiger Wahrheiten:

The scientist readily admits that her more fundamental theses might be false. This modesty is supported by a history of scientific revolutions, in which long standing, deeply held beliefs were rejected. Can one seriously maintain the same modesty for mathematics? Can one doubt that the induction principle holds for the natural numbers? Can one doubt that 7+5 = 12? Have there been mathematical revolutions that resulted in the rejection of central long-standing mathematical beliefs? (Shapiro 2000, 21).

Eng verbunden mit dem Aspekt der Notwendigkeit mathematischer Wahrheiten ist auch die – in obigem Zitat bereits angedeutete – Lang-lebigkeit und Zeitlosigkeit mathematischer Sätze, die eine epistemologisch

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zentrale Demarkationslinie zur Abgrenzung der Mathematik gegenüber den Naturwissenschaften darstellt. Letzteren haftet unweigerlich der Makel prinzipieller Fehlbarkeit an, sodass Fortschritte in ihnen immer bestenfalls nur eine asymptotische Approximation an eine „wahre“ Beschreibung der Natur darstellen, nie aber eine endgültige, absolut sichere Erkenntnis. Dies bewirkt Freiraum für wissenschaftliche Revolutionen: Die klassische Newton‘sche Mechanik wurde von der relativistischen Einstein‘schen Mechanik vom physikalischen Thron gestoßen, die ihrerseits eines Tages von einer mächtigeren, allgemeineren Theorie verdrängt werden wird. Derartige wissenschaftliche Umwälzungen oder gar Paradigmenwechsel wie im Falle der kopernikanischen Wende sind im Bereich der Mathematik hingegen ausgeschlossen. Es ist schlicht und einfach undenkbar, dass sich bewiesene mathematische Sätze, wie z.B. der pythagoreische Lehrsatz, eines Tages als falsch herausstellen könnten. 3 Oder dass sich die Menge aller Primzahlen doch – allen bisherigen Beweisen zum Trotz – als endlich herausstellte. Mathematische Aussagen scheinen sich nicht wie Aussagen im Bereich der Naturwissenschaft hinsichtlich des Grades ihrer Korrektheit reihen zu lassen, sondern unterliegen einer simplen wahr-falsch Dichotomie. Wahre, d.h. bewiesene Sätze gelten mit absoluter Sicherheit und sind daher auch von nachfolgenden Entwicklungen unabhängig. Im Gegensatz zum empirisch ermittelten Wissen der Naturwissenschaften, dem eine kürzere oder längere Halbwertszeit zugeschrieben werden kann, hat mathematisches Wissen kein Ablaufdatum. Mit anderen Worten: Es handelt sich um zeitlose Wahrheiten.

The theorems that Euclid and Pythagoras proved 2500 years ago are still valid today; and we use them with confidence because we know that they are just as true today as they were when those great masters discovered them. Other sciences are quite different. The medical or computer science literature of even three years ago is considered to be virtually useless. Because what people thought was correct a few years ago has already changed and migrated and transmogrified. Mathematics, by contrast, is here forever (Int.[3], 8).

Die angesprochene Differenz im Wissensstatus – probabilistisches Wissen auf Seiten der Naturwissenschaften, sicheres Wissen auf Seiten der

3 Auf den ersten Blick scheint die Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien eine

aussichtsreiche Kandidatin für eine wissenschaftliche Revolution innerhalb der Mathematik zu sein. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Gültigkeit der Euklid‘schen Geometrie von der Existenz nicht-euklidischer Geometrien völlig unberührt bleibt. Beide Geometrien sind konsistent, sie liefern aber – insofern sie von unterschiedlichen Axiomen ausgehen – unterschiedliche Ergebnisse. Die weiter-führende Frage, welche der Geometrien nun auf die von uns bewohnte Welt zutrifft, ist dagegen keine rein mathematische Frage mehr, weshalb beide Geometrien in der Mathematik friedlich koexistieren können. Die vermeintliche Revolution ist daher nicht mathematischer Natur, sondern bezieht sich auf unser Weltverständnis.

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Mathematik – ist dabei direkter Ausfluss unterschiedlicher Methodologien. Während die Naturwissenschaften auf ihrem Erkenntnisweg einer induktiven Logik folgen und dabei aus einer Vielzahl an empirischen Einzelbeobachtungen eine allgemeine Gesetzmäßigkeit ableiten wollen, ist das Wissensgebäude der Mathematik auf dem soliden Fundament logisch stringenter Beweise errichtet. Diese methodische Differenz ist von zentraler Bedeutung: So bleibt im Zuge eines induktiven Voranschreitens (wie es für die Naturwissenschaften charakteristisch ist) eine gewonnene Erkenntnis immer nur vorläufig, mag die Anzahl der Einzelbeobachtungen noch so groß sein. Mit dem österreichischen Philosophen und Wissenschafts-theoretiker Karl Raimund POPPER (1902–1994) gesprochen, bleibt induktives Wissen immer konjekturales Wissen, d.h. vorläufig (vgl. Popper 2004, 13). Und damit auch offen für Veränderung und Entwicklung. Der Erkenntnisprozess gelangt nie an ein Ende.

Der deduktiv strukturierte Beweis als Erkenntnispfad der Mathematik überträgt dagegen die Gewissheit von bereits als wahr eingesehenen Sätzen vermittelst logisch gültiger Schlussregeln auf nachfolgende Sätze bis hin zum finalen Theorem am Ende eines Beweisganges. Ein einziger Beweis stellt daher idealiter – im Gegensatz zu einer einzigen Beobachtung – bereits das Ende der fachlichen Diskussion dar.4 Jede weitere Reproduktion des Beweises vermehrt das Wissen nicht mehr, hat keinen erkenntnis-theoretischen Mehrwert, da die in Betracht stehende Frage kraft der Autorität des Beweises bereits ein für alle Mal geklärt wurde. Steigt die Gewissheit einer induktiv gewonnenen Erkenntnis mit der Anzahl der Replizierungen eines Experiments, ist der Wahrheitsgehalt einer mathe-matischen Feststellung schon mit ihrem ersten Beweis überzeitlich in Stein gemeißelt. Wie oft der Beweis der Irrationalität von � daher auch wiederholt werden mag, die Sicherheit der Erkenntnis bleibt dadurch unberührt. Es zeigt sich somit, dass die besondere Zeitlosigkeit mathematischen Wissens in ihrer Methodik – dem Erfordernis eines logisch stringenten Beweises – verwurzelt ist. Entlang dieser methodologischen Linie wird auch die erkenntnistheoretische Kluft zwischen Mathematik und Naturwissenschaft deutlich:

Letztlich müssen sich der Physiker oder der Chemiker stets auf ihre Beobachtungen, Messungen und Experimente verlassen, um sagen zu können, was „wahr“ ist, und dabei besteht immer die Möglichkeit einer genaueren (oder neueren) Beobachtung, einer präziseren (oder anderen) Messung oder eines neuen Experiments, das die bislang anerkannten „Wahrheiten“ modifiziert oder sogar umstürzt. Im Gegensatz dazu haben die Mathematiker einen felsenfesten

4 Diese Idealkonzeption von mathematischer Erkenntnis mag für kurze, überschaubare

Beweise plausibel sein (der Beweis der Irrationalität von √ sei als anschauliches Beispiel genannt), wird jedoch bei sehr langen, komplexen Beweisen problematisch. Interessierte an dieser Thematik seien auf (Ranz 2013) verwiesen.

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Begriff des Beweises als den endgültigen Schiedsrichter. Sicherlich ist diese Methode (in der Praxis) nicht perfekt, insbesondere wenn es um lange und komplizierte Beweise geht, aber sie bietet einen Grad an Sicherheit, dem keine Naturwissenschaft auch nur nahekommen kann (Borwein/Devlin 2011, 10).

Die zentrale historische Weichenstellung in der Methodik für diese angesprochene Zeitlosigkeit mathematischer Sätze erfolgte dabei im antiken Griechenland des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, als erstmals allgemeingültige Sätze formuliert und bewiesen wurden (vgl. Nickel 2013, 262). Mit diesem entscheidenden Schritt wandelte sich die Mathematik von einer empirisch-experimentell strukturierten Disziplin, wie sie etwa im antiken Ägypten oder Mesopotamien vorzufinden war, zu einer streng logisch aufgebauten, durch Beweise gestützten deduktiven Wissenschaft (vgl. Richter 2011, 85). In Anbetracht der innermathematischen Wichtigkeit von Beweisen kann dieser methodologische Quantensprung vom empirischen Praktizismus hin zur abstrakten Deduktion jenseits aller empirischen Verifikationsmöglichkeiten ohne Pathos als Geburtsstunde der Mathematik im engeren Sinne bezeichnet werden. Mathematik als Wissenschaft liegt erst mit diesem Erkennen der Notwendigkeit eines streng logischen Beweisganges vor. Von herausragender geschichtlicher Bedeu-tung ist dabei neben den Anfängen bei THALES und PYTHAGORAS besonders EUKLID, der mit seinen Elementen die axiomatisch-deduktive Gestalt der Mathematik entscheidend prägte. Diese sollte methodisch für die Mathematik bestimmend bleiben und ihr zeitloses Erkenntnisfundament sichern.

2.2.2 Geschichte und Systematisierung mathematischer Erkenntnis

Die Mathematik ist – bedingt durch ihr euklidisches methodisches Erbe – eine systematisierende Wissenschaft. Ein beziehungsloses Nebeneinander von Einzelerkenntnissen wird als hochgradig unbefriedigend empfunden. So versucht man in der Regel, ein historisch gewachsenes, mathematisches Gebiet zu systematisieren, indem es auf eine möglichst geringe Anzahl an Axiomen zurückgeführt wird. Aus diesen Axiomen soll dann wiederum die Gesamtheit der mathematischen Sätze deduktiv abgeleitet werden können. Euklid beispielsweise systematisierte das geometrische Wissen seiner Zeit in den Elementen auf der Basis von fünf Axiomen. Die natürlichen Zahlen und ihre Eigenschaften wiederum werden über die fünf Peano-Axiome charakterisiert. Ein Axiom steht dabei in der Mathematik ganz allgemein für eine bestimmte Aussage, die von vornherein als wahr vorausgesetzt wird und damit zusammen mit anderen Axiomen das Fundament für das zu errichtende Theoriegebäude darstellt (vgl. Arens 2010, 22).

Um die Gefahr einer logisch widersprüchlichen Axiomatisierung zu minimieren, wird die Anzahl der gewählten Axiome möglichst gering

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gehalten. Ziel ist es, ein bestehendes Wissensgebiet auf ein möglichst schlankes Axiomensystem, auf ein möglichst kleines Fundament zurück-zuführen (vgl. Jones 2006, 3). Damit fällt jedoch im Zuge des Axiomati-sierens alles durch den Rost der Systematisierung, was inhaltlich nicht von essentieller Bedeutung ist. Ein Axiomensystem stellt gleichsam eine äußerst verdichtete Form eines speziellen Inhalts dar, die den mathematischen Gehalt auf das Wesentliche konzentriert. Diese Verdichtung des mathematischen Inhalts erfolgt in der Regel jedoch auf Kosten der historischen Entwicklung und des präformalen Kontexts, der mit der Herausbildung eines Wissensgebietes aufs Engste verwoben ist:

In der Tat gelingt es der Mathematik offenbar wie kaum einer anderen Wissenschaft kumulativ voranzuschreiten. Ältere Erkenntnisse werden in eine aktuelle sprachliche und formale Darstellung transformiert, dabei in der Regel vereinfacht, zum Teil sogar trivialisiert, während die konkrete historische Gestalt und der präformale Kontext einschließlich Motivationen und intendierter Anwendungen vergessen werden (dürfen) (Nickel 2013, 253).

In der Axiomatisierung wird damit die geschichtliche Wurzel eines Wissensgebietes gekappt. So gehen im Zuge der inhaltlichen Systematisierung und Verdichtung auch jene heuristisch wichtigen, intuitiven Ideen und Motive verloren, die oft erst die Entwicklung eines Gebietes ermöglicht haben (vgl. Jahnke 1996, VII). Wie wertvoll die schrittweise historische Auskristallisierung eines Inhaltes heuristisch auch sein mag, für die systematisierende Mathematik mit ihrem Fokus auf inhaltliche Verdichtung ist diese Entwicklung letzten Endes belanglos. An einem Beispiel verdeutlicht: Die vertrackte geschichtliche Entwicklung des Begriffes der gleichmäßigen Konvergenz ist heuristisch von größter Bedeutung, lassen sich daran doch – z.B. in Abgrenzung zum Begriff der punktförmigen Konvergenz – zentrale Konzepte der höheren Analysis verdeutlichen und klären. Innerhalb der mathematischen Fachsystematik muss diese historische Verankerung jedoch als überflüssiges Beiwerk erscheinen, ist doch alles, was es mathematisch darüber auszusagen gibt, in der Definition von gleichmäßiger Konvergenz enthalten. Punkt. Insofern der mathematische Gehalt in der transformierten, verdichteten Darstellung verlustfrei erhalten bleibt bzw. unter Umständen sogar klarer und schlanker zum Vorschein kommt, erscheint ein Mitschleppen der historischen Herausbildung als lästiger Ballast. Kein Wunder also, dass diese geschichtlichen Bezüge im Schiff der wissenschaftlichen Mathematik mit Kurs auf überzeitliche Erkenntnis nicht als Anker genutzt, sondern nur allzu oft und allzu leicht über Bord geworfen werden. Der niederländische Mathematiker und Wissenschaftsdidaktiker Hans FREUDENTHAL (1905–1990) bringt diesen scheuklappenartigen Fokus auf die mathematische Systematik mit gleichzeitiger Tendenz zur Ausblendung der historischen Genese prägnant auf den Punkt:

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Ein Mathematiker ist gewöhnt zu objektivieren. Er publiziert nicht seine Gedankengänge, sondern eine objektivierende Bearbeitung: Definitionen, Satz, Beweis. Wenn er von den Überlegungen, die ihn zum Ziel führten, etwas veröffentlichte, käme er sich vor, als stände er in der Unterhose auf der Straße. [...] Er publiziert das Resultat und schweigt über den Weg zum Resultat (Freudenthal 1963, 16).

Das Verhältnis der wissenschaftlichen Mathematik zu ihrer Geschichte lässt sich damit gut anhand einer Metapher aus dem Tractatus logico-philosophicus des österreichischen Philosophen Ludwig WITTGENSTEIN (1889–1951) verdeutlichen: „Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist“ (Wittgenstein 1963; TLP 6.54). Die Geschichte der Mathematik gleicht in diesem Sinne einer Leiter, auf der die Mathematik – Sprosse für Sprosse – immer höhere Erkenntnisstufen erklimmt, die jedoch zurückgestoßen wird, sobald einmal ein sicheres Niveau erreicht ist. So wichtig die Leiter als Metapher für die geschichtliche Entwicklung für den Aufstieg auch sein mag, so unwesentlich wird sie mit dem Erreichen eines neuen, soliden Erkenntnisfundaments. Die historische Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien ist z.B. eines der spannendsten und in vielerlei Hinsicht auch erhellendsten Kapitel der Mathematikgeschichte. Mit der Axiomatisierung dieser alternativen Geometrien, die in mathematischer Hinsicht den gesamten relevanten Gehalt umfassen und ein solides Arbeiten ermöglichen, wird jedoch die konzeptuelle Genese mehr oder weniger bedeutungslos. Was zählt ist das Überzeitliche, nicht die Zufälligkeiten und Umwege die letztlich zu neuem Wissen geführt haben. Historische Ausprägungen mathematischen Wissens stellen damit lediglich Zwischen-schritte auf dem Weg hin zu verdichteter, überzeitlicher Erkenntnis dar. In diesem zwiespältigen Verhältnis liegt die der wissenschaftlichen Mathe-matik inhärente Tendenz zur Geschichtslosigkeit begründet.

2.3 Zwischen Geschichtsbewusstsein und Ahistorizität – ein erstes Fazit

Ein resümierender Blick zurück auf diese erste Annäherung zeigt deutlich, dass Lehrplan und Fachsystematik stark unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf das Verhältnis der Mathematik zu ihrer Geschichte vermitteln. Im dialektischen Dreischritt stellen sie gleichsam These und Antithese dar. Während der Lehrplan in seiner befürwortenden Lesart – für deren Adäquatheit sich gute Gründe anführen lassen – das Schaffen historischer Bezüge und die Förderung eines geschichtlichen Bewusstseins als zentrale Aspekte des Mathematikunterrichts ausweist, ist die historische Verankerung innerhalb der Mathematik als wissenschaftlicher Disziplin

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geradezu bedeutungslos, wenn nicht sogar kontraproduktiv. Die Aus-bildung einer historischen Tiefendimension im Unterricht steht somit der Entwicklung überzeitlicher Erkenntnis innerhalb der wissenschaftlichen Mathematik in schroffem Gegensatz gegenüber. Welches erste Fazit lässt sich als Synthese aus dieser dialektischen Spannung ableiten?

Die Verführung ist natürlich groß, die systematisierte Mathematik auch als System unterrichten zu wollen, als ein ihren geschichtlichen Wurzeln enthobenes, ahistorisches Konglomerat aus Definitionen, Sätzen und Beweisen, in welchem sich alle Teile nahtlos zu einem perfekt systematisierten Ganzen zusammenfügen (vgl. Selter 1997, 5). Wer dieser Verführung nachgibt, übersieht jedoch, dass es sich hierbei letztlich um zwei kategorisch verschiedene Bereiche mit kategorisch verschiedenen Ziel-setzungen handelt, die nicht notwendig im methodischen Gleichschritt marschieren müssen. Weder sagt der Lehrplan darüber etwas aus, wie die wissenschaftliche Mathematik zu verfahren habe, noch gibt die Mathematik als Wissenschaft der Schulmathematik eine methodisch-didaktische Marschrichtung vor. Elemente, die sich in einem Bereich bewährt haben und sinnvoll sind, können im jeweils anderen Bereich fehl am Platz sein. Dies gilt in ganz allgemeiner Hinsicht, aber auch speziell bezogen auf den Fokus Geschichte: Das Transzendieren historischer Umstände mag innerhalb der Mathematik als wissenschaftlicher Disziplin gut begründet sein und mag sich auch praktisch bewährt haben. Schön und gut. Damit ist jedoch noch nichts über den Stellenwert von Geschichte im Mathematikunterricht ausgesagt. Aus dem Sein der akademischen Mathematik folgt kein Sollen für die Schulmathematik. Diesen gefährlichen Fehlschluss gilt es zu vermeiden.

Hierin besteht das erste Fazit dieses Kapitels: Auch wenn die Mathe-matik als Wissenschaft bis in ihr tiefstes akademisches Mark von einer eminenten Geschichtsvergessenheit und dem Ideal überzeitlicher Er-kenntnis geprägt ist, kann ein Einbinden der historischen Entwicklung mathematischen Wissens dennoch eine zentrale Rolle im Mathematik-unterricht einnehmen. Der Freiraum hierfür ist gegeben. Nur darf die akademische Logik nicht als pädagogische Logik und das Faktum der Ahistorizität mathematischer Erkenntnis nicht als didaktische Maxime missverstanden werden. Diese Parallelisierung wäre ein höchst problema-tischer Kurzschluss. In weiterer Folge wird nun zu fragen sein, wie sich dieser Freiraum für die Entwicklung einer historisch-mathematischen Didaktik nützen lässt und auf welchem pädagogisch-didaktischen Fundament eine derartige Orientierung des Mathematikunterrichts gestützt werden kann.

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III PÄDAGOGISCHES PRÄLUDIUM

Unterricht ist nicht gleich Unterricht. Diese pädagogische Binsenweisheit gilt ganz allgemein, in spezieller Hinsicht natürlich auch für den Mathe-matikunterricht. Dass ein und dasselbe Thema auf diametral verschiedene Art und Weise im Unterricht behandelt werden kann, soll ein erstes Beispiel verdeutlichen:

Eine Möglichkeit, den mathematischen Funktionsbegriff zu unterrichten, besteht darin, auf der Basis der Mengenlehre eine (reelle) Funktion einer Veränderlichen abstrakt als das zu präsentieren, was sie in der wissenschaftlichen Mathematik darstellt: Als Abbildungsvorschrift , welche jede Zahl � ⊆ ℝ genau einer Zahl ℝ zuordnet (vgl. Arens 2010, 85). Auf diese Art und Weise wird in kondensiert-mathematischer Form alles ausgesagt, was es über den Funktionsbegriff auszusagen gibt. Die Eindeutigkeit der Abbildung in einer Richtung als zentrale Eigenschaft einer jeden Funktion wird dabei den Lernenden gleichsam auf dem mathematischen Silberteller präsentiert. Dieser abstrakte Zugang erlebte vor allem im Zuge der noch zu thematisierenden Strömung der „Neuen Mathematik“ eine Blüte, welche insbesondere die Behandlung abstrakter Strukturen zur didaktischen Maxime erhob. In diesem Fokus, der sich an der höchsten Sprosse der mathematischen Systematisierungsleiter orientiert und konsequent alle historischen und heuristischen Vorformen ausblendet, gerät so auch die lange und mühsame Entwicklungsgeschichte des Funktionsbegriffes aus dem Blick. Damit wird nicht zuletzt die Chance vertan, den Funktionsbegriff am Beispiel der Person Leonhard EULERs und dessen konzeptionellen Wandels im Verständnis einer Funktion zu verdeutlichen (siehe HISTOMATH-BOX II).

Eine von diesem ersten Zugang radikal verschiedene Art und Weise, den Funktionsbegriff im Unterricht einzuführen, geht nicht vom Endpunkt der innermathematischen Systematisierung aus. Anstatt den abstrakten Funktionsbegriff als fertiges Produkt zu präsentieren, wird das pädago-gische Hauptaugenmerk vielmehr daraufgelegt, zentrale Eigenschaften und Aspekte einer Funktion selbst zu entdecken und das diesbezügliche Wissen eigenständig zu entwickeln. Ausgangspunkt dieses Zuganges stellt daher nicht eine abstrakte Definition dar, sondern eine Reihe von anschaulichen Beispielen funktionaler Abhängigkeit, entweder in der Form konkreter Operationen oder in der Form ihrer graphischen Repräsentation. Aus-gehend von diesen Beispielen soll dann ein intuitives Verständnis des Funktionsbegriffes gewonnen werden, welches die Eindeutigkeit der Abbildung in eine Richtung als zentrale Funktionseigenschaft eigenständig erkennen lässt (vgl. Behr 1996, 35). Der Funktionsbegriff fällt auf diese Weise

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nicht unvermittelt aus dem mathematischen Ideenhimmel auf irdisch-schulische Niederungen herab, sondern wird – geleitet durch anschauliche Beispiele funktionaler Abhängigkeit – von den S&S eigenständig entwickelt.

HISTOMATH-BOX II Der mathematische Funktionsbegriff ist ein historisch gewachsener, dessen Evolution – von rudimentären Vorformen in der Antike bis zur abstrakten Formulierung bei Dirichlet – sich über einen langen Zeitraum erstreckte. Dennoch lassen sich in der Person Leonhard Eulers in relativ kurzer Zeit substantielle Änderungen am Funktionsbegriff beobachten. So schrieb er noch 1748 in seiner Introductio in analysin infinitorum:

Eine Funktion einer veränderlichen Größe ist ein analytischer Ausdruck, der auf irgendeine Weise aus der veränderlichen Größe und aus Zahlen oder konstanten Größen zusammengesetzt ist (zit. nach Walter 1985, 112).

So verstanden ist eine Funktion ein mathematisches Objekt, das sich in einem geschlossenen Ausdruck formulieren lässt. Mit dieser Definition werden jedoch viele Ausdrücke nicht erfasst, die heute selbstverständlich zu den Funktionen zählen, wie etwa die an jeder Stelle ihres Definitionsbereiches unstetige Dirichlet-Funktion D:

�: ℝ ↦ { , } � = { , �� ℚ, �� ℚ Bereits 1755, nur 7 Jahre nach seiner obigen Definition, legte Euler jedoch in der Schrift Institutiones calculi differentialis einen weit allgemeineren Definitionsbegriff vor:

Wenn gewisse Größen von anderen Größen so abhängen, daß eine Änderung der letzteren eine Änderung der ersteren nach sich zieht, so werden diese Größen Funktionen der letzteren genannt. Diese Begriffsbestimmung ist von weitester Art und umfaßt alle Möglichkeiten, eine Größe durch andere zu bestimmen. Wenn also x eine variable Größe bezeichnet, so werden alle Größen, die von x abhängen oder durch x festgelegt sind, Funktionen von x genannt (zit. nach Walter 1985, 112).

Von diesem schon sehr allgemeinen Punkt der Begriffsentwicklung war es dann kein weiter Weg mehr zum abstrakten Funktionsbegriff, der gewöhnlich dem deutschen Mathematiker Peter Gustav DIRICHLET zugeschrieben wird (vgl. Behr 1996, 35 f.).

Dieser zweite Zugang, der die eigenständige Entwicklung von Wissen, den aktiven Nachvollzug von Erkenntnis, das schrittweise Werden von Konzepten in den Mittelpunkt des Unterrichts stellt, ist der Bildungstheorie alles andere als fremd und wird begrifflich mit dem sogenannten „genetischen Prinzip“ gefasst. Der Fokus des genetischen Prinzips auf das

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Werden und das Entwickeln lässt jedoch mehrere Interpretationen und konkrete Ausformungen zu. Insofern mit Genese nämlich nicht nur die individuelle Wissensentwicklung im konkreten Lernsubjekt, sondern auch die historische Entwicklung einer Disziplin gemeint ist, „stellt das genetische Prinzip die wohl am häufigsten ins Treffen geführte Rechtfertigung für den Einbau historischer Elemente im Mathematikunterricht dar“ (Kronfellner 1998, 12). Im Zuge dieses pädagogischen Präludiums soll daher mit dem genetischen Prinzip ein aussichtsreicher Kandidat für eine solide theoretische Fundierung einer mathematikhistorischen Didaktik näher untersucht werden. Dabei wird im ersten Abschnitt das genetische Prinzip allgemein beleuchtet und inhaltlich differenziert zu klären versucht. Was ist darunter zu verstehen? Welche Formen des genetischen Prinzips gibt es? Wie lässt sich diese didaktische Akzentuierung des Werdens begründen? Wenn auch in der Beantwortung dieser Fragen die Mathematik nicht gänzlich ausgespart bleibt, fragt der zweite Abschnitt danach doch noch einmal speziell nach der Rolle des genetischen Prinzips im Kontext der mathematischen Fachdidaktik. Konkret: Welcher Stellenwert kommt dem Werden, der historischen Evolution mathematischer Erkenntnis in der Lehre zu?

3.1 Das genetische Prinzip in der Pädagogik

Eine erste inhaltliche Annäherung an das genetische Prinzip liefert die Etymologie des Begriffes. Dabei lassen sich zwei separate sprachliche Wurzeln ausmachen, auf die das genetische Prinzip rückgeführt werden kann: Der griechische Begriff „gignomai“ bedeutet ‚ursprünglich werdend, entstehend‘ und legt damit das Augenmerk besonders auf das Sich-Entwickeln aus dem Ursprung. Die zweite sprachliche Wurzel liegt in unmittelbarer semantischer Nähe, bedeutet der griechische Begriff „genesis“ ja ebenfalls ‚Entstehung, Entwicklung‘ (vgl. Möller 2001, 15). Mit dieser etymologischen Annäherung ist somit das Herzstück des genetischen Prinzips – die Betonung des Werdens und Entwickelns im Gegensatz zur Präsentation fertigen Wissens – bereits gewonnen. Ein differenzierterer Blick unter die Oberfläche des Begriffes zeigt jedoch, dass sich mit diesem Prinzip zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen verbinden. Diese aufzuzeigen und dadurch das genetische Prinzip zu klären, ist Ziel dieses Abschnittes.

3.1.1 Das genetische Prinzip – ein Porträt

Über die Etymologie des Begriffes ist die Leitidee des genetischen Prinzips bereits deutlich sichtbar geworden: Im Fokus steht die Entwicklung von Wissen im Unterricht im Gegensatz zu dessen Vermittlung als Fertigprodukt (vgl. Selter 1997, 4). Wissen soll gemäß dem genetischen

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Prinzip nicht als abgeschlossene, vollkommen systematisierte Einheit präsentiert, sondern je neu entwickelt, neu durchdacht und neu entdeckt werden. Salopp formuliert empfiehlt dieses Prinzip das motivierende Wecken von Wissenshunger auf Seiten der S&S, anstatt diesen fixfertige kognitive Häppchen auf dem schulischen Silberteller zu präsentieren. In seiner Essenz kommt das genetische Prinzip im folgenden Zitat des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John DEWEY (1859–1952) zum Ausdruck:

Die Erkenntnis der Vergangenheit ist der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. [...] Indem wir es im Werden studieren, wird manches unserem Verständnis zugänglich, das heute zu verwickelt ist, um unmittelbar erfaßt zu werden. Die „genetische Methode“ war vielleicht der größte wissenschaftliche Fortschritt der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihr Grundgedanke ist eben dieser: der Weg zum Verständnis eines verwickelten Produktes führt durch das Studium seines Werdeganges (Dewey 1993, 283).

In seiner Betonung der Entwicklung von Wissen wendet sich das genetische Prinzip damit insbesondere gegen eine resultantische Unterrichtsform, welche sich in Ausblendung der sachlogischen wie historischen Entwicklung eines Stoffgebietes scheuklappenartig auf die vollständig systematisierten bzw. abgeschlossenen Resultate konzentriert. Wie süß diese pädagogische Verlockung auch sein mag, die Vermittlung eines aus der Perspektive von bereits Wissenden perfekt systematisierten Wissens wird vom genetischen Prinzip entschieden abgelehnt. Das Gutgemeinte entpuppt sich auch hier nur allzu leicht als das Gegenteil von gut. Es kann zweifellos gut gemeint sein, den Unterricht didaktisch an einem abgeschlossenen Wissenssystem auszurichten, zumal die S&S im Laufe ihrer Schullaufbahn ohnehin auch an das Ziel herangeführt werden sollen, dieses Wissenssystem zu beherrschen. In das Gegenteil von gut kann dieser Weg aus der Perspektive des genetischen Prinzips jedoch nicht zuletzt deshalb umschlagen, weil den Lernenden auf diese Weise die Chance genommen wird, Wissen selbstständig zu entwickeln und eigenständig sich anzueignen. Diese allgemeine Ablehnung der Präsentation fertigen Wissens hat auch für den Mathematikunterricht Konsequenzen: In diesem thematischen Kontext wendet sich das genetische Prinzip speziell gegen eine deduktivistisch-formalistische Vermittlung von Mathematik, welche den Unterricht primär auf der Präsentation allgemeiner Strukturen und abstrakter Begriffe aufbaut. Im Gegensatz dazu sollen im Mathematik-unterricht gemäß dem genetischen Prinzip vielmehr – geleitet von anschaulichen Beispielen und unter Rückgriff auf diverse heuristische Prinzipien – die abstrakteren Begriffe aus den konkreteren entwickelt werden. „Von Beispielen und Gegenbeispielen geleitet wird also quasi empirisch das mathematische Terrain erkundet, bis schließlich am Ende des (Lern-)Prozesses die allgemeinen Begriffe und Theoreme erreicht sind“ (Nickel 2013, 257).

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Mit dieser ersten Charakterisierung ist bereits ein zweifaches kon-zeptionelles Näheverhältnis des genetischen Prinzips deutlich geworden. Das pädagogische Rad wird auch von diesem Unterrichtsprinzip nicht gänzlich neu erfunden. Zum einen fällt die Nähe zu lernpsychologischen Theorien auf, welche allgemein die Notwendigkeit des aktiven Wissenserwerbs im Gegensatz zur passiven Übernahme von Wissen herausstreichen (vgl. Möller 2001, 20). Der Zusammenhang besteht nun darin, dass im Zuge einer genetischen Entwicklung von Wissen die Lernsubjekte automatisch auch in ihrer aktiven Wissensaneignung gefördert werden. Zum anderen ist die konzeptionelle Nähe des genetischen Prinzips speziell zum pädagogischen Konstruktivismus deutlich sichtbar, dem-zufolge S&S – gleichsam als Baumeister ihrer Erkenntnis – Wissen eigenständig konstruieren müssen, anstatt einfach nur vorgefertigte Wissensbausteine zu übernehmen. Im Gegensatz zur Pädagogik des berühmt-berüchtigten Nürnberger Trichters rückt der Konstruktivismus daher Aspekte wie geistige Selbsttätigkeit, konstruktiven Wissensaufbau und eigenständige Entwicklung von Strukturen in das Rampenlicht des Unterrichts (vgl. ebd., 20). Auch in dieser Hinsicht zeigen sich somit substantielle Schnittmengen mit dem genetischen Prinzip.

Der Fokus auf die Entwicklung von Wissen – so viel ist an dieser Stelle bereits klar geworden – ist das Herzstück des genetischen Prinzips. Diese Leitidee ist jedoch noch sehr allgemein formuliert und bedarf daher noch detaillierter inhaltlicher Konkretionen. Je nach Fach und Disziplin wird diese notwendige Spezifizierung natürlich etwas anders aussehen, das Genetische in einem Fach muss nicht deckungsgleich mit dem Genetischen in einem anderen Fach sein. Speziell für die Mathematik legt der Mathematikdidaktiker Erich WITTMANN eine derartige Ausbuch-stabierung des genetischen Prinzips vor:

Entsprechend der Tatsache, dass sich Theorien in den exakten Wissenschaften bei der Untersuchung von Problemen durch Verfeinerung primitiver Vorformen entwickelten, kann man eine genetische Darstellung durch folgende Merkmale charakterisieren: Anschluß an das Vorverständnis des Adressaten, Einbettungen der Überlegungen in größere ganzheitliche Problemkontexte außerhalb oder innerhalb der Mathematik, Zulässigkeit einer informellen Einführung von Begriffen aus dem Kontext heraus, Hinführung zu strengen Überlegungen über intuitive und heuristische Ansätze, durchgehende Motivation und Kontinuität,

während des Voranschreitens allmähliche Erweiterung des Gesichtskreises und entsprechende Standpunktverlagerung (Wittmann 1974, 97 f.).

Sämtliche Punkte dieser Definition eines genetischen Zugangs im Mathematikunterricht lassen sich am eingangs angeführten Beispiel der

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Erarbeitung des Funktionsbegriffes noch weiter verdeutlichen. Exempli gratia: Spricht Wittmann vom Anschluss an das Vorverständnis der Adressaten, so bieten sich alltägliche, allgemein bekannte funktionale Abhängigkeiten wie der Temperaturverlauf als Funktion der Tageszeit an. Hierbei handelt es sich zugleich um eine – in Wittmann‘scher Terminologie – informelle Einführung von Begriffen aus dem Kontext heraus, werden an diesem Beispiel doch zentrale Aspekte einer Funktion bzw. der Begriff „Funktion“ selbst deutlich. Die allmähliche Erweiterung des Gesichtskreises und eine entsprechende Standpunktverlagerung zeigen sich innerhalb dieses Beispiels schließlich darin, dass ausgehend von intuitiv-heuristischen Ansätze wie der Zeit-Temperatur-Funktion immer mehr vom Anschaulich-Konkreten abstrahiert werden kann und die weit abstraktere Eindeutigkeit der Abbildung in eine Richtung als definierende Eigenschaft einer Funktion gewonnen wird. Damit ist nun schon eine erste konkrete Vorstellung gewonnen, was Entwicklung als Maxime des genetischen Prinzips im Mathematikunterricht bedeuten kann. Zu klären wird noch sein, wie weit auch ein historisch orientierter Unterricht dazu in der Lage ist, diesen Merkmalen des Genetischen gerecht zu werden.

Wiewohl das genetische Prinzip innerhalb der Mathematikdidaktik erst als Gegenbewegung zur „Neuen Mathematik“ der 1960er und 1970er seine Blüte erreichte, handelt es sich dabei um ein Unterrichtsprinzip mit langer Tradition (vgl. Selter 1997, 4). Drei dieser zum Teil weit zurückreichenden geschichtlichen Wurzeln seien an dieser Stelle kurz angeführt: Keimzellen des genetischen Prinzips lassen sich schon bei Johann Amos COMENIUS (1592–1670), dem Begründer der Didaktik, entdecken. Als Gegenpol zur Präsentation komplexer und fertiger Wissensbestandteile empfiehlt er eine Orientierung an der historischen Entwicklung einer Disziplin. Der Gang der Lehre möge dem Gang der Tatsachen folgen, wodurch das historisch Frühere automatisch auch das didaktisch Frühere sein soll (vgl. Möller 2001, 16). Comenius kann daher mit Fug und Recht als Vordenker des historisch-genetischen Prinzips bezeichnet werden, welches noch Gegenstand ausführlicher Analysen sein wird. Eine weitere bedeutsame historische Wurzel des genetischen Prinzips findet sich im Pädagogen Johann Heinrich PESTALOZZI (1746–1827), der in Bezug auf die Maxime der Entwicklung bereits zwischen der historischen Entwicklung einer Disziplin und der sachlogischen Entwicklung von Wissen differenziert (vgl. ebd., 16). Als dritte historische Wurzel des genetischen Prinzips sei noch einmal genauer das pädagogische Gedankengut John Deweys erwähnt, der sich gegen die systematisch-deduktive Unterrichtsform seiner Zeit wandte. Anstatt Strukturen fertig und systematisiert vorzugeben, sollen diese im Unterricht in produktiver Auseinandersetzung mit dem Stoffgebiet entdeckt und entwickelt werden. Aufgabe der Lehrperson ist es in dieser Konzeption nicht mehr, einen fertigen Stoff an die S&S, sondern vielmehr zwischen den

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Lernenden und dem Stoff zu vermitteln (vgl. Selter 1997, 4). Dabei werden weder das inhaltliche Stoffgebiet noch die S&S als fixe, unwandelbare Kategorien verstanden. Vielmehr betont Dewey die doppelte, sich gegenseitig ergänzende Entwickelbarkeit von Stoff und Kind als zentrale Charakteristika eines Lernprozesses:

Abandon the notion of subject-matter as something fixed and ready-made in itself, outside the child‘s experience; cease thinking of the child‘s experience as also something hard and fast; see it as something fluent, embryonic, vital; and we realize that the child and the curriculum are simply two limits which define a single process (Dewey 1966, 11).

3.1.2 Das genetische Prinzip bei Wagenschein

Mit Comenius, Pestalozzi und Dewey sind drei bedeutsame historische Wurzeln des allgemeinen genetischen Prinzips bereits genannt. Innerhalb der Didaktik der Naturwissenschaften und der Mathematik ist dieses Unterrichtsprinzip jedoch untrennbar mit dem deutschen Physiker und Pädagogen Martin WAGENSCHEIN (1896–1988) verbunden, welcher in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen wesentlichen Beitrag zur Entfaltung des Genetischen in diesem Kontext leistete (vgl. Möller 2001, 15). Wagenschein kritisierte den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht seiner Zeit und stellte besonders die übliche Form des darlegenden Unterrichts, welcher kaum genetische Momente zulässt, an den methodisch-didaktischen Pranger. „Dieses darlegende Lehren ist vergleichbar der Führung durch eine geordnete Ausstellung der Funde einer abgeschlossenen Expedition“ (Wagenschein 2010, 79). So wie Ausstellungsobjekte einer abgeschlossenen Expedition bestenfalls als etwas Äußerliches zur Kenntnis genommen werden können, zu dem kein persönlicher Bezug besteht, ist auch der darlegende Unterricht primär auf passive Kenntnisnahme fertiger Wissenseinheiten ausgerichtet. Daher betont Wagenschein auch die in psychologischer wie pädagogischer Hinsicht kategorische Differenz zwischen dem Moment des eigenständigen Entdeckens und Entwickelns gegenüber dem Moment der Kenntnisnahme fertiger Strukturen, die zwar der Lehrperson, nicht jedoch den Lernenden als abgeschlossen ersichtlich sind (vgl. ebd., 79).

Als Gegenentwurf zu dieser darlegenden Form von Unterricht legt Wagenschein eine Lehrweise vor, „die man Genetisch nennen kann“ (ebd., 75). Wiewohl Wagenschein sich dreier Begriffe – genetisch, sokratisch, exemplarisch – bedient, um diese seine favorisierte Lehrweise inhaltlich näher zu charakterisieren, lässt er doch keinen Zweifel daran, dass in dieser begrifflichen Trias dem Moment des Genetischen die zentrale Bedeutung zukommt. „Es ist in dieser Dreiheit führend“ (ebd., 75). Diese Führungsrolle

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wird damit begründet, dass das Moment des Werdens eine Grund-bestimmung von Pädagogik überhaupt ist:

[Das Genetische] gehört zur Grundbestimmung des Pädagogischen überhaupt. Pädagogik hat mit dem Werdenden zu tun: mit dem werdenden Menschen und – im Unterricht, als Didaktik – mit dem Werden des Wissens in ihm (Wagenschein 2010, 75).

Das Moment des Genetischen bzw. des Werdens wird von Wagenschein somit primär auf das individuelle Lernsubjekt und die Wissensentwicklung in ihm bezogen. Wie steht es um die beiden anderen Aspekte der Wagenschein‘schen Trias? Das Moment des Sokratischen ist laut Wagenschein von großer Bedeutung, insofern sich die individuelle Wissensentwicklung am besten im Dialog, im Sokratischen Gespräch vollzieht. 5 Ein berühmtes mathematik- bzw. philosophiehistorisches Bei-spiel hierfür ist die Episode aus dem platonischen Dialog „Menon“, in welcher Sokrates einen Sklaven allein aufgrund von Fragen zu profunden mathematischen Einsichten führt (siehe HISTOMATH-BOX III). Das Moment des Exemplarischen ist schließlich ein ebenso wichtiger Aspekt der Didaktik Wagenscheins, kommt eine genetisch-sokratische Vorgangsweise doch am besten zur Entfaltung, wenn sie sich – gemäß dem Motto „Weniger ist mehr“ – auf ausgewählte exemplarische Themenkreise beschränkt (vgl. Wagenschein 2010, 75).

Diese didaktischen Weichenstellungen Wagenscheins werden vor dem Hintergrund seiner pädagogischen Zielsetzungen noch klarer. Ziel seines als genetisch-sokratisch-exemplarisch konzipierten Unterrichts ist nämlich nicht ein Expertentum, welches scheuklappenartig innerhalb bekannter, vorgegebener Strukturen operiert, sondern eine Form allgemeiner Bildung, die Wagenschein neu als „Formatio“ charakterisiert (vgl. ebd., 76). Eckstein dieser Formatio ist neben dem produktiv-kreativen Umgang mit unbe-kannten Situationen auch die Einwurzelung von Wissen in die ur-sprüngliche Wirklichkeit der Lernenden. Mit diesem an die französische Philosophin Simone WEIL angelehnten Konzept des „Enracinement“

5 Eine ausführliche Analyse und Kritik der Sokratischen Methode als Unterrichtsprinzip

würde zu weit vom eigentlichen Thema – dem genetischen Prinzip bei Wagenschein – wegführen. Dennoch sei kurz (auch aus mathematikhistorischem Interesse) ange-merkt, dass sich der bedeutsame Mathematiker Karl WEIERSTRASS (1815–1897) als 26-jähriger Gymnasialreferendar sehr skeptisch zur Umsetzbarkeit dieses Prinzips äußerte, insofern der pädagogische Nutzen einer sokratischen Gesprächsführung immer nur auf ein paar Wenige beschränkt sei (vgl. Führer 1997, 49). Und selbst wenn der sokratische Dialog als echter Dialog zwischen zwei Personen geführt wird, muss die kritische Frage gestellt werden, ob nicht die Schülerin bzw. der Schüler auf diese Weise mehr am Gängelband der Fragen der Lehrperson geführt wird, als gemäß dem genetischen Prinzip Wissen eigenständig zu konstruieren. Der Dialog „Menon“ von Platon bestärkt eher diesen Eindruck.

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verbindet Wagenschein die Zielvorstellung, dass das Erlernte nicht träges Vorratswissen bleibt, sondern sich gleichsam in die Alltagswelt als ursprüngliche Realität der S&S einwurzelt. Ein das Werden fokussierender, genetischer Unterricht soll dabei diese Einwurzelung des Wissens fördern. In ein metaphorisches Paradoxon gekleidet zeigen sich die Blüten des genetischen Lernens bei Wagenschein somit an den Wurzeln.

HISTOMATH-BOX III

Im Dialog „Menon“ versucht Platon anhand eines Beispiels seine Anamnesis-Lehre zu belegen, welche besagt, dass jeder Erkenntnisakt ein bloßes Wiedererinnern der Seele an ein vorgeburtliches Wissen darstellt. Dazu führt er vor, wie ein Sklave – paradigmatisch für einen (mathematisch) ungebildeten Menschen – allein durch geschicktes Fragen im Zuge eines Sokratischen Gesprächs zur Lösung eines geometrischen Problems geführt wird. Nicht umsonst wird das Sokratische Gespräch auch als „Mäeutik“ (Hebammenkunst) bezeichnet, insofern Sokrates als geschickter Fragesteller gleichsam Geburtshelfer der Erkenntnis ist. Im Zentrum des Dialogs steht die geometrische Frage, um wieviel die Seitenlänge eines Quadrates verlängert werden müsse, will man die doppelte Fläche erhalten. Der Sklave meint zuerst, die Verdoppelung der Fläche über eine Verdoppelung der Seitenlänge zu erreichen, sieht aber durch geschicktes Nachfragen rasch ein, dass auf diese Weise die Fläche vervierfacht würde. Ergo muss dieses resultierte Quadrat derart halbiert werden, dass wiederum ein Quadrat entsteht. Angeleitet durch Fragen erkennt der Sklave schließlich, dass die Diagonalen der vier kleinen Quadrate ein solches Quadrat umschließen. Somit ist die Diagonale des ursprünglichen Quadrats die Seitenlänge des gesuchten Quadrats mit der doppelten Fläche (vgl. Röd 2000a, 112). Heureka! Das Besondere an dieser Szene ist dabei, dass der Sklave als Personifikation der Unbildung gleichsam von sich aus, ohne Belehrung oder Instruktion, sondern allein aufgrund aktivierender Fragen zur Lösung findet. Diese erkenntnisleitende Funktion von Fragen gilt auch heute noch als das zentrale Charakteristikum des Sokratischen Gesprächs.

3.1.3 Varianten des genetischen Prinzips

In seinem Fokus auf das Werden und das Entwickeln von Wissen ist das genetische Prinzip heute nahezu eine pädagogische Selbstverständlichkeit. Kaum jemand, der die Wichtigkeit des Werdens von Wissen im schulischen Kontext ernsthaft in Frage stellt. In diesem Sinne können Wagenschein und die anderen Vorreiter zufrieden sein. So selbstverständlich und klar, wie das Prinzip auf den ersten Blick wirkt, ist es bei näherer Betrachtung jedoch

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nicht. Unter dem einheitlichen begrifflichen Schirm des genetischen Prinzips tummeln sich nämlich eine Vielzahl unterschiedlicher Lehr- und Lernmethoden, die zum Teil stark divergierende Zielsetzungen verfolgen. Jenseits des Grundkonsenses – die zentrale Bedeutung der Entwicklung von Wissen – franst das genetische Prinzip zum Teil inhaltlich gehörig aus. Dies liegt daran, dass die beiden Schlüsselbegriffe „Werden“ und „Entwicklung“, die im Rampenlicht des genetischen Prinzips stehen, verschiedene Interpretationen erlauben. Mit jeder dieser Interpretationsmöglichkeiten geht in weiterer Folge eine eigene Variante des genetischen Prinzips einher. So nennt etwa die deutsche Pädagogin Kornelia MÖLLER drei unterschiedliche Aspekte, auf die das Moment des Genetischen bezogen werden kann:

Zum einen kann sich das Genetische auf das Lernsubjekt, den konkreten Schüler bzw. die konkrete Schülerin beziehen. Dieser individual-genetische Aspekt betont insbesondere die Entwicklung von Wissen in einem Individuum, das schrittweise Emporsteigen auf der Stufenleiter der Erkenntnis. „Ganz allgemein geht es unter dem individual-genetischen Aspekt um die Genese des Wissens im Individuum: Genetischer Unterricht zielt darauf ab, den Lernenden aktiv an der Genese des Wissens zu beteiligen“ (Möller 2001, 23). Insofern Aktivität eine Grundbedingung für das eigenständige Entwickeln von Wissen ist, wendet sich dieser Aspekt genetischen Lernens insbesondere gegen einen auf Präsentation fertiger Wissensinhalte ausgerichteten Unterricht.

Dies ist jedoch nicht die einzig mögliche Interpretationsweise des Genetischen. So kann die mit den Begriffen „Werden“ und „Entwicklung“ verbundene Maxime des genetischen Prinzips auch dahingehend interpretiert werden, dass Inhalte im Unterricht den inneren Strukturen des Gegenstandes folgend behandelt werden sollen. Speziell für die Mathematik als kumulative Wissenschaft ist diese Ausrichtung an der logischen Struktur derart wesentlich, dass sie schon nahezu selbstverständlich ist. Wer käme etwa auf die Idee das zahlentheoretische Pferd entgegen der Sachlogik von hinten aufzuzäumen und die komplexen Zahlen vor den reellen Zahlen zu behandeln? Betont der individual-genetische Aspekt damit die kognitive Entwicklung eines konkreten Lernsubjekts, konzentriert sich dieser logisch-genetische Aspekt eher auf die innere Aufbaulogik einer Disziplin. Die Ausrichtung ist somit eine grundverschiedene. Nicht die Entwicklung des Kindes, sondern die logische Struktur einer Disziplin ist in diesem Verständnis des Genetischen das regulative Prinzip.6

6 Sowohl der individual-genetische als auch der logisch-genetische Aspekt finden sich

zum Teil in der Methode des fragend-entwickelnden Unterrichts wieder. So verfolgt diese bekannte Unterrichtsmethode das Ziel, sowohl den Gegenstand an sich als auch das Wissen der S&S über das Stellen von Fragen schrittweise zu entwickeln. Allerdings handelt es sich dabei um eine eher defizitäre Variante des genetischen Prinzips, da

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Als dritte und letzte Interpretationsmöglichkeit ist noch der historisch-genetische Aspekt zu nennen. Hier wird der Fokus auf das Werden dahingehend verstanden, dass die historische Entwicklung einer Disziplin im Unterricht Berücksichtigung finden soll (vgl. ebd., 24). An früherer Stelle wurde bereits Comenius mit seiner Forderung, der Gang der Lehre möge dem Gang der Tatsachen folgen, als prominenter Vertreter dieser Richtung ausgewiesen. Auch bei diesem Aspekt des Genetischen ist der zentrale Bezugspunkt nicht das Kind selbst, sondern etwas Äußerliches, in diesem Fall der geschichtliche Werdegang einer Disziplin. Dabei muss eine historisch-genetische Orientierung nicht automatisch mit einer logisch-genetischen Orientierung übereinstimmen: Oftmals weicht ein sach-logischer Aufbau eines mathematischen Themenfeldes in Lehrbüchern sogar beträchtlich vom historischen Werdegang ab (vgl. Toepell 1996, 337). Der klassische Aufbau der Analysis ist nur ein Beispiel dafür.

Als kleines Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass das genetische Prinzip bei weitem nicht so einheitlich ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, und vielmehr einer inhaltlichen Konkretion bedarf, wie der Fokus auf das Werden allgemein und auf die Entwicklung von Wissen jeweils verstanden wird. Auch zeichnet sich schon ab, dass das historisch-genetische Prinzip, insofern es ein aussichtsreiches theoretisches Fundament für einen historisch orientierten Mathematikunterricht darstellt, noch Gegenstand eingehender Analysen sein wird.

Innerhalb der Mathematikdidaktik werden – da der sachlogische Aufbau eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit darstellt – speziell zwei Varianten des genetischen Prinzips unterschieden, die in ihrer Ausrichtung doch stark voneinander abweichen. Orientiert sich ein psychologisch-genetischer Unter-richt besonders an der Entwicklung des Kindes, ist es die geschichtliche Entwicklung des Stoffes bzw. der Disziplin, die für einen historisch-genetischen Unterricht kennzeichnend ist. Diese bereits etwas in die Jahre gekommene, aber bewährte Unterscheidung geht auf den deutschen Mathematikdidaktiker Gert SCHUBRING zurück, der sich in seiner Arbeit speziell mit dem genetischen Prinzip innerhalb der Mathematikdidaktik auseinandersetzte (vgl. Schubring 1978, 186 f.). Die unterschiedlichen Ausrichtungen dieser beiden Varianten des genetischen Prinzips lassen sich auch mit Bezug auf das didaktische Dreieck Lehrer-Schüler-Inhalt verdeutlichen: Während ein psychologisch-genetischer Unterricht primär auf die Lernenden hin ausgerichtet ist und deren individuelle Wissensentwicklung zum Maßstab nimmt, orientiert sich ein historisch-genetischer Unterricht innerhalb dieses Dreiecks eher am Inhalt, wenngleich

nicht so sehr das eigenständige Entwickeln von Wissen als vielmehr das Reagieren auf mehr oder weniger suggestive Fragen geschult wird.

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auch dieser Orientierung kein Selbstzweckcharakter zukommt (vgl. Thom 2013, 11).

Diese Differenzen auf theoretischer Ebene werden sich nicht zuletzt auch in der Schwerpunktsetzung im Unterricht manifestieren: So betont ein psychologisch-genetischer Unterricht in seiner Ausrichtung auf das kon-krete Lernsubjekt besonders „das Anknüpfen an das Vorverständnis und die Erfahrungswelt der Schüler, das Berücksichtigen von Entwicklungs- und Verständnisstufen beim Schüler und das Entwickeln neuer Lerninhalte auf der Basis dieses Vorwissens“ (Int.[4], 5). Schließlich und endlich steht die Wissensentwicklung im Individuum im Vordergrund. Daraus wird klar, dass diese Form von Unterricht sich stark auch an lernpsychologischen Erkenntnissen orientieren wird, um die individuelle Wissensentwicklung auf Seiten der S&S bestmöglich fördern zu können. Im Gegensatz dazu stellt bei einem historisch-genetischen Unterricht – holzschnittartig verkürzt – der geschichtliche Werdegang einer Disziplin bzw. die historische Heraus-bildung von Wissen den zentralen Bezugspunkt dar. Über das Studium ihres historischen Werdeganges sollen abstrakte mathematische Begriffe leichter verständlich werden. Mit anderen Worten soll die geschichtliche Perspektive dazu beitragen, die Verdichtung, die mathematische Begriffe im Zuge ihrer Systematisierung erfahren haben, rückgängig zu machen und die Begriffe somit zu „entkondensieren“. Oder wie es der Mathematikhistoriker Phillip JONES formuliert:

There were some inspired teachers, such as Ernst Mach, who in order to explain an idea referred to its genesis and retraced the historical formation of the idea. This may suggest a general principle: The best way to guide the mental development of the individual is to let him retrace the mental development of the race – retrace its great lines, of course, and not the thousand errors of detail (Jones 2006, 3).

Jones nimmt in diesem Zitat mit der Einschränkung „its great lines, of course, and not the thousand errors of detail“ bereits einen Kritikpunkt vorweg, der sehr häufig in Bezug auf das historisch-genetische Prinzip geäußert wird. So besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass in der Bezugnahme auf die geschichtliche Entwicklung das historisch-genetische Prinzip verabsolutiert, der historische Werdegang in den Rang eines pädagogischen Selbstzwecks erhoben und damit auch Um- und Irrwege der Mathematikgeschichte geadelt werden. Damit würde der kontingente Werdegang der historischen Genese einer Disziplin zu einer pädagogischen Notwendigkeit verbrämt werden. Eine derartige Verabsolutierung des historisch-genetischen Prin-zips verkennt jedoch gerade, dass ein Nachlaufen sämtlicher historischer Irrwege pädagogisch höchst kontraproduktiv sein kann, wenn der direkte Weg zum Wissensziel schon schwer genug ist. Ein verdeutlichendes Beispiel aus der Mathematik: Die Entwicklung symbolischer Formelsprache in der Algebra erstreckte sich über einen sehr langen Zeitraum und stellt global

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betrachtet alles andere als eine lineare Herausbildung dar. Hier in einer Verabsolutierung des historisch-genetischen Prinzips sämtliche Stationen der historischen Entwicklung – angefangen in Altägypten über den islamischen Raum bis hin zur Methodik des Gleichungslösens bei François VIÈTE (1540–1603) – abklappern zu wollen, würde wohl nur in der Konstruktion weiterer Verständnishürden bei einem für die S&S allgemein nicht leichten Thema münden (vgl. Ullrich 2008, 206 ff.). Daher ist dem Mathematikdidaktiker Lutz FÜHRER in seinem Fazit zuzustimmen:

Das historisch-genetische Prinzip darf nicht verabsolutiert werden, weil ‚der historische Weg‘ selten genau bekannt ist, weil er sich in all seinen Erkenntnismotiven und Mühseligkeiten nicht ohne Verkürzungen vergegen-wärtigen läßt […] und weil es möglicherweise inzwischen leichtere, kürzere, einleuchtendere oder übertragbarere Wege zum jeweils angestrebten Wissen gibt (Führer 1997, 54).

In deutlicher Nähe zu dieser ersten Kritik am historisch-genetischen Prinzip steht ein zweiter Kritikpunkt, der überhaupt die inhaltliche Ausrichtung des Prinzips auf das historische Werden hin in Frage stellt. So wird etwa darauf hingewiesen, dass genetischer Unterricht in erster Linie dem Verstehen und der Entwicklung der Lernenden verpflichtet ist und erst sekundär historische Prozesse zur didaktischen Richtschnur haben darf (vgl. Möller 2001, 25). Anders ausgedrückt verfehlt ein verabsolutierter historisch-genetischer Unterricht gerade sein ureigenes Ziel: Anstatt sich an der Entwicklung und der Wissensgenese der Lernenden als eigentlichem Ziel auszurichten, wird etwas der Schule Äußerliches – die Geschichte – zum primären Bezugspunkt von Unterricht erhoben. Im Fokus auf die Geschichte drohen somit die S&S als Zentrum von Unterricht überhaupt aus dem pädagogischen Blickfeld zu geraten. Gefordert wird daher ein Primat der Individual-Genese gegenüber der Sach-Genese (vgl. ebd., 25).

Diese Relativierung des historisch-genetischen Prinzips ist wichtig und richtig: Primäres Ziel eines jeden genetischen Unterrichts kann nur und muss die Förderung der Entwicklung von Wissen in einem konkreten Lernsubjekt sein. Nicht etwas Äußerliches wie die Geschichte, sondern der konkrete Schüler bzw. die konkrete Schülerin stellen die maßgebliche Richtschnur dar. Primärer Angelpunkt von Unterricht können nur die Lernenden sein und nicht das Abstraktum Geschichte. Hierüber kann kein Zweifel bestehen. Diese Relativierung ist jedoch alles andere als ein Sargnagel für das historisch-genetische Prinzip. So kann diesem Unterrichtsprinzip bei der curricularen Gestaltung innerhalb des Rahmens, den die Ausrichtung auf die individuelle Entwicklung der Lernenden vorgibt, als Hilfsprinzip noch immer eine große Bedeutung zukommen. Das historisch-genetische Prinzip erklärt in seiner nichtverabsolutierten Form die geschichtliche Entwicklung ja gerade nicht zum Selbstzweck, sondern weist die historische Genese als didaktisch günstigen Pfad für die

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individuelle Wissensentwicklung aus. Richtig verstanden ist dem historisch-genetischen Prinzip dieser Hilfscharakter somit schon inhärent. Historia ancilla scientiae. Offen ist damit nur noch, wie dieser postulierte Hilfscharakter – die geschichtliche Entwicklung als Hilfestellung bei der individuellen Wissensgenese – theoretisch begründet werden kann. Dies ist Inhalt und Ziel des nächsten Abschnittes.

3.1.4 Das biogenetische Grundgesetz

Die Wurzeln einer prominenten theoretischen Begründungslinie für das historisch-genetische Prinzip führen in die Biologie des 19. Jahrhunderts. 1866 formulierte der deutsche Zoologe Ernst HAECKEL (1834–1919), einer der eifrigsten Verfechter Darwinistischen Gedankenguts im deutsch-sprachigen Raum, das so genannte „Biogenetische Grundgesetz“. Dieses Gesetz behauptet eine strikte Parallele zwischen Phylogenese und Onto-genese, d.h. die Entwicklung eines einzelnen Organismus (Ontogenese) wird als schnelle Rekapitulation der gesamten stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) behauptet. Laut Haeckels Grundgesetz stellt die Individualentwicklung somit eine verkürzte Wiederholung der Stammes-geschichte dar. Als ein empirisches Fundament für diese postulierte Parallele kann etwa die Beobachtung angeführt werden, dass sich bei einem menschlichen Embryo mit Schwimmhäuten und Kiemenspalten zeitweise Merkmale längst vergangener Etappen der Stammesgeschichte finden (vgl. Röd 2000b, 325). Das biogenetische Grundgesetz geht in seiner Aussagekraft jedoch weit über eine einfache Beobachtung dieses Zusammenhanges hinaus. So ortet Haeckel in der Stammesgeschichte einer Gattung gar die bestimmende Kraft bzw. das kausal wirksame Prinzip für die Entwicklung eines Individuums: „Jeder Organismus […] wiederholt nach bestimmten Vererbungsgesetzen in seiner individuellen Entwicklung einen Teil seiner Stammesgeschichte. [...] Die Phylogenesis ist die mechanische Ursache der Ontogenesis“ (Haeckel 1904, 156).

Was diese behauptete Parallele zwischen Phylogenese und Ontogenese in der biologischen Entwicklung mit dem historisch-genetischen Prinzip verbindet und wie sich der behauptete Begründungszusammenhang darstellt, mag auf den ersten Blick nicht schnell ersichtlich sein. Zu verschieden sind die Kontexte. Der Zusammenhang wird jedoch am folgenden Zitat des Physikers und Mathematikers Henri POINCARÉ (1854–1912) deutlich, in welchem die verbindende Brücke zwischen Biologie und Pädagogik geschlagen wird:

Die Zoologen behaupten, daß die embryonale Entwicklung eines Tieres in sehr kurzer Zeit die ganze Geschichte seiner Vorfahren in den geologischen Epochen durchmacht. Ebenso scheint es mit der Entwicklung des menschlichen Geistes zu sein. Der Erzieher muß das Kind durch alle Phasen führen, die seine Vorfahren

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durchgemacht haben, bedeutend schneller, aber ohne eine Etappe hinter sich zu verbrennen. In diesem Sinne muß die Geschichte der Wissenschaft unser vornehmster Führer sein (Poincaré 1924, 113 f.).

Tatsächlich wurde in der Nachfolge Haeckels die (anfänglich auf den biologischen Kontext beschränkte) Parallele zwischen Phylogenese und Ontogenese auch auf den Erwerb von Wissen übertragen und das bio-genetische Grundgesetz damit zu einem wissensgenetischen Grundgesetz umformuliert. In dieser Form behauptet es eine Parallele zwischen der historischen (Phylo-)Genese von Wissen, d.h. der geschichtlichen Ent-wicklung einer wissenschaftlichen Disziplin, und der lernbiographischen Ontogenese, d.h. der individuellen Wissensentwicklung (vgl. Nickel 2013, 257). Mit anderen Worten geht damit ein Kind in seiner individuellen Wissensentwicklung den langen Erkenntnisweg der gesamten Menschheit gleichsam im Zeitraffer nach. Die Lernphasen eines Individuums entsprechen der Wissensentwicklung in der Geschichte. So wie sich die Menschheit gleichsam – Schritt für Schritt, Sprosse für Sprosse – auf der Erkenntnisleiter vom Elementaren zum immer Komplexeren hochgearbeitet hat, verläuft auch der Entwicklungsweg eines Kindes vom Einfachen zum Schwierigen. Es rekapituliert in sich die historische Wissensentwicklung. An einem simplen mathematischen Beispiel verdeutlicht: Elementare arithmetische Operationen wie das Zählen, Addieren und Subtrahieren entwickelten sich in der Mathematikgeschichte weit vor komplexeren Operationen wie dem Lösen partieller Differentialgleichungssysteme. Diese historische Abfolge stellt auch auf dem Lernweg eines Individuums eine nur allzu natürliche Abfolge dar. In den Lernetappen eines Individuums spiegelt sich so die geschichtliche Wissensgenese. So weit, so akademisch.

Eine Legitimierung des historisch-genetischen Prinzips erwächst nun daraus, dass dieser beobachteten Parallele zwischen Phylogenese und Ontogenese im Wissenserwerb ein normatives Gewicht zugeschrieben wird. Es ist nicht nur so, sondern soll auch so sein. Der beobachtete Zusammenhang wird von einer anfänglich rein deskriptiven Erkenntnis in eine normative Richtschnur für die Didaktik umgewandelt. Anders ausgedrückt: Aufgrund dieser feststellbaren wissensgenetischen Parallele soll sich der Unterricht am historischen Werdegang orientieren. Dies kam bereits im obigen Zitat Poincarés deutlich zum Vorschein, welches in der Forderung kulminierte: „In diesem Sinne muß die Geschichte unser vornehmster Führer sein“ (Poincaré 1924, 113 f.). In dieselbe didaktische Kerbe schlug zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch der deutsche Mathematiker Felix KLEIN (1849–1925), seines Zeichens Namensgeber der topologisch interessanten Klein‘schen Flasche, der sich in seiner Verteidigung einer historischen Zugangsweise explizit auf das zu seiner Zeit höchst anerkannte biogenetische Grundgesetz Haeckels bezog:

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Ich möchte hier [...] das biogenetische Grundgesetz heranziehen, daß das Individuum in seiner Entwicklung in abgekürzter Reihe alle Entwicklungs-stadien der Gattung durchläuft; solche Gedanken sind ja heute nachgerade Bestandteile der allgemeinen Bildung eines jeden geworden. Dies Grundgesetz, denke ich, sollte auch der mathematische Unterricht, wie jeder Unterricht überhaupt, im allgemeinen wenigstens befolgen: Er sollte, an die natürliche Veranlagung der Jugend anknüpfend, sie langsam auf demselben Wege zu höheren Dingen und schließlich auch zu abstrakten Formulierungen führen, auf dem sich die ganze Menschheit aus ihren naiven Urzustande zu höherer Erkenntnis emporgerungen hat! (Klein 1908, 588 f.)

Dieses Zitat gibt – neben der theoretischen Legitimierung des historisch-genetischen Prinzips – auch einen Einblick in den hohen Stellenwert, der dem biogenetischen Grundgesetz zu Kleins Zeiten allgemein beigemessen wurde. Nicht umsonst beweihräuchert er es als Bestandteil der Allgemein-bildung eines jeden. Tatsächlich entfaltete das wissensgenetische Gesetz als sein pädagogisches Pendant über lange Zeit sehr große Wirkung bei der Curriculumsgestaltung und der Unterrichtsplanung, bis diese Bereiche von der Kognitionspsychologie auf ein solideres, wissenschaftlicheres Fundament gestellt wurden (vgl. Schubring 1978, 198). Heutzutage haben sich die Weihrauchschwaden um das biogenetische Gesetz Haeckels jedoch bereits gelegt, ist es in biologisch-wissenschaftlicher Hinsicht doch als falsch erwiesen. So kann die Ontogenese durch mechanische Gesetzmäßigkeiten ohne Rückgriff auf die ganze Phylogenese befriedigend erklärt werden. Das postulierte Kausalverhältnis scheitert auch daran, dass die Wirk-mechanismen beider Vorgänge letztlich grundverschieden sind (vgl. Müller/Müller 2001, 775). Ist das biogenetische Grundgesetz damit nicht einmal in seinem ursprünglichen Kontext als biologischer Erklärungs-mechanismus haltbar, so wird es in seiner abgeleiteten Funktion als Erklärung für psychische Entwicklungsphänomene immer fragwürdiger. Das biogenetische Grundgesetz erweist sich damit als auf wissen-schaftlichem Sand gebaut.

Doch selbst wenn sich das Haeckel‘sche Grundgesetz in biologischer Hinsicht als zutreffend erwiese, ließen sich immer noch große Zweifel an seiner Übertragbarkeit auf das Lernen anmelden. So scheint eine direkte Übertragung der Phylogenese auf die Ontogenese im pädagogischen Kontext schon allein aus dem Grund unzulässig, weil sich die Bedingungen, unter denen Wissen geschichtlich entwickelt worden ist, radikal von den Bedingungen unterscheiden, unter denen es heutzutage gelernt wird (vgl. Schubring 1977, 210 f.). Die radikale Verschiedenheit des kulturellen, technischen und wissenschaftlichen Kontextes lässt eine direkte Übertrag-barkeit als illusorisch erscheinen. Man vergleiche nur die hochtechnisierte Jetztzeit mit dem antiken Griechenland Euklids. Mit den Worten des dänischen Mathematikhistorikers Jens HØYRUP:

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If the early mathematical science had developed in a surrounding equivalent to ours as far as cognitively relevant experience is concerned, then it would be reasonable to propose, that the gradual construction of mathematical understanding should be planned in accordance with the indications of history. However, there is no such equivalence (zit. nach Schubring 1977, 211).

Schwerer als diese erste Skepsis an der direkten Übertragbarkeit auf das Lernen wiegt jedoch ein zweiter Kritikpunkt. So besteht die Gefahr, dass ein normativ interpretiertes wissensgenetisches Grundgesetz in eine bereits als problematisch ausgewiesene Verabsolutierung des historisch-genetischen Prinzips mündet. Wenn etwa Poincaré fordert, dass ein Kind von der Lehrperson durch alle Phasen der historischen Wissensgenese durchgeführt werden muss, oder Klein das Führen auf demselben Wege wie die geschichtliche Entwicklung als methodisches Ziel vorgibt, dann droht eine gefährliche Pervertierung der historischen Orientierung, in der die S&S selbst alle Irrwege der Wissensentwicklung inklusive aller Sackgassen nachgehen müssen. Um ein bereits gebrachtes Beispiel zu wiederholen: Ist es tatsächlich sinnvoll, die S&S in der Algebra mit all den vielen Stationen der langwierigen historischen Herausentwicklung symbolischer Formel-sprache zu konfrontieren, wenn der direkte Weg für sie oft schon schwer genug ist? Mit dieser Skepsis ist die Forderung verbunden, in der Schule nicht blindlings dem geschichtlichen Verlauf zu folgen, sich gleichsam über einen historischen Determinismus zu erheben und aus geschichtlichen Fehlern produktiv Lehren für die Unterrichtsgestaltung zu ziehen. Der Mathematiker Arnold PRINGSHEIM hat diesen Kritikpunkt schon Ende des 19. Jahrhunderts in direkter Antwort auf die Euphorie Kleins geäußert:

Ob es zweckmäßig erscheint, das Haeckel‘sche Princip von der Übereinstimmung zwischen Phylogenie und Ontogenie in dieser uneingeschränkten Weise auf eine Frage des Unterrichts zu übertragen, will mir keineswegs einleuchten. Ich meine, wir sollten doch gerade aus der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft lernen, die von früheren Generationen begangenen Schlußfehler oder Unzulänglich-keiten zu vermeiden. [...] Jeder einzelne durchläuft im wesentlichen denselben Entwicklungsgang wie die Wissenschaft selbst, solange ihm kein besserer Weg gezeigt wird. Ist aber ein solcher besserer Weg vorhanden, so ist es gerade die Pflicht und Aufgabe des Lehrenden, ihm denselben nicht nur zu weisen, sondern auch gangbar zu machen (Pringsheim 1898, 74 f.).

Was lässt sich also summa summarum über das wissensgenetische Grund-gesetz als theoretische Grundlage für das historisch-genetische Prinzip sagen? Unzweifelhaft ist, dass zwischen der individuellen und der historischen Wissensentwicklung gewisse Parallelen und Analogien vorfindbar sind. So wie sich die Mathematik in der Geschichte allgemein von elementaren Fragestellungen zu Themenbereichen immer höherer Komplexität emporentwickelt hat, folgt auch die individuelle Wissens-entwicklung von Lernenden dem Pfad vom Einfachen zum Komplexen,

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vom Anschaulichen zum Abstrakten. In der Geschichte wie in der Wissensentwicklung eines einzelnen Individuums markieren elementare arithmetische Fertigkeiten und anschauliche geometrische Grundformen den Beginn der Entwicklung. Die Plausibilität dieses allgemeinen Gedankens lässt sich nicht abstreiten. Wichtig ist jedoch, nicht in die Falle einer problematischen Verabsolutierung zu tappen, welche den historischen Verlauf zur notwendigen Schablone für das individuelle Lernen erklärt. So gilt es zu beachten, dass der Lernprozess an keinen historischen Deter-minismus gebunden ist, die individuelle Wissensentwicklung somit keine einfache Wiederholung der historischen Wissensgenese darstellt. Mit anderen Worten: Wiewohl sich in Bezug auf die Entwicklung von Wissen viele Parallelen feststellen lassen, zwingt die Phylogenese der Ontogenese keinen fixen Verlauf auf. Insbesondere lassen sich aus der Geschichte auch wichtige Lehren ziehen, um Irrwege und Sackgassen der Denkentwicklung zu vermeiden. Das minutiöse Rekapitulieren der historischen Entwicklung in all ihren Verästelungen und Zufälligkeiten stellt daher alles andere als ein unbedingtes pädagogisches Dogma dar. Doch gilt es das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Eine reflektierte Orientierung an der Geschichte kann nichtsdestotrotz wertvolle Impulse für die Unterrichtsgestaltung geben.

3.2 Das historisch-genetische Prinzip in der Mathematik

Nachdem Möglichkeiten und Grenzen des genetischen Prinzips im vorhergehenden Abschnitt allgemein erörtert wurden, soll nun eine Variante – das historisch-genetische Prinzip – speziell im Kontext der Mathematik näher unter die Lupe genommen werden. Auf den ersten Blick fällt dabei auf, dass trotz der bereits konstatierten Tendenz zur Geschichtsvergessenheit innerhalb der wissenschaftlichen Mathematik viele Koryphäen dieser Disziplin explizit Wert auf eine historisch orientierte Vermittlung legen. So propagierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders die Mathematiker Klein und Toeplitz eine genetische Methode im Unterrichten von Mathematik. Und auch Ferdinand VON LINDEMANN, der mit seinem Beweis für die Transzendenz der Kreiszahl � die Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises zeigte, sprach sich dafür aus, Mathematik im Unterricht in ihren historischen Zusammenhängen vorzuführen (vgl. Toepell 1996, 337). Doch wie sieht es abseits dieser deutlichen Lippenbekenntnisse zu einer historischen Orientierung des Mathematikunterrichts aus? Welcher Stellenwert kommt dem historischen Rückbezug in der Mathematik zu? Und wie kann das historisch-genetische Prinzip im Mathematikunterricht verankert werden? Um diese Fragen dreht sich der nächste Abschnitt.

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3.2.1 Das historisch-genetische Prinzip bei Toeplitz

Innerhalb der Mathematik ist das historisch-genetische Prinzip besonders mit dem Namen Otto TOEPLITZ (1881–1940) verbunden. Toeplitz war ein deutscher Mathematiker jüdischer Herkunft, der sich in theoretischer wie praktischer Hinsicht gegen eine ahistorische Mathematik wandte. Seine diesbezüglichen Ideen und Anregungen für die Mathematikdidaktik haben nichts an Aktualität eingebüßt. Ausgangspunkt seiner Bestrebungen war dabei die Beobachtung, dass die Mathematik für viele Studierende nur ein steriles Konglomerat aus Begriffen, Techniken und Methoden ohne tieferen Sinn darstellt, zumal die ursprünglichen Fragen und Probleme hinter der systematisierten Fassade kaum sichtbar sind (vgl. Jahnke 1996, VII). Dagegen setzte Toeplitz ein Ideal von Mathematikunterricht, in welchem mathematischen Objekten gerade durch historische Rückbezüge wieder Leben eingehaucht wird und diese als Gegenstände und Antworten einer spannenden Suche sichtbar werden. Oder wie es Toeplitz selbst formuliert:

[A]lle diese Gegenstände der Infinitesimalrechnung, die heute als kanonisierte Requisiten gelehrt werden, der Mittelwertsatz, die Taylorsche Reihe, der Konvergenzbegriff, das bestimmte Integral, vor allem der Differentialquotient selbst, und bei denen nirgends die Frage berührt wird: warum so? wie kommt man zu ihnen? alle diese Requisiten also müssen doch einmal Objekte eines spannenden Suchens, einer aufregenden Handlung gewesen sein, nämlich damals, als sie geschaffen wurden. Wenn man an diese Wurzeln der Begriffe zurückginge, würde der Staub der Zeiten, die Schrammen langer Abnutzung von ihnen abfallen, und sie würden wieder als lebensvolle Wesen vor uns erstehen (Toeplitz 1927, 92 f.).

In diesem berühmten Zitat kommt deutlich die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Geschichte der Mathematik eine ergiebige Quelle von Sinn und Bedeutung darstellen kann. Mit der Kenntnis der historischen Ursprünge eines Begriffes – so die Toeplitz‘sche Annahme – ist immer auch ein Nachvollziehen der originären Bedeutung verbunden. Werden mathematische Begriffe oftmals als Antworten auf den Lernenden unbekannte Fragen gelehrt, rückt ein historisch-genetischer Unterricht gerade diese Fragen ins Rampenlicht. Geschichtliche Bezüge lassen so als innermathematische Zeitreise den ursprünglichen Sinn eines abstrakten Begriffes erkennen. Konkret unterscheidet Toeplitz nun zwei Arten, wie die Mathematikgeschichte für den Unterricht nutzbar gemacht werden kann:

Entweder man könnte den Studenten direkt die Entdeckung in ihrer ganzen Dramatik vorführen und solcherart die Fragestellungen, Begriffe und Tatsachen vor ihnen entstehen lassen – das würde ich die direkte genetische Methode nennen –, oder man könnte für sich selbst aus solcher historischer Analyse lernen, was der eigentliche Sinn, der wirkliche Kern jedes Begriffs ist, und könnte daraus Folgerungen für das Lehren dieses Begriffs ziehen, die als solche nicht mehr mit der Historie zu tun haben – die indirekte genetische Methode (Toeplitz 1927, 93).

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Der Zugang dieser beiden Methoden ist grundverschieden.7 So werden im Zuge der direkt-genetischen Methode historische Bezüge explizit eingebaut, um die Mathematik vor den Augen der S&S gleichsam neu entstehen zu lassen. Bei der indirekt-genetischen Methode fungiert die Mathematik-geschichte hingegen vielmehr als Hintergrundwissen, welches die Lehrkraft in ihrer Unterrichtsgestaltung unterstützt und für mögliche Verständnis-hürden bei den Lernenden sensibilisiert, aber nicht notwendigerweise explizit in den Unterricht einfließt. An einem Beispiel verdeutlicht: Ein direkt-genetischer Zugang zu den komplexen Zahlen wird im Unterricht explizit auf die Leistungen Bombellis, Eulers und Gauß‘ Bezug nehmen und etwa die Rolle komplexer Zahlen in der Herleitung der Lösungsformel für Gleichungen dritten Grades zumindest qualitativ thematisieren. Historische Bezüge werden direkt und explizit ins Unterrichtsgewebe eingeflochten. Dagegen wird das historische Wissen bzgl. des langen Ringens innerhalb der Mathematik um die Akzeptanz dieser Zahlenmenge in einem indirekt-genetischen Zugang eher für eine Sensibilisierung auf Seiten der Lehrkraft genutzt werden, wo bei den Lernenden möglicherweise Verständnishürden lauern. Die geschichtlichen Bezüge stellen damit ein Hintergrundwissen dar, welches sich bloß indirekt in der Unterrichtsgestaltung manifestiert.

Egal ob direkt oder indirekt, Toeplitz geht es um die Einsicht in den Ursprung mathematischer Begriffe. Dabei trennt er scharf zwischen der Geschichte und der Genese. Toeplitz ist weit davon entfernt eine didaktische Lanze für einen Unterricht zu brechen, der in die Falle des Historisierens tappt und die Mathematik völlig in ihrer Geschichte auflöst. Er sagt ganz deutlich: „[I]ch selbst bin als Student aus einer ähnlichen Vorlesung weggelaufen“ (ebd. 1927, 94). Historische Bezüge stellen für Toeplitz keinen Selbstzweck dar, Mathematikunterricht ist keine Geschichtestunde. Geschichtliche Bezugspunkte sind damit nicht allein schon als solche didaktisch wertvoll, sondern nur insofern sie abstrakt-systematisierte Begriffe mit Leben versehen und zur Einsicht in deren ursprünglichen Sinn beitragen. Daher darf die Genese der Mathematik nicht mit ihrer Geschichte verwechselt werden. Während ein Wissen um die Genese erhellend und klärend auf mathematische Begriffe wirkt, drohen diese bei einer Verselbstzweckung von Geschichte unter einer Anhäufung historischer Fakten unterzugehen. Ein subtiler, aber wichtiger Unterschied.

Ich will aus der Historie nur die Motive für die Dinge, die sich hernach bewährt haben, herausgreifen und will sie direkt oder indirekt verwerten. [...] Nicht um die Geschichte handelt es sich, sondern um die Genesis der Probleme, der

7 Die Unterscheidung von Toeplitz zwischen direkter und indirekter genetischer

Methode ist nach wie vor aktuell. Eine damit eng verwandte Differenzierung ist jene zwischen implizit-genetischem Unterricht und explizit-genetischem Unterricht, die inhaltlich stark an Toeplitz angelehnt ist (vgl. Nickel 2013, 258).

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Tatsachen und Beweise, um die entscheidenden Wendepunkte in dieser Genesis (ebd., 94).

Es spricht für Toeplitz, dass er mit der Unterscheidung zwischen Genese und Geschichte bzw. zwischen einem direkt-genetischen und einem indirekt-genetischen Unterricht nicht nur wichtige theoretische Weichenstellungen geliefert hat, sondern sein Ideal eines genetisch-orientierten Mathematik-unterrichts auch in die Praxis umzusetzen versuchte. Sein 1949 posthum veröffentlichtes, nicht vollendetes Werk8 „Die Entwicklung der Infinitesi-malrechnung“ liest sich als ein derartiger Versuch, die Analysis über ihre Genese verständlich zu machen (vgl. Toeplitz 1949). So sind die ge-wöhnlichen, lehrbuchartigen Passagen über die Infinitesimalrechnung immer wieder durch historische Erläuterungen ergänzt, bspw. über die Kepler‘sche Fassregel oder die Napier‘schen Logarithmus-Tafeln. Der historische Bezug zu den Zenon‘schen Paradoxa ganz zu Beginn der Ausführungen ist dabei charakteristisch für das gesamte Buch: Streng mathematisch gesehen ist es überhaupt nicht notwendig auf diese Anfänge infinitesimalen Denkens bei den Griechen einzugehen. Man kann diese Bezugnahme als puren Luxus abtun. Vermutlich vermögen diese Paradoxa jedoch besser als jede noch so exakte mathematische Definition zu veran-schaulichen, was der Konvergenzbegriff einer unendlichen Reihe bedeutet. Damit ist im Kern das erfasst, was Toeplitz mit Genese meint: „Wenn man an diese Wurzeln der Begriffe zurückginge, würde der Staub der Zeiten [...] von ihnen abfallen, und sie würden wieder als lebensvolle Wesen vor uns erstehen“ (Toeplitz 1927, 93).

3.2.2 Innermathematisches Duell: Klein vs. Bourbaki

Diesem Abschnitt, welcher den divergierenden Mathematikverständnissen der beiden Mathematiker Felix KLEIN und Nicolas BOURBAKI gewidmet ist, muss eine zweifache Apologie vorangestellt werden. Zum einen verbietet die Biographie dieser beiden Größen aus der Mathematik-geschichte von einem Duell im engeren Sinne zu sprechen. So wirkte Klein als prägende Gestalt um die Jahrhundertwende lange bevor die mehr-heitlich französische Mathematikergruppe unter dem Pseudonym „Nicolas Bourbaki“ der Mathematik ihren formalistischen Stempel aufzudrücken begann. Einen direkten Kontakt – wie ihn der Titel insinuiert – hat es somit nie gegeben. Wenn daher von einem Duell die Rede ist, dann nur im Sinne eines argumentativen Ideenwettstreits über die Zeit hinweg. Soweit die erste Apologie.

8 Aufgrund der traurigen Zeitumstände konnte Toeplitz „Die Entwicklung der

Infinitesimalrechnung“ nicht vollenden. Vor dem Hintergrund des in der NS-Zeit immer größer werdenden Verfolgungsdrucks für Personen jüdischer Herkunft, emigrierte er 1939 nach Palästina, wo er ein Jahr darauf in Jerusalem verstarb.

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Zum anderen ist auch die inhaltliche Frontstellung des behaupteten Duells zwischen Klein und Bourbaki etwas konstruiert. Während Klein zu Recht als dezidierter Verfechter einer historisch orientierten Mathematikdidaktik gilt, wird Bourbaki sehr Unrecht getan, wenn er (wie es häufig geschieht) als der Proponent schlechthin von Ahistorizität und Geschichtsvergessenheit in der Mathematik hingestellt wird. So gibt es mit „Elemente der Mathematik-geschichte“ sogar ein eigenes Werk aus der Feder Bourbakis über die Geschichte der Mathematik, welches das didaktische Ziel verfolgt, „für jede Theorie so klar wie möglich die Leitgedanken hervortreten zu lassen und sichtbar zu machen, wie sie aufeinander eingewirkt haben“ (Bourbaki 1971, 5). Geschichts-vergessenheit sieht anders aus. Wie kann dann überhaupt von einem Duell zwischen Klein und Bourbaki gesprochen werden? Nicht im direkten, sondern im abgeleiteten Sinn. Der von Bourbaki mit revolutionärem Eifer propagierte Fokus auf Abstraktion, Struktur und Axiomatik in der Mathematik griff nämlich auch auf die Mathematikdidaktik in der Schule über. Im Zuge der wesentlich von Bourbaki beeinflussten didaktischen Strömung „Neue Mathematik“ wurde so in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Mathematikunterricht in wesentlichen Zügen reformiert. Dieser bourbakistischen Betonung allgemeiner, ab-strakter Begriffe im Schulunterricht wurden vielfach heuristisch-historische Bezüge geopfert, was letztlich in einer statischen und insbesondere ahistorischen Sichtweise von Mathematik mündete (vgl. Kronfellner 1998, 12). In diesem – und nur in diesem – abgeleiteten Sinne kann Bourbaki tatsächlich als Vertreter einer ahistorischen Sichtweise von Mathematik bezeichnet werden und ist der scharfe Kontrast zum Klein‘schen Bekenntnis pro historia gegeben. Soweit die zweite Apologie.

Nach diesen vorausschickenden Bemerkungen kann nun das Duell zwischen Klein und Bourbaki über den didaktischen Stellenwert von Geschichte eröffnet werden. Beginnen wir mit der Position Kleins. Felix Klein hat schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts explizit gefordert, historischen Betrachtungen im Unterricht mehr Raum zu geben. Gerade die schroffe, scheinbare Abgeschlossenheit der abstrakt-systematischen Mathe-matik stellt er als ein primäres Hindernis für ein tieferes Verständnis an den didaktischen Pranger (vgl. Klein 1979, 1). Insbesondere wendet sich Klein damit gegen einen Unterricht, der – anstatt vom Anschaulich-Konkreten auszugehen – bei den allgemeinsten Ideen beginnt und damit schon früh den Schritt in die Abstraktion vollzieht. Seiner Meinung nach kann es „nichts Unzweckmäßigeres geben, als ein solches abstraktes systematisches Verfahren“ (Klein 1908, 588). Die Wurzel dieses didaktischen Übels lokalisiert er nun darin, dass das legitime Ziel – die Wissenschaftlichkeit im Denken – als Methodik für den Unterricht missverstanden werde:

Wissenschaftlich unterrichten kann nur heißen, den Menschen dahin zu bringen, daß er wissenschaftlich denkt, keineswegs aber, ihm von Anfang an mit einer

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kalten, wissenschaftlich aufgeputzten Systematik ins Gesicht springen (Klein 1933, 289).

Mit anderen Worten: Weg und Ziel des Unterrichts dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Als didaktischen Gegenpol zu diesem systematisierten Unterricht skizziert Klein nun eine historisch ausgerichtete Didaktik, welche insbesondere für Lehramt-Studierende im Hinblick auf ihr zukünftiges Wirken von größter Bedeutung ist: „[W]enn Sie vor allen Dingen nicht die historische Entwicklung kennen, so verlieren Sie allen Boden unter Ihren Füßen“ (Klein 1933, 255). Damit antizipiert Klein die Toeplitz‘sche Ausformulierung des indirekt-genetischen Prinzips, wonach geschichtliches Hintergrund-wissen wichtig für die Strukturierung von Unterricht ist. Sinn und Zweck dieser geforderten historischen Orientierung ist dabei insbesondere der Einblick in den schleichenden Prozess, wie mathematische Begriffe entstehen und sich im Zuge ihrer Systematisierung langsam verändern. „Lernen Sie daraus, wie langsam alle mathematischen Ideen erst entstanden sind, wie sie fast stets in mehr divinatorischer Gestalt auftauchten und erst in langer Entwicklung die starre und auskristallisierte Form der systematischen Darstellung annahmen!“ (Klein 1933, 289). Aus diesem Grund schildert Klein, historische Momente oftmals selbst in seine Darstellungen verflochten zu haben (vgl. ebd., 289). In diesem Sinne kann Klein als ein wichtiger Vorreiter einer historisch orientierten Mathematikdidaktik genannt werden.

Den Kontrast zum Klein‘schen Bekenntnis für eine historische Orientierung der Mathematik in der Lehre bildet die Strukturmathematik Bourbakis, in welcher die formalistische Sichtweise von Mathematik überhaupt kulminierte. Trotz seines ahistorischen Impetus ist die Person Bourbaki selbst von großem mathematikhistorischem Interesse, war doch zunächst die Identität dieses mysteriösen Mathematikers, der 1939 auf Französisch das erste Werk zur Serie Élements de mathématique9 publizierte, höchst unklar. Erst nach und nach stellte sich heraus, dass es sich bei „Nicolas Bourbaki“ um einen Decknamen handelte, hinter dem eine ganze Gruppe mehrheitlich französischer Mathematiker stand (vgl. Wußing 2009, 483 f.).

Geeint wurden diese Mathematiker10 durch das Ziel, unter der Führung der axiomatischen Methode strukturelle Ordnung ins Gesamtgebiet der

9 Der revolutionäre Anspruch Bourbakis, die Mathematik auf ein neues, axiomatisch-

deduktives Fundament zu stellen, kommt schon im Buchtitel zum Ausdruck, welcher ein Ablösen der historisch überaus bedeutsamen Euklid‘schen Elemente suggeriert. Unverblümt kommt der streng deduktivistische Anspruch Bourbakis, der auf alle heuristisch-historischen Elemente verzichtet, schließlich in der Parole „Nieder mit Euklid! Tod den Dreiecken“ Jean Dieudonnés, einem Gründungsmitglied Bourbakis, zum Ausdruck.

10 Nein, hier wurde nicht aufs Gendern vergessen. Die Kerngruppe von Bourbaki bildeten tatsächlich nur Männer.

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Mathematik zu bringen. Weniger die Gewinnung neuer Theoreme als vielmehr die axiomatische Strukturierung bereits bestehender Gebiete stand dabei vordergründig im Fokus. Ohne Zugeständnisse an die Lehr- und Lesbarkeit zu machen, sollten die Grundlagen der Mathematik streng deduktivistisch erarbeitet werden. Dementsprechend rigide und abstrakt sind Aufbau und Notation des gesamten Bourbaki-Werks (vgl. ebd., 484 ff.). Das Ziel stand den Bourbaki-Mathematikern dabei klar vor Augen: Mithilfe der axiomatischen Brille unter Absehung von allem historisch-kontingenten Beiwerk die gesamte Mathematik zu überblicken (vgl. Bourbaki 1974, 153). Gerade erst im Kappen der historischen Wurzeln, im Ausschalten aller anschaulichen Bezüge, im Wegstoßen der Wittgenstein‘schen Erkenntnis-leiter kämen mathematische Begriffe zur vollen Entfaltung:

Vom axiomatischen Gesichtspunkt aus erscheint die Mathematik so als eine Schatzkammer von abstrakten Formen, den mathematischen Strukturen. [...] Natürlich kann nicht geleugnet werden, daß die meisten dieser Formen ursprünglich einen sehr bestimmten Inhalt hatten; aber erst dadurch, daß dieser anschauliche Inhalt absichtlich ausgeschaltet wurde, ist es möglich gewesen, diesen Formen jene Wirksamkeit zu verleihen, die zu entfalten sie fähig waren, und sie vorzubereiten für neue Deutungen und für die Entwicklung ihrer vollen Kraft (Bourbaki 1974, 158 f.).

Das Ausblenden des historischen Werdeganges der Mathematik wird dabei in Analogie zu einer Stadt gesetzt, die ständig umgebaut wird:

Die Mathematik gleicht so einer großen Stadt, deren Außenbezirke und Vororte dauernd in etwas chaotischer Weise in das umgebende Land eindringen, während das Zentrum von Zeit zu Zeit neu aufgebaut wird, jedesmal nach einem klarer gefaßten Plan und in einer neuen, großartigen Ordnung, wobei die alten Vierteln mit ihrem Labyrinth von Gassen niedergerissen werden und zur Peripherie hin neue, direktere, breitere und bequemere Straßen angelegt werden (Bourbaki 1974, 156).

Um in dieser architektonischen Metapher zu bleiben, gedachten die Bourbaki-Baumeister das Zentrum der mathematischen Stadt speziell nach dem Plan der „Struktur“ umzubauen. Allgemein sollte der abstrakte Strukturbegriff das grundlegende Darstellungsmodell für die gesamte Mathematik sein, mit der Hierarchie von Strukturen als wichtigstem Ordnungsprinzip (vgl. Wußing 2009, 434). Die so umgebaute, auf ein deduktiv-axiomatisches Fundament gestellte Mathematik besteht dann im Wesentlichen aus der „Deduktion der logischen Folgerungen aus den Axiomen dieser Struktur, ohne Berücksichtigung irgendeiner weiteren Hypothesen über die betrachteten Elemente oder die Natur der Elemente“ (Bourbaki 1974, 149). Dass in diesem Fokus auf abstrakte Strukturen historische Bezüge nur allzu leicht unter die systematischen Räder kommen, ist offensichtlich. Mittlerweile hat sich Bourbaki jedoch überholt, der Höhepunkt der deduktivistischen Ausrichtung gilt als vorüber. Dennoch hat Bourbaki der Mathematik

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nachhaltig seinen Stempel aufgedrückt, sein Vermächtnis ist auch heute noch – wenn auch vielfach unbemerkt – höchst präsent (siehe HISTOMATH-BOX IV).

HISTOMATH-BOX IV Die Zielsetzungen Bourbakis mögen heute als überholt gelten, der streng logische Stempel, den er der Mathematik aufgeprägt hat, ist jedoch noch immer deutlich sichtbar. In zweierlei Hinsicht: Nach innen hin zeigt sich das Vermächtnis Bourbakis im strengen axiomatischen Aufbau der Darstellung von Teilgebieten der Mathematik sowie – damit verbunden – im Erfordernis einer streng logischen, deduktiven Vorgangsweise. Noch augenfälliger ist jedoch das äußere Bild der Mathematik, das Bourbaki entscheidend mitgeprägt hat. Einige Notationen Bourbakis sind mathematisches Allgemeingut geworden, so z.B. das Symbol ∅ für die leere Menge oder der Doppelpfeil ⇒ für die logische Implikation. Auch die Abkürzungen N, Z, Q, R und C sowie deren Doppelstrich-Symbolik ℕ, ℤ, ℚ, ℝ, ℂ für die Mengen der natürlichen, ganzen, rationalen, reellen wie komplexen Zahlen gehen auf Bourbaki zurück. Neben der Symbolik zeigt sich das Erbe Bourbakis jedoch auch auf terminologischer Ebene: So haben auch die Begriffe „injektiv“, „surjektiv“ und „bijektiv“ zur Kennzeichnung der Eigenschaften von Funktionen ihren historischen Ursprung in Bourbaki. Zumindest in dieser Hinsicht ist Bourbaki – wenn auch zumeist unbemerkt – in der modernen Mathematik noch allgegenwärtig (vgl. Wußing 2009, 486).

Soweit das Mathematikverständnis Bourbakis. Die Frontstellung zu Klein ergibt sich nun weniger auf genuin mathematischem Terrain, sondern vielmehr im Kontext der Lehre. So beeinflusste das Strukturdenken Bourbakis maßgeblich die Entwicklung der „Neuen Mathematik“ mit, einer internationalen Strömung, welche sich in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Beschäftigung mit abstrakten Strukturen schon in der Grundschule auf ihre didaktischen Fahnen heftete. „Kern der neuen Inhalte war das Konzept der Menge, das […] neben dem weiteren zentralen Begriff der Struktur (Gruppe, Körper) Leitidee des gesamten Mathematikunterrichts werden sollte“ (Int.[5], 1). Die Parallelen zu Bourbaki sind evident. Die „Neue Mathematik“ kann so als Nachvollzug einer innermathematischen, von Bourbaki geprägten Entwicklung im Kontext des Schulunterrichts be-zeichnet werden. Leitgedanke war, den Unterricht in möglichst allgemeinen Begriffen zu verankern und ausgehend vom Allgemeinen zum Besonderen vorzudringen. Konkret wurde versucht, den Schulunterricht mengen-theoretisch aufzubauen, die naive Mengenlehre sollte den Rechenunterricht ersetzen (vgl. ebd., 1). Es ist interessant, dass Klein sich schon zu Beginn des

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20. Jahrhunderts sehr kritisch in Bezug auf derartige Versuche, im Unterricht von den allgemeinsten Ideen auszugehen, äußerte. Über ein mengen-theoretisch aufgebautes Schulbuch eines Kollegen schreibt er:

Hier wird in der Tat der Versuch gemacht den arithmetisch-algebraischen Lehrstoff der Schule von Beginn an unter Voranstellung der Mengenlehre systematisch zu ordnen: Auf pag. 1. wird mit der allgemeinen Idee der Mächtigkeit einer Menge begonnen, auf Seite 6 wird das Symbol � für die Mächtigkeit der abzählbar unendlichen Menge (1,2,3 ...) eingeführt, und auf S. 21. endlich ist der Verfasser in seiner Deduktion bis zur Tabelle des kleinen Einmaleins gelangt! […] Wir können natürlich von unserem mathematisch-pädagogischen Standpunkte aus die durch dieses Buch besonders charakteris-tisch vertretene Richtung nicht billigen (Klein 1908, 587 f.).

Blicken wir kurz zurück: Mit Felix Klein und Nicolas Bourbaki wurden zwei Mathematiker diskutiert, die in Bezug auf die Lehre allgemein und den Stellenwert des Historischen in ihr höchst unterschiedliche Positionen beziehen. Um die Sprache des Duells abschließend nochmals aufzugreifen, steht in der einen Ecke des argumentativen Ringes Klein, der sich explizit für das Einbinden historischer Bezüge in den Mathematikunterricht einsetzt, während in der anderen Ecke Bourbaki mit seinem abstrakten Struktur-denken eine pointiert ahistorische Periode innerhalb der Mathematik-didaktik begründete. Das Ziel dieses Abschnittes bestand nicht darin, einen Sieger dieses Duells zu küren, sondern vielmehr die beiden unter-schiedlichen Positionen darzulegen und damit das breite Meinungs-spektrum innerhalb der Mathematik aufzuzeigen. Die de facto feststellbare Pluralität an Standpunkten soll jedoch nicht der Endpunkt der Diskussion sein. Daher wird als Abschluss dieses pädagogischen Präludiums im nächsten Kapitel noch einmal die Frage nach der Bedeutung des historisch-genetischen Prinzips im Mathematikunterricht gestellt.

3.3 Fazit: Bedeutung des historisch-genetischen Prinzips

Das pädagogische Präludium neigt sich seinem Ende zu, unter die Diskussion des genetischen Prinzips in der Pädagogik allgemein sowie speziell in der Mathematik wird ein Schlussstrich gezogen. Was lässt sich aus diesen Betrachtungen für die weitere Untersuchung mitnehmen? Als eine wichtige Erkenntnis lässt sich resümierend feststellen, dass der Mathematikunterricht in Bezug auf eine mögliche historische Orientierung zwei Extrempositionen sicherlich vermeiden muss. Es liegt die philo-sophiehistorische Analogie zur Mesotes-Lehre des Aristoteles nahe, wonach die Tugend den goldenen Mittelweg zwischen zwei Extremen, einem Zuviel und einem Zuwenig, darstellt (vgl. Röd 2000a, 181). Im Kontext der

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Mathematikdidaktik stehen diese beiden Extreme für eine blinde Ver-absolutierung geschichtlicher Bezüge bzw. für deren vollkommene Verbannung aus dem Unterrichtsgeschehen.

Auf der einen Seite gilt es damit einen Unterricht zu vermeiden, der mit bourbakistisch-missionarischem Eifer sämtliche historische Bezüge einem abstrakten, auf allgemeine Begriffe hin ausgerichteten Strukturdenken opfern will. Ein derartiger Unterrichtsstil bildet den wirklichen mathe-matischen Erkenntnisprozess jedoch in keinster Weise ab, vermittelt den S&S einen statisch-abgeschlossenen Eindruck von Mathematik und ist in seiner Extremform auch didaktisch höchst kontraproduktiv: So kritisiert etwa der russische Mathematiker Vladimir ARNOLD den noch immer bourbakistisch gefärbten Mathematikunterricht in Frankreich dahingehend, dass er die Lernenden auf formale Maschinen reduziere und das Verständnis allgemein zu kurz komme (vgl. Arnold 1997, 437). Zum anderen gilt es im Umkehrschluss jedoch auch eine unreflektierte Verabsolutierung der Mathematikgeschichte zu vermeiden, welche den kontingenten historischen Werdegang dogmatisch zu einer pädagogischen Notwendig-keit erhebt. Denn nicht alle historischen Stationen sind didaktisch wertvoll, nicht jeder geschichtliche Weg ist es auch wert nachgegangen zu werden, nicht immer fördert eine geschichtliche Kontextualisierung das Verständnis eines Begriffes. Der goldene didaktische Mittelweg liegt somit zwischen diesen beide Extremen.

Summa summarum erweist sich damit das historisch-genetische Prinzip mit seinem Fokus auf den geschichtlichen Werdegang – innerhalb der genannten Einschränkungen – als durchaus tragfähiges theoretisches Fundament für einen historisch orientierten Mathematikunterricht. Diese Einsicht in den prinzipiellen didaktischen Nutzen historischer Momente stand auch bereits am Ende der „Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus“ von Felix Klein. Darin folgerte er:

Möge diese Erkenntnis einst – mit diesem Wunsche möchte ich meine Vorlesung schließen – nachhaltigen Einfluss auf die Gestaltung Ihres eigenen Unterrichts an der Schule gewinnen! (Klein 1933, 289).

Wie diese Gestaltung aussehen und dieses noch vage Bekenntnis im Unterricht konkretisiert werden kann, welche Realisationsformen und Umsetzungsmöglichkeiten es für eine historisch orientierte Mathematik-didaktik gibt und wie diese am besten in den Unterricht implementiert werden kann, ist Thema des nächsten Kapitels.

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IV HISTORISCH-MATHEMATISCHE DIDAKTIK: THEORETISCHE ASPEKTE

Das Präludium ist zu Ende und leitet zum Hauptteil über. In diesem Kapitel, dem Herzstück der Arbeit, sollen nun die noch vagen Schlüsse aus der Diskussion des genetischen Prinzips im Hinblick auf einen historisch orientierten Mathematikunterricht konkretisiert werden. Schemenhafte Umrisse gilt es im Zuge dieser Erörterung in konkrete Wegweiser für die Praxis umzuwandeln. Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum: Welche Hoffnungen und Erwartungen werden mit einer historisch-mathematischen Didaktik verbunden? Welche Kritikpunkte werden auch gegen deren Umsetzung vorgebracht? Wie lässt sich überhaupt Mathematikgeschichte konkret im Unterricht implementieren? Und welchen praktischen Herausforderungen sieht sich eine verstärkte Einbeziehung historischer Elemente im Unterricht gegenüber? Anhand dieser vier zentralen Fragen, welche die vier großen Abschnitte dieses Kapitels bestimmen, soll eine erste Antwort auf die Themenstellung dieser Arbeit gefunden werden, worin Möglichkeiten und Grenzen einer historisch orientierten Mathematik-didaktik liegen.

4.1 Skeptische Stimmen

Viele Publikationen zur historischen Mathematikdidaktik vermitteln den Eindruck, dass es sich dabei nahezu um die oft beschworene eierlegende Wollmilchsau der Pädagogik handelt, in dem Sinne, dass ein Einbau historischer Bezüge den Mathematikunterricht fast unvermeidlich in verschiedenartigsten Aspekten bereichert und verbessert (vgl. Kronfellner 2002, 24). Auch wenn es viele Hoffnungen und Erwartungen gibt, die plausibel und mit guten Gründen an die Integration historischer Elemente in den Unterricht geknüpft werden (siehe Kapitel 4.2), darf man sich davon dennoch nicht blenden lassen und die Mathematikgeschichte unreflektiert als universales Allheilmittel gegen sämtliche Unterrichtsbeschwerden ansehen. In diesem Abschnitt soll daher den skeptischen Stimmen, welche eine historisch-mathematische Didaktik aus den verschiedensten Gründen kritisieren, Gehör verschafft werden.

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4.1.1 Fünf Kritikpunkte an einer historischen Mathematikdidaktik

Der Einsatz historischer Elemente im Mathematikunterricht trifft nicht überall auf Gegenliebe, geschweige denn auf uneingeschränkte Zu-stimmung. So finden sich auch immer wieder Punkte und Argumente, die gegen eine historische Mathematikdidaktik vorgebracht werden. Das Spektrum der Ablehnung ist dabei inhaltlich breit gefächert und reicht von pragmatischen Gründen bis hin zu lernpsychologischen Gesichtspunkten. In diesem ersten Schritt seien fünf Hauptkritikpunkte aus diesem Spektrum etwas genauer unter die Lupe genommen und auf deren Stichhaltigkeit überprüft.

Kritikpunkt 1: Mathematikgeschichte senkt eigenes mathematisches Potential

Ein erster Kritikpunkt sieht Wissen um historische Zusammenhänge mit einer Herabsetzung des eigenen Potentials bzw. der eigenen Kreativität verbunden und lehnt eine historische Didaktik aus diesem Grund ab (vgl. Ullrich 2008, 199). So verleiten historische Bezüge tendenziell dazu, das eigene Denken an bereits vorhandene Strukturen anzupassen und im Suchen nach neuen Lösungswegen eher ausgetretene Pfade nachzugehen, wodurch das eigene Potential zur Hervorbringung neuartiger Lösungs-ansätze reduziert werde. Durch den Bezug zur Geschichte gerate das Denken somit in eingefahrene Bahnen, in denen eher das Vergangene reproduziert als das Neuartige geschaffen werde. Ein Wissen um die Herausbildung mathematischer Ideen und Konzepte erscheint in dieser Perspektive somit eher als ein schwerwiegender Hemmschuh kreativen Denkens, „ähnlich wie der Versuch, die relevanten Muskelpartien bewusst zu steuern, die sicherste Methode ist, bei einer Kurvenfahrt mit dem Fahrrad zu stürzen“ (ebd., 199 f.). Ein Paradebeispiel dafür, einen kreativen Sturz dieser Art vermeiden zu wollen, findet sich im Mathematiker John NASH (1928–2015), der als Student der Eliteuniversität Princeton bewusst keine Vorlesungen besuchte, um seine Kreativität nicht durch vorgegebene Strukturen einengen zu lassen. Der Erfolg gab ihm Recht (siehe HISTOMATH-BOX V).

HISTOMATH-BOX V

Der US-amerikanische Mathematiker John NASH ist der nicht-mathematischen Welt vor allem durch den Spielfilm „A beautiful mind“, der sich um sein Leben und seine Erkrankung an einer paranoiden Schizophrenie dreht, ein Begriff. Einen interessanten Ausschnitt seiner Biographie stellt auch seine unkonventionelle Art dar, im Studium an mathematische Probleme heranzugehen, mit der er letztlich zu einem

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Begründer der Spieltheorie wurde. Der österreichische Mathematiker Rudolf TASCHNER erzählt über diese Zeit:

Er besucht keine Vorlesungen, er nimmt an keinen Seminaren teil, er liest kaum Fachliteratur, er schlendert bloß scheinbar gedankenverloren auf dem Campus herum. Nur wenn die Koryphäen der Mathematik einander beim Tee in der Fuld Hall treffen, ist er immer dabei, weil er hören will, welche Probleme von ihnen gewälzt werden. Er schnappt bisher unbeantwortete Fragen auf und versucht danach, sie auf unzähligen Blättern Papier, die fast alle schließlich im Papierkorb landen, von allen möglichen Seiten zu beleuchten. Immer in dem Wissen, dass er die Sache von der unkonventionellen Seite betrachtet. Dass er mit seiner Methode schnell in Sackgassen gerät, stört ihn nicht im Mindesten. Morgen treffen sich die Professoren wieder, und neue Probleme werden in den Raum gestellt. Einmal glaubt er, einen tollen Treffer gelandet zu haben. Er spricht bei John von Neumann, dem Papst der Mathematik in Princeton, vor, der ihn hochkant aus dem Zimmer wirft, weil von Neumann den Geniestreich des John Nash nicht erkennt. Nash gibt nicht auf, findet in Albert Tucker seinen Doktorvater, und seine wenige Seiten umfassende Dissertation gibt der von Oskar Morgenstern und John von Neumann erfundenen Spieltheorie den entscheidenden Impuls (Taschner 2015, 27).

Der Gedanke, wonach ein Wissen um die historische Entwicklung eher zu einer Reproduktion bestehender Strukturen und damit zu einer Minderung des eigenen unkonventionellen Denkens führt, besitzt eine gewisse Plausibilität. Im Kontext schulischer Mathematik wirkt er jedoch eher wie eine Themenverfehlung, geht es in der Schule ja weniger um das Schaffen fundamental neuer Konzepte, als vielmehr um das Erlernen elementarer Strukturen. So vermag dieser Kritikpunkt eher zu erklären, warum aktive Mathematiker und Mathematikerinnen oft deutliche Berührungsängste zur Geschichte ihres Faches haben, als ein schlagkräftiges Argument gegen historische Bezüge im Schulunterricht zu sein (vgl. Ullrich 2008, 199). Im Kontext der Schule ist Mathematikgeschichte kein Klotz am Bein, sondern vielmehr eine Krücke, die erst zum eigenständigen Gehen auf neuartigem mathematischem Terrain befähigt.

Kritikpunkt 2: Interesse an Mathematikgeschichte als ein Vermeidungsverhalten

Dieser Kritikpunkt bläst zwar keinen Generalangriff auf die historisch-mathematische Didaktik, relativiert aber deren vermeintlichen Erfolg. So sei die mit dem Einsatz historischer Elemente im Unterricht oft feststellbare erhöhte Motivation und Aufmerksamkeit bei den S&S nicht dem Inhalt selbst, sondern viel eher dem Umstand geschuldet, dass jede pädagogische Maßnahme, die sich deutlich von der Norm abhebt, zumindest vorüber-gehend mit einer gesteigerten Motivation einhergeht (vgl. Kronfellner 2002,

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24). Eine feststellbare gesteigerte Aktivität in der Klasse entpuppt sich unter dieser Perspektive daher letzten Endes als ein strategisches Vermeidungs-verhalten der S&S, die der Lehrperson jede Minute, in der keine „echte“ Mathematik betrieben wird, mit gesteigerter Aufmerksamkeit danken (vgl. Ullrich 2008, 202). Historische Elemente als geringeres Übel, sozusagen.

Die Antwort auf diesen Kritikpunkt muss zweigestaltig ausfallen. Zum einen gilt es die getätigte Behauptung erst zu beweisen, dass ein gesteigertes Interesse aufseiten der S&S einzig und allein auf eine Vermeidungsstrategie rückzuführen sei. Dass dieser Faktor bei einigen Lernenden eine Rolle spielt, dürfte nicht sonderlich überraschen. In seiner inhaltlichen Vollgestalt, erhöhte Motivation sei stets eine Folge von Vermeidung, wirkt das Argument jedoch überzogen. Und zum anderen muss die Rückfrage gestellt werden, ob diesbezüglich nicht auch der Zweck die Mittel heilige. So ist das Faktum gesteigerter Motivation im Unterricht ja für sich allein schon begrüßenswert, ganz unabhängig davon, ob sie aus einer extrinsischen oder intrinsischen Quelle entspringt.

Kritikpunkt 3: Historische Quellen aufgrund hoher Komplexität didaktisch kontraproduktiv

Ebenfalls wird von einigen kritischen Stimmen auf die Komplexität historischer Quellen hingewiesen, die bei einem Einsatz im Unterricht nicht unterschätzt werden dürfe. Insbesondere wenn sich die S&S bei einer speziellen Thematik noch auf kein solides Wissensfundament stützen können, kann ein unreflektierter bzw. allzu detaillierter historisch-genetischer Zugang mehr Verwirrung stiften als Erkenntnis fördern (vgl. Nickel 2013, 260). So sind Originalquellen allein schon durch ihr Alter und die damit in Zusammenhang stehende fremdartige Notation oft schwer zugänglich und für S&S kaum entschlüsselbar. Wenn überhaupt. Die äußerliche Fremdartigkeit historischer Quellen ist in manchen Fällen so groß, dass deren Einsatz im Unterricht mit großer Wahrscheinlichkeit eher verwirrend und damit didaktisch höchst kontraproduktiv ausfiele.

Ein Beispiel möge dies unterstreichen. Die Entwicklung symbolischer Algebra ist ein historisch spannendes Kapitel, das auch produktiv in den Unterricht eingebaut werden könnte. Insbesondere für S&S, die mit den mysteriösen Variablen und sowie den damit verrichteten Operationen große Verständnisschwierigkeiten haben, kann es entlastend sein zu erfahren, dass über lange Zeit in der Mathematik mit unbekannten Größen anders gerechnet wurde. Der Grat zwischen Verständnis und Verwirrung ist jedoch äußerst schmal. So könnte ein historisch-genetischer Zugang die Entwicklung des Konzeptes einer algebraischen Gleichung an der Practica arithmetica des italienischen Mathematikers Girolamo CARDANO (1501–

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1576) festmachen. Der Wissenschaftshistoriker Albrecht HEEFFER be-schreibt den entsprechenden Auszug (siehe Abb. 1) nicht ohne Pathos als „probably the most important page in the development of symbolic algebra“ (Heeffer 2007, 98). Cardano bezeichnet darin die erste Unbekannte mit „co.“ (ital. cosa: Sache), das Kürzel „quan.“ (lat. quantitas: Größe) steht für die zweite Unbekannte. Wer auf ein solides algebraisches Wissen zurückgreifen kann, wird kein Problem und womöglich sogar Freude dabei haben, die entsprechenden Zeilen in ihre moderne Notationsweise zu überführen. So stellt etwa die kryptisch anmutende Zeile „7 co. aequales 151 p. 27 qua.“ in moderner Notation einfach die Gleichung 7 = 5 + 7 dar. All jene, denen jedoch ein solider Grundstock algebraischen Wissens fehlt, werden in diesen Zeilen nicht viel mehr als eine wirre Anhäufung unverständlicher mathematischer Hieroglyphen sehen. Zumal die einzelnen Schritte zur Umformung der Gleichungen nicht explizit angegeben und Angaben teilweise falsch gedruckt sind (vgl. Heeffer 2007, 98). Dass eine nicht-symbolische Algebra im Zeitalter symbolischer Notation allgemein höchst fremdartig erscheint, macht die Sache auch nicht gerade einfacher. Wie sinnvoll der Einsatz dieser historischen Quelle im Unterricht zur Erläuterung des Konzepts einer algebraischen Gleichung ist, darf daher mit gutem Recht bezweifelt werden.

Abbildung 1

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Doch wiederum muss die Rückfrage gestellt werden, was aus dieser Erkenntnis folgt. Wohl nicht, dass der Einsatz historischer Quellen im Unterricht gänzlich zu vermeiden ist. Trotz der nicht zu leugnenden Gefahr didaktischer Kontraproduktivität darf das Kind nicht mit dem Bade, d.h. historische Bezüge allgemein nicht mit verwirrenden Elementen der Mathematikgeschichte ausgeschüttet werden. Vielmehr mahnt dieses Beispiel so zu einer sorgsamen Auswahl der im Unterricht verwendeten Quellen und Beispiele. Ein unreflektierter Einsatz von Mathematik-geschichte kann leicht in großflächige Verwirrung münden. Dies sollte obiges Beispiel deutlich gezeigt haben. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, dass behutsam ausgewählte historische Elemente sehr wohl ein großes Potential der Vertiefung mathematischer Erkenntnis und didaktischer Produktivität in sich tragen.

Kritikpunkt 4: Mathematikgeschichte als Zeitverlust

Ein weiterer, an einer historisch-mathematischen Didaktik geäußerter Kritikpunkt lautet, dass es sich dabei schlicht und einfach um Zeitverlust handelt (vgl. Behr 1996, 34). Warum sich mit der Vergangenheit beschäftigen, wenn der Mathematikunterricht doch dezidiert der gegen-wärtigen Mathematik verpflichtet ist? Warum sich mit früheren Aus-prägungen der Mathematik auseinandersetzen, wenn doch die gegenwärtig besten Methoden gelernt werden wollen? Warum – um auf das letzte Beispiel zurückzugreifen – den historischen Umweg nicht-symbolischer Algebra nehmen, wenn die symbolische Notationsweise heute doch eine Selbstverständlichkeit darstellt? In einer derartigen Fixierung auf die gegenwärtige Mathematik müssen historische Bezüge zwangsläufig als Zeitverlust bzw. als ein unnötiges Abschweifen vom Wesentlichen er-scheinen. Insbesondere wenn noch das Damoklesschwert einer bevor-stehenden Prüfung drohend über einer Klasse hängt, wird gern und oft die Vernachlässigung des Übens der alles entscheidenden prüfungsrelevanten Aufgaben gegenüber etwaigen historischen Einschüben kritisch in Stellung gebracht (vgl. Kronfellner 2002, 29).

Dieser Kritikpunkt wirkt prima facie sehr stichhaltig, erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als äußerst kurzsichtig. Denn Mathematik ist vielmehr als die fachliche Beherrschung ihrer gegenwärtigen Methoden. Wer Mathematik einseitig auf diesen Aspekt reduzieren will, blendet damit gleichzeitig viele andere wichtige Komponenten aus, sodass am Ende eine höchst defizitäre Form von Mathematik vermittelt wird. So ließe sich der argumentative Spieß dahingehend umdrehen, dass historische Bezüge gerade das genaue Gegenteil von Zeitverlust darstellen, insofern sie die Mathematik in ihrer heutigen Form erst verständlich und damit als sinnvoll erlebbar machen. Doch mehr dazu später.

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Kritikpunkt 5: Mathematikgeschichte als verstaubtes Museum historischer Kuriositäten

Dieser letzte Kritikpunkt stellt wiederum eine historisch-mathematische Didaktik nicht in ihrer Gesamtheit in Frage, sondern legt den kritischen Finger in die Wunde ihrer Umsetzung. So kann ein historisch orientierter Unterricht in den Worten des Philosophen und Mathematikers Gregor NICKEL leicht zur ‚antiquarischen Karikatur‘ verkommen, wenn der Fokus im Unterricht derart auf positivistische Geschichte gerichtet wird, dass die Präsentation historischer Werke die Arbeit am mathematischen Inhalt völlig überlagert und schließlich sogar verdrängt (vgl. Nickel 2013, 260). In dieser Karikatur von Mathematikunterricht steht dann nicht mehr die Mathematik selbst, sondern vielmehr ihre Geschichte mit all ihren Kontingenzen und Zufälligkeiten im Zentrum. Die Mathematik degeneriert auf diese Weise zu einem verstaubten Museum historischer Kuriositäten, welches im Unterricht jeden Tag aufs Neue besichtigt wird:

Hier sammelt und hortet der unreflektierte und unkontrollierte historische Sinn längst verstaubte Kuriositäten, schließt sich mit diesen in einem Museum ein und gleichzeitig die Anfragen und Bedürfnisse der Gegenwart aus (Nickel 2013, 260).

Dieser Kritikpunkt ist sehr ernst zu nehmen. Mathematik sollte im Unterricht als etwas Lebendiges begegnen, nicht als ein verstaubtes Museumsexponat ohne Lebenssaft. Der Fokus des Unterrichts darf sich daher nicht so weit verschieben, dass die Arbeit am mathematischen Inhalt völlig nachrangig wird. Die Auseinandersetzung mit einem mathema-tischen Begriff, einem konkreten Inhalt muss unstrittig den primären Bezugspunkt von Unterricht bilden. Historische Bezüge verwandeln die Mathematik jedoch nicht automatisch in ein Museum positivistischer Geschichte. Insofern lehnt dieser Kritikpunkt eine historisch-mathematische Didaktik nicht in ihrer Gesamtheit ab. Vielmehr schärft er – konstruktiv gewendet – den didaktischen Blick dafür, nach Möglichkeiten der Umsetzung zu suchen, welche über historische Bezüge Mathematik als etwas Lebendiges erlebbar machen und sie nicht zu einem Konglomerat historischer Fakten verkommen lassen.

4.1.2 Inhärente Unvereinbarkeit

Nach dem Anhören dieser ersten skeptischen Stimmen in Bezug auf eine historisch-mathematische Didaktik sei nun ein weiterer Kritikpunkt aufgegriffen, der eine etwas ausführlichere Diskussion verdient, weil er das Bestreben einer historischen Kontextualisierung des Mathematikunterrichts an seinen Grundfesten angreift. So wird mit der Behauptung einer inhärenten Unvereinbarkeit von Mathematikgeschichte und Mathematik-unterricht deren wechselseitige didaktische Befruchtung radikal in Frage

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gestellt und damit in weiterer Folge einer historisch-mathematischen Didaktik jegliche Grundlage entzogen. Nicht einzelne Details, sondern das Projekt als Ganzes steht somit im Kreuzfeuer der Kritik. Bevor daher überhaupt an eine theoretische Ausarbeitung einer historischen Mathe-matikdidaktik gedacht werden kann, muss erst dieser Frontalangriff abgewehrt und eine schlüssige Antwort darauf gefunden werden. Ansonsten stünde dieses Unternehmen von Beginn an auf tönernen Füßen.

Doch auf welchem argumentativen Fundament ruht der Vorwurf inhärenter Unvereinbarkeit von Mathematikgeschichte und Mathematik-unterricht überhaupt? Der Wissenschaftshistoriker Michael FRIED, einer der Hauptvertreter dieser Kritik, geht dabei von der sicherlich zutreffenden Beobachtung aus, dass der Mathematikunterricht primär dem Erlernen moderner Begriffe, Techniken und Methoden verpflichtet ist. „It begins with the simple fact that we mathematics educators are committed to teaching modern mathematics, to teaching the kind of mathematics our students will need in their later study of mathematics, science, or engineering“ (Fried 2001, 395). Im Rahmen dieser vorgegebenen Ausrichtung auf Mathematik in ihrer gegenwärtigen Form bleibt wenig zeitlicher Spielraum dafür, die Entwicklung dieser modernen Begrifflichkeiten extensiv unter die historische Lupe zu nehmen. Die Mathematikgeschichte wird somit von einem Inhalt eigenen Rechts zu einer Hilfsdisziplin, deren Einsatz im Unterricht nicht mehr intrinsisch, sondern instrumentell gerechtfertigt wird. Ihr Interesse an und für sich gerät dabei außer Blick. Vielmehr ist es ihr methodisch-didaktischer Nutzen zur Klärung, Verdeutlichung und Vertiefung moderner Konzepte, dessent-wegen sie im Unterricht Einsatz findet. Historische Bezüge als Magd der Mathematik sozusagen, historia ancilla mathematicae. Kurz: Die Geschichte der Mathematik wird im Unterricht benutzt. Darin liegt jedoch die Wurzel eines weitreichenden Problems:

Now, just because a body of knowledge is used does not in itself prove it has been misused, and the one who uses it should not necessarily be condemned. However, when history is used to justify, enhance, explain, and encourage distinctly modern subjects and practices, it inevitably becomes what is called ‚anachronical‘ [...] or ‚Whig‘ history [...]. This kind of historiography, if not downright reprehensible, is at least highly questionable in most history circles (Fried 2001, 395).

Unter Whig history wird dabei in den Geschichtswissenschaften eine Darstellungsart historischer Inhalte verstanden, welche die Vergangenheit gleichsam durch eine moderne Linse betrachtet und dadurch die Gegenwart zum Gradmesser des historisch Vergangenen erhebt (vgl. ebd., 395). Problematisch ist dies insofern, als durch diese Perspektive die Vergangen-heit systematisch verzerrt und ihr von außen eine trügerische Ziel-gerichtetheit übergestülpt wird. Indem nämlich in der Vergangenheit nach Spuren der Gegenwart gejagt wird, erscheint die Geschichte als gerichtete,

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unaufhaltsame Entwicklung auf die Gegenwart hin. So als ob sämtliche Frühformen der Mathematik aufgrund dieser Gerichtetheit gar nicht anders gekonnt hätten, als in ihrer gegenwärtigen Form zu kulminieren. Unter die Kategorie Whig history fällt bspw. der Zugang, der in der griechischen, geometrisch orientierten Mathematik bereits moderne Algebra zu ent-decken meint. Dieses scheinbar klare Bild mathematischer Entwicklung ist jedoch dem problematischen Umstand geschuldet, dass die Vergangenheit mit den Augen der Gegenwart betrachtet wird. Man sieht auf diese Weise gleichsam, was man sehen will. Oder genauer formuliert: Man sieht mehr, als man durch die historischen Quellen eigentlich zu sehen berechtigt ist. Das konkret historisch Gegebene gerät durch diese systematisch ver-zerrende Perspektive nicht angemessen in den Blick. Auch die scheinbare Zielgerichtetheit der historischen Entwicklung im Rahmen einer Whig history entpuppt sich bei näherer Betrachtung als trügerische Illusion:

No doubt, one can follow a path from the present back to the past, but it has a direction only from the point of view of the present; from the perspective of the past, and this is the historical perspective, it is the zigzag path of a wanderer who does not know exactly where he is going (Fried 2001, 396).

Als Beispiel für diese künstliche Zielgerichtetheit Whiggischer Geschichts-schreibung innerhalb der Geschichte der Mathematik führt Fried die Entwicklung des Funktionsbegriffes an (vgl. ebd., 396). So sei die Frage nach dem historischen Ursprung dieses für die Mathematik insgesamt fundamen-talen Begriffes von großer mathematikgeschichtlicher Relevanz. Nun könnte eine Perspektive, welche auf der Grundlage aktuellen Wissens die Geschichte nach Anhaltspunkten für die Begriffsgenese absucht, den Ursprung leicht im mittelalterlichen Naturwissenschafter und Philosophen Nikolaus VON ORESME (1330–1382) verankern. Zumal dessen Dar-stellungen der Intensität verschiedener Qualitäten dem modernen Konzept des Graphen einer funktionalen Abhängigkeit sehr nahe kommen. Indem das moderne Konzept eines Graphen jedoch den historischen Quellen übergestülpt bzw. in diese gleichsam hineingedacht wird, gerät das konkrete Gedankengut Oresmes, der eigentliche Gegenstand der histo-rischen Analyse, aus dem Blick. Wie bereits gesagt: Man sieht, was man sehen will, auch wenn dazu die Geschichte unbewusst gehörig verzerrt werden muss.

Indeed, it is easy for us to find the function concept in Oresme because we have a clear idea of what we are looking for and how important it is. But by involving Oresme in our own search for the function concept, we miss his own interest in the nature of motion and change and we lose the Aristotelian context out of which this interest grew. […] In effect, we take away Oresme‘s thoughts and make him think our own (Fried 2001, 396).

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Auf Basis dieser Ausführungen wird nun das Dilemma, auf dem sich der Vorwurf inhärenter Unvereinbarkeit von Mathematikgeschichte und Mathematikunterricht gründet, deutlich sichtbar. Entweder eine Lehrperson entscheidet sich auf Grundlage des Primats moderner Mathematik im Unterricht für einen Whiggischen Zugang zur Mathematikgeschichte und nimmt damit eine zum Teil grobe Verzerrung der historischen Entwicklung bewusst in Kauf. Oder sie entscheidet sich für einen genuin historischen Zugang, der geschichtliche Quellen ohne jeglichen noch so verlockenden Bezug zur gegenwärtigen Mathematik in den Blick nimmt, wodurch jedoch unweigerlich die prinzipielle Ausrichtung des Unterrichts auf Mathematik in ihrer gegenwärtigen Form geopfert werden muss (vgl. ebd., 399). Die Situation ist im wahrsten Sinne des Wortes dilemmatisch, ein Gehen beider Wege erscheint nicht möglich. Die Alternativen schließen sich wechselseitig aus. Mit anderen Worten: Eine historisch redliche Mathematikgeschichte und ein der modernen Mathematik verpflichteter Mathematikunterricht sind inhärent unvereinbar. Wie aber nun umgehen mit diesem Dilemma? Eine Antwort muss auf jeden Fall gefunden werden, um das Projekt einer historisch-mathematischen Didaktik auf eine solide Basis zu stellen.

4.1.3 Eine erste Antwort auf die skeptischen Stimmen

In den vergangenen beiden Abschnitten wurde deutlich, dass die Zielsetzungen einer historisch-mathematischen Didaktik durchaus auch kritisch beäugt werden. Die Palette an vorgebrachten Bedenken und Einwänden ist dabei durchaus breit. In der Tat muss die Hoffnung, bereits ein unreflektiertes Einstreuen historischer Bezüge in den Unterricht steigere die Motivation, vertiefe die Erkenntnis und erleichtere den Zugang, als naives Wunschdenken verabschiedet werden. Dies ist sozusagen der negative, im Sinne von die Möglichkeiten einer historischen Didaktik einschränkende Schlussakkord der skeptischen Stimmen: Der Einsatz von Mathematikgeschichte ist nicht schon für sich genommen ein Garant für Lernerfolg und Motivationssteigerung. Ganz im Gegenteil! Vielmehr kann ein unreflektierter Einbezug historischer Elemente sehr schnell in sein intendiertes Gegenteil umschlagen und sich didaktisch höchst kontra-produktiv auswirken. Der Grat zwischen didaktischem Nutzen und Schaden ist dabei sehr schmal.

Dies ist jedoch nur eine Seite der kritischen Medaille. So lassen sich die skeptischen Stimmen auch ins Positive wenden und als wichtige Hinweise interpretieren, wie denn eine historische Didaktik konkret entworfen werden muss, um die angedeuteten Fallstricke didaktischer Kontra-produktivität zu vermeiden. Hier kamen schon einige wichtige Punkte zum Vorschein, angefangen bei der Feststellung, dass die Komplexität historischer Quellen bei deren Auswahl für den Unterricht genau

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berücksichtigt werden muss, bis hin zu der Einsicht, dass die Mathematik nicht zu einem Sammelsurium historischer Fakten verkümmern darf. In diesem Sinne spielen die skeptischen Stimmen bei der Entwicklung einer historischen Didaktik der Mathematik eine äußerst wichtige und auch produktive Rolle.

Auf den Vorwurf inhärenter Unvereinbarkeit von Mathematikunterricht und Geschichte der Mathematik, der gewissermaßen die kritische Axt an die Wurzel einer historisch orientierten Mathematikdidaktik legt, ist eine Antwort bis dato schuldig geblieben. Sie soll an dieser Stelle jedoch angedeutet werden. So ließe sich zu Recht rückfragen, ob an die Mathe-matikgeschichte als Teil des Mathematikunterrichts tatsächlich dieselben strengen wissenschaftlichen Standards anzulegen sind wie an die Geschichtswissenschaft selbst. Diese Frage würden wohl nur extreme Puristen der Historie uneingeschränkt bejahen. Wie aber mit dem damit verwandten Problem der Authentizität mathematikhistorischer Elemente im Unterricht konkret umgegangen werden soll, ist damit noch lange nicht beantwortet. Der Kritikpunkt inhärenter Unvereinbarkeit ist damit nur zum Teil zurückgewiesen und wird im Zuge der Diskussion praktischer Herausforderungen einer historischen Mathematikdidaktik im Unterricht nochmals aufgegriffen.

4.2 Hoffnungen und Erwartungen

Nach der Betrachtung und Diskussion vereinzelter skeptischer Stimmen in Bezug auf eine historisch-mathematische Didaktik sei nun der Fokus der Analyse auf die Hoffnungen und Erwartungen gerichtet, die in den Einbezug historischer Elemente in den Mathematikunterricht gelegt werden. Bereits ein flüchtiger Blick in die Literatur lässt erkennen, dass es sich hierbei nicht um ein paar leise Stimmen, sondern um einen stimmgewaltigen Chor handelt, der insbesondere seit dem Abklingen der „Neuen Mathematik“ immer größeren Zulauf erhält. Das Spektrum der für eine Implementierung angeführten Gründe und Ziele ist dabei ebenfalls sehr breit gefächert: Neben affektiven Zielen finden sich auch kognitive Ziele, intrinsische Rechtfertigungen werden ebenso ins Treffen geführt wie instrumentelle Begründungen und auch sonst werden vielfältige andere argumentative Geschütze aufgefahren, von wissenschaftssoziologischen Zielsetzungen bis hin zu Aspekten der kulturellen Integration (vgl. Kronfellner 1998, 36 ff.). Exemplarisch für die Fülle der in eine historische Mathematikdidaktik gesetzten Hoffnungen und Erwartungen sei der britische Mathematikhistoriker John FAUVEL (1947–2001) genannt, der in einem Artikel „some reasons“ für die Einbeziehung von Mathematik-geschichte in den Unterricht anführte, nicht weniger als 15 an der Zahl (vgl.

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Fauvel 1991, 4)! Sein lapidarer Kommentar dazu: „It is not hard to produce many good reasons for using history in maths teaching and to detail the benefits it can bring“ (Fauvel 1991, 4).

In der Fülle der vorgebrachten Gründe geht der Überblick jedoch nur allzu leicht verloren. Ziel dieses Abschnittes ist es daher Ordnung in den teilweisen Wildwuchs an Hoffnungen und Erwartungen zu bringen, diese systematisch zu ordnen und näher darzustellen. Konkret werden im Folgenden acht Gründe unterschiedlicher Provenienz und inhaltlichen Tiefgangs für die Einbindung historischer Aspekte in den Unterricht unter die Lupe genommen. Insofern diese Einteilung in acht Gruppen jedoch mehr oder minder arbiträr ist und die einzelnen Gründe zum Teil auch miteinander in Beziehung stehen, sind inhaltliche Schnittmengen nicht ganz zu vermeiden. Eine messerscharfe Grenzziehung in voneinander unab-hängige Gründe muss also schon zu Beginn als Illusion verabschiedet werden.

4.2.1 Auflockerung des Unterrichts

Ein nur allzu bekanntes und immer wieder gehörtes Vorurteil, mit dem die Mathematik unablässig zu kämpfen hat, lautet, dass es sich bei ihr um eine staubtrockene, kühle und steife Disziplin handelt. Eine Disziplin, bei der es im wahrsten Sinne des Wortes nichts zum Lachen gibt. Dieses hartnäckige, über Generationen von S&S tradierte Urteil ist bis zu einem gewissen Grade auch gut nachvollziehbar, wenn man etwa an den streng formal-logischen Aufbau eines mathematischen Fachgebietes entlang von Sätzen, Definitionen und Beweisen denkt. Der relativierende Hinweis, diese streng wissenschaftliche Systematik treffe doch nur auf die akademische Mathematik, nicht jedoch auf den Schulbetrieb zu, mag dabei den Vorwurf der kühlen Steifheit nicht entkräften. Zumindest nicht zur Gänze. Denn auch der klassische Schulbetrieb gilt trotz seines neu ausgerichteten Fokus auf den Erwerb verschiedenartiger mathematischer Kompetenzen nicht gerade als ein glänzendes Gegenbeispiel zu einer trockenen Disziplin.

Gerade vor dem Hintergrund dieses nur schwer abzuschüttelnden Vorurteils sehen viele Autoren im Einbezug historischer Elemente einen vielversprechenden didaktischen Weg zur Auflockerung des Unterrichts (vgl. Richter 2011, 80; Kronfellner 2002, 23; Kronfellner 1998, 43). Diese Zielsetzung ist dabei innerhalb der Mathematik keineswegs neu. So plädierte bereits niemand Geringerer als der französische Mathematiker und Philosoph Blaise PASCAL (1623–1662), Namensgeber des Pascal‘schen Dreiecks zur Darstellung der Binomialkoeffizienten und Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung, für eine Auflockerung des Unterrichts. Ihm wird folgende Aussage zugeschrieben: „Die Mathematik als Fachgebiet ist so ernst, dass man keine Gelegenheit versäumen sollte, sie etwas unterhaltsamer zu

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gestalten“ (zit. nach Richter 2011, 80 f.). Auch wenn natürlich der Unterhaltungswert von Unterricht nicht die oberste Richtschnur darstellen kann und die Auflockerung nicht das alleinige Ziel aller didaktischen Bestrebungen sein darf, ist diese Zielsetzung gerade vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten, nicht allzu positiven Einstellungen gegenüber der Mathematik allgemein nicht gering zu schätzen. So geht mit dem direkten Ziel der Auflockerung des Unterrichts indirekt auch die Hoffnung einher, die affektive Einstellung und Haltung der S&S zur Mathematik positiv zu verändern.

Die Möglichkeiten zur wohl dosierten, förderlichen Umsetzung der Pascal‘schen Maxime sind dabei vielfältig. Der Einbezug historischer Beispiele kann den Unterricht ebenso auflockern und auf die S&S stimulierend wirken wie kurz eingestreute Anekdoten über berühmte Persönlichkeiten aus der Geschichte der Mathematik. Einige Ausschnitte aus der faszinierenden Biographie des indischen Mathematikers Srinivasa RAMANUJAN (1887–1920) bieten sich bspw. sehr gut zur zwischen-zeitlichen Auflockerung an (siehe HISTOMATH-BOX VI).

HISTOMATH-BOX VI Der indische Mathematiker Srinivasa Ramanujan stellt eine der faszinierendsten Persönlichkeiten aus der Geschichte der Mathematik dar. Aus armen Verhältnissen stammend und in mathematischer Hinsicht größtenteils Autodidakt, entwickelte er für sich, in praktisch völliger Isolation von der restlichen mathematischen Welt, substantielle Ergebnisse. So gelangen ihm aufgrund seiner gewaltigen Einbildungskraft und Intuition viele bedeutende mathematische Entdeckungen. Eine Anekdote aus dem Leben Ramanujans, die seinen besonderen, von Intuition und Spürsinn geprägten Zugang zur Mathematik unterstreicht, ist vom berühmten Mathematiker G. H. Hardy überliefert, der Ramanujan gleichsam als Mentor nach England holte. Als er Ramanujan eines Tages im Krankenhaus besuchte, bemerkte er beiläufig, dass er in einem Taxi mit der Nummer 1729 zum Krankenhaus gekommen war und dass ihm diese Nummer als recht langweilig und unbedeutend erscheine. Nein, entgegnete Ramanujan sofort, 1729 ist eine sehr interessante Zahl, handelt es sich bei ihr doch um die kleinste Zahl überhaupt, die sich auf zwei verschiedene Arten als Summe zweier Quadratzahlen darstellen lässt (vgl. Jones 2006, 14 f.).

Auch kann – um ein anderes auflockerndes Beispiel zu nennen – der für die Mathematik allgemein zentrale Begriff des Unendlichen im Unterricht, alternativ zu einer Diskussion auf rein formaler Ebene, am Beispiel des vom deutschen Mathematiker David HILBERT (1862–1943) erdachten

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Paradoxons des Hilbert-Hotels erörtert werden (siehe HISTOMATH-BOX VII). Dieses Gedankenexperiment, in dessen Zentrum ein Hotel mit abzählbar unendlich vielen Zimmern steht, veranschaulicht auf unter-haltsame Weise die verblüffenden Konsequenzen der Nutzung des Begriffes der Unendlichkeit in der Mathematik (vgl. Paenza 2008, 25 f.).

HISTOMATH-BOX VII Der deutsche Mathematiker David Hilbert hat innerhalb der Mathematik nicht nur durch gelöste Probleme, sondern auch durch ungelöste Probleme Berühmtheit erlangt. So stellte er im Jahre 1900 auf einem Pariser Kongress eine Liste von 23 zu dem Zeitpunkt ungelösten mathematischen Problemen vor, auf welche der Fokus der Bemühungen im gerade neu angebrochenen Jahrhundert gelegt werden solle (vgl. Stewart 2010, 242). Bereits das erste Problem aus dieser Liste behandelt die Thematik unendlicher Mengen in der Mathematik. Zur Illustration der abenteuerlich-kontraintuitiven Konsequenzen der Verwendung des Begriffes der Unendlichkeit in der Mathematik ersann Hilbert das Gedankenexperiment des Hilbert-Hotels. Dabei handelt es sich um ein Hotel mit abzählbar unendlich vielen Zimmern. Ist ein gewöhnliches Hotel mit endlich vielen Zimmern ab einer gewissen Anzahl an Gästen voll, verblüfft das Hilbert-Hotel dadurch, dass selbst bei völliger Auslastung weitere Gäste einquartiert werden können. Kommt etwa ein neuer Gast, werden alle bereits vorhandenen Gäste um ein Zimmer weitergeschickt, wodurch das erste Zimmer für den Neuankömmling frei bleibt. Selbst wenn aber abzählbar unendlich viele neue Gäste kommen sollten, platzt das Hilbert-Hotel nicht aus allen Nähten. So wechselt einfach jeder Gast aus dem Zimmer mit der Nummer � ins Zimmer �, wodurch alle Zimmer mit ungeraden Zimmernummern für die abzählbar unendlich vielen neuen Gäste frei werden (vgl. Paenza 2008, 25 f.). Heureka!

Allgemein entpuppt sich die Geschichte der Mathematik als ein reichhaltiger Fundus an historischen Beispielen mit Unterhaltungscharakter bzw. als ein „Steinbruch voller Probleme“ (Thom 2013, 10). Bei einigen Exemplaren aus diesem Steinbruch konvergieren Unterhaltungswert und Lernwert, wie etwa im Falle des Hilbert-Hotels. Andere historische Beispiele verfügen lediglich über einen gewissen Unterhaltungswert und lassen sich nur schwer oder überhaupt nicht in Bezug zu einem fachmathematischen Inhalt setzen. Ein Beispiel hierfür ist das bis in die karolingische Zeit zurückreichende Rätsel um die Flussüberquerung dreier Schwestern, welches erstmals vor rund 1200 Jahren bei Alkuin VON YORK (735–804),

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einem Berater Karl des Großen, auftauchte.11 In moderner Formulierung lautet es wie folgt:

Drei Männer, jeder von seiner Schwester begleitet, kommen an einen Fluss und wollen ihn überqueren. Sie finden aber nur ein kleines Boot, in dem nicht mehr als zwei von ihnen Platz haben. Jeder der Männer hat Verlangen nach den Schwestern der anderen beiden Männer. Wie können sie alle den Fluss überqueren, ohne dass eine Frau entehrt wird, und wie viele Fahrten sind dafür mindestens notwendig? Keine Frau darf ohne ihren Bruder mit einem anderen Mann oder mit beiden anderen Männern zusammen an einem Ufer oder im Boot zusammen sein. Sie darf auch nicht mit dem Boot an einem Ufer anlegen, an dem sich ein Mann befindet, wenn ihr Bruder am gegenüberliegenden Ufer steht. (Hemme 2012, 24).

Gewiss mag dieses Beispiel nur schwerlich dazu dienen, Inhalte aus der Vektorrechnung oder der Infinitesimalrechnung zu erhellen. Kurz eingestreut in den Unterricht zur Auflockerung und mit ein paar histo-rischen Bemerkungen versehen, kann es dennoch didaktische Früchte tragen, sozio-kulturelle Rahmenbedingungen vergangener Zeiten vor Augen führen und gleichsam als willkommener Nebeneffekt zu einer positiveren affektiven Einstellung der S&S zur Mathematik beitragen. Von der Schulung mathematischer Problemlösekompetenzen ganz zu schweigen.

4.2.2 Humanisierung der Mathematik

Überspitzt könnte die Schulmathematik unmenschlich genannt oder als das unmenschlichste aller an der Schule unterrichteten Fächer bezeichnet werden. Doch nicht in einem normativen, wertenden oder gar ver-urteilenden Sinne. Das Prädikat unmenschlich bezieht sich in diesem Falle vielmehr darauf, dass in der mathematischen Lehre kaum auf all jene Personen Bezug genommen wird, die über Jahrhunderte das mathematische Wissen erst entwickelt haben. In dieser Hinsicht ist die Mathematik vom Gros der anderen Unterrichtsfächer doch durch eine merkliche Kluft getrennt. So wird im Physikunterricht natürlich Galileo Galilei im Kontext seiner Fallexperimente als Begründer der modernen Wissenschaft thematisiert, gleich wie im Musikunterricht Antonín Dvořák als Komponist der Symphonie „Aus der neuen Welt“ in e-Moll behandelt wird und im Philosophieunterricht Simone de Beauvoir als Autorin des Klassikers „Das

11 Aus der Feder desselben Autors sind auch zahlreiche weitere Rätsel bekannt. Das

Problem der Überfahrt ist in dessen Rätselsammlung Propositiones ad iucendos iuvenes in gleich vier Varianten enthalten. Bekannter als das obige Rätsel der drei keuschen Schwestern ist vermutlich das Rätsel um Wolf, Ziege und Kohlkopf. Dabei geht es in ähnlicher Weise darum, wie die Überfahrt mit dem kleinen Boot gelingen kann, ohne dass der Wolf die Ziege und die Ziege den Kohlkopf frisst (vgl. Thom 2013, 9 f.).

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andere Geschlecht“ zur Sprache kommt. Geschichtliche Bezüge sind in all diesen Fächern so selbstverständlich integraler Bestandteil der Lehre, dass sie gar nicht wegzudenken sind.

In der Mathematik stellt sich die Situation oft ganz anders dar. Abgesehen von ein paar illustren Ausnahmen wie THALES von Milet und PYTHAGORAS von Samos, die über ihre Funktion als Namensgeber mathematischer Objekte oder Theoreme so gut wie allen Generationen an S&S mehr oder weniger positiv bekannt sind, sticht doch die häufig anzutreffende Ahistorizität der mathematischen Lehre ins Auge. Selbst latente historische Verankerungen, wie der in der Bezeichnung „karte-sisches Koordinatensystem“ versteckte Bezug zum Mathematiker und Philosophen René DESCARTES (1596–1650), werden nur in seltenen Fällen explizit gemacht. Dies kann zu weiten Teilen natürlich mit dem bereits diskutierten Umstand erklärt werden, dass im Prozess der Systemati-sierung, Axiomatisierung und Kondensierung mathematischen Wissens alle historischen, menschlichen Bezüge ausgeklammert werden können, da der mathematische Gehalt auch ohne sie verlustfrei erhalten bleibt. Für die Entwicklung mathematischen Wissens sind geschichtliche Bezüge schlicht und einfach nicht notwendig. Die Kehrseite dieser ahistorischen Medaille ist freilich der Eindruck vieler S&S, die Mathematik stelle einen vollendeten Corpus objektiver, ewiger Wahrheiten dar, der in seiner monumentalen Gestalt gleichermaßen abgehoben wie unzugänglich wirkt. Mit anderen Worten entsteht das Bild von Mathematik als einer abstrakten, vom menschlichen Bereich völlig abgekoppelten Disziplin quasi-platonischer Wahrheiten und Objekte.

Dass es sich bei einer derartigen Konzeption nicht gerade um ein ideales Fundament für einen produktiven Lernprozess handelt, dürfte klar sein. Gerade hier setzt eine weitere Hoffnung an, die vielfach in den Einbezug historischer Elemente in den Mathematikunterricht gelegt wird. Ge-schichtliche Bezüge, so der Grundtenor vieler Publikationen, helfen dabei, der Mathematik ein menschliches Antlitz zu geben bzw. zurückzugeben (vgl. Kronfellner 1997, 84; Liu 2003, 419; Jahnke 1996, VI). Auf den Punkt gebracht wird diese Hoffnung im folgenden Zitat der Mathematikerin Sandra THOM:

Mathematik erhält durch [...] die Menschen in ihrer Geschichte, die zu ihrer Entwicklung beigetragen haben, ein menschliches Antlitz. Die so abstrakte und häufig als abgeschlossen erscheinende Mathematik in ihrem monolithischen und damit unzugänglichen Gepräge wird in Teilen in ihre Ursprungssituationen aufgelöst, so dass die häufig bei Kindern bestehende Kluft zwischen kindlichem Denken und abstrakter Mathematik entschärft werden kann: Mathematik ist etwas Gewordenes und etwas Werdendes, sie ist ein kulturelles Produkt und wurde von Menschen als Reaktion auf konkrete Probleme entwickelt (Thom 2013, 8 f.).

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Über geschichtliche Bezüge soll die Mathematik so aus einem abstrakt-abgehobenen Ideenhimmel wieder in einen menschlichen und zugänglichen Bereich geholt werden. Dabei wird das Bild der Mathematik gehörig zurechtgerückt: Die so häufig deduktiv vermittelte Mathematik erscheint nicht mehr als eine von absoluten Normen gelenkte Wissenschaft, sondern als menschliches Konstrukt, als Reaktion auf zum Teil konkrete Probleme des Alltags (vgl. Thom 2013, 8). Hinter der Fassade scheinbar ewiger Wahrheiten kommen damit immer mehr die Menschen zum Vorschein, die als Urheber mathematischer Erkenntnisse auch Kinder ihrer Zeit waren und spezielle Motive verfolgten (vgl. Jahnke 1996, VI). In geradezu para-digmatischer Weise lässt etwa ein geschichtlicher Einblick in den Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibniz um die Entwicklung der Infinitesimalrechnung diese beiden eminenten Mathematiker als Menschen mit nur allzu menschlichen Interessen und Motiven sichtbar werden (vgl. Beutelspacher 2011, 60). Geschichtliche Bezüge zeigen so deutlich, dass mathematische Probleme nicht in einem geschichtlichen Vakuum entstehen und oft vielfältige Bezüge zur Wirklichkeit haben (vgl. Liu 2003, 419). Kurz: In der Mathematik beginnt es zu menscheln.

Außerdem entpuppen sich durch diese humanisierende Revision viele Aspekte, die bis dato in der Mathematik unhinterfragt als absolut und unveränderlich gegolten haben, als ein Produkt von Konventionen, als Abbild eines von Menschen in all ihrer Beschränktheit und Fehlbarkeit betriebenen Werdeganges. So zeigt etwa ein Blick auf die geschichtliche Herausbildung der mathematischen Notation, „dass es keineswegs selbst-verständlich und einfach ist, dass ‚man‘ so notiert und rechnet, wie es heute üblich ist“ (Nickel 2013, 259). Die gegenwärtig etablierten Notationsweisen stellen nicht absolute, in ahistorischen Stein gemeißelte Spielregeln eines abstrakten Spieles dar, sondern tragen vielmehr grundlegend menschliche Züge. Ein Einblick etwa in das große Vermächtnis Leonhard Eulers für die mathematische Notation, von der Bezeichnung i für die imaginäre Einheit bis hin zur Verwendung des Buchstabens e für die Basis des natürlichen Logarithmus, lässt diese menschlichen Züge in der äußerlichen mathe-matischen Gestalt deutlich sichtbar werden.

Nun ist diese Humanisierung der Mathematik kein reiner Selbstzweck, der für sich genommen schon die Einbindung historischer Elemente motivieren würde. Neben der angestrebten Revision eines in seiner Abstraktion den historischen Werdegang nicht adäquat wiedergebenden Bildes von Mathematik werden insbesondere zwei Hoffnungen mit der Humanisierung der Mathematik verbunden: So soll als erster Aspekt eine Verdeutlichung der menschlichen Züge in der Mathematik zu einem Abbau psychischer Hürden und damit in weiterer Folge zu einer größeren Zugänglichkeit für die S&S führen (vgl. Richter 2011, 80; Kronfellner 1997, 84). Dies ist so zu verstehen, dass gegenüber einer Mathematik, die als

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Konstrukt von Menschen aus Fleisch und Blut und damit als historisch geworden aufgefasst wird, eine viel niedrigere psychische Hemmschwelle anzunehmen ist als im Vergleich zu einer als Sammlung ewiger und absoluter Wahrheiten verstandenen Mathematik, vor der man als Schüler oder Schülerin fast nur scheitern kann. Dies gilt umso mehr, als ein Blick in die Geschichtsbücher der Mathematik prominente Vertreter dieser Disziplin zum Teil von einem übermenschlich hoch erscheinenden Podest herabholt und auch als fehlbar aufzeigt (vgl. Liu 2003, 419). Eine so verstandene, von fehlbaren Personen entwickelte Disziplin jagt weit weniger pädagogisch hemmende Ehrfurcht ein als eine Sammlung ewiger Wahrheiten.

Mit dieser ersten Hoffnung einer größeren Zugänglichkeit durch das Aufzeigen menschlicher Züge ist auch eine weitere Hoffnung verbunden. So können Einblicke in die Geschichte der Mathematik, insbesondere in deren alles andere als geradlinigen Verlauf, bei den S&S auch eine tröstende Wirkung entfalten (vgl. Beutelspacher 2011, 28; Jones 2006, 3; Nickel 2013, 256). Denn wenn selbst die größten Gestalten der Mathematik nicht frei von Fehlern und gedanklichen Irrwegen waren, dann sind auch Fehler heute nicht ein Zeichen mangelnder Begabung, sondern einfach nur natürlich. Wenn heute unmissverständlich klare Begriffe wie der mathematische Funktionsbegriff viele von mühsamer Forschung begleitete Jahre bis zu ihrer endgültigen Fassung bedurften, dann erscheinen anfängliche Verständnisschwierigkeiten auch heute weniger skandalös. Und wenn gewisse mathematische Objekte über lange Zeit in der Geschichte mit äußerster Skepsis beäugt wurden, dann werden anfängliche Akzeptanz-probleme auf Seiten der Lernenden auch heute verständlicher.

Das Trost-Potential geschichtlicher Bezüge kommt etwa besonders im algebraischen Kontext der Zahlenmengen gut zum Vorschein. So stellen sowohl die negativen Zahlen als auch die komplexen Zahlen S&S auf unterschiedlichen Altersstufen immer wieder vor gedankliche Schwierig-keiten. Anfängliche Verständnisprobleme könnten so leicht zu einer Resignation führen oder eigenen kognitiven Defiziten attribuiert werden. Werden hingegen diese neu eingeführten Zahlenmengen mit den geschichtlichen Verweisen eingekleidet, dass niemand Geringerer als René Descartes die negativen Zahlen als falsch bezeichnete und deren Verwendung vermied (vgl. Jones 2006, 3) und noch der eminente Leonhard Euler den komplexen Zahlen keine wirkliche Existenz zugestand und diese als „ohnmögliche Zahlen“ charakterisierte (vgl. Nickel 2013, 256), dann relativieren sich auch heutige Hürden im Verständnis dieser Zahlenmengen sehr schnell. So kann eine Humanisierung der Mathematik, das Aufzeigen menschlicher Züge in der Entwicklung dieser Disziplin, vor überzogenen Vorstellungen schützen und bei auftretenden Schwierigkeiten eine tröstende Funktion entfalten.

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4.2.3 Prozesshaftigkeit der Mathematik

In engem Zusammenhang mit dem letztgenannten Aspekt der Humanisierung der Mathematik steht die Hoffnung, Mathematik allgemein über das Einbinden historischer Elemente in den Unterricht als gewordene und noch immer werdende Disziplin besser zum Vorschein kommen zu lassen. Denn in diametralem Gegensatz dazu wird Mathematik nur zu oft als vollendet, abgeschlossen und unveränderlich empfunden (vgl. Toepell 1996, 338). Dies ist aus zweierlei Hinsicht kaum verwunderlich: Zum einen drängt sich der Eindruck der Abgeschlossenheit durch die Behandlung lang bekannter Resultate im Unterricht nahezu von selbst auf. Man denke nur daran, dass die Theoreme Euklids heute noch die gleiche Gültigkeit besitzen wie zum Zeitpunkt ihrer erstmaligen Formulierung vor nahezu 2.500 Jahren. Auch sind Paradigmenwechsel, vergleichbar mit der Kopernikanischen Wende in der Physik, die einen prozesshaften Charakter der Wissens-entwicklung deutlich vor Augen führen würden, in der Mathematik nicht anzutreffen. Zum anderen sind jedoch auch moderne Entwicklungen in der Mathematik, welche den falschen Eindruck der Abgeschlossenheit revidieren könnten, im Unterricht so gut wie nicht präsent. Während im Physikunterricht etwa sehr wohl Experimente zur Quantenteleportation samt möglicher Anwendungen besprochen werden und damit die Entwicklungsfähigkeit dieser Disziplin plastisch unter Beweis gestellt wird, fallen moderne Entwicklungen in der Mathematik in der Regel gänzlich durch den Unterrichtsrost. Es verwundert daher nicht sonderlich, wenn Mathematik von vielen als vollendet, unveränderlich und abgeschlossen wahrgenommen wird.

In die Geschichte der Mathematik wird nun die Hoffnung gesetzt, die Dynamik dieser Disziplin besser zum Vorschein zu bringen. Historische Bezüge im Unterricht sollen die Mathematik als gewordenes wie auch als noch immer werdendes menschliches Unternehmen sichtbar machen und damit ihren prozesshaften Charakter unterstreichen (vgl. Ullrich 2008, 202). Anhand zweier Zitate verdeutlicht, soll die Integration geschichtlicher Elemente den Lernenden zeigen, „dass Mathematik kein festes und unumstößliches Gedankenkonstrukt aus Begriffen, Sätzen, Regeln, Verfahren, Methoden, Axiomen ist“ (Henning 2011, 258) bzw. noch prägnanter formuliert, „dass Mathematik kein Monolith ist, der fertig vom Himmel fiel und nun im 45-Minuten-Takt der Schulstunden verdaut werden muss“ (Ullrich 2008, 202). Vielmehr gilt es, neben der für sich genommen natürlich wichtigen Behandlung mathematischer Resultate im Unterricht auch das Moment der Veränderung angemessen zu berücksichtigen, um so die Entwickelbarkeit dieser Disziplin entsprechend aufzuzeigen. Kurz: Mathematik soll nicht als

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unveränderlicher Monolith wahrgenommen werden, sondern als histo-rischer Prozess, als Mathematisierungsprozess12 (vgl. Schorcht 2013, 283).

Eine Hoffnung, die an dieser Verdeutlichung des Werdens gegenüber der alleinigen Fixierung auf Resultate hängt, ist das Herausholen der Lernenden aus einer pädagogisch unbefriedigenden Situation „intellektueller Wiederkäuer“ (Madincea 2008, 114). Wird Mathematik insgesamt stärker als historischer Prozess wahrgenommen, dann verlagern sich damit auch die Prioritäten im Unterricht von einem Schlucken fertiger Wissensbrocken hin zu einer genetischen Perspektive der Entwickelbarkeit von Wissen. Außerdem öffnen sich infolge der Betonung des Prozesshaften auch Freiräume für innovative Ideen und werden allgemein Möglichkeiten zur Veränderung sichtbar (vgl. Schorcht 2013, 286). Wenn Mathematik nicht in vollendeter Form vom Himmel gefallen ist, sondern eine historisch gewordene Disziplin darstellt, die noch immer im Werden begriffen ist, dann ist sie auch offen für Veränderung und gestaltbar. Wie schon die Humanisierung der Mathematik könnte so auch die Verdeutlichung ihrer prozesshaften Entwicklung bei den S&S einen Abbau psychischer Barrieren und damit eine größere Zugänglichkeit bewirken. Dies setzt jedoch natürlich voraus, dass im Unterricht neben den klassischen Inhalten auch gegenwärtige Entwicklungen in der Mathematik zumindest qualitativ aufgegriffen werden, um dem Eindruck der Abgeschlossenheit vorzu-beugen. Auf diesen Einbezug mathematischer Zeitgeschichte in den Unterricht wird noch zurückgekommen werden.

4.2.4 Vertiefung des mathematischen Verständnisses

Mit der Auflockerung des Unterrichts, der Humanisierung der Mathematik sowie der Einsicht in die Prozesshaftigkeit ihrer Entwicklung wurden bereits drei Hoffnungen diskutiert, welche vor allem auf eine positive Beeinflussung der affektiven Haltung der S&S zum Mathematikunterricht bzw. zur Mathematik allgemein zielen. Schließlich stand das Aufzeigen menschlicher Züge, das Herabsetzen psychischer Barrieren und auch das Auflockern starrer Strukturen im Vordergrund. Eine weitere Erwartung, die oft mit der Mathematikgeschichte verbunden wird, entspringt jedoch der Hoffnung, dass die Mathematik selbst von einem Einbinden historischer Bezüge in den Unterricht profitiert, insofern diese bei den S&S zu einer

12 Ein Kapitel aus der Geschichte der Mathematik, welches die Dynamik bzw. den

prozesshaften Charakter der Mathematik sehr gut zum Ausdruck bringt, ist die Entwicklung nicht-euklidischer Geometrien. Im langen historischen Bogen, ange-fangen beim Parallelenpostulat Euklids über dessen scheinbare Bestätigung bei Girolamo Saccheri bis hin zur überraschenden Anwendung nicht-euklidischer Geometrien in der Allgemeinen Relativitätstheorie, kommt der prozesshafte Charakter mathematischer Erkenntnis deutlich zum Vorschein (vgl. Jones 2006, 10 f.).

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Vertiefung des mathematischen Verständnisses beitragen. Wie es folgendes Zitat auf den Punkt bringt: „Letztendlich soll ein vertieftes Verständnis der mathematischen Begriffe Ziel der Beschäftigung mit mathematik-historischen Themen sein“ (Schorcht 2013, 280).

Dieser Gedanke ist in seiner theoretischen Reinform schon im Pädagogischen Präludium bei der Diskussion des historisch-genetischen Prinzips in der Mathematikdidaktik begegnet. Konkret lautet die Er-wartung, dass ein Mehr an historischen Verankerungen mit einem Mehr an mathematischem Verständnis einhergeht (vgl. Madincea 2008, 112), da eine größere Nähe zu den historischen Quellen deutlicher vor Augen führt, an welcher Stelle ein spezieller Gedankenfluss entspringt und in welche Richtung er fließt (vgl. Ullrich 2008, 203). Zumal die gegenwärtige Mathematik bereits viel zu spezialisiert und abstrakt ist, um diese Einsicht leisten zu können. Ein Zurückgehen zu den geschichtlichen Wurzeln – so die optimistische Annahme – erleichtert daher das Verständnis sowie die Aneignung mathematischer Begriffe (vgl. Kronfellner 1998, 38). Gerade weil über historische Bezüge mathematische Begriffe in einem noch vagen, imperfekten Zustand sichtbar werden, können die Gedanken und Intentionen dahinter oft besser zum Vorschein kommen als in modernen und bereits abstrahierten Formulierungen (vgl. Jahnke 1996, VII). So ist in aufpolierten Darstellungen moderner Lehrbücher der Ursprung eines Begriffes bzw. das intellektuelle Abenteuer dahinter meist weniger gut sichtbar als in seiner historischen Form (vgl. Liu 2003, 417). Wie es der deutsche Mathematikdidaktiker Heinrich WINTER zusammenfasst:

Die Orientierung an der Geschichte entspringt der [...] Überzeugung, daß man etwas Mathematisches umso besser verstehen kann, je besser man seine Entdeckungs-geschichte kennt (Winter 1989, V).

Zwei Beispiele mögen diese Hoffnung aus der Sphäre wohlklingender Formulierungen auf die praktische Ebene bringen und Potential sowie Grenzen dieser Erwartung näher aufzeigen. Was könnte mit der Hoffnung, dass ein Mehr an historischen Bezügen ein Mehr an mathematischem Verständnis impliziert, konkret gemeint sein? Als anschauliches Beispiel mag die Einführung des bestimmten Integrals im Zuge der Behandlung der Integralrechnung dienen. Wenn abstrakt oder gleichsam über eine formale Definition eingeführt, bleibt das bestimmte Integral ∫ in gleich mehrerer Hinsicht unverständlich. Das schlangenartige Integralzeichen ∫ entzieht sich ebenso einem tieferen Verständnis wie das mysteriös erscheinende Differential , welches ohne schnell ersichtlichen Grund Teil der Notationsweise ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden diese beiden Aspekte einfach einmal als notationelle Gegebenheiten geschluckt, gleich-sam als Symptome einer gottgegeben unveränderlichen Mathematik, und damit die Chance auf eine tiefergehende Einsicht verspielt.

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Genau an dieser Stelle setzt nun die Hoffnung an, ein Einbinden historischer Bezüge bringe auch ein vertieftes mathematisches Verständnis mit sich. Wenn nämlich das bestimmte Integral über den historischen Weg als Grenzwert der Summation immer kleinerer Rechtecke motiviert und eingeführt wird, dann wird auch die ansonsten wie vom Himmel gefallen wirkende Notationsweise klarer. Das mysteriöse Differential , vormals ein unverständlicher Wurmfortsatz der Notation ohne einsehbaren Sinn und Zweck, entpuppt sich schlagartig als Seitenlänge eines infinitesimalen Rechteckes der Höhe . Und auch das Integralzeichen ∫ wird von einem oberflächlich-unbedeutenden Symbol zu einem Katalysator mathema-tischen Verständnisses, wenn es zurückgehend auf den Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm LEIBNIZ als stilisiertes Summenzeichen ∑ bzw. als stilisierter Anfangsbuchstabe des deutschen Begriffes „Summe“ gesehen wird. Eine historische Kontextualisierung vermag somit tatsächlich zu einer bedeutenden Vertiefung des mathematischen Verständnisses beizutragen, insofern sie in der Notationsweise des bestimmten Integrals ∫ die Wurzeln und Bedeutung dieses mathematischen Begriffes sichtbar werden lässt.

Wie in vielen anderen Bereichen macht jedoch auch hier die Dosis das Gift, sodass das Schaffen historischer Bezüge mit pädagogischem Fingerspitzengefühl vollzogen werden muss, um noch den erwünschten Effekt der Vertiefung mathematischen Wissens zu erreichen. Im Zuge der Diskussion des genetischen Prinzips wurde schon ein radikal-genetischer Unterricht, welcher im geschichtlichen Tunnelblick den historischen Verlauf zur obersten didaktischen Richtschnur erhebt und im Unterricht auch mathematisch unergiebige historische Sackgassen und Irrwege nachläuft, zurückgewiesen, insofern dadurch der Lernprozess der S&S als primärer Bezugspunkt aus den Augen gerät. Analog können auch gutgemeinte historische Bezüge entgegen ihrer Intention mehr Verwirrung als Verständnis stiften und damit ins Kontraproduktive umschlagen. So kann eine historische Kontextualisierung des Differentialquotienten

�� sicherlich

mit einer Vertiefung des mathematischen Verständnisses einhergehen. Wer jedoch im Zuge historischer Übermotivation Ableitungen von Funktionen mittels eines unendlich kleinen Inkrements bestimmen lässt, läuft doch Gefahr, in der Klasse ob des mysteriösen Operierens mit dem noch mysteriöseren für nachhaltige Verwirrung und Geschichtsverdrossen-heit zu sorgen (vgl. Ullrich 2008, 204). Die Kritik des irischen Philosophen George BERKELEY (1685–1753) an dem Operieren mit der im Grunde genommen unverstandenen und widersprüchlichen Größe kommt ja nicht von ungefähr (siehe HISTOMATH-BOX VIII). Es ist somit ein äußerst schmaler Grat zwischen der Vertiefung mathematischen Wissens und dem Schaffen profunder Verwirrung.

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HISTOMATH-BOX VIII Besonders harte Kritik an der Vorstellung infinitesimaler Inkremente, die je nach Situation manchmal als endlich, manchmal als Null angesehen wurden, kam vom irischen Philosophen und Bischof George Berkeley. In seiner Abhandlung „The Analyst“aus dem Jahre 1734 griff er sowohl das Leibniz‘sche Konzept infinitesimaler Änderungen als auch das Newton‘sche Konzept von Fluxionen massiv an und stellte damit das Fundament des Calculus insgesamt grundlegend in Frage. Dabei verfolgte Berkeley das Ziel aufzuzeigen, dass der Religion und ihren Glaubenssätzen jedenfalls ein höherer Grad an Gewissheit zukäme als der mit solch widersprüchlich-mystischen Konzepten wie Fluxionen operierenden Mathematik. Diese Zielsetzung kommt implizit schon im Untertitel seines Werkes zum Ausdruck: „Eine an einen ungläubigen Mathematiker gerichtete Abhandlung, in der geprüft wird, ob der Gegenstand, die Prinzipien und die Folgerungen der modernen Analysis deutlicher erfaßt und klarer hergeleitet sind als religiöse Geheimnisse und Glaubenssätze“. Das Hauptargument für eine sich widersinniger Konzepte bedienenden Mathematik liest sich bei Berkeley schließlich wie folgt:

Und was sind diese Fluxionen? Die Geschwindigkeiten verschwindender Inkremente? Und was sind eben diese verschwindenden Inkremente? Sie sind weder endliche Größen noch unendlich kleine und doch auch nicht nichts. Dürfen wir sie nicht die Geister verstorbener Größen nennen? (Berkeley 1969, 121).

Abschließend seien noch zwei weitere Aspekte genannt, die mit der Hoffnung an eine Vertiefung des mathematischen Verständnisses durch das Herstellen historischer Bezüge verbunden sind. So kann das Einflechten von Elementen aus der Mathematikgeschichte auch bewirken, dass Beziehungen zwischen den einzelnen Teilgebieten der Mathematik besser erkannt werden (vgl. Jones 2006, 16). In das Gewand einer Metapher gekleidet gleicht die moderne Mathematik ja einem rasant wachsenden Baum, dessen in verschiedenste Richtungen auseinanderstrebende Äste oft keine gemeinsame Grundlage mehr zu haben scheinen. In Abwandlung einer Redensart sieht man so den Baum vor lauter Ästen nicht mehr. Über-lappende historische Bezüge können diesem Eindruck entgegenwirken, und die verschiedenen Äste als Teile einer verbindenden Einheit, Entwicklungen aus einem gemeinsamen Stamm aufzeigen (vgl. Toepell 1996, 339). So finden etwa die auf S&S oft grundlegend verschieden wirkenden Bereiche der Algebra und der Geometrie in der historischen Rückblende auf die griechische Mathematik wieder zueinander, welche algebraische Zu-sammenhänge wie + = + + als eine geometrische Aussage über die Fläche von Quadraten und Rechtecken interpretierte. Das Kapitel der figurierten Zahlen ist ein weiteres Beispiel für das Ineinandergreifen

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unterschiedlicher mathematischer Teilbereiche. In folgendem Zitat kommt diese Erwartung an die Mathematikgeschichte als unifizierendes Bindeglied verschiedener Bereiche nochmals zum Ausdruck:

History can do more than present stimulating problems and ideas; it can also help students to perceive relationships and structure in what appears to be a tangled web of geometry, algebra, number theory, functions, finite differences, and empirical formulas (Jones 2006, 16).

Doch auch in einem weiteren Sinne können historische Bezüge noch zu einer Vertiefung des mathematischen Verständnisses beitragen. Denn oft lässt ein Blick in die Geschichtsbücher erkennen, dass ein und dasselbe mathe-matische Problem über mehrere, zum Teil diametral verschiedene Wege gelöst werden kann. Paradebeispiel ist der Pythagoreische Lehrsatz, von dem über 300 Beweise bekannt sind. Einer darunter aus der Feder von James GARFIELD (1831–1881), welcher der Nachwelt wohl weniger aufgrund seiner mathematischen Leistungen bekannt ist als vielmehr durch den Umstand, dass er später zum 20. Präsidenten der USA gewählt wurde (vgl. Kronfellner 1997, 94 f.). Instruktiv in diesem Sinne ist auch das Problem der Kreisflächenbestimmung, welches der griechische Mathematiker ARCHI-MEDES (3. Jh. v. Chr.) und der chinesische Mathematiker LIU HUI (3. Jh. n. Chr.) auf unterschiedliche Art und Weise zu lösen versuchten (vgl. Liu 2003, 418). Während Archimedes den Kreis u.a. als Menge konzentrischer Ringe betrachtete, die ausgestreckt und aufgestapelt näherungsweise ein rechtwinkeliges Dreieck ergeben (siehe Abb. 2), entwickelte Liu Hui einen algorithmischen Ansatz, welcher den Kreis in eine immer größer werdende Anzahl an Polygone zerlegt, welche umgeschichtet approximativ ein Parallelogramm ergeben (siehe Abb. 3).

Abbildung 2

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Abbildung 3 Diese Zugänge sind es für sich schon wert im Unterricht behandelt zu werden. Der didaktische Succus dieser Betrachtung – unabhängig von ihrem historischen Interesse – besteht jedoch darin, dass es in der Regel mehr als nur einen Weg zur Lösung eines Problems gibt. Diese zu finden ist durchaus auch eine Frage der Kreativität. Historische Bezüge können so dem weit verbreiteten stereotypen Denkschema entgegenwirken, dass mathematische Probleme nur über einen Weg lösbar sind, und dagegen die wichtige Rolle der Kreativität in den Fokus rücken.

4.2.5 Mathematikgeschichte als Quelle von Sinn

Wohl gegen kein anderes Fach wird die Warum-Frage in teils so anklagendem Ton erhoben wie gegen die Mathematik. Warum die Rechenregeln mit Logarithmen lernen, warum die Mühsal der partiellen Integration auf sich nehmen, warum die Partialbruchzerlegung studieren? Der Sinn und Zweck der Auseinandersetzung mit mathematischen Begriffen und Methoden ist den S&S oft ein unverständliches Mysterium, zumal weder Logarithmen noch die Partialbruchzerlegung im Geringsten etwas mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben und als Teile einer fremden Wirklichkeit erscheinen. Nur zu oft wirkt die Mathematik daher als ein Konglomerat aus leeren Begriffen und Konzepten ohne anschlussfähige Bedeutung (vgl. Jahnke 1996, VII). Die Mathematik degeneriert in dieser Wahrnehmung zu einem abstrakt-formalen Spiel, dessen Regeln im Grunde nicht verstanden werden. Der Mathematikunterricht reduziert sich auf ein Lernen von Antworten, ohne jedoch die zugrunde liegenden Fragen zu kennen (vgl. Behr 1996, 34). Kaum verwunderlich, dass sich angesichts dessen für viele Lernenden die Sinnfrage stellt. Ein Problem, das aufgrund seiner Dimension erst genommen werden muss.

Dieser Mangel an Sinn und Bedeutung mathematischer Inhalte wird zum Teil auf ihre abstrakt-systematische Präsentationsform bzw. auf deren große Entfernung zu den mathematischen Urphänomenen zurückgeführt. So lässt sich die von den Mathematikdidaktikern Beutelspacher, Danckwerts

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und Nickel zur Verbesserung der akademischen Lehre formulierte Beobachtung ohne große inhaltliche Modifikation auch auf den Schulbetrieb umlegen:

Das Fach Mathematik wird in universitären Vorlesungen in der Regel in Darstellungen präsentiert, die sich in einer langen Entwicklung herausgebildet haben und Kriterien optimaler Systemtauglichkeit genügen. Damit haben sich die Konzepte aber zumeist weit von den Phänomenen entfernt, zu deren gedank-licher Organisation sie ursprünglich entwickelt wurden, und es wird nicht von selbst klar, welche Formen der Erschließung und Rekonstruktion der Welt hier am Werk sind. Folglich begegnet der Vorlesungsstoff den Studierenden wie ein entrückter Formalismus, der hohe technische Anforderungen stellt, dessen Sinn und Bedeutung sich aber nur mühsam oder gar nicht erschließt (Beutelspacher et al. 2010, 24).

Selbiger Gedanke, wonach das Fehlen einer historischen Tiefendimension für den Eindruck der Sinnlosigkeit mathematischen Handelns entscheidend mitverantwortlich ist, kommt auch in folgendem Zitat eines amerikanischen Lehrers pointiert zum Ausdruck:

I have more than an impression – it amounts to a certainty – that algebra is made repellent by the unwillingness or inability of teachers to explain why. […] There is no sense of history behind the teaching, so the feeling is given that the whole system dropped down ready-made from the skies, to be used only by born jugglers (zit. nach Jones 2006, 1).

Diese Situation ist in mehrerer Hinsicht höchst unbefriedigend, sowohl für Lehrende als auch für Lernende. Schließlich sollen mathematische Begriffe keine leeren, anschauungslosen Objekte sein, Repräsentanten einer unver-standenen Wirklichkeit gleich, sondern als Antworten auf konkrete Fragen, Lösungen von praktischen Problemstellungen und Ausgangspunkte neuer Fragen sichtbar werden (vgl. Int.[4], 4). Dies ist der Punkt, an welchem die Geschichte der Mathematik die didaktische Bühne betritt. An den Einbezug historischer Elemente in den Unterricht wird nämlich die berechtigte Hoffnung geknüpft, diesen Mangel an Sinn und Bedeutung zum Teil beheben zu können. So lässt die Geschichte der Mathematik – wie im letzten Abschnitt bereits diskutiert – über den Einblick in die Genese nachvoll-ziehen, aus welchem Kontext sich mathematische Begriffe entwickelt haben. Mit dieser Perspektive, welche die originären Probleme in den Fokus rückt und die ursprünglichen Fragen hinter den Antworten erkennen lässt, ist nun aber nicht nur eine Vertiefung des fachlichen Verständnisses, sondern auch und ganz zentral eine Sinnerfahrung verbunden. Denn ein Blick in die historische Wiege der mathematischen Entwicklung zeigt u.a. auf, wie mathematische Begriffe aus der Praxis erwachsen sind (z.B. ganz konkret als Reaktion auf Bedürfnisse aus Astronomie und Navigation) und in viel-fältigster Weise in dieser wiederum Anwendung fanden (z.B. zur

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Bestimmung der Planetenbahnen). Aus einem unverstandenen Formalis-mus werden über diese historischen Kontextualisierungen sinnvolle Antworten auf zum Teil ganz konkrete Probleme (vgl. Ullrich 2008, 204).

In den klingenden Worten des Mathematikdidaktikers Christoph SELTER stellt die Geschichte der Mathematik somit eine substantielle Lernumgebung mit ergiebigen Sinnzusammenhängen dar (vgl. Selter 1997, 8). Dieser Gedanke ist jedoch keineswegs neu. Im Zuge der Diskussion des historisch-genetischen Prinzips kam er etwa auch ganz deutlich in der Konzeption von Otto TOEPLITZ zum Vorschein. Dieser verortete in der Mathematikgeschichte schon ganz klar das Potential, abstrakt-systemati-sierte Begriffe als Ergebnisse einer spannenden Suche und damit als sinnvoll darzustellen. Wie er es schon vor knapp einem Jahrhundert formulierte: „Wenn man an diese Wurzeln der Begriffe zurückginge, würde der Staub der Zeiten, die Schrammen langer Abnutzung von ihnen abfallen, und sie würden wieder als lebensvolle Wesen vor uns erstehen“ (Toeplitz 1927, 92 f.).

Nun sagt ein gutes Beispiel bekanntermaßen mehr als tausend noch so schöne Worte. Ein solches Beispiel, welches – mit Toeplitz gesprochen – den Staub der Zeiten abfallen und einen mathematischen Begriff als lebens- wie sinnvolles Wesen erstehen lässt, ist das Königsberger Brückenproblem. Auch wenn die Graphentheorie nicht Teil des schulischen Curriculums ist, vermag es doch in ausgezeichneter Weise die sinnstiftende Funktion historischer Bezüge aufzuzeigen. Denn allein für sich betrachtet könnten die Grundbausteine der Graphentheorie leicht als Paradebeispiele für abstrakt-systematische wie leere Begriffe gelten, die mit der Wirklichkeit in keinerlei erkennbaren Zusammenhang stehen. Schließlich ist der Brückenschlag von der Sphäre abstrakter Begriffe wie Ecken, Knoten, Kanten und Schlingen zur gelebten Wirklichkeit alles andere als einfach (vgl. Aigner/Ziegler 2010, 75 f.). Der tiefere Sinn der Untersuchung struktureller Eigenschaften eines Graphen bleibt auf dieser abstrakten Ebene nur allzu leicht im begrifflichen Nebel verborgen.

Der Brückenschlag zwischen Abstraktion und Anschaulichkeit kann jedoch im wahrsten Sinne des Wortes anhand historischer Brücken gelingen, wenn nämlich der Bezug zu den historischen Ursprüngen der Graphen-theorie, näherhin zum so genannten „Königsberger Brückenproblem“ aufgezeigt wird. Dieses wurde im Jahre 1735 vom bedeutenden Mathe-matiker Leonhard EULER (1707–1783) auf verallgemeinerte Weise gelöst, wodurch er zu einem der Begründer der Topologie und der Graphentheorie wurde. In einer kurzen Formulierung lautet das Königsberger Brücken-problem wie folgt:

In der Stadt Königsberg umschließen zwei Arme des Pregels die Insel Kneiphof. Sie war im 18. Jahrhundert über sieben Brücken mit den umliegenden Stadtteilen

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verbunden. Ist es möglich, über jede der sieben Brücken genau einmal zu gehen und dann wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren? (Hemme 2012, 39).13

Anhand dieses anschaulichen historischen Beispiels werden ansonsten leere, abstrakte Begriffe mit Sinn gefüllt. Es zeigt sich deutlich, dass nicht die konkreten geometrischen Gegebenheiten, sondern allein die Struktur der Brücken und Stadtteile bzw. deren Vernetzung für die Lösung des Problems ausschlaggebend ist – eine für die Topologie wie Graphentheorie zentrale Eigenschaft. Dass folglich ohne Verlust der Allgemeinheit ein Netzwerk vom konkreten Stadtplan abgezogen werden kann, an welchem die Knoten die Stadtteile und die Kanten die verbindenden Brücken repräsentieren. Und dass allein unter Analyse dieses Netzwerks bzw. Graphen das Problem als unlösbar bewiesen werden kann. Wichtiger als die konkrete Lösung dieses Problems ist jedoch in didaktischer Hinsicht die dadurch den S&S vermittelte Einsicht, dass a priori leere Begriffe sehr wohl einen tieferen, in konkreten Problemen wurzelnden Sinn haben können. Gerade über diese authentischen Erfahrungen an historischen Problemen, vor denen auch bereits andere Menschen anderer Epochen gestanden sind, über dieses Partizipieren an einem Ur-Problem wird so Mathematik als Antwort auf konkrete Fragen und damit in weiterer Folge als sinnvoll erlebbar (vgl. Thom 2013, 8). Wie es der Mathematiker Man-Keung SIU auf den Punkt bringt: „Using history of mathematics in the classroom does not necessarily make students obtain higher scores in the subject overnight, but it can make learning mathematics a meaningful and lively experience“ (Siu 2000, 8).

Eine abschließende Bemerkung sei noch hinzugefügt: Wird eine Tätigkeit als sinnvoll erlebt, so wird sie in der Regel auch mit einer höheren Motivation vollzogen. Gerade durch dieses Potential historischer Bezüge, Mathematik insgesamt als sinnvolles Unternehmen darstellen zu können, versprechen sich viele durch deren Integration in den Unterricht auch ein höheres Ausmaß an Interesse, Aufmerksamkeit und Motivation aufseiten der S&S (vgl. Madincea 2008, 112; Richter 2011, 80; Liu 2003, 416). Eine gesteigerte Motivation ist natürlich aus leicht einsehbaren praktischen Gründen für die Gestaltung des Unterrichts äußerst begrüßenswert, sie ist aber auch in tieferer Hinsicht von fundamentaler Wichtigkeit. So stellte der deutsche Philosoph Hans-Georg GADAMER (1900–2002), der sich in seinem Denken insbesondere mit der Frage des Verstehens auseinandersetzte, überhaupt den motivationalen Aspekt an den Beginn jeglichen Fachwissens (vgl. Gallin 2011, 107). Zentral für einen Lernprozess ist, dass wir von den

13 Kurze historische Zwischenbemerkung: Kennengelernt hatte Euler das Problem

vermutlich durch seinen aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, stammenden Kollegen Christian Goldbach (vgl. Hemme 2012, 39). Dieser wiederum ist heute vor allem aufgrund seiner bis dato unbewiesenen Goldbach‘schen Vermutung bekannt, wonach jede gerade Zahl größer 2 als Summe zweier Primzahlen dargestellt werden kann.

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Inhalten angesprochen werden: „Das erste, womit das Verstehen beginnt, ist, daß etwas uns anspricht: Das ist die oberste aller hermeneutischen Bedingungen“ (Gadamer 1959, 33 f.). Angesprochenwerden als Grundvoraussetzung von Verstehen überhaupt. Dieser Gedanke lässt sich nun auch auf die Geschichte der Mathematik übertragen: Dann ist die mit ihr einhergehende Motivation gerade auch deshalb bedeutend, weil sich S&S von der Geschichte und der Auseinandersetzung mit originären Fragen in diesem hermeneutischen Sinne angesprochen fühlen. Historische Bezüge ebnen daher, gerade auch weil sie ansprechen können, den Lernweg hin zu einem tieferen mathematischen Verständnis.

4.2.6 Mathematik als kulturelle Errungenschaft

Die öffentliche Einstellung zur Mathematik ist eigentlich paradox. So findet sich die Mathematik zum einen in vielfältigsten Bereichen unserer technisierten Gesellschaft wieder. Egal ob es um die Prognose des Klima-wandels, die Modellierung von Luftströmungen oder die zuverlässige Verschlüsselung von Daten geht: In all diesen Fällen findet hoch entwickelte Mathematik Anwendung. Zum anderen spiegelt die öffentliche Meinung diese zentrale Bedeutung der Mathematik für unzählige Bereiche unserer Gesellschaft zum Teil jedoch kaum wider:

Erfolge der Mathematik werden entweder überhaupt nicht wahrgenommen oder ‚dem Computer‘ zugeschrieben. Mehr noch: Man kann sogar mit Beifall rechnen, wenn man öffentlich bekennt, von Mathematik nichts zu verstehen und ‚in Mathe immer schlecht‘ gewesen zu sein (Beutelspacher 2011, 1).

In dieselbe Kerbe schlägt der deutsche Autor Daniel KEHLMANN, dessen literarische Bekanntheit auch eng mit der Mathematikgeschichte verwoben ist, hat sein Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt“ ja u.a. die Biographie Carl Friedrich GAUSS‘ zum Thema. So schreibt er:

Nach wie vor kann einer, der noch nie vom Lehrsatz des Pythagoras gehört hat, als gebildeter Mensch durchgehen, während niemand es sich leisten könnte, zuzugeben, dass er ‚Hamlet‘ nicht gelesen hat oder nicht weiß, wie viele Beethoven-Symphonien es gibt (Kehlmann 2007, 7).

Kehlmann trifft damit den paradoxen Nagel auf den Kopf. Mathematik wird nicht im selben Maß als Kulturleistung der Menschheit und damit integraler Faktor von Bildung wahrgenommen wie andere, klassische kulturelle Manifestationen. Salopp formuliert sind die Scheinwerfer der kulturellen Bühne auf Shakespeare und Beethoven gerichtet, Pythagoras und Euler verblassen daneben als Statisten der kulturellen Entwicklung völlig. Deutlich schimmert in dieser Haltung das inadäquate Verständnis von Mathematik als einer abstrakt-abgehobenen Disziplin durch, die quasi in einer fremden geistigen Welt beheimatet und als solche nicht Teil der

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menschlichen Kulturentwicklung ist. Dabei hat die Mathematik zu allen Zeiten das Tun und Denken der Menschen beeinflusst, wesentliche Ansätze zur Weiterentwicklung gegeben und insgesamt die menschliche Ent-wicklung nachhaltig geprägt (vgl. Richter 2011, 79 f.). Ein vollständiges Bild von Mathematik reduziert diese daher nicht auf abstrakte Begriffe und Theoreme, sondern beinhaltet auch deren kulturgeschichtliche Kompo-nente. Diesen Gedanken hat insbesondere der Mathematikhistoriker Christoph SCRIBA betont:

Mathematik darf nicht als isolierte Wissenschaft und reines Erkenntnisgebilde verstanden werden, sondern sie muß – insbesondere im Unterricht – in ihren wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Zusammenhängen und Ver-flechtungen gesehen und vorgestellt werden (Scriba 1983, 116 f.).

Indirekt kam in diesem Plädoyer gegen die kulturelle Isolierung der Mathematik eine weitere Hoffnung damit schon zum Ausdruck: Einblicke in die Mathematikgeschichte können demnach dazu beitragen, die kulturgeschichtliche Komponente der Mathematik besser zum Vorschein zu bringen und diese insgesamt als eine zentrale Kulturtechnik der Menschheit fassbar zu machen (vgl. Madincea 2008, 112). Historische Bezüge holen die Mathematik als Konglomerat abstrakter Sätze über Mengen, Kreise und Funktionen somit in die Wirklichkeit zurück und zeigen die vielfältigen Beziehungen zu Astronomie und Mechanik, Architektur und Technik sowie Philosophie und Religion auf (vgl. Toepell 1996, 336).

Auch wenn die Mathematik prima facie oft abgehoben erscheinen mag, zeigen sich bei genauerer bzw. historischer Betrachtung doch zahlreiche kulturelle Verknüpfungen. So ist das historisch auf Gottfried Wilhelm LEIBNIZ zurückgehende binäre Zahlensystem – als ein mathematischer Grundpfeiler des digitalen Zeitalters eine unschätzbare Kulturleistung – maßgeblich auch von theologisch-philosophischem Gedankengut beein-flusst (siehe HISTOMATH-BOX IX). Darüber hinaus zeigt die historische Perspektive auch deutlich, dass sich Mathematik nicht unabhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entwickelt. Als ein anschauliches Beispiel mögen die Entdeckungsreisen zu Beginn der Neuzeit dienen, die einen wesentlichen motivationalen Grund für die Entwicklungen bzw. Verbesserungen auf den Gebieten der Kartographie und Navigation darstellten (vgl. Kronfellner 1997, 85).

HISTOMATH-BOX IX

Die erste schriftliche Beschreibung des binären Zahlensystems reicht ins Jahr 1703 zurück und stammt vom Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz. Angeregt durch semi-mystische Ideen chinesischer Mathematik entwickelte Leibniz ein generalisiertes Schema, in dem jede von der Eins verschiedene natürliche Zahl als Basis des

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Zahlensystems gewählt werden konnte. Nicht zuletzt aus philosophisch-theologischen Gründen interessierte sich Leibniz jedoch besonders für das binäre Zahlensystem, in dem jede noch so große Zahl über die beiden Symbole 0 und 1 darstellbar ist. Leibniz sah z.B. eine deutliche Parallele zwischen dem binären Zahlensystem und der biblischen Schöpfungserzählung im Buch Genesis. So schuf Gott, den Leibniz mit der Zahl 1 assoziierte, die gesamte Wirklichkeit aus dem Nichts, worin Leibniz die Zahl 0 sah. Aus den Zahlen 1 und 0 geht somit im Laufe der Schöpfung die gesamte Wirklichkeit hervor, gleich wie auch in der Mathematik die gesamte Menge der natürlichen Zahlen allein anhand der Zahlen 0 und 1 gebildet werden kann. Die mathematische Bestätigung der Sonderstellung des siebten Schöpfungstages, an dem die Schöpfung bereits vollendet war und Gott ruhte, erblickte Leibniz überdies darin, dass die Zahl 7 im binären Zahlensystem als 111 und damit ohne Null dargestellt wird. Die historischen Wurzeln des binären Zahlensystems sind somit alles andere als mathematisch-abstrakt und in hohem Maße in religiös-metaphysisches Gedankengut getränkt (vgl. Jones 2006, 7).

Natürlich ist es im Unterricht schwer möglich, ein auch nur annähernd vollständiges Bild der Mathematik als Teil der menschlichen Kultur-geschichte zu präsentieren. Zu vielfältig sind die Verknüpfungen, zu zahlreich die Bezüge. Der Anspruch der Vollständigkeit ist daher von vornherein zum pädagogischen Scheitern verurteilt. Dies sollte jedoch nicht als Rechtfertigung dafür herangezogen werden, die kulturgeschichtliche Komponente der Mathematik im Unterricht völlig außer Acht zu lassen. Denn auf exemplarische Weise kann die wichtige Rolle der Mathematik für die Kulturgeschichte der Menschheit immer noch gewinnbringend eingebunden werden (vgl. Nickel 2013, 262). Ein historischer Hinweis hier, eine geschichtliche Kontextualisierung dort kann so bewirken, dass das Bild der Mathematik entsprechend zurechtgerückt wird: Von einer abge-kapselten, sich selbst genügenden Wissenschaft zu einer der außer-ordentlichsten Kulturleistungen der Menschheit, die insbesondere in unserer naturwissenschaftlich geprägten Gesellschaft omnipräsent und unverzichtbar ist. Abgesehen davon kann eine Beschäftigung mit der kulturhistorischen Komponente der Mathematik auch für sich schon gewinnbringend sein und zum Abenteuer werden. Folgendes Zitat mag dies zum Abschluss unterstreichen:

Die Hinwendung zur Geschichte der Mathematik kann zu einem intellektuellen ‚Abenteuer der schönsten Art‘ werden. Mathematik in all ihren Teilgebieten tritt uns entgegen, eingebettet in die verschiedenartigsten Kulturen der Menschheit auf allen Kontinenten, verbunden mit den großen Strömungen des menschlichen Denkens in Philosophie und Religion, in historischer Wechselwirkung stehend

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zu den Errungenschaften der Menschheit in Naturwissenschaft und Technik, als Teil der Geschichte der bildenden Kunst und der Literatur (Henning 2011, 258).

4.2.7 Erweiterung des mathematischen Horizonts

Geschulten Exegeten bedeutender mathematikdidaktischer Schriften wird es aufgefallen sein, dass in einem der vorigen Abschnitte ein Zitat des Mathematikdidaktikers Heinrich Winter nur höchst unvollständig wieder-gegeben wurde. Zur Verdeutlichung der Hoffnung, historische Bezüge könnten zu einer Vertiefung des mathematischen Verständnisses beitragen, wurde die Aussage Winters auf diesen einen Aspekt reduziert. Damit fiel jedoch ein anderer wesentlicher Aspekt unter den Tisch, der ebenso maßgeblich den Einsatz mathematikhistorischer Elemente im Unterricht motivieren kann. Das Zitat sei im Folgenden daher noch einmal in seiner Vollgestalt wiedergegeben:

Die Orientierung an der Geschichte entspringt der doppelten Überzeugung, daß man etwas Mathematisches umso besser verstehen kann, je besser man seine Entdeckungsgeschichte kennt – und noch weitaus wichtiger – daß Bildungs-bemühungen in der Schule umso weniger der Gefahr naiver und unmündiger Praxisverhaftung erliegen, je mehr sie mit der Geschichte des menschlichen Geistes in Verbindung stehen. Ich halte es für unerläßlich, daß der Mathematik-lehrer eine geisteswissenschaftliche Perspektive anstrebt. (Winter 1989, V).

Was kann diese angesprochene geisteswissenschaftliche Perspektive auf die Mathematik für den Unterricht bedeuten? In einer Zeit, welche die Anwendbarkeit und den unmittelbaren Nutzen von Wissen zur obersten didaktischen Maxime erhebt, erscheint Winter mit dieser Warnung vor einer naiven Praxisverhaftung freilich wie ein einsamer Rufer in der kompetenz-orientierten Wüste. Dennoch ist damit ein wichtiger Punkt angesprochen, was Mathematikunterricht leisten kann und auch leisten sollte. Wer Mathematik nämlich nur aus der Innenperspektive kennt – und entwickelt er im Umgang mit mathematischen Begriffen und Methoden eine noch so hohe Meisterschaft – hat sie nur in einer defizitären Form erfasst. Allein das Operieren mit Symbolen, Lösen von Gleichungen und Interpretieren von Graphen vermittelt noch kein plastisches Bild von Mathematik. Dazu gehört auch wesentlich, das Feld mathematischer Aktivität zu übersteigen, um einen Blick von außen auf diese Disziplin zu gewinnen: Welche Rolle spielt die Mathematik in unserer Welt? Was trägt sie zu unserem Weltverständnis bei? (vgl. Beutelspacher 2011, 12). Es ist daher ein wichtiges und legitimes Ziel des Mathematikunterrichts, die Herausbildung einer Meta-Perspektive in Bezug auf die Mathematik bei den S&S zu fördern. Neben dem kompetent-fachlichen Umgang mit der mathematischen Sprache an sich ist daher auch das Reflektieren und Sprechen über Mathematik von zentraler Bedeutung.

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Ein Weg zur Entwicklung dieser – zeitgeistig formuliert – metamathe-matischen Kompetenz und zur Erweiterung des mathematischen Horizonts führt sicherlich über die Geschichte. Wer eine historische Perspektive einnimmt, hat das Feld der reinen Anwendung schon verlassen und einen Blick von außen bezogen. Anhand von Zitaten aus der Geistesgeschichte ließe sich etwa der allgemeine Status der Mathematik diskutieren. Die Akademie Platos, über deren Eingang der Satz „Kein geometrisch Unge-bildeter trete hier ein“ gestanden haben soll (vgl. Röd 2000, 101) bietet sich hier ebenso an wie die Behauptung des Philosophen Arthur SCHOPENHAUER, beim Rechnen und bei der Mathematik insgesamt handle es sich um die niedrigste aller Geistestätigkeiten, zumal diese auch von einer Rechenmaschine ausgeführt werden könne (vgl. Beutelspacher 2011, 54). Neben dieser Reflexion über den Status von Mathematik werden nicht zuletzt auch philosophische Fragen, wie mathematische Erkenntnisse unser Wirklichkeitsverständnis beeinflussen, durch historische Bezüge gefördert (vgl. Jahnke 1996, VIII). So kann etwa ein geschichtlicher Exkurs zum Gödel‘schen Unvollständigkeitstheorem die philosophische Frage nach den Grenzen der Leistbarkeit der Mathematik bzw. nach dem Verhältnis zwischen Wahrheit und Beweisbarkeit allgemein motivieren.

Dieser Konnex zwischen Mathematikgeschichte und Philosophie der Mathematik wurde ganz besonders vom Wissenschaftshistoriker Albrecht HEEFFER stark gemacht. Ihm zufolge stellt die Geschichte der Mathematik ein ideales Fundament zur Vermittlung fundamentaler ontologischer wie epistemologischer Fragestellungen aus der Philosophie der Mathematik und damit in weiterer Folge zur Erweiterung des mathematischen Horizonts dar (vgl. Heeffer 2007, 101). Ein Beispiel für eine ontologische Fragestellung innerhalb der Philosophie der Mathematik wäre die Realismus-Konstruktivismus-Debatte um die Natur mathematischer Entitäten, ob es sich dabei um objektive, unabhängig existierende Teile der Wirklichkeit oder doch um Konstrukte des menschlichen Geistes handelt. Von deren Beantwortung ist schließlich auch die weiterführende Frage abhängig, ob die Mathematik letzten Endes eine menschliche Erfindung oder eine Entdeckung objektiver Wirklichkeit darstellt. In epistemologischer Hinsicht wiederum taucht in der Philosophie der Mathematik die Frage auf, wie mathematische Erkenntnis überhaupt möglich ist und was die Bedingungen eines gültigen Beweises sind.

Heeffer führt auch selbst ein Beispiel an, wie Elemente der Mathematikgeschichte zum Quell philosophischer und metamathema-tischer Fragen werden können. So zeige ein Blick in die Geschichtsbücher der Mathematik eindeutig, dass mathematische Begriffe alles andere als zeitlos und unveränderlich sind. Selbst der Zahlbegriff, als einer der elementarsten Begriffe ein wesentlicher Grundpfeiler der Mathematik überhaupt, zeigt sich in der historischen Perspektive einer beträchtlichen

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konzeptuellen Dynamik unterworfen. „The objects signified by the ancient Greek concept of arithmos differ from that of number by Renaissance mathematicians, which in turn differ from our current view“ (Heeffer 2007, 88). Dieselbe begriffliche Dynamik lässt sich auch im Verständnis von Gleichungen und Variablen beobachten. Wenn sich nun aber über die Geschichte solch fundamentale Veränderungen im Verständnis grundlegender mathematischer Begriffe konstatieren lassen, dann erhebt sich die philosophische Frage, wie sich dies mit der vom Realismus behaupteten zeitlos objektiven Natur mathematischer Entitäten vereinen lässt:

Of the different historical meanings of an equation, which one corresponds with the metaphysical object separate from human mathematical practice and understanding? If there have been different meanings for a given concept, such as an algebraical unknown, do they all correspond with the object of an unknown for a realist, or only our current conceptualization? (Heeffer 2007, 100).

Die historische Beobachtung mündet so in eine genuin philosophische Fragestellung über die Natur mathematischer Objekte. Die Mathematik selbst wird zum Gegenstand der Reflexion. Exemplarisch wird damit das Potential historischer Analysen zur Weitung des mathematischen Horizonts und zur Entwicklung einer metamathematischen Perspektive aufgezeigt. Wie wichtig diese eingangs von Winter geforderte geisteswissenschaftliche Perspektive auf die Mathematik ist, sei abschließend noch anhand eines Zitates des Mathematikphilosophen Thomas TYMOCZKO (1943–1996) verdeutlicht:

Educators ignore humanistic mathematics at their peril. Without it, educators may teach students to compute and to solve, just as they can teach students to read and write. But without it, educators can‘t teach students to love or even like, to appreciate or even understand, mathematics (Tymoczko 1993, 14).

4.2.8 Mathematikgeschichte als didaktischer Wegweiser für Lehrende

Bei den meisten der bis dato thematisierten Hoffnungen und Erwartungen an den Einsatz historischer Elemente im Mathematikunterricht standen unumstritten die S&S im Fokus der Aufmerksamkeit. Ihnen sollen die menschlichen Züge dieser so oft als hochabstrakt vermittelten Disziplin aufgezeigt werden, ihnen soll die historische Verankerung diverser Inhalte beim Verständnis helfen, ihnen soll die Sinnhaftigkeit der Mathematik durch die Begegnung mit originären Fragestellungen sichtbar gemacht werden. Dieser unzweifelhaft wichtige Fokus verdeckt jedoch leicht das Potential, welches die Geschichte der Mathematik auch für Lehrende hat. Dabei stellt die Mathematikgeschichte neben all den bereits genannten

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Aspekten auch einen wichtigen didaktischen Wegweiser für die Lehre dar, dessen orientierende Funktion an dieser Stelle kurz umrissen werden soll.

Eine wichtige Funktion historischer Elemente für das Wirken von L&L liegt in der Sensibilisierung für Lernschwächen auf Seiten der Lernenden. So liegt die eigene Schulzeit bei vielen Lehrenden bereits viele Jahre oder gar Jahrzehnte zurück und dementsprechend blass sind daher auch die Erinnerungen an eigene Verständnisprobleme beim Lernen von Mathematik (vgl. Nickel 2013, 258 f.). Der Umgang mit mathematischer Symbolik ist im Laufe der Jahre so automatisiert, das Denken in formal-logischen Bahnen so trainiert und die Verwendung mathematischer Sprache dermaßen geschult worden, dass all diese Aspekte nahezu selbstverständlich wirken. Die Mathematik in all ihren Dimensionen erscheint als das Natürlichste der Welt.

Elemente aus der Mathematikgeschichte können Lehrende nun mehr oder weniger unsanft aus diesem tiefen, aber gefährlichen Schlummer wecken. So bringt es die Fremdheit der Inhalte mit sich, dass L&L regelrecht zu einem Verlassen der gewohnten Bahnen und ausgetrampelten mathematischen Pfade genötigt werden und selbst wieder Erfahrungen eigenen Lernens machen (müssen). Diese verfremdende Wirkung mathe-matikhistorischer Inhalte, die oft in einer anderen Epoche, einer anderen Kultur oder gar einem anderen Weltbild verwurzelt sind, zwingt zu einem Umdenken bzw. vielleicht gar zu einem völligen gedanklichen Neubeginn (vgl. Thom 2013, 1). Als Beispiel seien elementare arithmetische Operationen wie Addition und Multiplikation genannt, die im vertrauten dekadischen Stellenwertsystem völlig automatisiert ausgeführt werden können, im Kontext des babylonischen Sexagesimalsystems aber dennoch vor ungeahnte Schwierigkeiten stellen. Historische Aspekte wie diese können so trotz jahrelanger Routine im Lehren von Mathematik zu eigenen Lernerfahrungen herausfordern.

Durch das Erleben eigener Verständnishürden – so die Hoffnung – werden sodann auch die Hürden im Verständnis der S&S nachvollziehbarer. Wer sich etwa anfänglich im für einen selbst neuartigen Sexagesimalsystem die arithmetischen Zähne ausgebissen und dadurch Lernerfahrungen gemacht hat, wird mehr Verständnis für Schwierigkeiten der Lernenden im Umgang mit dem für sie neuen dekadischen Zahlensystem aufbringen. Oder auf die Algebra und die symbolische Notation bezogen: „Knowing the historical struggle to pick suitable notations can increase teachers‘ comprehension of students‘ barriers to symbolic understanding“ (Liu 2003, 417). Diese Sensibilisierung für etwaige Verständnisprobleme bei den Lernenden ist daher die Kehrseite der bereits thematisierten tröstenden Funktion mathematikgeschichtlicher Inhalte: Ein Wissen um die langwierige historische Entwicklung mathematischer Begriffe und Operationen kann

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nicht nur auf die S&S tröstend wirken, sondern auch Lehrende verständnis-voller für verschlungene Lernwege machen. Folglich auch die Hoffnung in die transformatorische Kraft von Mathematikgeschichte, wie sie in folgendem Zitat nicht ganz ohne Pathos zum Ausdruck kommt:

The awareness of this evolutionary aspect of mathematics can make a teacher more patient, less dogmatic, more humane, less pedantic. It will urge a teacher to become more reflective, more eager to learn and teach with an intellectual commitment (Siu 2000, 8).

In dieser Funktion als didaktischer Wegweiser kommt somit erneut die mit dem Namen Otto Toeplitz verbundene indirekt-genetische Methode zum Vorschein. Dieser hatte schon darauf hingewiesen, dass Mathematik-geschichte nicht nur in expliziter Verwendung von didaktischem Nutzen sei, sondern auch auf implizitem Wege, insofern ein historisches Wissen um die Umstände der Herausbildung mathematischer Begriffe die Gestaltung des Unterrichts maßgeblich beeinflussen könne. Mit anderen Worten: Eine Beschäftigung mit der Geschichte der Mathematik muss nicht automatisch auf explizite Art und Weise direkt in den Unterricht münden, um den Beweis der Nützlichkeit zu erbringen. Sie zeigt ihren Wert auch darin, dass sie die Lehrkräfte für die oftmals unterschätzten Verständnisprobleme der S&S sensibilisieren und auch maßgeblich zur inhaltlichen wie strukturellen Gestaltung des Unterrichts beitragen kann. Als didaktischer Wegweiser für die L&L mag sie so eine nicht gering zu schätzende Orientierungsfunktion für den Unterricht spielen.

4.3 Möglichkeiten der Implementierung

Die zahlreichen Hoffnungen und Erwartungen an den Einsatz von Mathematikgeschichte im Unterricht können in noch so bunten und verlockenden Farben gemalt sein, für sich allein genommen bringen sie noch keinen Wandel der Unterrichtskultur mit sich. Insofern sind die letztgenannten Gründe überaus trügerisch. „[T]here is a danger that this is seen as the end of the argument, and the changes will then miraculously happen, on account of their inherent persuasiveness“ (Fauvel 1991, 4). Die an eine historische Didaktik geknüpften Hoffnungen werden jedoch nicht schon allein aufgrund ihrer inhärenten Überzeugungskraft schulische Realität. Um der Gefahr dieses Trugschlusses vorzubeugen, werden im Folgenden einige Möglichkeiten aufgelistet und erörtert, wie historische Elemente konkret in den Unterricht implementiert werden können. Zuvor seien jedoch noch drei wichtige Relativierungen in Bezug auf die Implementierung historischer Bezüge vorausgeschickt.

So kann erstens der Einbezug historischer Elemente in den Unterricht nie die Entwicklung der Mathematik in ihrer globalen Gesamtheit darstellen.

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Der Anspruch der Vollständigkeit muss daher von vornherein als unerreichbare Zielsetzung verabschiedet werden. Dagegen gilt es vielmehr auf exemplarische Weise einzelne Schlaglichter auf den historischen Werdegang der Mathematik zu werfen. Anhand einer Metapher ver-deutlicht: Das Ziel exemplarischen Unterrichtens besteht darin, dass auch einzelne historische Mosaiksteinchen in Summe ein überschaubares, wenn auch nicht lückenlos vollständiges Bild der Mathematikgeschichte ergeben (vgl. Jahnke/Richter 2008, 5). Zweitens ist auch eine Relativierung in Bezug auf die Gruppe der jeweiligen S&S angebracht. Ein allgemeines Rezept, wie die Implementierung historischer Elemente sicher immer und überall gelingt, gibt es nicht (vgl. Jones 2006, 16). Vielmehr muss die entsprechende Form des Einbezuges auf Alter, Hintergründe und Interessen der Lernenden abgestimmt werden. Auch die Hoffnung an eine universale Implemen-tierung verpufft daher als Illusion.

Die dritte und letzte Relativierung bezieht sich schließlich auf die Formen der Implementierung selbst. So kam an mehreren Stellen dieser Arbeit schon deutlich zum Vorschein, dass nicht jede Form des Einbezuges historischer Elemente automatisch didaktische Früchte trägt. Auch hier gilt es somit die Spreu vom Weizen, d.h. brauchbare von unbrauchbaren Implementierungen zu trennen. Ob bspw. – wie von manchen Autoren vorgeschlagen – die radikale Entfremdung mathematischer Inhalte bis hin zu Science Fiction und Fantasy bzw. die Entwicklung mathematischer Strukturen in anderen Zeiten und Welten sowie nach anderen Regeln zu didaktisch produktiven Formen des Einsatzes historischer Inhalte zählen (vgl. Weiss-Pidstrygach et al. 2013, 293 f.), darf guten Gewissens bezweifelt werden. Mit diesen drei Relativierungen im Hinterkopf seien nun diverse Formen des Einsatzes von Mathematikgeschichte im Unterricht näher ins Visier der Untersuchung genommen.

4.3.1 Historische Kontextualisierung mathematischer Inhalte

Eine erste niederschwellige Möglichkeit für den Einsatz von Mathematik-geschichte im Unterricht besteht in der historischen Kontextualisierung mathematischer Inhalte. Damit ist gemeint, dass Inhalte, die ohnehin im Mathematikunterricht thematisiert werden, nicht auf einer ahistorisch-systematischen Ebene belassen, sondern in ihrer historischen Tiefendimen-sion aufgezeigt werden. Insofern dazu weder ein umfangreiches Stöbern in der Mathematikgeschichte, noch eine Adaption des Lehrinhalts vorausge-setzt werden muss, stellt dieser Ansatz eine relativ leicht umsetzbare Form der Implementierung historischer Elemente in den Unterricht dar.

Was ist aber mit historischer Kontextualisierung nun konkret gemeint? Die Palette an Möglichkeiten der Umsetzung ist auf jeden Fall breit gefächert. Historische Kontextualisierung kann z.B. bedeuten, einfach ein

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paar biographische Eckdaten einer wichtigen Persönlichkeit aus der Geschichte der Mathematik im Unterricht zu erwähnen. Dies trägt zur oben erwähnten Humanisierung der Mathematik bei, verdeutlicht Mathematik als menschliches Unternehmen und erlaubt es den S&S, eine mathematische Entwicklung grob geschichtlich einzuordnen. So ist es z.B. möglich und aus mathematischer Perspektive auch durchaus legitim, den Satz von Bayes im Rahmen der Wahrscheinlichkeitstheorie ahistorisch und ohne Bezug auf seinen Namensgeber zu lehren. Schließlich bringt die Formel � | ∙ � = � | ∙ � für sich allein den mathematischen Inhalt präzise auf den Punkt. Ein kurzes Einstreuen der Lebensdaten von Thomas BAYES (1702–1760) gibt den S&S jedoch eine grobgeschichtliche Orientierung über den historischen Ursprung dieses Satzes. Werden die Lebensdaten außerdem noch um die biographische Kurzinformation ergänzt, dass Bayes von Beruf Geistlicher war (vgl. Wußing 2009, 81), wird der Inhalt zusätzlich noch aus einer formal-abstrakten Sphäre in einen menschlichen Bereich geholt. In ganz ähnlicher Weise können andere nach berühmten Personen benannte Sätze und Theoreme zu Ansatzpunkten historischer Kontextualisierung werden.

Unter die Rubrik historische Kontextualisierung fällt neben dem Einbau biographischer Kurzinformationen jedoch auch der Bezug auf wichtige Quellen der Mathematikgeschichte. In diesem Punkt ist der Mathematik-unterricht im Vergleich zu anderen Fächern höchst säumig: So hat im Physikunterricht das Hauptwerk Newtons Philosophiae naturalae principia mathematica ebenso einen unbestrittenen Stellenwert wie im Biologie-unterricht On the origin of species aus der Feder Darwins. Dagegen findet die Angabe bedeutender historischer Quellen kaum Eingang in den Mathematikunterricht, worin nicht zuletzt auch einer der Gründe für den verbreiteten Eindruck einer ewigen, in vollendeter Form vom Himmel gefallenen Mathematik zu finden sein dürfte. Historische Kontextuali-sierung könnte in diesem Sinne bedeuten, die Menge der Primzahlen im Unterricht nicht nur als unendlich zu behaupten bzw. gar zu beweisen, sondern die Elemente Euklids als historische Quelle zu nennen, in der sich der historisch erste Beweis dieser mathematischen Erkenntnis findet. Wie es schon der Mathematikdidaktiker Kurt RICHTER formulierte: „Schülerinnen und Schülern nichts über die Elemente im Mathematikunterricht zu sagen, ist genau so, als würde ein Pastor Religionsunterricht erteilen, ohne ein einziges Mal die Bibel zu erwähnen“ (Richter 2011, 87). Tatsächlich kann diese Bezugnahme auf eine historische Quelle dazu beitragen, dass die Mathematik greifbarer wird, indem sich ein spezieller Inhalt aus dem Nebulosen in einem konkreten Buch verdichtet.

Ein weiteres Beispiel für historische Kontextualisierungen stellen etymologische Betrachtungen dar, da in mathematischen Fachbegriffen oft Informationen über deren historischen Ursprung enthalten sind. Auch wenn

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dieser Ansatz zum Teil hohe sprachliche Anforderungen stellt, die sicher nicht von allen S&S ohne Probleme erfüllt werden, können begriffliche Analysen doch zu einer Vertiefung des mathematischen Verständnisses beitragen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Namen der Kegelschnitte Ellipse, Parabel und Hyperbel, die durch die etymologische Brille betrachtet einen tieferen mathematischen Sinn erkennen lassen (siehe HISTOMATH-BOX X).

Das Spektrum an Möglichkeiten historischer Kontextualisierung ist also durchaus breit gefächert. Oft bedarf es keiner sehr großen Mühe, einen mathematischen Inhalt auf diese Weise in seiner historischen Dimension aufzuzeigen. Lebensdaten, biographische Eckpunkte und bedeutsame Quellen sind hier offenkundige Ansatzpunkte. In einigen Fällen schlummert das Potential historischer Kontextualisierung jedoch auch unbemerkt unter der Oberfläche. So etwa bei der in zahlreichen Schulbüchern auffindbaren Extremwertaufgabe, eine Strecke derart in zwei Teile zu teilen, dass das Produkt der Längen der beiden Teilstrecken maximal wird (vgl. Götz et al. 2011, 147). Hier ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, wie ein Herstellen historischer Bezüge gelingen kann. Das Beispiel wirkt schlicht und einfach wie ein beliebiger Vertreter einer ganzen Armada ähnlicher Extrem-wertaufgaben. Die historische Tiefendimension dieser Aufgabe öffnet sich jedoch, wenn sie durch den Hinweis ergänzt wird, dass das Beispiel seinen historischen Ursprung nicht in den Köpfen moderner Schulbuch-aufgabendesigner, sondern in dem bekannten französischen Mathematiker Pierre FERMAT (1601–1665) hat (vgl. Richter 2011, 88).

HISTOMATH-BOX X

Das klassische Problem der Würfelverdopplung aus der griechischen Antike motivierte u.a. die Untersuchung von Kegelschnitten, die vom griechischen Mathematiker APOLLONIUS von Perge (um das 3. Jh. v. Chr.) zusammengefasst wurden. Apollonius legte auch die Bezeichnungen Ellipse, Parabel und Hyperbel der Kegelschnitte fest, die auf die alte Problemstellung zurückgehen, ein Rechteck in ein flächengleiches Quadrat umzuwandeln. Als Ausgangspunkt der Benennung dient die gemeinsame Scheitelgleichung der Kegelschnitte = − − � ∙ . Nun präsentieren sich drei Fälle:

Im Falle � = ergibt sich eine Parabel, von griech. paraballein: gleichsetzen. So ist das Rechteck gleich groß wie das Quadrat .

Im Falle < � < ergibt sich eine Ellipse, von griech. elleipein: weglassen. So muss das Rechteck erst um ein kleines Quadrat vermindert werden, um das gleichflächige Quadrat zu erhalten.

Im Falle � > ergibt sich eine Hyperbel, von griech. hyperballein: übertreffen. So muss die Fläche des Rechteckes um den Betrag

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� − ∙ vergrößert werden, um das flächengleiche Quadrat zu erhalten (vgl. Richter 2011, 87 f.).

4.3.2 Anekdoten aus der Mathematikgeschichte

Eine spezielle Form der Implementierung mathematikhistorischer Elemente im Unterricht stellt das Schildern einer Anekdote dar. Gleichsam in eine kleine Geschichte auf historischer Grundlage verpackt, soll so ein bestimmter Inhalt den S&S auf narrativem Wege näher gebracht werden. Eine der bekanntesten Anekdoten schlechthin aus der Geschichte der Mathematik stellt wohl die Entdeckung der Summenformel einer arithmetischen Reihe durch den neunjährigen Carl Friedrich GAUSS (1777–1855) dar. An diesem Beispiel soll im Folgenden der Einsatz von Anekdoten allgemein im Mathematikunterricht diskutiert werden. Literarisch ausgeschmückt findet sich besagte Anekdote etwa im Roman „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann:

Der Lehrer in der Schule hieß Büttner und prügelte gern. [...] Büttner hatte ihnen aufgetragen, alle Zahlen von eins bis hundert zusammenzuzählen. Das würde Stunden dauern, und es war beim besten Willen nicht zu schaffen, ohne irgendwann einen Additionsfehler zu machen, für den man bestraft werden konnte. Na los, hatte Büttner gerufen, keine Maulaffen feilhalten, anfangen, los! Später hätte Gauß nicht mehr sagen können, ob er an diesem Tag müder gewesen war als sonst oder einfach nur gedankenlos. Jedenfalls hatte er sich nicht unter Kontrolle gehabt und stand nach drei Minuten mit einer Schiefertafel, auf die nur eine einzige Zeile geschrieben war, vor dem Lehrerpult. [...] Fünftausendfünfzig. Was? Gauß versagte die Stimme, er räusperte sich, er schwitzte. Er wünschte nur, er wäre noch auf seinem Platz und rechnete wie die anderen, die mit gesenktem Kopf dasaßen und taten, als hörten sie nicht zu. Darum sei es doch gegangen, eine Addition aller Zahlen von eins bis hundert. Hundert und eins ergebe hunderteins. Neunundneunzig und zwei ergebe hunderteins. Achtundneunzig und drei ergebe hunderteins. Immer hunderteins. Das könne man fünfzigmal machen. Also fünfzig mal hunderteins. (Kehlmann 2009, 55 f.).

An diesem Beispiel wird ein zentrales Charakteristikum des anekdotischen Gebrauches von Mathematikgeschichte ersichtlich: Ein ansonsten wo-möglich als trocken empfundener Stoff wird durch diese kurze Geschichte des kleinen Carl Friedrich, der später als der große Gauß zum princeps mathematicorum, d.h. zum Fürst der Mathematiker werden sollte, gehörig gewürzt und damit didaktisch appetitanregender gestaltet. Dabei leben Anekdoten gerade von ihrem Kontrast zur klassischen Präsentationsweise mathematischer Inhalte: Zählt hier oft das Abstrakt-Systematische, das Formal-Gesetzmäßige, das Apersonal-Zeitlose, rücken Anekdoten vielmehr einen originellen Einzelfall bzw. historisch-biographische Details ins pädagogische Rampenlicht (vgl. Nickel 2013, 255). So auch bei der Anekdote

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des kleinen Gauß, die einen mathematischen Inhalt auf personal-bio-graphischer Ebene verdeutlicht.

Gerade durch dieses persönliche Element verspricht man sich von Anekdoten auch eine mnemotechnisch bedeutende Funktion als Gedächtnisstütze, z.B. zur Fixierung einer Formel im Gedächtnis (vgl. Behr 1996, 27). Wer etwa den originellen Einfall des kleinen Gauß über eine anekdotische Schilderung abgespeichert hat, wird die mathematische Grundidee vermutlich länger präsent behalten als jemand, dem einfach die

fertige Formel ∑ ���= = �+ ∙� in ihrer vollen Abstraktion und Systematik

präsentiert wird. Einfach weil in Kurzgeschichten auch der Weg zur Lösung eines speziellen Problems noch enthalten ist, während dieser im Falle der fertigen Formel nur mehr für mathematisch bereits sehr geschulte Augen ersichtlich ist. Anekdoten können daher helfen, prima facie abstrakt und unzugänglich wirkende mathematische Inhalte mit Leben zu füllen und vor dem schleichenden Vergessen zu bewahren. Daneben verspricht man sich vom anekdotischen Gebrauch der Mathematikgeschichte durch das Einstreuen persönlicher Elemente auch eine Auflockerung des Unterrichts, eine Erhöhung der Motivation sowie eine Gewinnung bzw. Rückgewinnung der Aufmerksamkeit (vgl. Kronfellner 1997, 86). Allgemein werden nicht gerade wenige Hoffnungen an den Einsatz von Anekdoten im Unterricht geknüpft:

These stories and anecdotes have proved very useful in the classroom – as little interest-rousing atoms, to add spice and a touch of entertainment, to introduce a human element, to inspire the student, to instill respect and admiration for the great creators, to yank back flagging interest, to forge some links of cultural history, or to underline some concept or idea (zit. nach Siu 2000, 4).

Ob dieser Schilderung drängt sich nahezu der Eindruck von Anekdoten als universalem Remedium sämtlicher Unterrichtsbeschwerden auf. Doch es ist nicht alles didaktisches Gold, was als Anekdote glänzt. Auch dies zeigt das Beispiel des kleinen Gauß deutlich auf. Zum einen erhebt sich speziell bei Anekdoten das Problem der Authentizität, da die Mathematikgeschichte im Zuge ihres anekdotischen Gebrauches nicht selten erheblich ausgeschmückt, ergänzt, verzerrt oder gar verfälscht wird. So erzählt auch die Gauß-Anekdote in ihrer obigen literarischen Formulierung weit mehr, als sich historisch gesichert sagen lässt. Wie historische Redlichkeit allgemein mit didaktischem Nutzen abzuwägen ist, wird noch Gegenstand einer ausführlichen Untersuchung sein. Neben diesen historiographischen Bedenken bzgl. der Authentizität vermittelter Inhalte stellt sich jedoch auch das pragmatische Problem, dass viele Anekdoten wenn überhaupt nur einen sehr schwachen Konnex zu schulrelevanten Inhalten aufweisen (vgl. Kronfellner 1997, 86). Die Umstände des frühen Todes des Mathematikers Évariste GALOIS (1811–1832), der mit nur 20 Jahren an den Folgen eines

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Duells um die Gunst eines Mädchens starb, mögen zwar im Unterricht für Interesse und Aufmerksamkeit sorgen. In didaktischer Hinsicht ist diese Anekdote jedoch nicht äußerst ergiebig, da die Galoistheorie kein Teil der Schulmathematik ist und sich somit kein Bezug zu schulrelevanten Inhalten herstellen lässt. Auch wenn derartige Anekdoten natürlich selbst ohne direkten Konnex – etwa zum Zwecke der Motivationssteigerung – in den Unterricht eingebunden werden können, besteht dennoch ein wichtiges pragmatisches Erfordernis im Sammeln von Anekdoten, die auch einen Bezug zu schulmathematischen Inhalten aufweisen.

Abschließend sei noch erwähnt, wie sich auch in methodischer Hinsicht aus der obigen Schilderung der Gauß-Anekdote wertvolle Einsichten gewinnen lassen. So ist der anekdotische Gebrauch der Mathematik-geschichte nicht einzig auf eine narrative Vermittlung festgelegt. Neben dem erzählerischen Schildern der Anekdote im Unterricht durch die Lehrperson stellt nämlich auch der Einbezug von Literatur und Film eine didaktisch wertvolle Möglichkeit dar. So könnte etwa die oben angeführte Stelle aus dem Roman „Die Vermessung der Welt“ in den Mathematikunterricht eingebaut werden. Doch auch die gleichnamige Verfilmung aus dem Jahre 2012 ist für einen didaktisch gewinnbringenden Einsatz im Unterricht sehr gut geeignet, werden darin nicht nur die Summenformel-Episode, sondern auch die geometrische Interpretation der komplexen Zahlen und andere mathematische Leistungen Gauß‘ auf anschaulichem Wege dargestellt. Allein schon aus Gründen der methodischen Abwechslung dürften sich diese beiden Wege daher als gewinnbringend erweisen, da mathematisch inspirierte Ausschnitte aus Literatur und Film nur sehr selten Eingang in den stark rechnerisch geprägten Mathematikunterricht finden.

4.3.3 Verwendung historischer Aufgaben bzw. historischer Quellen

Die bis dato diskutierten Möglichkeiten der historischen Kontextualisierung und des Einbezuges von Anekdoten aus der Mathematikgeschichte haben jenen Aspekt gemeinsam, dass die S&S dadurch etwas über die historische Dimension eines mathematischen Inhalts erfahren. Einen Inhalt kognitiv zu erfahren ist in pädagogischer Hinsicht jedoch etwas ganz anderes, als diesen Inhalt direkt zu erleben. Die Geschichte der Mathematik in diesem Sinne über das eigene Tun auch erlebbar zu machen, ist die Intention hinter der Einbindung historischer Quellen bzw. geschichtlich bedeutender Aufgaben, die eine weitere Möglichkeit der Implementierung historischer Inhalte darstellen. Dies kann im Unterricht etwa über das Lösen historischer Probleme oder das Lesen historischer Quellen geschehen. Radikal neu ist jedoch auch dieser Gedanke nicht wirklich. So brach schon vor knapp 90 Jahren der Mathematikdidaktiker Walter LIETZMANN (1880–1959) eine Lanze für das Einbeziehen historischer Probleme in den Unterricht:

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Darin ist man sich wohl einig, daß eine Einführung geschichtlicher An-merkungen, die nicht mehr als Namen und Lebenszeit irgendeines Lehrsatz-entdeckers bringen, fast überflüssig, vielleicht sogar schädlich sind. Wertvoll dagegen ist die Einbeziehung geschichtlich bedeutsamer Probleme und Aufgaben, womöglich in der ursprünglichen Fassung in die Aufgabensammlung (Lietzmann 1928, III).

Die von Lietzmann geforderte Einbeziehung geschichtlich bedeutsamer Probleme und Aufgaben kann im Unterricht nun auf unterschiedlichem Wege und in unterschiedlicher Intensität erfolgen. Dies sei an drei konkreten Beispielen verdeutlicht. So bieten sich historische Aufgaben und Frage-stellungen sehr gut an, um ein neues inhaltliches Thema zu motivieren. Der inhaltlichen Erarbeitung der komplexen Zahlen könnte bspw. das von Girolamo CARDANO (1501–1576) formulierte Problem vorangestellt werden, zwei Zahlen und zu finden, deren Summe 10 und deren Produkt 40 ergibt (vgl. Jones 2006, 16). Schnell zeigt sich, dass dieses Problem weder innerhalb der natürlichen noch der reellen Zahlen gelöst werden kann und demnach eine Zahlbereichserweiterung zur Lösung not-wendig ist. Cardano selbst führt in seinem Werk Ars Magna (1545) schließ-lich die von ihm als sinnlos abgestempelten Lösungen = 5 + √− ∙ √ 5 und = 5 − √− ∙ √ 5 an. Mit dem Auftreten des Symbols √− war damit jedoch ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung der komplexen Zahlen gegeben (vgl. Int.[6], 1). So kann dieses historische Beispiel die Notwendigkeit der Einführung komplexer Zahlen zur Lösung ganz konkreter Probleme motivieren.

Historische Probleme können aber nicht nur am Anfang eines Lernprozesses die Auseinandersetzung mit einem Thema überhaupt erst motivieren, sondern ebenfalls an dessen Ende zur Überprüfung eingesetzt werden, ob erworbenes mathematisches Wissen so weit gefestigt ist, dass es auch auf fremdartige Kontexte angewandt werden kann. In diesem Sinne fügen sich historische Aufgabenstellungen auch sehr gut in einen kompetenzorientierten Zugang zur Mathematik ein, der speziellen Wert auf das Anwendenkönnen erworbenen Wissens auf neue Kontexte legt. Eine historische Aufgabe, anhand welcher der kompetente Umgang mit Variablen überprüft oder trainiert werden könnte, ist z.B. das Rätsel, das auf dem Grabstein des DIOPHANTOS von Alexandria gestanden sein soll. Die genauen Lebensdaten dieses bedeutendsten Algebraikers der Antike sind unbekannt, man nimmt heute an, dass er um 250 n. Chr. gelebt hat (vgl. Wußing 2008, 208). Das Grabstein-Rätsel gibt jedoch mathematisch verschlüsselt darüber Auskunft, welches Lebensalter Diophant erreicht hat. In moderner Formulierung lautet es wie folgt:

Ein Sechstel seines Lebens war er ein Kind, ein Zwölftel ein Jüngling, ein Siebentel ein lediger Mann, dann war er fünf Jahre verheiratet, bis seine Frau einen Sohn gebar. Der wurde allerdings nur halb so alt wie sein Vater. Und nach dem Tod

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des Sohnes tröstete sich Diophant noch vier Jahre mit der Mathematik, bevor auch er starb. Wie alt wurde er? (Int.[7])

Wer kompetent mit dem mathematischen Konzept einer Variablen umgehen kann, wird kein Problem damit haben, unter Anleitung dieses Rätsels herauszufinden, dass Diophant ein für die Verhältnisse der Antike stattliches Alter von 84 Jahren erreichte. In diesem Fall diente eine historische Aufgabe somit als Nagelprobe für erworbene mathematische Kompetenzen. Die Auseinandersetzung mit einer historischen Aufgabe kann jedoch auch projektartige Züge annehmen und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Als Beispiel sei eine von den Mathematik-didaktikern Hans Niels JAHNKE und Karin RICHTER angeführte Unterrichtssequenz über drei Stunden genannt, in dessen thematischem Zentrum der Tunnel von Samos steht (vgl. Jahnke/Richter 2008, 6 f.).

Das technisch Besondere an diesem bereits vom griechischen Historiker HERODOT beschriebenen Tunnel mit einer Länge von über einem Kilometer ist, dass seine Konstruktion von beiden Seiten des Berges vorangetrieben wurde und sich die Bautrupps im Inneren trafen. Die Aufgabe der Unterrichtssequenz besteht für die S&S nun darin, einen Quellentext des griechischen Mathematikers HERON von Alexandria (1. Jh. n. Chr.) zu behandeln, in welchem dieser die Methode erläutert, einen Berg in gerader Linie zu durchstechen, wenn Start- und Zielpunkt des Tunnels bekannt sind (vgl. ebd., 6). Basierend auf diesen aufgrund der Fremdartigkeit der Formulierung sprachlich anspruchsvollen Aus-führungen sollen die S&S dann eine eigene Konstruktionsvorschrift samt Skizze erstellen. In diesem Falle fungiert ein historisches Beispiel somit als Katalysator der Entwicklung einer ganz anderen mathematischen Kompetenz: „Der behutsame, kritisch hinterfragende Umgang mit der originalen Quelle ist dazu angetan, bei Schülerinnen und Schülern den ‚mathematischen Blick‘ zu schärfen“ (Jahnke/Richter 2008, 7).

Obwohl diese drei Beispiele gezeigt haben sollen, dass sich historische Aufgabenstellungen ohne große Probleme in den Unterricht integrieren lassen, verlangen sie doch eine teilweise Abkehr von der verbreiteten Unterrichtstradition. So ist bei historischen Problemstellungen im Gegen-satz zu klassischen Beispielen keine Modifikation zu Übungszwecken möglich bzw. sinnvoll. Während etwa Aufgaben zur Lösung quadratischer Gleichungen beliebig umgeändert werden können, gibt es eben nur das eine historische Zahlenproblem Cardanos. Und während es zum Einüben eines kompetenten Umgangs mit Variablen Beispiele sonder Zahl gibt, hat auf dem Grabstein des Diophant eben nur ein mathematisch verschlüsseltes Rätsel Platz gehabt. Beim Einsatz historischer Beispiele ist daher zwar deren einmalige Rekapitulation, nicht jedoch deren beliebige Variation zu Übungszwecken möglich. Daher – darauf hat bereits der Mathematiker Manfred KRONFELLNER hingewiesen – sollte der Mathematikunterricht

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nicht kurzsichtig auf eine reine Einübungsmethodik reduziert werden, damit darin auch historische Problemstellungen ohne entsprechende Analogübungsaufgaben Platz haben (vgl. Kronfellner 1997, 89).

4.3.4 Einbezug mathematischer Zeitgeschichte

Ist von der Geschichte der Mathematik die Rede, so drehen sich die ersten Assoziationen wohl um Euklid und weitere Vertreter der griechischen Mathematik, um Adam Ries und die Rechenmeister des Mittelalters sowie um andere prominente Gestalten wie Gauß und Newton. Weit weniger stark ist hingegen die Assoziation zur mathematischen Zeitgeschichte, zu dem, was sich gegenwärtig auf dem weiten Feld mathematischer Forschung tut. Dies ist aus zweierlei Gründen wenig verwunderlich: Zum einen wird der kanonische Inhalt der Schulmathematik von gegenwärtigen Entwicklungen so gut wie überhaupt nicht tangiert. Klassische Themen der Schul-mathematik wie das Lösen von Gleichungssystemen, die Ermittlung des unbestimmten Integrals einer Funktion oder das Berechnen von Wahr-scheinlichkeiten sind zum Teil schon mehrere Jahrhunderte alt, sodass aktuelle mathematische Themen schlichtweg nicht in das schulische Blickfeld kommen. Zum anderen sind moderne Entwicklungen jedoch auch oft so komplex und voraussetzungsreich, dass an eine Behandlung in der Schule nicht einmal im süßesten Wunschtraum zu denken ist. Wenn Ergebnisse teilweise so diffizil und speziell sind, dass nicht einmal Mathematiker selbst sie auf Anhieb richtig einordnen können, wie sollen dann S&S zu solch einer kognitiven Herkulesaufgabe fähig sein?

Der Einwand ist auf den ersten Blick berechtigt. Er ist jedoch mit dem Haken verbunden, dass sich über das konsequente Ausblenden gegen-wärtiger Entwicklungen im Schulunterricht der hartnäckige Eindruck in den Köpfen der Lernenden festsetzt, die Mathematik sei ohnehin schon an das Ende ihrer Entwicklung gelangt und somit abgeschlossen. Alles, was man in der Mathematik wissen könne, sei schon bekannt. Um diesem problematischen Irrglauben entgegenzuwirken, plädiert u.a. der österreichische Mathematiker Manfred KRONFELLNER für den Einbezug mathematischer Zeitgeschichte in den Mathematikunterricht. Hier ein kleiner Auszug aus seiner Liste an möglichen Themenstellungen (vgl. Kronfellner 1997, 87): Georg Cantor und die Kontinuumshypothese Kurt Gödel und seine beiden Unvollständigkeitstheoreme Der Computerbeweis des Vier-Farben-Satzes durch Appel und Haken Der Beweis des ‚Großen Satzes von Fermat‘ durch Andrew Wiles Nun ist jedes dieser Themen in mathematischer Hinsicht für den Schulunterricht um etliche Schuhnummern zu groß. Den bahnbrechenden

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Beweis Wiles‘ im Unterricht in all seinen Einzelheiten studieren zu wollen, mutet gleich lächerlich an wie die Zielsetzung einer strengen schulischen Untersuchung, wieso die Cantor‘sche Kontinuumshypothese im ZFC-Axiomensystem unentscheidbar ist. Über einen quantitativen, formal-logischen Weg sind diese Themen im Rahmen der Schulmathematik schlicht und einfach unerreichbar. Anstatt diese Inhalte jedoch gänzlich aus dem schulischen Kanon zu verdrängen und damit bei den S&S den gefährlichen Eindruck einer abgeschlossenen Mathematik zu riskieren, sollte vielleicht überdacht werden, ob in diesen Fällen nicht eine Revision des hohen mathematischen Standards hin zu einem qualitativ-phänomenologischen Zugang zielführender ist. Auch wenn die mathematischen Einzelheiten weit außerhalb der schulischen Reichweite liegen, lässt sich den S&S doch vermitteln, was die Kontinuumshypothese besagt, wie die Fermat‘sche Vermutung lautet, worin die Konsequenzen der Gödel‘schen Unvoll-ständigkeitstheoreme liegen und wieso beim Beweis des Vier-Farben-Satzes der Einsatz eines Computers unumgänglich ist. Wird Mathematikunterricht nicht auf den Aspekt des Operierens und auf das Lösen von Aufgaben reduziert, dann stellt auch dieses Wissen um mehr oder weniger aktuelle Entwicklungen einen Grundpfeiler mathematischer Bildung dar. Zumal auch andere Disziplinen wie die Physik bereit sind ihre Standards zu lockern, um moderne Aspekte aufgreifen und integrieren zu können. An einem abschließenden Zitat Kronfellners verdeutlicht:

Ebenso wie es in der Physik üblich ist, die Grundgedanken der allgemeinen Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik verbal zu vermitteln, sollte man auch in der Mathematik entsprechende neuere Entwicklungen in dieser Art, also rein phänomenologisch, im Unterricht einbauen und so auf diese Weise einen Beitrag zur ‚Zeitgeschichte der Mathematik‘ liefern (Kronfellner 1997, 86).

4.3.5 Mathematikgeschichte als Modul bzw. Maturaprojekt

Alle bisher diskutierten Punkte einer möglichen Implementierung von Mathematikgeschichte in der Schule sind auf einen klassischen Mathe-matikunterricht ausgerichtet. Sowohl der Einbezug aktueller mathema-tischer Forschung, als auch die Verwendung historischer Aufgaben wie das Schildern von Anekdoten aus der Mathematikgeschichte setzen keine grundlegende Neuerung im Unterrichten von Mathematik voraus. Diese Möglichkeiten gibt es heute gleich wie es sie bereits in der Vergangenheit gegeben hat und wie es sie auch in Zukunft noch geben wird. Daneben haben jedoch jüngere Reformen des österreichischen Schulsystems zusätzlich Luken für das Einbeziehen historischer Themenstellungen mit sich gebracht. Zwei dieser neueren Möglichkeiten seien an dieser Stelle näher vorgestellt.

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So findet die Reifeprüfung in Österreich seit dem Schuljahr 2014/15 in zentralisierter Form statt. Eine Säule dieses dreigliedrigen Konzepts ist dabei die Vorwissenschaftliche Arbeit, in welcher sich die S&S mit einem selbst gewählten Thema eigenständig und außerhalb der Unterrichtszeit befassen. Die Arbeit sollte dabei – wie ihr Name schon verrät und im Schulunter-richtsgesetz SCHUG § 34 explizit festgehalten ist – auf vorwissenschaft-lichem Niveau angesiedelt sein (vgl. Int.[8], 2). Für S&S mit besonderer Affinität zur Mathematik und ihrer historischen Dimension könnte diese für die Matura verpflichtend notwendige Arbeit eine Gelegenheit sein, sich in einem weit über das im Unterricht mögliche Maß mit einem Thema aus der Mathematikgeschichte zu befassen. Der Mathematiker Albrecht BEUTELSPACHER nennt in einem Projektbericht über die Implemen-tierung historischer und philosophischer Aspekte in das mathematische Fachstudium zahlreiche Fragestellungen, die sich ohne große Modifikation auch als Themen für eine Vorwissenschaftliche Arbeit eignen würden (vgl. Beutelspacher 2011, 58 ff.). Die thematische Bandbreite reicht über Probleme aus der antiken Mathematik (z.B. Kreisberechnung des Archimedes) über Mathematik in Mittelalter und Renaissance (z.B. Geschichte der Fibonacci-Zahlen) bis hin zu logisch-philosophischen Aspekten (z.B. Analyse des Kontinuums und des Unendlichen bei Aristoteles). Auf jeden Fall stellt die Vorwissenschaftliche Arbeit für mathematikhistorisch interessierte S&S eine gute und bis dato in dieser Form nicht existente Möglichkeit dar, sich in ein Thema ihrer Wahl eingehender zu vertiefen. Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich.

Neben der Vorwissenschaftlichen Arbeit stellt nämlich auch der geplante strukturelle Umbau der Oberstufe eine gute Gelegenheit dar, mathematik-historische Inhalte verstärkt in den Unterricht einzubauen. So gilt ab 1. September 2017 die Oberstufe Neu an allen österreichischen AHS und BMHS. Der zentralste Punkt dieser Reform ist wohl die Gliederung des Schuljahres in Semester bzw. Module, die jeweils für sich abgeschlossen und beurteilt werden (vgl. Int.[9]). Je nachdem, wie diese Oberstufe Neu konkret ausgestaltet wird, ergeben sich damit auch für den Einbezug von Themen aus der Geschichte der Mathematik in den Unterricht neue Möglichkeiten. Einen ersten Vorgeschmack dazu liefern bereits Schulen mit einer modularen Oberstufe auf Wahlbasis, bei denen es heute etwa schon möglich ist, für besonders Interessierte eigene Module über historisch-philo-sophische Aspekte der Mathematik anzubieten. Ob dieses thematische Angebot bei den S&S auch auf positive Resonanz stößt, ist natürlich eine andere Frage. In Manier des Vogel Strauß den Kopf in den Sand zu stecken, von flächendeckender Ablehnung auszugehen und es gar nicht erst zu versuchen, würde zumindest nicht von übergroßem Vertrauen in die Faszination des eigenen Faches zeugen. Dies sei nur am Rande erwähnt. Hier geht es primär um die Feststellung, dass im Rahmen einer modularen

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Oberstufe bereits differenziert auf die Interessen der S&S eingegangen werden kann und sich somit eine neue Gelegenheit für die Implementierung mathematikhistorischer Inhalte ergibt. Ein entscheidender Vorteil dieses Systems ist wohl, dass nicht nach dem Gießkannen-Prinzip die Gesamtheit aller Lernenden mit Inhalten aus der Geschichte der Mathematik zwangsbeglückt würde, sondern vielmehr selektiv mit einer Gruppe wirklich Interessierter an historisch-philosophischen Themenstellungen aus der Mathematik gearbeitet werden könnte.

4.3.6 Gestaltung des Klassenraums

Bis dato wurde die Frage nach der Implementierung von Mathematik-geschichte im Unterricht auf rein inhaltlich-methodischer Ebene gestellt. Es kann jedoch auch gewinnbringend sein, die Frage aus räumlicher Perspektive zu stellen, d.h. zu fragen, wo im wahrsten Sinne des Wortes der passende Ort von Mathematikgeschichte ist. So trägt auch der Klassenraum als Ort des Unterrichtsgeschehens ein nicht zu unterschätzendes Potential zur Verdeutlichung historischer Bezüge in sich. In der mathematik-didaktischen Literatur finden sich bspw. Berichte über das Herstellen von Kalendern bzw. das Anfertigen von Wandzeitungen mit mathematik-historischen Themen sowie das Anbringen von Zeitleisten zum Zwecke der historischen Orientierung in den Klassenzimmern (vgl. Richter 2011, 90).

Der letztgenannte Punkt – das Anbringen von Zeitleisten im Klassenraum – sei hier etwas detaillierter ausgeführt. So bietet es sich an, zu Beginn der Sekundarstufe im Klassenraum eine leere Zeitleiste anzubringen, die sich von der griechischen Antike bis in die Gegenwart erstreckt. Wann immer nun im Zuge der historischen Kontextualisierung eines Themas ein Name aus der Geschichte der Mathematik fällt, kann diese Persönlichkeit – z.B. über ein Schild mit Namen samt mathematischer Leistung – in die Zeitleiste eingeordnet werden. Mathematik bekommt so einen historischen Ort, Entwicklungen können mit Blick auf die Zeitleiste verortet werden. Über die Jahre entsteht auf diese Weise ein wenn auch nicht vollständiges, so doch übersichtlich-anschauliches Bild der historischen Entwicklung der Mathematik. Epochen hoher Produktivität heben sich mit einem Blick von Epochen geringerer Aktivität ab. Und mathematische Inhalte, die ansonsten in einem ahistorischen Raum beziehungslos nebeneinanderstehen würden, erfahren durch ihre Eingliederung in die Zeitleiste eine klare zeitliche Ordnung. Auf jeden Fall wird durch das kumulative Auffüllen der Zeitleiste die Prozesshaftigkeit der Mathematik klar vor Augen geführt.

Die Einzelheiten der konkreten Ausführung obliegen natürlich der Kreativität der Lehrperson. So ist die Zeitleiste als rein innermathematisches Projekt denk- und realisierbar. Es spricht jedoch viel dafür, im Rahmen dieses Projekts das einschnürende Korsett allzu enger Fachgrenzen zu

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sprengen und auch andere Disziplinen miteinzubeziehen. Auf diese Weise kann so die historische Entwicklung nicht nur der Mathematik, sondern verschiedener Wissenschaften und Künste aufgezeigt werden. Als Profiteure erweisen sich auf den ersten Blick natürlich die S&S, die durch die Zeitleiste in der Herausbildung eines historischen Bewusstseins unterstützt werden. Ebenso profitiert jedoch auch die Mathematik selbst von einem derartigen transdisziplinären Zugang, kommen darin indirekt ja auch die vielfältigen Verflechtungen der Mathematik mit verschiedensten anderen Bereichen zum Ausdruck. Die Zeitleiste kann so maßgeblich zum Abbau des Vorurteils beitragen, dass es sich bei der Mathematik um eine abgehobene, im Elfenbeinturm ihrer abstrakten Erkenntnissuche gefangene Disziplin ohne jegliche Bezüge zur Wirklichkeit handelt.

4.3.7 Einsatz zu unterschiedlichen Phasen des Unterrichts

Nach der Kategorie des Raumes nun die Kategorie der Zeit. So stellt sich neben der Verortung von Mathematikgeschichte im Unterricht auch die überaus wichtige Frage, zu welchen Zeitpunkten bzw. in welchen Phasen von Unterricht historische Bezüge didaktisch produktiv eingebaut werden können. Vorschläge finden sich dazu in der Literatur sonder Zahl: Von der Motivierung zu Beginn eines neuen Themas über den Einsatz als Problemkontext zur Erweiterung eines mathematischen Inhaltsbereiches (vgl. Thom 2013, 8) bis hin zur funktionalen Einbindung am Ende eines Lernprozesses als Diagnostikinstrument bei Verständnisproblemen (vgl. Weiss-Pistrygach 2013, 291). Mathematikgeschichte kann also zu unter-schiedlichen Zeitpunkten zum Einsatz kommen und muss nicht auf eine unterrichtliche Phase beschränkt werden.

Insbesondere beim Einsatz historischer Beispiele im Unterricht ist jedoch zu bedenken, dass diese ein didaktisch zweischneidiges Schwert darstellen und bei Einsatz zu Beginn eines Lernprozesses durch ihre Komplexität und Fremdheit mehr Verwirrung als Verständnis bewirken können. So plädieren Hans Niels JAHNKE und Karin RICHTER aus der Zunft der Mathematik-didaktik dafür, historische Beispiele in Übungsphasen einzusetzen und damit zu einem Zeitpunkt, an dem sich die S&S nach der modernen Einführung eines Themas schon auf ein tragfähiges Wissensfundament stützen können (vgl. Jahnke/Richter 2008, 4). Dieser Hinweis scheint aus mehreren Gründen wichtig und richtig.

Zum einen wird damit die lernpsychologisch ernstzunehmende Gefahr profunder Verwirrung gleich zu Beginn eines neuen Abschnittes umgangen. Wer bspw. ohne jegliche Kenntnis von Variablen vor das Grabstein-Rätsel des DIOPHANT gestellt wird, kann das Rätsel vermutlich weder lösen noch sinnvoll mathematisch einordnen und wird dadurch somit eher frustriert als zur Auseinandersetzung mit der neuen Thematik begeistert. Zum anderen

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besitzt der Einsatz zu einem späteren Zeitpunkt auch den Vorteil, dass die S&S die historischen Inhalte bereits zu einem modernen Begriff in Bezug setzen können und gerade durch diese Kontrastierung ein vertieftes Verständnis erlangen. Um ein Beispiel zu nennen: Auch prima facie fremdartig wirkende, historische Beispiele nicht-symbolischer Algebra können didaktisch gewinnbringend in den Unterricht einbezogen werden, wenn den S&S der Brückenschlag zur modernen Notationsweise gelingt. In diesem Falle winkt sogar ein doppelter Gewinn. Neben einer Vertiefung des mathematischen Verständnisses infolge des Transfers in einen anderen historischen Kontext wird auf diese Weise indirekt nämlich auch die Entwicklungsfähigkeit und Prozesshaftigkeit der Mathematik deutlich vor Augen geführt.

Allgemein muss jedoch an die Relativierungen zu Beginn dieses Abschnitts erinnert werden. Universale Rezepte für den Einsatz von Mathematikgeschichte im Unterricht gibt es nicht. Weder was den konkreten Inhalt anbelangt, noch in Bezug auf den optimalen Zeitpunkt ihres Einsatzes. Was in der einen Klasse gelingt, kann in einer anderen Klasse scheitern. Was in einer Gruppe als Einstieg in ein neues Thema in einem didaktischen Fiasko endet, kann in einer anderen Gruppe ein Thema nachhaltig motivieren. So ist es letztlich der Kreativität und dem didaktischen Fingerspitzengefühl der Lehrperson überlassen, mit Blick auf Alter, Potential und Hintergrund der Lernenden zu entscheiden, wann sich welche Art historischer Bezüge im Unterricht am besten einbauen lässt.

4.3.8 Produktive Nutzung von Randstunden

Die letzte hier angeführte Möglichkeit der Implementierung von Mathematikgeschichte in der Schule greift bereits eine praktische Herausforderung voraus, der sich eine historisch-mathematische Didaktik allgemein zu stellen hat: Das Stoff-Zeit-Problem. So werden Bestrebungen historische Bezüge vermehrt in den Unterricht einzubauen nur zu oft mit dem Keulenschlagargument abgetan, die Unterrichtszeit sei für die Überfülle an zu vermittelndem Stoff ohnehin schon äußerst knapp bemessen und der zusätzliche Einbezug von Mathematikgeschichte daher illusionär. Der eng gesteckte zeitliche Rahmen erlaube den Einbezug historischer Elemente schlichtweg nicht. Ende. Aus. Basta.

Man kann dieses Argument als von Grund auf verkehrt zurückweisen, wenn historische Bezüge im Unterricht nicht als zusätzlich zu vermittelnder Stoff, sondern vielmehr als didaktisches Stilmittel verstanden werden. Doch selbst wenn das Argument zuträfe, würde sich ein Ventil für Elemente aus der Mathematikgeschichte ergeben. So verstreichen jedes Schuljahr zahl-reiche Stunden didaktisch ungenützt. Genannt seien an dieser Stelle etwa plötzlich anfallende Supplierstunden oder die nicht gerade für ihre

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didaktische Produktivität berühmten letzten Stunden vor den Ferien (vgl. Richter 2011, 81). Hier besitzt gerade die Geschichte der Mathematik aufgrund ihres von der Norm abweichenden Zuganges ein großes Potential sinnvoller Gestaltung. Spannende Inhalte, die ansonsten durch den fachsystematischen Rost fallen würden, aber wie keine anderen die Faszination der Mathematik vermitteln können, finden so ihren Weg in den Unterricht. Sei es der Wettlauf zwischen Achill und der Schildkröte, der in einer Supplierstunde zum Anlass mathematischer Debatten wird. Oder sei es das Hilbert-Hotel, das die S&S mit Reflexionen über den Begriff des Unendlichen in die Ferien entlässt. Beide genannten Inhalte fallen aufgrund der Stoff-Zeit-Diskrepanz wohl nur allzu leicht unter den Tisch, können jedoch über den Umweg von Randstunden sinnvoll und produktiv in den Unterricht eingebunden werden.

4.4 Praktische Herausforderungen

Auch wenn es – wie im vorigen Abschnitt verdeutlicht – zahlreiche und vielfältige Möglichkeiten gibt, historische Bezüge im Mathematikunterricht herzustellen, sind auf dem Wege der Realisierung einer historisch-mathematischen Didaktik doch einige ernstzunehmende Hürden zu meistern. Historische Elemente stellen nicht einfach ein didaktisches Wundermittel dar, das mit technischer Präzision und naturgesetzlicher Notwendigkeit zu einer Verbesserung des Unterrichts führt. Darauf hat schon der britische Mathematikhistoriker John FAUVEL (1947–2001) aufmerksam gemacht:

History is not just some kind of lubricant or additive that comes in a tube and can just be poured in at the right time, like fabric conditioner into one‘s washing machine. Making use of history is hard for pupils, whose historical framework and sense of the past can be very erratic, if it exists at all; and it is hard for teachers – who have usually learned little or no mathematical history during their training, let alone received training on how to use history with their pupils (Fauvel 1991, 4).

Die Umsetzung einer historisch-mathematischen Didaktik stellt also sowohl die Schüler- als auch die Lehrerseite vor große praktische Herausforde-rungen. Der Gedanke einer problemlosen und automatischen Integration entpuppt sich darob als naiver Wunschtraum. Daher ist der folgende Abschnitt vier zentralen Hürden gewidmet, die einer historisch-mathematischen Didaktik im Wege stehen und für eine erfolgreiche Realisierung überwunden werden müssen.

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4.4.1 Stoff-Zeit-Problem

Eine er(n)ste Hürde für die Umsetzung einer historisch-mathematischen Didaktik stellt das bereits erwähnte Stoff-Zeit-Problem dar. Selbst ohne das Herstellen historischer Bezüge steht für die Fülle an zu bewältigendem Stoff nur relativ wenig Zeit zur Verfügung. Die Frage lautet daher: „How can a teacher incorporate the evolution of mathematics concepts and cover all the required curriculum in the short time that we have with students?“ (Liu 2003, 419). Oft wird die Geschichte der Mathematik von Lehrkräften so als weiteres Themengebiet gesehen, das innerhalb zeitlich ohnehin schon sehr enger Grenzen zusätzlich unterrichtet werden muss. In dieser Perspektive tut sich offenkundig ein Konflikt zum Lehrplan auf, der gewisse Inhalte verpflichtend vorschreibt. So wäre es bspw. nicht möglich, im Unterricht gänzlich auf die Diskussion und das Lösen quadratischer Gleichungen zu verzichten und die dadurch freiwerdende Zeit für einen verstärkten Einbezug historischer Elemente zu nützen. Gewisse Inhalte sind einfach verpflichtend in den Stein des Lehrplans gemeißelt, sodass bei Zeit-knappheit im Regelfall die Mathematikgeschichte der Erfüllung inhaltlicher Vorgaben geopfert wird. Da können noch so viele gute Gründe für das Herstellen historischer Bezüge sprechen. Wenn es zeitlich nicht möglich ist, ist es schlichtweg nicht umsetzbar. Der Wissenschaftshistoriker Michael FRIED bringt es auf den Punkt:

Mathematics curricula in secondary schools rarely leave room for additional subjects or for extended discussions on existing material. Teachers must complete a great number of topics in a very short time; they suffer the pressure of a quota system. It is not surprising, then, that teachers should resist introducing a program of history of mathematics despite its virtues (Fried 2001, 394).

Diese Hürde ist ernst zu nehmen, sie beruht jedoch auf falschen Voraussetzungen. So strebt eine historisch-mathematische Didaktik nicht danach, die Mathematikgeschichte neben anderen inhaltlichen Bereichen als zusätzliches Themengebiet im Unterricht zu etablieren, mit dem Effekt, dass quasi ein eigenes inhaltliches Kapitel „Mathematikgeschichte“ eingeführt wird. Salopp formuliert: Die Mathematikgeschichte ist kein Zusatzkapitel im Schulbuch. Vielmehr wird eine Änderung der Unterrichtskultur dahingehend angestrebt, dass historische Bezüge kontinuierlich in die Erarbeitung der vom Lehrplan vorgesehenen Bereiche einfließen. Dies kann – wie im letzten Abschnitt angeführt – auf vielfältige Weise geschehen, ohne dass dafür zusätzlich viel Zeit aufgewendet werden muss. Das Schildern einer kurzen Anekdote ist ebenso möglich wie eine biographische Kurz-information zu einer Mathematikerin, die Verwendung eines historischen Beispiels kann ebenso bereichernd sein wie die Eingliederung eines Theorems in die Zeitleiste der Klasse. Der Einbezug einiger weniger Elemente kann schon gewinnbringend sein, eine kleine Dosis

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Mathematikgeschichte bereits eine didaktisch große Wirkung erzielen. Anhand einer Metapher aus dem Bereich der Kulinarik verdeutlicht, ließe sich die Mathematikgeschichte in diesem integrativen Ansatz somit durchaus als didaktisches Salz der Unterrichtssuppe bezeichnen. Mehr dazu später noch.

Michael Fried bezeichnet diesen Ansatz als Strategy of Addition: Elemente aus der Geschichte der Mathematik werden einfach eingebunden, ohne den Unterricht dafür radikal verändern zu müssen (vgl. Fried 2001, 392). Anstatt die Mathematikgeschichte explizit als eigenständiges Kapitel zu themati-sieren, verfolgt dieser Ansatz vielmehr das Ziel, die Inhalte des Mathematik-unterrichts kontinuierlich durch historische Bezüge zu ergänzen. An einem Beispiel verdeutlicht, könnte diese Strategie etwa bedeuten, die Technik der quadratischen Ergänzung im Zuge des Lösens quadratischer Gleichungen auf gewöhnlich ahistorischem Wege einzuführen, dann jedoch auch durch Problemstellungen arabischer Mathematik in ihrer historischen Dimension aufzuzeigen (vgl. ebd., 393). Jedenfalls zeigt sich, dass das Stoff-Zeit-Problem nur dann einen unlösbaren gordischen Didaktikknoten darstellt, wenn die Mathematikgeschichte als eigenes, separates Themengebiet aufgefasst wird. Auf diese Weise ist aber weder der Mathematik noch ihrer Geschichte gedient. Wird die Geschichte der Mathematik jedoch vielmehr als methodisch-didaktisches Stilmittel zum Würzen klassischer Inhalte betrachtet, können die inhaltlichen Vorgaben des Lehrplans und das Aufzeigen ihrer historischen Tiefendimension sehr wohl unter einen zeitlichen Hut gebracht werden. Das Stoff-Zeit-Problem löst sich somit großteils auf, wenn dieser Wechsel der Perspektive in Bezug auf die Rolle der Mathematikgeschichte im Unterricht vollzogen wird.

4.4.2 Problem der Authentizität

Bereits an früherer Stelle dieser Arbeit zeigte sich eine weitere Herausforderung für einen historisch orientierten Mathematikunterricht, das Problem der Authentizität. Dabei soll dieses Problem gar nicht einmal auf philosophischer Ebene betrachtet werden. Aus dieser Perspektive stellt sich das Objektivitätsproblem der Geschichte insofern, als Geschichte – ein menschliches Artefakt – nicht auf dieselbe Weise objektiv zugänglich ist wie etwa ein Elektron oder ein Walross und daher unweigerlich subjektive Momente enthält (vgl. Zwenger 2013, 110 f.). Doch selbst wenn philo-sophisch naiv von einer objektiv fassbaren Geschichte ausgegangen wird, kann gegenüber einer historischen Didaktik der Einwand erhoben werden, dass sie aufgrund der inhärenten Unvereinbarkeit eines der modernen Mathematik verpflichteten Unterrichts und einer historisch redlichen Mathematikgeschichte schlichtweg nicht vernünftig realisiert werden

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könne. Die skeptischen Stimmen zu Beginn dieses Kapitels hallen noch immer mahnend nach.

Tatsächlich wird der Aspekt der Authentizität historischer Inhalte bei ihrer Verwendung im Unterricht oftmals nicht sonderlich beachtet, sodass Verzerrungen oder Verfälschungen in vielen Fällen achselzuckend in Kauf genommen werden. Dieser laxe Umgang mit geschichtlicher Präzision verwundert insbesondere bei der Mathematik als einer sich konstant ihrer Genauigkeit rühmenden Disziplin. Man-Keung SIU bringt es auf den Punkt:

When we make use of anecdotes we usually brush aside the problem of authenticity. It may be strange to watch mathematicians, who at other times pride themselves upon their insistence on preciseness, repeat without hesitation apocryphal anecdotes without boring one bit about their authenticity (Siu 2000, 4).

Dabei lassen sich auch gute Gründe für diesen nicht ganz strengen Umgang mit der Authentizität historischer Elemente anführen: So ist die Fremdartigkeit historischer Quellen in Bezug auf Sprache, Notation und kulturellen Kontext altersbedingt oft so hoch, dass diese an moderne Gegebenheiten angepasst werden müssen, um überhaupt produktiv im Unterricht eingesetzt werden zu können (vgl. Nickel 2013, 259). Denn welchen Zweck erfüllt eine Wahrung der Authentizität, wenn historische Elemente allein schon aufgrund ihrer äußerlichen Fremdartigkeit gar nicht richtig erschlossen werden können? Auch werden – wenn sich die mathematische Behandlung aus Gründen der Authentizität streng an den Originalkontext hält – die Rechnungen schnell sehr lang und die Argumente sehr mühsam, zumal das ganze Arsenal moderner Methoden nicht zur Verfügung steht (vgl. Behr 1996, 32). Man denke nur, wie mühsam sich die Berechnung der Ableitung selbst einer elementaren Polynomfunktion mittels infinitesimaler Inkremente darstellt, wenn sämtliche Ableitungs-regeln nicht verwendet werden dürfen. So ist es in vielen Fällen schlichtweg aus Gründen der Lesbarkeit und Verständlichkeit erforderlich, historische Quellen zu glätten oder anachronistisch aufzubereiten, indem historische Inhalte in moderner Notation formuliert werden. In den Augen der Kritiker feiert gerade dadurch jedoch die historiographisch überaus problematische Whig history in der Mathematik fröhliche Urständ.

Ein Beispiel für diese anachronistische Aufbereitung historischer Quellentexte und die damit einhergehende Verzerrung der Mathematik-geschichte ist u.a. der oftmalige Modus der Einbindung Euklid‘scher Beweise in den Mathematikunterricht (vgl. Weiss-Pidstrygach 2013, 292). So wird etwa der Beweis der Irrationalität von √ oft, um nicht radikal von vertrauten Lern- und Lesegewohnheiten abzuweichen, in das Gewand moderner Notation und Terminologie gekleidet. Eine Aufschlüsselung der einzelnen Beweisschritte unter Zuhilfenahme moderner Algebra weicht jedoch substantiell von der geometrischen Zugangsweise Euklids zur

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Kommensurabilität von Strecken ab (vgl. ebd., 292). Wird der Beweis algebraisch geführt, wird damit automatisch sein ursprünglich geometrischer Kontext überdeckt und verdrängt. Eine derartige Auf-bereitung stellt daher eine nicht unwesentliche Verzerrung historischer Gegebenheiten zum Zwecke besserer Lesbarkeit und Verständlichkeit dar.

Neben der Zielsetzung besserer Verständlichkeit und höherer Kompatibilität mit modernen Lesegewohnheiten wird der laxe Umgang mit historischer Authentizität auch noch aus anderen Quellen gespeist. So werden Anekdoten oft aus literarischen Gründen inhaltlich ausgeschmückt oder historische Entwicklungen übervereinfacht dargestellt. Der Kritikpunkt ist jedoch in allen Fällen derselbe: Die Geschichte der Mathematik wird durch diese Anpassungen und Ausschmückungen – aus welchen Gründen sie auch immer erfolgen mögen – instrumentalisiert, verzerrt und letzten Endes verfälscht. Der laxe Umgang mit historischer Präzision wird zum Sargnagel der Authentizität. Damit sieht sich eine historisch-mathematische Didaktik, die um eine Adaption historischer Inhalte an moderne Verhältnisse kaum herum kann, mit dem schwerwiegenden Vorwurf der Geschichtsverfälschung oder zumindest bewusster Geschichtsverzerrung konfrontiert.

Ist damit dem Projekt einer historisch-mathematischen Didaktik die Grundlage entzogen? Der Vorwurf der Geschichtsverzerrung scheint zumindest nicht ganz von der Hand zu weisen. Tatsächlich ist bei vielen Implementierungen historischer Inhalte in den Unterricht die historische Präzision nicht gerade die oberste Priorität. Nun stellt jedoch nicht die historische Präzision, sondern das mathematische Gedankengut das Herzstück des Mathematikunterrichts dar. Der Mathematikunterricht ist keine Geschichtsvorlesung. Insofern der Geschichte in der Mathematik daher eher die hilfswissenschaftliche Rolle eines didaktischen Katalysators zur besseren Zugänglichkeit diverser Inhalte zukommt, scheint es plausibel zu argumentieren, dass ein Mathematikdidaktiker nicht im selben Maße an die strengen Standards historiographischer Wissenschaftlichkeit gebunden ist wie eine professionelle Historikerin (vgl. Nickel 2013, 255). Damit soll einer historisch-mathematischen Didaktik kein Persilschein zur unbe-grenzten Geschichtsverfälschung ausgestellt werden. Natürlich stellt historische Präzision eine wichtige Richtschnur im Einbezug geschichtlicher Inhalte dar und sollten Verfälschungen weitestgehend vermieden werden. Geschichtliche Fakten dürfen nicht allein aus didaktischer Motivation heraus irgendwie wild umgekrempelt werden. Im Falle anachronistischer Aufbereitungen zum Zwecke besserer Lesbarkeit oder literarischer Ausschmückungen aus Gründen höherer Verständlichkeit heiligt jedoch der didaktische Zweck die historiographisch laxen Mittel. Schließlich geht es primär nicht um historische Präzision, sondern um den Nachvollzug und die kompetente Aneignung mathematischer Ideen. Mathematikgeschichte

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und Mathematikunterricht erweisen sich damit nur dann als inhärent unvereinbar, wenn auch für den Einbezug historischer Elemente in den Mathematikunterricht dieselben fachwissenschaftlichen Standards wie für die Historie selbst gelten. Wie weit dies jedoch sinnvoll und angemessen ist, darf und muss stark angezweifelt werden.

4.4.3 Mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte

Eine dritte Hürde auf dem Weg der Realisation einer historisch-mathematischen Didaktik stellt die oft mangelhafte Ausbildung der Lehrkräfte in Bezug auf die Geschichte ihres eigenen Faches dar. Vielfach fehlt es bei den L&L selbst an den nötigen mathematikhistorischen Kenntnissen, sodass sich diese schlicht und einfach nicht für einen Einbezug historischer Elemente in ihren Unterricht gerüstet sehen (vgl. Kronfellner 2002, 28). Das damit verbundene Problem ist offensichtlich: Wenn die Lehrpersonen selbst keinen Bezug zur Mathematikgeschichte haben, ihnen das entsprechende Wissen um die Herausbildung mathematischer Konzepte fehlt und sie sich in den oft wirren Entwicklungssträngen nicht orientieren können, dann ist eine fundamentale Zutat für eine historisch-mathematische Didaktik nicht gegeben. Elemente aus der Mathematik-geschichte didaktisch gewinnbringend in den Unterricht einbinden kann offensichtlich nur jemand, der auch über das nötige entsprechende Wissen verfügt. Ein angemessenes Wissensfundament bei den Lehrpersonen stellt somit eine conditio sine qua non eines historisch orientierten Mathematik-unterrichts dar.

Nun besteht eine Möglichkeit der Bewältigung dieser Hürde sicherlich im stillen Vertrauen darauf, dass Lehrpersonen sich in Eigeninitiative das nötige historische Wissen zur Einbindung der Mathematikgeschichte in den Unterricht selbst aneignen. Zielführender ist es jedoch sicher, angehende L&L schon im Zuge ihrer universitären Ausbildung mit Inhalten aus der Geschichte der Mathematik zu konfrontieren, die Faszination anhand der Beschäftigung mit geschichtlichen Elementen direkt erlebbar zu machen und ihnen das notwendige historische Rüstzeug mit auf ihren pädagogischen Weg zu geben. Wer eine historisch orientierte Lehre am eigenen Körper erlebt, so der Grundgedanke, kann diese auch selbst besser ausüben. Der Weg einer verstärkten Implementierung historischer Inhalte in der Schule führt damit auch über die Universität. Solange L&L nicht selbst durch eigene Erfahrungen mit Inhalten aus der Mathematikgeschichte vom Mehrwert und didaktischen Potential eines historisch gewürzten Mathematikunterrichts überzeugt sind, ist eine historisch-mathematische Didaktik von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dementsprechend wichtig ist der Einbezug der universitären Ausbildung.

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Wiewohl die universitäre Ausbildung angehender L&L somit eine entscheidende Rolle in der praktischen Realisation einer historisch-mathematischen Didaktik spielt, darf ihr dennoch nicht die gesamte Last der Umsetzung aufgebürdet werden. Die Universität kann in dieser Hinsicht vielleicht wichtige Voraussetzungen schaffen, Motivation wecken und damit insgesamt einen fruchtbaren Untergrund bereiten, für den direkten Einbezug historischer Elemente in den Unterricht sind aber immer noch die L&L selbst verantwortlich. Selbst die beste universitäre Ausbildung in dieser Hinsicht ist kein Garant für eine gelingende schulische Umsetzung. Und auch ein prall gefüllter inhaltlicher Rucksack mit Elementen aus der Geschichte und Philosophie der Mathematik, der angehenden Lehrpersonen im Zuge ihrer Ausbildung mitgegeben werden mag, macht das Erfordernis individueller Weiterbildung und eigenständiger Aufarbeitung von historischem Material für die Zwecke des Unterrichts nicht obsolet. Um die selbstständige Auseinandersetzung mit der Geschichte der Mathematik führt in der Praxis kein Weg herum. Daher seien im Folgenden drei inhaltliche Quellen angeführt, die im Dienst stehende Lehrkräfte für den Einbezug von Elementen aus der Mathematikgeschichte in ihren Unterricht anzapfen können. Diese Quellen sind dabei nach dem Kriterium steigender Zugänglichkeit für L&L geordnet.

i. Fachbücher zur Geschichte der Mathematik

Zur Mathematikgeschichte gibt es bereits eine große Sammlung an einschlägigen Fachbüchern, die sich auf geschichtswissenschaftlicher Ebene mit der Geschichte der Mathematik befassen. Da diese Werke keinen pädagogischen Fokus haben, sind sie weniger für den direkten Einsatz im Unterricht, als vielmehr für den Erwerb von historischem Hintergrund-wissen geeignet. Exemplarisch sei mit „6.000 Jahre Mathematik. Eine kulturgeschichtliche Zeitreise“ das zweibändige Alterswerk des deutschen Mathematikhistorikers Hans Wußing genannt, in welchem die gesamte Geschichte der Mathematik, von den Anfängen bis zur Gegenwart, detailliert behandelt wird (vgl. Wußing 2008; Wußing 2009). In dieselbe Kategorie fällt auch das Buch „Geschichte der Mathematik für den Schulunterricht“ von Hans Kaiser und Wilfried Nöbauer, welches jedoch speziell jene Inhalte aus der Geschichte der Mathematik behandelt, die auch für den Schulunterricht von Relevanz sind (vgl. Kaiser/Nöbauer 1998).

ii. Didaktische Publikationen zur Geschichte der Mathematik

Im Gegensatz zu rein historisch ausgerichteten Fachbüchern sind didaktische Publikationen zur Geschichte der Mathematik bereits speziell auf den Schulunterricht bezogen. Dementsprechend sind die darin enthaltenen Elemente aus der Mathematikgeschichte oft schon für einen

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Einsatz im Unterricht aufbereitet, der damit einhergehende Aufwand für L&L ist somit kleiner. Als Beispiel sei mit „mathematik lehren“ eine Fachzeitschrift für den Mathematikunterricht in der Sekundarstufe I und II genannt, deren 91. Heft unter dem Titel „Mathematik historisch verstehen“ speziell der Geschichte der Mathematik gewidmet ist. Nach Schulstufen geordnet finden sich darin u.a. didaktisch aufbereitete historische Materialien zur Rechenschule des Adam Ries, zur astronomischen Entfernungsbestimmung des Aristarch von Samos und zur Wahrscheinlich-keitsrechnung bei Blaise Pascal. Ebenso setzt sich Heft Nr. 151 derselben Fachzeitschrift mit der Geschichte der Mathematik auseinander. Materialien zur Geschichte der Mathematik sind damit – auch in bereits für den Unterricht aufbereiteter Form – vorhanden. Allerdings ist das generelle Problem zu bemerken, dass didaktische Publikationen allgemein kaum Eingang in den Unterrichtsalltag finden (vgl. Kronfellner 2002, 28).

iii. Historische Inhalte in Schulbüchern

Die letzte hier angeführte Quelle an historischem Material für die Gestaltung des Unterrichts stellen schließlich die im Unterricht verwendeten Schulbücher selbst dar, die in immer stärkerem Maße auch Bezüge aus der Geschichte der Mathematik enthalten. Für die Unterrichtspraxis ist diese inhaltliche Quelle wohl nicht zuletzt darum bedeutsam, weil sie für die L&L am zugänglichsten ist und am leichtesten in den Unterricht integriert werden kann. Mit anderen Worten: Die Barrierefreiheit von Schulbüchern ist weit größer als im Falle von Fachbüchern oder didaktischen Publikationen, die ein weit höheres Maß an selbstständiger Auseinander-setzung und individueller Aufbereitung erfordern. Exemplarisch sei diese inhaltliche Quelle nun am Schulbuch „Mathematik verstehen 7“ skizziert (vgl. Malle et al. 2011):

In gleich mehrerer Hinsicht finden sich im Schulbuch „Mathematik verstehen 7“ historische Inhalte. Auffallend ist, dass gewissen mathema-tischen Themen (Kegelschnitte, Zahlenbereiche, Differentialrechnung) eigene historische Kapitel gewidmet sind, die den fachlichen Inhalt zusätzlich aus einer geschichtlichen Perspektive beleuchten und auch Verknüpfungen zu einzelnen Aufgaben im Buch herstellen. Die Geschichte der Mathematik ist jedoch auch in den mathematischen Aufbau des Buches selbst verwoben: So wird etwa das Kapitel der komplexen Zahlen mit dem historischen Cardano-Problem eingeleitet (vgl. ebd., 230). An ent-sprechenden Stellen sind in den Text auch immer wieder Lebensdaten und Abbildungen wichtiger Mathematiker eingestreut, so z.B. als historische Kontextualisierung des Pascal‘schen Dreiecks oder des Bernoulli-Versuches (vgl. ebd., 206). Als letzter Punkt seien noch eigene historische Vertiefungen erwähnt, die den eigentlichen Schulstoff zwar übersteigen, aber zusätzliche

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Einblicke und Ausblicke gewähren. So findet sich z.B. im Anschluss an die Diskussion quadratischer Gleichungen ein historischer Exkurs in die Suche nach einer Lösungsformel für kubische Gleichungen, der auch den Zwist zwischen Tartaglia und Cardano umfasst (vgl. ebd., 235).

Unterm Strich sind in diesem Schulbuch damit zahlreiche und vielfältige Elemente aus der Geschichte der Mathematik enthalten, die von L&L unkompliziert zum historischen Würzen des eigenen Unterrichts verwendet werden können. Gerade aufgrund dieser hohen Zugänglichkeit, die keine aufwändige Suche nach geeignetem Material erforderlich macht, stellen Schulbücher insgesamt wohl eine überaus bedeutsame inhaltliche Ressource für eine historisch-mathematische Didaktik dar, deren Beitrag im Meistern der Herausforderung mangelnder Ausbildung der Lehrkräfte nicht unterschätzt werden darf.

4.4.4 Einbezug in den Prüfungsbetrieb

Eine letzte praktische Herausforderung für die Umsetzung einer historisch-mathematischen Didaktik, die an dieser Stelle erwähnt werden soll, ist die Eingliederung in den Prüfungsbetrieb bzw. in die Leistungsbeurteilung. Konkret lautet die Frage, ob historische Inhalte auch prüfungsrelevant sein sollen? Und wenn ja, wie? Diese Herausforderung erweist sich bei näherer Betrachtung regelrecht als harte Nuss, stellt sie doch ein didaktisches Dilemma dar, deren beide Alternativen zum Teil höchst unbefriedigend sind.

So konvertiert zum einen eine Eingliederung der Mathematikgeschichte in den normalen Prüfungsbetrieb diese in einen eigenen Lerninhalt, der mit kalkülhaften Fragen ähnlich einem Geschichtetest abgeprüft würde. In welcher Stadt wurde Gauß geboren? Welcher Mathematiker löste das Königsberger Brückenproblem? Auf welchen Mathematiker geht die Verwendung des Integralzeichens zurück? Diese Fragen zeigen schon, dass der eigentliche Sinn und Zweck historischer Bezüge mit solchen Fragen nicht aufgefangen werden kann oder gar verloren geht. So stehen nicht mehr mathematische Ideen, sondern vielmehr historische Fakten im Zentrum. Weit schwerer als diese inhaltliche Themenverfehlung wiegt jedoch die lernpsychologisch suboptimale Konsequenz, dass das große Potential der Mathematikgeschichte zu Faszination und intrinsischer Motivation durch einen solchen Zugang leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird, da die S&S diese in erster Linie wohl nur mehr als zusätzliche Bürde und weiteren zu paukenden Stoff wahrnehmen würden. Das didaktische Salz historischer Bezüge droht auf diese Weise fahl zu werden und seine Wirkung zum Würzen des Unterrichts zu verlieren. Dies ist die erste Seite des Dilemmas.

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Zum anderen drohen historische Bezüge, wenn nicht in die Leistungsbeurteilung integriert, automatisch als unwichtig und unwesent-lich abgestempelt zu werden. Schließlich spiegeln Prüfungsbetrieb und Leistungsbeurteilung auch die Schwerpunktsetzungen des Unterrichts wider. Wichtig und wesentlich werden Inhalte gerade erst dadurch, dass sie auch in den Prüfungsbetrieb einfließen. Diesen Punkt hat wiederum besonders der Mathematiker Manfred KRONFELLNER betont: Eine befriedigende Umsetzung einer historisch-mathematischen Didaktik kann nur durch deren Integration in den Prüfungsbetrieb gelingen. Ansonsten werden historische Bezüge gar als didaktisch kontraproduktives Ab-schweifen vom Wesentlichen oder als Vernachlässigung des Übens wahrgenommen (vgl. Kronfellner 2002, 29). Vielmehr hätten die S&S sogar ein Recht darauf, dass historische Elemente – ähnlich wie in der Physik – in die Leistungsbeurteilung einfließen und ihre Lernleistung auch in Form einer Prüfung honoriert wird. Sonst drohe der Geschichte der Mathematik ein ähnliches Schicksal wie gelegentlich im Unterricht behandelten Beweisen, deren meist vorausgeschickter Status als nicht prüfungsrelevant die S&S eher in den Zustand eines kognitiven Stand-By versetze als zu aktiver Auseinandersetzung motiviere (vgl. Kronfellner 1997, 90). Dies ist die zweite Seite des Dilemmas.

Vor dieser Hürde stehen nun alle Bestrebungen, die Geschichte der Mathematik verstärkt in den Unterricht einzubauen. Sowohl die weitgehende Eingliederung der Mathematikgeschichte in den Prüfungs-betrieb als auch ein vollständiger Verzicht darauf sind zum Teil mit bitteren Wermutstropfen verbunden. Auch wenn eine Auflösung dieser dilemma-tischen Situation zur Gänze nicht möglich ist, sei doch eine aussichtsreiche Zwischenlösung angedeutet. Dieser goldene Mittelweg besteht in der Integration einiger historischer Elemente in den Prüfungsbetrieb, ohne jedoch zwanghaft sämtliche Aspekte der Mathematikgeschichte in die Leistungsbeurteilung hineinpressen zu müssen. So gibt es einige Formen des Historischen, die sich sehr gut in den Prüfungsbetrieb eingliedern lassen: Man denke nur an historische Aufgabenstellungen, die zur Überprüfung der Transferleistung erlernten Wissens in fremde Kontexte ebenso in Prüfungen eingebaut werden können wie Interpretationsfragen zu einem historischen Thema im Rahmen einer Typ-2-Aufgabe. Andere Formen der Implementierung eignen sich dagegen überhaupt nicht. Bevor etwa das Kurzzeitgedächtnis der S&S vor Prüfungen mit positivistischen historischen Fakten über Biographie, Wirkstätten und Vermächtnis berühmter Persönlichkeiten aus der Mathematikgeschichte überfrachtet und damit der Fokus vom mathematisch Wesentlichen abgelenkt wird, sei wohl besser auf diese Form der Beurteilung historischen Wissens verzichtet. Als Fazit lässt sich somit festhalten, dass ein Einbezug historischer Elemente in den Prüfungsbetrieb zwar sinnvoll sein kann, die konkrete Ausführung

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jedoch nicht Sinn und Zweck einer historisch-mathematischen Didaktik konterkarieren darf.

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V HISTORISCH-MATHEMATISCHE DIDAKTIK: EMPIRISCHE BEFUNDE

Im letzten Kapitel wurden zahlreiche theoretische Aspekte einer historisch-mathematischen Didaktik erörtert. Hoffnungen und Erwartungen, die plausibel mit dem verstärkten Einbezug historischer Elemente in den Unterricht verbunden werden, kamen dabei ebenso zur Sprache wie vielversprechende Möglichkeiten, die Mathematikgeschichte in das Unter-richtsgeschehen zu integrieren. Damit sind schon einige wichtige Orientierungspunkte gegeben. Nun stellt sich jedoch eine Konzeption in der Theorie oft schlüssiger dar, als sie in schulischer Wirklichkeit ist. So manches solide wirkende Theoriegebäude entpuppt sich im Zuge seiner Umsetzung gar als abgehobenes Luftschloss.

Daher ist auch für das Konzept einer historisch orientierten Mathematikdidaktik die Frage nach der Praxis zu stellen, die noch immer den zentralen Prüfstein aller didaktischen Theorien darstellt. Spiegeln sich die hohen Erwartungen auch in der schulischen Praxis wider? Bewirken die zahlreichen Möglichkeiten der Implementierung bei den S&S tatsächlich ein geändertes Verhältnis zur Mathematik? Und trägt der Einbezug historischer Elemente allgemein praktische, wie auch immer geartete Früchte? Diese Frage nach der Praxis ist von zentraler Bedeutung, hängt daran doch gewissermaßen das gesamte Projekt einer historisch-mathematischen Didaktik. So hat bereits der renommierte Mathematikhistoriker John FAUVEL unmissverständlich darauf hingewiesen, dass ohne entsprechende praktische Manifestationen alle in noch so bunten Farben gemalten Hoffnungen und Erwartungen schlichtweg verpuffen: „Without a demonstrable concrete payoff in the lives of teachers and pupils, it is all hot air“ (Fauvel 1991, 5). Ein didaktisches Konzept, welches den Praxistest nicht besteht – und mag es auf theoretischer Ebene mit noch so schönen Wort-kringeln ausgeschmückt sein –, ist nichts wert.

Darum sei das Konzept einer historisch orientierten Mathematikdidaktik nach der theoretischen Perspektive in diesem Kapitel durch die praktisch-empirische Linse betrachtet. Im Brennpunkt der Betrachtung steht dabei sowohl die Frage, welche Schlüsse sich aus empirischer Sicht bereits über diese anvisierte Neuorientierung des Mathematikunterrichts ziehen lassen, als auch die Frage, in welchen Punkten noch ein Desiderat empirischer Forschung besteht.

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5.1 Überblick über einige empirische Ergebnisse

Gleich vorweg: Ja, es gibt sie. Empirische Studien über die Folgen der Integration historischer Elemente in den Mathematikunterricht sind kein blinder Forschungsfleck. So geht etwa aus einer in Dänemark durchgeführten empirischen Untersuchung hervor, dass die S&S über die Beschäftigung mit Inhalten aus der Geschichte der Mathematik zur Einnahme einer in den fachspezifischen Inhalten verwurzelten Meta-perspektive geführt werden konnten (vgl. Jankvist 2009, 92 f.). Auch bestätigen diverse Befragungen von Lernenden die an eine historisch-mathematische Didaktik geknüpften Hoffnungen (vgl. Kronfellner 2002, 24). Es gibt also durchaus bereits einzelne empirische Befunde zur Wirksamkeit und Effektivität einer historisch orientierten Mathematikdidaktik.

Weit auffälliger als die tatsächlichen Ergebnisse dieser vereinzelten Studien ist jedoch der generelle Mangel an empirischen Befunden. Diese merkliche Scheu vor der Praxis manifestiert sich gleich in doppelter Hinsicht, schulisch wie akademisch. So zeigen Untersuchungen auf schulischer Ebene ganz deutlich, dass historische Inhalte kaum ihren Weg in die gelebte Unterrichtspraxis finden. Eine im Raum Berlin durchgeführte Untersuchung etwa kam zu dem ernüchternden Ergebnis, dass über einen Zeitraum von mehr als 500 beobachteten Unterrichtsstunden in nur drei Einheiten historische Angaben gemacht wurden (vgl. Richter 2011, 81). Eine Befragung von Lehrkräften in Australien förderte wiederum zu Tage, dass zwar das Einbinden historischer Sachverhalte nahezu von allen L&L als sinnvoll und wertvoll eingestuft wurde, dennoch aber nur die wenigsten im Unterricht aktiv davon Gebrauch machten (vgl. ebd., 81). Doch man muss gar nicht so weit gehen: Ganz allgemein sticht die paradoxe Situation ins Auge, dass sich viele Lehrpersonen zwar für die Geschichte der Mathematik interessieren und auch begeistern können, eine Umsetzung dieses Themas in die schulische Praxis jedoch kaum gelingt (vgl. Kronfellner 2002, 27).

Doch nicht nur auf schulischer, sondern auch auf akademischer Ebene ist dieser Praxismangel bei gleichzeitiger Affinität zur Theorie deutlich spürbar. So hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zwar eine beachtliche Menge an Literatur zur historisch-mathematischen Didaktik angesammelt, nur ein sehr geringer Prozentsatz davon hat jedoch empirisch überprüfbare Fragestellungen zum Gegenstand (vgl. Jankvist 2009, 68). Der Großteil der geistigen Elaborate dreht sich vielmehr auf theoretisch-propagandistischer Ebene um die Frage, warum historische Bezüge in den Unterricht eingebaut werden sollen und wie diese Integration am besten gelingen kann. Diese Debatte wird jedoch nicht auf empirischem Terrain ausgetragen, mit der Konsequenz, dass die tatsächlichen Wirkungen einer historisch-mathematischen Didaktik auf das Lernverhalten der S&S kaum systematisch erforscht sind (vgl. Glaubitz 2007, 260). Und wenn gelegentlich

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ein Erfahrungsbezug angeführt wird, dann in den meisten Fällen nicht in systematisch-wissenschaftlich-verallgemeinerbarer Form, sondern aus der Perspektive einer Einzelperson als individuelle Bezeugung der didaktischen Effektivität mathematikgeschichtlicher Bezüge im Unterricht. Diese persön-lichen Statements mögen interessant und aufschlussreich sein, als solides empirisches Fundament können sie jedoch nicht dienen. Einzelne Er-fahrungsaussagen, die rein auf persönlichen Erlebnissen im Einbezug historischer Elemente in den Unterricht basieren, ergeben auch in Summe kein wissenschaftlich reliables Bild. Dies gilt auch für die persönlich gefärbte Bekundung des Mathematikers Man-Keung SIU über den Mehrwert des Einbindens historischer Elemente in den Unterricht:

I can attest to the benefits brought by the use of history of mathematics through my personal experience. The study of history of mathematics, though it does not make me a better mathematician, does make me a happier man who is ready to appreciate the multi-dimensional splendour of the discipline and its relationship to other cultural endeavours (Siu 2000, 8).

Die systematische empirische Erforschung einer historisch-mathematischen Didaktik steht also noch in ihren Anfängen. Der Weg hin zu einer diesbezüglichen soliden empirischen Wissensbasis ist daher durchaus noch weit. Dies liegt zum einen – wie bereits gesehen – daran, dass der Großteil der Literatur sich in der Sphäre des Theoretischen erschöpft und die meisten Erfahrungsbezüge auf rein individuell-persönlicher Ebene angesiedelt sind. Ein anderer wesentlicher Grund für den eklatanten Mangel an gesicherter, systematisch-empirischer Erkenntnis besteht jedoch auch darin, dass zahlreiche vorgeblich empirische Studien allein schon aufgrund ihres Designs gar nicht in der Lage sind, eine solide Aussage zu treffen. Dies sei an zwei Beispielen verdeutlicht: So hinkt das experimentelle Design einer dänischen empirischen Studie zum Einsatz mathematikhistorischer Elemente in dem zentralen Punkt, dass es neben der Experimentalgruppe gar keine Kontrollgruppe gibt (vgl. Jankvist 2009). Etwaige Effekte des Einbindens geschichtlicher Bezüge auf das Lernverhalten der S&S lassen sich daher bereits von vornherein nicht auf den historisch-mathematischen Unterrichtsstil zurückführen. Mit der Vergleichsgruppe fehlt dem Design eine wesentliche Zutat, ohne der sich prinzipiell keine solide, wissenschaft-lich redliche Aussage treffen lässt.

Eine weitere Studie aus Italien, welche die Effektivität des Einsatzes mathematikgeschichtlicher Elemente im Unterricht empirisch zu unter-suchen vorgibt (vgl. Bagni 2000), erfüllt zwar mit der Betrachtung einer Experimental- und einer Kontrollgruppe die Grundlagen einer empirisch-wissenschaftlichen Studie, disqualifiziert sich jedoch in anderer Hinsicht um eine zuverlässige Aussage. So wird der historische Input der Experimental-gruppe mehr oder weniger auf das deskriptive Anführen einer bio-graphischen Information im Zuge der Aufgabenstellung reduziert (vgl. ebd.,

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227). Andere historische Facetten werden etwa durch die Verwendung einer modernen Symbolik und Notationsweise völlig eliminiert. Die Geschichte der Mathematik wird im Zuge dessen als positivistischer Wissensinhalt präsentiert, von einer lebendigen Erfahrung mit der historischen Evolution mathematischer Konzepte kann nicht im Geringsten die Rede sein. Auch diese Studie stellt damit allein schon aufgrund ihres Designs eine unzureichende Ausgangslage für die Untersuchung der didaktischen Effektivität mathematikgeschichtlicher Elemente dar. Was hier untersucht wird, ist nicht die Effektivität historischer Bezüge im Unterricht, sondern bestenfalls die Effektivität des Anführens biographischer Kurzinforma-tionen in einer letztlich modernen Aufgabenstellung. Dass deren Auswirkung auf das mathematische Verständnis, wie von der Studie untersucht, innerhalb eher enger Grenzen gesteckt ist, dürfte nicht weiter überraschen. Ein Ziehen weitreichender Schlüsse aus dieser Studie hat daher wohl mehr mit Kaffeesudleserei als mit seriöser wissenschaftlicher Datenauswertung zu tun.

Abschließend sei an dieser Stelle noch eine wichtige relativierende Bemerkung angeführt. So wurde bis jetzt immer mehr oder weniger selbstverständlich von der Effektivität und Effizienz eines Einbeziehens historischer Elemente in den Unterricht gesprochen. Ein kritischer Blick zeigt jedoch deutlich, dass diese Begriffe bei weitem nicht so selbst-verständlich sind, wie sie prima facie scheinen mögen. Je nachdem, welche Erwartungen an historisch orientierte Unterrichtsinterventionen heran-getragen werden, wird darunter eine eher kurzfristige Leistungsänderung wie z.B. ein erfolgreiches Abschneiden bei einem Test oder aber eine eher längerfristige Einstellungsänderung in Bezug auf die Mathematik als Disziplin verstanden werden (vgl. Liu 2003, 420).

Anhand einer Unterscheidung des dänischen Mathematikdidaktikers Uffe Thomas JANKVIST lässt sich dieser relativierende Gedanke noch weiter präzisieren. Jankvist unterscheidet zwei Verständnisse des Einsatzes von Mathematikgeschichte im Unterricht, history as a tool auf der einen und history as a goal auf der anderen Seite (vgl. Jankvist 2009, 69). Je nachdem, welches Verständnis dem Einsatz historischer Elemente zugrunde liegt, fällt auch die Bewertung der Effektivität unterschiedlich aus. Wird Mathematik-geschichte entsprechend von history as a tool primär als ein didaktisches Werkzeug zum Erreichen genuin mathematischer Ziele betrachtet, ist das Abschneiden bei klassischen mathematischen Leistungstests der zentrale Gradmesser für Effizienz und Effektivität. Eine historisch-mathematische Didaktik ist unter diesem Blickwinkel dann effektiv, wenn die S&S dadurch ein bestimmtes mathematisches Gebiet besser verstehen. Wenn – um ein Beispiel zu nennen – die Methode der quadratischen Ergänzung dadurch besser verstanden wird und kompetenter ausgeübt werden kann. Wird Mathematikgeschichte hingegen entsprechend von history as a goal

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vorrangig als eigenständiges, im Unterricht zu erreichendes Ziel betrachtet, sind klassische Leistungstests als Gradmesser der Effektivität eher unbedeutend. In diesem Verständnis ist der Einbezug historischer Elemente vielmehr dann effektiv, wenn die Lernenden dadurch zu einem besseren Verständnis und adäquateren Bild geführt werden, wie sich die Mathematik als Disziplin im Laufe der Zeit herausgebildet hat. Wenn – um im genannten Beispielskontext zu bleiben – die S&S die algebraische Strategie der quadratischen Ergänzung mit ihren geometrischen Wurzeln beim persischen Mathematiker AL-KHWARIZMI (siehe HISTOMATH-BOX XI) in Verbindung setzen können.

Je nach zugrunde liegendem Verständnis der Rolle von Mathematik-geschichte überhaupt ergeben sich damit unterschiedliche Interpretationen von Effektivität. Welche davon die für den Mathematikunterricht angemessenste ist, stellt wiederum eine andere Frage dar, die an dieser Stelle jedoch nicht aufgegriffen wird. Hier sollte nur darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der Effektivität keineswegs unkritisch als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf und vielmehr ein breites Interpretations-spektrum eröffnet. Dies zu bedenken ist besonders auch aus dem Grund bedeutend, da die Bewertung der Effektivität – die aus verschiedenen Perspektiven ganz unterschiedlich ausfallen kann – letztlich über Sein oder Nicht-Sein einer historisch-mathematischen Didaktik mitentscheidet.

HISTOMATH-BOX XI

Im Bagdad des frühen 9. Jahrhunderts nach Christus wurde das „Haus der Weisheit“ ins Leben gerufen. Einer der ersten Gelehrten, die an dieser Stelle wirkten, war Muhammad ibn Musa al-Khwarizmi, der von großem Einfluss für die spätere mathematische Entwicklung – insbesondere auch in Europa – werden sollte. Sein mathematisches Hauptwerk ist die in arabischer Sprache geschriebene Abhandlung al-Kitab al-muhtasar fi hisab al-jabr wa-l-muqabala, in deutscher Übersetzung: „Ein kurz gefasstes Buch über die Rechenverfahren durch Ergänzen und Ausgleichen“. Explizites Ziel des Buches ist die praktische Hilfestellung bei Problemen des täglichen Lebens, u.a. beim komplizierten islamischen Erbrecht. In dieser Abhandlung stellt al-Khwarizmi in verbaler Formulierung mehrere Typen quadratischer Gleichungen auf, die er gesondert untersucht. Modern ausgedrückt handelt es sich dabei um folgende Gleichungstypen:

i.) = ii.) = iii.) =

iv.) + = v.) + = vi.) + =

Sämtliche Koeffizienten , , werden dabei als positiv angekommen, auch sind nur positive Lösungen zugelassen. Für alle sechs

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Gleichungstypen gibt al-Khwarizmi nun (mittels der im Titel seines Werkes genannten Methoden des Ergänzens und Ausgleichens) geome-trische Lösungsverfahren an, die stets zum Ziel führen. Darin hat auch der Begriff der Ergänzung auf das vollständige Quadrat seine historischen Wurzeln. Ebenso von historischem Interesse ist, dass al-Khwarizmi für den Gleichungstyp iv.) in seiner reduzierten Form + = bereits – natürlich in rein verbaler Formulierung – die Lösungsformel angibt:

= − + √ +

Da nur positive Lösungen zugelassen wurden, gibt diese Formel die negative Lösung der quadratischen Gleichung auch nicht wider. Doch nicht nur in mathematischer Hinsicht hat al-Khwarizmi der Mathematik nachhaltig seinen Stempel aufgedrückt, auch sprachlich ist sein Vermächtnis höchst präsent: So entwickelte sich aus dem Begriff al-jabr aus dem Titel seines Hauptwerkes schließlich die Bezeichnung Algebra für das allgemeine Lösen von Gleichungen. Und der Name al-Khwarizmis selbst wandelte sich über verwickelte Wege zum mathematischen Fachterminus Algorithmus (vgl. Wußing 2008, 237 ff.).

5.2 Darstellung einer empirischen Vergleichsstudie

Im letzten Abschnitt wurde bereits der Umstand deutlich, dass gesicherte empirische Befunde über die tatsächliche Wirkung mathematikhistorischer Unterrichtsinterventionen äußerst dünn gesät sind. Der Weg hin zu einer wissenschaftlich-systematischen Erforschung der praktischen Wirksamkeit einer historisch-mathematischen Didaktik ist noch lang. Er wird jedoch bereits beschritten. Eine Studie, die sich den Abbau dieses Forschungs- und Wissensdefizits explizit auf ihre Fahnen heftet, ist etwa die 2007 vom Mathematiker Michael GLAUBITZ publizierte Vergleichsstudie über die Wirkungen mathematikgeschichtlichen Unterrichtens (vgl. Glaubitz 2007, 260). Sie dient als konkretes Beispiel, wie eine solide empirische Erforschung eines historisch ausgerichteten Mathematikunterrichts aussehen könnte. Im Folgenden sollen daher Design und Befunde dieser Studie exemplarisch näher vorgestellt werden.

5.2.1 Empirisches Design der Glaubitz-Studie

Ziel der Vergleichsstudie von Glaubitz war es, die Wirkungen mathematik-geschichtlichen Unterrichtens, näherhin der Lektüre historischer Quellen, im Unterricht zu erheben. Dazu verglich er eine historische Experimental-gruppe, die im Zuge der Studie mit geschichtlichem Material unterrichtet

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wurde, mit einer konventionellen Vergleichsgruppe, die denselben fachlichen Inhalt ohne historische Bezüge vermittelt bekam. Als mathematischer Inhalt der Vergleichsstudie wurde dabei das Thema „Quadratische Gleichungen“ gewählt. Die historischen Elemente kamen dabei nicht als Einstieg in das Thema, sondern im Anschluss an eine moderne Einführung als Vertiefung der entsprechenden Konzepte zum Einsatz. Während in der konventionellen Kontrollgruppe nach der allgemeinen Einführung in das Thema klassische Übungsbeispiele dis-kutiert und gelöst wurden, beschäftigte sich die historische Experimental-gruppe mit Auszügen aus der historischen Quelle al-jabr des persischen Mathematikers AL-KHWARIZMI (um 8 Jh. n. Chr.). Inkongruenzen oder gar Widersprüche zwischen modernen und historischen Elementen wurden dabei nicht negativ gewertet, sondern speziell als Katalysatoren des Verstehens zur Schärfung des mathematischen Blickes betrachtet (vgl. Glaubitz 2007, 260 f.).

Insgesamt nahmen über 250 S&S aus nordrhein-westfälischen Gymnasien an der Untersuchung teil. Die teilnehmenden zehn Klassen wurden dabei auf sieben Experimental- und drei Kontrollgruppen aufgeteilt. Zeitlich betrachtet zog sich die Untersuchung über neun Schulstunden (siehe Abb. 4). Die ersten drei Unterrichtseinheiten waren dabei für alle Lernenden gleich gestaltet und dienten der modernen Einführung in das Thema. Im Anschluss daran setzte sich die Experimentalgruppe über eine Dauer von sechs Unterrichtsstunden mit den historischen Auszügen Al-Khwarizmis auseinander, während die Vergleichsgruppe im selben Zeitraum Anwendungen und Übungen ohne historischen Bezug diskutierte. Sozusagen wurde in der Experimental-gruppe die klassische Übungsphase durch eine historische Vertiefung des Inhalts substituiert. Unterrichtet wurden die S&S dabei von ihren gewohnten Mathematik-Lehrkräften, um etwaige Verzerrungen zu ver-meiden. Dabei handelte es sich durchwegs um L&L ohne besondere Expertise auf dem Gebiet der Mathematikgeschichte (vgl. Glaubitz 2010a, 361). Als Unterstützung dienten den Lehrkräften dabei spezielle Lehrer-begleithefte, den S&S wurden eigens aufbereitete Arbeitshefte zur Verfügung gestellt. In den Arbeitsheften der Experimentalgruppe wurden so etwa einige Auszüge aus dem al-jabr Al-Khwarizmis neu aufbereitet und didaktisiert (vgl. Glaubitz 2007, 261). Die abgebildete Grafik zeigt einen Ausschnitt aus diesem Arbeitsheft (siehe Abb. 5). Darin wird eine Ausgangsfrage Al-Khwarizmis dargestellt, die in moderner algebraischer Notation als quadratische Gleichung + − 9 = übersetzt würde.

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Abbildung 4

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Abbildung 5 Zur Datenerhebung setzte Glaubitz schließlich verschiedene Instrumente ein. Bereits vor Beginn der Untersuchung wurden die teilnehmenden S&S im Zuge eines Fragebogens ausführlich zu ihrem Leistungsstand, zu ihrer Selbsteinschätzung, zur Wahrnehmung ihres Mathematikunterrichts wie zu ihren persönlichen Ansichten über die Mathematik befragt. Glaubitz fasst die Ergebnisse dieser Prä-Befragung dahingehend zusammen, „dass die Experimental- und die Kontrollgruppe genügend ähnliche Voraussetzungen und Prädispositionen mitbringen, um in dieser Arbeit sinnvoll miteinander verglichen werden zu können“ (Glaubitz 2010a, 361). Zusätzliche Daten wurden aus der Auswertung von Beobachtungen, Lernjournalen, Videoaufzeichnungen sowie den Arbeitsheften der S&S erhoben. Außerdem absolvierten sowohl Experimental- als auch Vergleichsgruppe direkt im Anschluss an die Unterrichtseinheiten einen identischen Test, dem im Abstand von 8 Wochen noch ein Nachtest zur Erhebung längerfristiger Lerneffekte und der Behaltensleistung folgte (vgl. Glaubitz 2007, 261 f.). Soweit das empirische Design. Nun zu den Befunden der Studie.

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5.2.2 Befunde der Glaubitz-Studie

Sowohl aus der Auswertung der Fragebögen zu Beginn und am Ende der Studie als auch aus den Ergebnissen der beiden Leistungstests im Anschluss an die Versuchsreihe lassen sich zahlreiche interessante Rückschlüsse auf die Wirksamkeit mathematikgeschichtlichen Unterrichtens bzw. des Einbindens historischer Texte in den Unterricht ziehen. So zeigen die Ergebnisse der Befragung, dass der mathematikhistorische Unterricht den meisten S&S Spaß gemacht, für zusätzliche Motivation gesorgt und insgesamt zu einer Steigerung der Popularität des Faches beigetragen hat. Ein detaillierterer Blick in die Daten lässt dabei zum Vorschein kommen, dass das Einbinden historischer Bezüge insbesondere bei all jenen großen Anklang gefunden hat, die dem Fach Mathematik gegenüber ohnehin positiv eingestellt sind und sich im Umgang damit nicht allzu schwertun. Dieser feststellbare Popularitätsschub bei vielen S&S ist dabei unabhängig von deren jeweiligen Noten in Mathematik und Geschichte. Der Großteil der Lernenden aus der Experimentalgruppe würde daher auch – so geht aus den Daten hervor – die verstärkte Einbindung historischer Elemente (wenn auch nicht mit Enthusiasmus) in den Unterricht begrüßen (vgl. Glaubitz 2007, 262).

Weiters lassen sich aus den Befragungen der S&S zu Beginn und am Ende der Untersuchung auch deutliche Akzentverschiebungen in der persönlichen Wahrnehmung von Mathematik überhaupt extrahieren. So zeigt sich in der Wahrnehmung der Experimentalgruppe eine Verschiebung des methodischen Fokus von technisch-formalen Routinetätigkeiten wie Termumformungen und Rechnen hin zu verstärkt hermeneutisch-kommunikativen Aspekten wie Argumentieren, Kommunizieren und Problemlösen. Parallel dazu lässt sich aus den erhobenen Daten auch eine Verschiebung in den Meinungen der Lernenden feststellen, was der primäre Gegenstand des Mathematikunterrichts ist oder sein sollte: Durch die historische Betrachtung mathematischer Inhalte wurde etwa besonders die Bedeutung von Denkweisen, Argumentationsmustern und Hintergrund-wissen gegenüber von Aspekten wie dem Lernen vollendeter Fakten und dem Lösen abstrakter Aufgaben gestärkt (vgl. Glaubitz 2007, 263).

Neben diesen Ergebnissen aus den Antworten der Experimentalgruppe sind für die Frage der Effektivität mathematikhistorischen Unterrichtens besonders auch die Ergebnisse der beiden Tests im Anschluss an die Versuchsreihe interessant, zumal diese einen direkten Vergleich zwischen Experimental- und Vergleichsgruppe erlauben. Die Daten sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache: So ist in der historischen Experimental-gruppe nicht nur eine signifikante Leistungssteigerung feststellbar, die betreffenden S&S schnitten bei beiden Tests gemittelt auch besser ab als die Kontrollgruppe. Und dies selbst bei Tests, die fachlich gute Leistungen ausschließlich nach den Maßstäben konventionellen Unterrichts definieren

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(vgl. Glaubitz 2010a, 362). Anhand konkreter Zahlen verdeutlicht: Vor Beginn der Unterrichtsreihe betrugen die schriftlichen Durchschnittsnoten in der Kontrollgruppe 3,29 und in der Experimentalgruppe 3,16. Der erste Test im direkten Anschluss an die Versuchsreihe ergab in der Kontrollgruppe eine gemittelte Note von 3,30 (womit diese praktisch am selben Leistungsniveau blieb), während sich die Experimentalgruppe im Durchschnitt auf den Wert 2,89 verbesserte. Diese Differenz verstärkte sich im zeitlichen Abstand hin zum zweiten Test sogar noch: Erzielte die Experimentalgruppe dabei einen Durchschnittswert von 3,04 (womit sie noch immer gemittelt eine bessere Leistung als zu Beginn der Studie erreichte), fiel die Vergleichsgruppe im zweiten Test auf eine durch-schnittliche Note von 3,53 zurück. Somit ist auch der Behaltenseffekt bei den S&S der Experimentalgruppe größer (vgl. Glaubitz 2007, 263).

Unterm Strich ergibt sich damit aus den Befunden dieser Untersuchung ein recht deutliches Bild. Der Autor der Vergleichsstudie, Michael Glaubitz, fasst in einem Resümee die Befunde dahingehend zusammen, dass die in einen mathematikhistorischen Unterricht gesetzten Hoffnungen nicht unberechtigt sind und vom Einbinden historischer Bezüge in den Unterricht tatsächlich positive Wirkungen auf Motivation und Leistung der S&S erwartet werden dürfen (vgl. ebd., 263). Doch geben wir dem Autor abschließend selbst das Wort, um das Fazit der Studie anzuführen:

Die empirischen Befunde zeigen, dass die Arbeit mit historischen Originalquellen den Schülerinnen und Schülern im Mathematikunterricht nützt. Sie erleben nicht nur einen vielfältig bereicherten, als interessant empfundenen Unterricht, sondern schneiden in direkten Leistungsvergleichen besser ab als Schülerinnen und Schüler, die konventionell unterrichtet werden. Darüber hinaus werden ihre Ansichten und Einstellungen zum Fach auf sinnvolle Weise weiter entwickelt, indem bestimmte einseitige Vorstellungen und Eindrücke von Mathematik durch umfassendere und differenziertere Anschauungen ergänzt werden. Dass dies auch in weitgehend unpräparierten Alltagskontexten gelingen kann, wird durch das Setting der vorliegenden Untersuchung demonstriert (Glaubitz 2010a, 363).

5.3 Resümee der empirischen Befunde

Der kurze Streifzug durch den empirischen Dschungel historisch-mathematischer Didaktik nähert sich seinem Ende. Ein guter Moment also, um zurückzublicken und ein Resümee der empirischen Befunde zu versuchen. Da ist zum einen die Glaubitz-Studie, die auf empirisch-wissenschaftlich solide Art und Weise den Nutzen historischer Quellen-lektüre im Unterricht unterstreicht. Diese Studie stellt damit ein überaus seltenes Exemplar einer systematisch-empirischen Erforschung mathe-matikhistorischen Unterrichts dar. Auch wenn der Wert dieser Studie daher nicht zu leugnen ist und das empirische Untersuchungsdesign kaum

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vernünftig angezweifelt werden kann, gilt es doch im Überschwang der Freude über ein seltenes, gesichertes Resultat die kritische Vernunft nicht gänzlich über Bord zu werfen. Eine Studie ist eine Studie. Nicht mehr und auch nicht weniger. So ist es gut möglich, dass es auch zur Glaubitz-Studie eine Gegenstudie gibt, die unter anderen Voraussetzungen das Gegenteil aufzeigt. Misstrauisch stimmt etwa der von Glaubitz selbst angeführte Befund, dass Mathematik bei den untersuchten S&S an der Spitze der am häufigsten genannten Lieblingsfächer rangierte (vgl. Glaubitz 2007, 262). Gut möglich also, dass in einem anderen schulischen Kontext, bei dem die ausgestreute historische Saat auf weniger fruchtbaren Boden fällt, die praktisch-didaktische Wirksamkeit geschichtlicher Elemente weit geringer ausfällt. Die Glaubitz-Studie darf daher in ihrer Aussagekraft nicht überschätzt und schon gar nicht verabsolutiert werden. In ihrer Limitation auf eine spezielle Schülergruppe und auf die Methode der historischen Quellenlektüre stellt sie vielmehr ein einzelnes Mosaiksteinchen in einem noch überaus lückenhaften und daher nur schemenhaft erkennbaren Gesamtbild dar. Wenn auch ein wichtiges Mosaiksteinchen.

Dies ist zugleich der zweite Schluss, der in diesem Resümee nicht fehlen darf: Die tatsächliche Wirkung der Integration historischer Elemente in den Mathematikunterricht ist noch alles andere als systematisch erforscht, nach wie vor gibt es diesbezüglich viele offene Fragen. Allein schon die Glaubitz-Studie wirft zahlreiche Folgefragen auf, wie sehr etwa der Motivationsschub und Leistungsanstieg im Zuge mathematikhistorischen Unterrichtens von der affektiven Haltung der S&S zur Mathematik abhängt. Doch auch unabhängig davon harren noch viele andere Annahmen und Erwartungen, die oft mit einer historisch-mathematischen Didaktik in Verbindung gebracht werden, einer empirischen Überprüfung. Um noch einmal die Metapher zu benützen: Das Mosaikbild empirischer Validierung ist noch durch unzählige Lücken geprägt. Daher ist den Mathematikdidaktikern Man-Keung SIU und Constantinos TZANAKIS in ihrem Fazit zuzustimmen: „[E]nough has been said on a ‚propagandistic‘ level, [...] rhetoric has served its purpose“ (Siu/Tzanakis 2004, 3). Die Sammlung theoretischer Argumente für einen verstärkten Einbezug mathematikhistorischer Elemente in den Unterricht ist bereits auf stolze Größe angewachsen. Woran es bis dato jedoch eklatant mangelt, sind entsprechend schlagkräftige Beweise der Wirksamkeit mathematikgeschichtlichen Unterrichtens auch auf empi-rischer Ebene.

Wie wichtig daher eine theoretische Fundierung einer historisch-mathematischen Didaktik auch sein mag, gewisse Fragestellungen lassen sich nur auf empirischem Wege klären. Sonst droht die Theorie tatsächlich zu einem letztlich wertlosen Wolkenkuckucksheim reiner Spekulation zu verkommen. Dieser Gedanke ist – kulinarisch gewendet – auch Quintessenz eines bekannten englischen Sprichwortes: „The proof of the pudding is in the

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eating“. Und auch ein didaktischer Pudding wird nicht an seiner theoretischen Rezeptur, sondern an seinem Wohlgefallen in der Praxis gemessen. So verpuffen sämtliche theoretischen Argumente für den Einbezug historischer Elemente in den Unterricht gänzlich als verlorene geistige Liebesmüh, wenn sie nicht empirisch-praktisch abgestützt werden können. Der Mathematikdidaktiker Uffe JANKVIST formuliert diesen Gedanken im Kontrast zur armchair research: Gewisse Fragen lassen sich nicht im Lehnstuhl der Theorie klären, sondern verlangen ein Hinausgehen auf das Feld der Empirie. Darin liegt das Gebot der Stunde. Als Frucht der Mühe winken jedoch vertiefte Einsichten in vielversprechende Potentiale und auch falsche Hoffnungen eines historischen Zugangs zum Mathematikunterricht. Oder wie es Jankvist selbst formuliert:

[Looking at] lists of ‚old‘ arguments for (and approaches to) using history through empirical research lenses, and putting these arguments to the (empirical) test, may reveal new insights in terms of which roads to travel in the future by confirming these arguments, or by revealing which ones that turn out to be blind alleys; something which mere speculations and armchair research cannot do (Jankvist 2009, 97 f.).

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VI VIER THESEN ZUR HISTORISCH-MATHEMATISCHEN DIDAKTIK

Im Zuge der letzten Kapitel wurden Möglichkeiten und Grenzen einer historisch-mathematischen Didaktik bereits aus unterschiedlichen Rich-tungen und Perspektiven diskutiert. Dem Präludium in pädagogischer Hinsicht folgten Überlegungen auf konzeptionell-theoretischer Ebene, welche schließlich durch empirisch-praktische Befunde ergänzt bzw. kontrastiert wurden. Bei all dem stand das Bestreben im Vordergrund, ein möglichst objektives Bild zu vermitteln, verschiedenste Positionen des breiten Meinungsspektrums darzustellen und Kritiker wie Befürworter gleich zu Wort kommen zu lassen. In diesem Kapitel soll nun in Form von vier persönlichen Thesen zu ausgewählten Aspekten der Thematik Stellung bezogen und ein eigener Standpunkt entwickelt werden. Inhaltlich handelt es sich dabei um die Fragen, welche Schlüsse sich aus der Konzeption einer historisch-mathematischen Didaktik für den Mathematikunterricht allge-mein, für das Ideal mathematischer Allgemeinbildung, für die Kompetenz-orientierung des Unterrichts sowie für die Ausbildung angehender Lehrkräfte ergeben.

6.1 Mathematikgeschichte und Unterricht

Viele Zeilen wurden in dieser Arbeit bereits über das didaktische Potential eines historisch gewürzten Mathematikunterrichts geschrieben. Argumente dafür wurden mit Argumenten dagegen abgewogen, kritische wie befürwortende Stimmen angehört. Die erste These dieses letzten Kapitels setzt nun einen persönlichen Schlussstrich unter diese Erörterung. Sie stellt somit gleichsam das Destillat aller vorherigen Überlegungen dar, welches den inhaltlichen Succus in konzentrierter Form enthält. These 1: Die Geschichte der Mathematik verfügt über ein großes Potential, das sich didaktisch gewinnbringend auf verschiedenste Art und Weise in den Unterricht einbinden lässt. Mathematik hat etwas zu erzählen, wird über ihre Geschichte als lebendiges Unternehmen greifbar. Ein ahistorischer Mathematikunterricht lässt somit eine sprudelnde Quelle an Faszination und Motivation ungenützt. Man kann die Mathematik im Unterricht vollständig von ihrer Geschichte entkoppeln. Die komplexen Zahlen können auch ohne Bezug zu Cardano und Gauß gelehrt werden, ebenso wie die Differentialrechnung als technisches Kalkül nicht notwendigerweise zu Newton und Leibniz in

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Beziehung gesetzt werden muss. In streng mathematischer Hinsicht kann das betreffende Gedankengut auch ohne historische Bezüge gelehrt und gelernt werden, ohne dass der Inhalt auch nur im Geringsten unvollständig, brüchig oder gar falsch würde. Die Mathematik ist als abstrakte Theorie auf ihre Geschichte schlicht und einfach nicht angewiesen. In diesem Sinne mögen historische Elemente im Mathematikunterricht als überflüssiges Beiwerk erscheinen.

Im Zuge einer derartigen Entkopplung der Mathematik von ihrer Geschichte würde jedoch das immense Potential an Motivation und auch Faszination übersehen werden, das – oftmals unbeachtet – in der Geschichte der Mathematik schlummert. Der österreichische Mathematiker Rudolf TASCHNER bringt dieses Potential wie folgt auf den Punkt: „Das ist das Schöne an der Mathematik: Sie hat etwas zu erzählen“ (Taschner 2005, 3). Und tatsächlich hat die Mathematik im wahrsten Sinne des Wortes etwas zu erzählen. Mit ihrer eigenen Historie verfügt sie über ein überaus reichhaltiges Reservoir an Geschichten, die im Unterricht erzählt werden können. Geschichten, die in der Lage sind, die Neugierde der Kinder zu wecken, für Motivation zu sorgen und in den Bann der Faszination zu ziehen. Dies ist nicht nur so dahingesagt. Wie sehr historische Bezüge tatsächlich dazu in der Lage sind als Interessenanker zu dienen, belegen nicht zuletzt die Verkaufszahlen mathematikhistorischer Bücher. Exem-plarisch für den immer größer werdenden Umfang diesbezüglicher Werke sei der Bestseller „Der Zahlen gigantische Schatten“ Taschners genannt, in den der Autor vielfältige Bezüge aus der Geschichte der Mathematik verwoben hat (vgl. Taschner 2005). Der springende Punkt dabei ist nun, dass die Mathematik über das Erzählen ihrer Geschichte zu leben beginnt und aus einer womöglich blutleer-abstrakt wirkenden Theorie ohne konkreten Bezug zur Wirklichkeit zu einem faszinierenden menschlichen Unter-nehmen wird. Daraus ergibt sich folgendes Fazit: Ein Mathematikunterricht mag zwar nicht streng auf das Einbinden historischer Bezüge angewiesen sein. Er ist aber in jedem Fall gut beraten, diese reichlich sprudelnde Quelle an Motivation und Faszination in didaktischer Hinsicht anzuzapfen.

Das Anzapfen dieser Quelle kann dabei auf vielfältige und kreative Art und Weise geschehen. Die Wirkweise historischer Bezüge im Unterricht legt mitunter jedoch eine kulinarische Analogie nahe. So wurde des Öfteren bereits sprachlich etwas salopp von einem historisch gewürzten Mathematikunterricht gesprochen. Und tatsächlich gleicht die Mathematik-geschichte in mehrerer Hinsicht einem didaktischen Gewürz. Eine kleine Dosis kann so bei gutem Einsatz – wie auch bei Gewürzen üblich – bereits eine große Wirkung entfalten. Übertragen auf den schulischen Bereich bedeutet dies, dass es nicht notwendig ist, den Unterricht im Zuge einer historisch-mathematischen Didaktik radikal neu auszurichten. Geschweige denn ist ein didaktischer Paradigmenwechsel vonnöten. Schon das

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Einbinden anfänglich weniger Bezüge aus der Geschichte der Mathematik kann die S&S für die historische Tiefendimension der Mathematik sensibilisieren und sie diesbezüglich auf den Geschmack bringen. Ein historisches Würzen des Mathematikunterrichts nimmt damit auch nicht unbedingt viel Extrazeit in Anspruch, die für den regulären Unterricht dann nicht mehr zur Verfügung steht. Gewürze sind nicht die Hauptzutat, sondern eben das spezielle Extra.

Eine weitere Parallele zum kulinarischen Würzen liegt damit in der Notwendigkeit eines guten Fingerspitzengefühls. So wie Speisen durch ein Zuwenig an Gewürzen fad wirken und durch ein Zuviel an Gewürzen ungenießbar werden, gilt es auch im Unterricht die richtige Dosis an Mathematikgeschichte zu finden. Ein Zuwenig an historischen Bezügen mag so die menschliche Dimension innerhalb der Mathematik verkümmern und den Unterricht steril, technisch und allzu abstrakt wirken lassen. Ein Zuviel an historischen Bezügen kann sich dagegen jedoch auch als kontraproduktiv erweisen, wenn etwa der mathematische Inhalt im Dickicht geschichtlicher Informationen verloren geht. Wo genau nun diese richtige Dosis liegt, kann nie absolut, sondern immer nur in Abhängigkeit von den konkreten Gegebenheiten und Voraussetzungen in einer Klasse gesagt werden. Wird jedoch der didaktisch goldene Mittelweg zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig gefunden, so kann der Mathematik-unterricht gerade kraft seiner historischen Würze eine ganz spezielle Wirkung auf das Lernverhalten der S&S und deren Einstellung zur Mathematik entfalten. Es sind schließlich auch beim Kochen letzten Endes die Gewürze, die ein Gericht speziell und zu etwas Besonderem werden lassen.

Soweit die Analogie des Würzens, die gewisse didaktische Aspekte zwar gut verdeutlicht, als bildhafter Vergleich jedoch – um im Bild zu bleiben – mit Vorsicht zu genießen ist. Dass eine historisch-mathematische Didaktik jedoch auch abseits kulinarischer Analogien die Gütekriterien eines guten Mathematikunterrichts erfüllen kann, sei abschließend an einer Charakterisierung des Mathematikdidaktikers Albrecht BEUTELSPACHER demonstriert. Dieser macht einen guten Mathematikunterricht speziell an drei Punkten fest:

Er ist verstehens- und vorstellungsorientiert (in Abgrenzung zur mechanischen Beherrschung von Rechenverfahren), er fördert den ‚mathematischen Blick‘ auf die Welt (komplementär zu einer rein innermathematischen Perspektive), und er schafft produktive Lernumgebungen zur eigenaktiven Konstruktion des Wissens (im Unterschied zur reinen Instruktion durch die Lehrperson) (Beutelspacher 2011, 2).

Eine historisch-mathematische Didaktik kann diese drei Aspekte in geradezu ausgezeichneter Weise erfüllen. So zeichnen sich historische Bezüge erstens ja geradezu dadurch aus, dass sie die monotone Fixierung

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auf die Beherrschung technischer Verfahren durchbrechen und den Fokus vielmehr auf das Verstehen über den Weg der historischen Genese legen. Dadurch wird zweitens auch die rein innermathematische Perspektive transzendiert und ein Blick von außen auf die Mathematik und die Welt gewonnen. Eine produktive Lernumgebung stellen historische Kontexte drittens schließlich nicht zuletzt dadurch dar, dass die S&S originäre Fragestellungen und ursprüngliche Probleme kennenlernen, die zur eigenständigen Auseinandersetzung und zum tätigen Nacherfinden anregen. Eine historisch-mathematische Didaktik fügt sich damit problem-los in die Definition eines guten Mathematikunterrichts von Beutelspacher ein. Folglich verfügt die Mathematik – um den inhaltlichen Bogen zur ersten These zu schließen – mit ihrer eigenen Geschichte über ein immenses Reservoir großen didaktischen Potentials, welches im Unterricht auf vielfältige Art und Weise angezapft und für die S&S gewinnbringend eingesetzt werden kann.

6.2 Mathematikgeschichte und Allgemeinbildung

Die erste These hat insbesondere den instrumentellen Nutzen eines verstärkten Einbezuges historischer Elemente in den Unterricht unterstrichen. Salopp formuliert: Mathematikgeschichte bringt etwas für den Unterricht. Als Kontrapunkt zu dieser stark nutzenorientierten Perspektive betont die folgende These nun den wichtigen Beitrag mathematikgeschichtlichen Unterrichts für eine den Bereich formalen Operierens transzendierende mathematische Allgemeinbildung. These 2: Mathematik ist mehr als das kompetente Beherrschen formal-technischer Kalküle. Ein darauf reduzierter Unterricht vermittelt letztlich ein unvollständiges und defizitäres Bild von Mathematik. Ein Wissen um die historische und kulturelle Dimension der Mathematik ist ein unverzichtbarer Bestandteil dessen, was unter mathematische Allgemeinbildung fällt. Was ist unter dieser These zu verstehen? Ihr zentraler Ausgangspunkt ist, dass Mathematik nicht auf den alleinigen Aspekt ihrer formal-technischen Dimension, d.h. auf einen effizienten Umgang und ein kompetentes Operieren mit diversen Kalkülen und Methoden reduziert werden darf. Wie hoch die Meisterschaft auch sein mag, die jemand im formalen Beherrschen mathematischer Kalküle erreicht, dies allein ist noch kein Garant mathematischer Bildung. Weit gefehlt, ein allein auf Anwendung, Nutzen und Kompetenzen schielendes Verständnis von Mathematik fällt wohl eher unter das Liessmann‘sche Verdikt von Halbbildung oder gar Unbildung

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(vgl. Liessmann 2006, 72). Bildung bzw. Allgemeinbildung in mathe-matischer Hinsicht meint dagegen weit mehr als bloß ein effizientes Operieren innerhalb mathematischer Strukturen, dem jedoch ein Durchs-chauen und Verstehen größerer Zusammenhänge fehlt. Arne MADINCEA, ein deutscher Mathematiklehrer, bringt dies wie folgt auf den Punkt:

Mathematik ist [...] ein Bildungswert an sich, ein Medium zur Erziehung, und damit bei weitem mehr als eine anwendbare Rechentechnik zur Beschreibung naturwissenschaftlicher Sachverhalte oder vorfachliche Ausbildung zukünftiger Ingenieure (Madincea 2008, 111).

Dieser Gedanke lässt sich mit einer begrifflichen Unterscheidung des deutschen Philosophen Jürgen MITTELSTRASS noch weiter präzisieren. Er differenziert zwischen zwei Arten von Wissen: Dem Typus des instrumentellen Verfügungswissens, über das sich wie eine Ware frei verfügen lässt und das auf konkrete Anwendung abzielt, stellt er das klärende Orientierungswissen gegenüber, welches besser als Vermögen oder Kompetenz beschrieben ist (vgl. Schorcht 2013, 287). „Verfügungswissen beschreibt das Wissen an sich, während Orientierungswissen den Umgang mit diesem Wissen thematisiert“ (ebd., 287). Diese Differenz lässt sich nun ebenso auf den Mathematikunterricht übertragen: Auch hier werden Konzepte des Öfteren nur als Verfügungswissen vermittelt, welches die S&S zwar scheinbar kompetent auf verschiedenste Aufgabenstellungen anwenden können, ohne jedoch die großen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bereichen zu erkennen. Letzten Endes wissen sie vielfach nicht, was sie genau tun bzw. warum sie das tun, was sie tun. Ihr Wissen ist in vielen Fällen fragmentarisch, inhaltliches Stückwerk, das sich zu keinem klaren Gesamtbild zusammenfügt. Sie können zwar kompetent darüber verfügen, es dient jedoch nicht zur größeren Orientierung über ihr eigentliches Tun. Daher tut sich mit der Dominanz des Verfügungswissens allgemein jedoch die Gefahr auf, in der Fixierung auf den instrumentellen Aspekt von Wissen die Orientierung über Sinn und Zweck des eigenen Handelns zu verlieren:

In dem Maße, in dem Wissenschaft zunehmend nur noch Verfügungswissen (über Natur und Gesellschaft) und kein Orientierungswissen (in Natur und Gesellschaft) mehr produziert, gerät die gesellschaftliche Welt in die Gefahr, sich selbst nicht mehr anders als eine bloße Maschine zu begreifen. Das heißt: sie bildet neben einem positiven Wissen und den zugehörigen Anweisungsstrukturen kein handlungsleitendes Wissen mit zugehörigen Orientierungsstrukturen mehr aus (Mittelstraß 1982, 16).

An diesem Punkt, dem vielfachen Fehlen von Orientierung in einem instrumentell dominierten Kontext, setzt nun die zweite These an. Demnach verfügt gerade auch die Geschichte der Mathematik speziell durch ihren Blick von außen über ein großes Potential, nicht nur verfügbares Wissen über mathematische Inhalte, sondern auch Orientierung zu vermitteln.

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Mathematische Antworten bekommen mit dem Kennenlernen der originären Fragen einen Sinn, unzusammenhängende Teilbereiche der Mathematik fügen sich wie ein Puzzle zusammen, einzelne mathematische Bildpunkte ergeben durch die distanzierende Wirkung historischer Betrachtungen ein kohärentes Bild. Das Begreifen technisch-formaler Kalküle wird so durch historische Bezüge um das Erschließen von Sinn, Bedeutung und Orientierung ergänzt. Diese orientierende Funktion von Geschichte im Allgemeinen und Mathematikgeschichte im Speziellen wird auch vom Mathematikhistoriker Gregor NICKEL unterstrichen:

Nur ein Denken in geschichtlichen Zusammenhängen ermöglicht ein Kontingenz-Bewusstsein, das Bestehendes als Resultat zwar nicht zufälliger, aber durchaus kontingenter Entscheidungen zu bestimmen und damit zu beurteilen, zu rechtfertigen, aber auch zu kritisieren vermag. Geschichte wird damit quasi automatisch zum Pflichtinhalt eines allgemeinbildenden Mathematikunterrichts (Nickel 2013, 261).

Damit sind wir am Kern der zweiten These angelangt: Wenn vom Ideal mathematischer Bildung bzw. Allgemeinbildung gesprochen wird, dann gehört unverzichtbar auch ein zumindest überblicksmäßiges Wissen über die historische Genese und Entwicklung dieser Disziplin dazu. So wie Geschichtsbewusstsein allgemein ein hohes, klassisches Bildungsgut darstellt, über das jede sich gebildet nennende Person in angemessenem Maße verfügen sollte, ist auch ein Wissen um die historische Entwicklung und kulturelle Prägekraft der Mathematik ein wesentliches Bildungsziel eigenen Rechts des Mathematikunterrichts (vgl. Beutelspacher 2011, 51). In anderen Disziplinen ist dies eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit: Weder in Musik, noch in Philosophie, schon gar nicht in Literatur, nicht einmal in Physik kann jemand als gebildet gelten, der nicht um die historische Dimension seines Faches weiß. Wohl eher würde diese Person als womöglich hochkompetenter, letztlich jedoch ungebildeter Fachtrottel abgestempelt werden. Analog dazu ist es auch im Bereich der Mathematik schlichtweg ein unverzichtbarer Bestandteil von Bildung, über die großen Entwicklungslinien innerhalb der eigenen Disziplin Bescheid zu wissen und sich anhand dieser historischen Punkte grob orientieren zu können. So zählte auch der deutsche Mathematikdidaktiker Hans Werner HEYMANN die beiden Aspekte „Stiftung kultureller Kohärenz“ und „Weltorientierung“ zu den Aufgaben einer allgemeinbildenden Schule (vgl. Heymann 1996, 47). Die Bedeutung eines historisch orientierten Mathematikunterrichts liegt damit nicht zuletzt auch in seinem Beitrag zur Allgemeinbildung der S&S.

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6.3 Mathematikgeschichte und Kompetenzorientierung

Keine didaktische Analyse kann auch nur annähernd als vollständig gelten, die nicht die aktuelle Kompetenzorientierung des Unterrichts in die Überlegungen miteinbezieht. Zu prägend ist die vehement geforderte Ausrichtung des Unterrichts an praktisch anwendbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten für Schule allgemein, als dass dieser Aspekt einfach ignoriert werden könnte. Diesem Erfordernis kommt nun die dritte These nach, die einen historisch orientierten Mathematikunterricht in Beziehung zu dieser Kompetenzorientierung zu setzen versucht. These 3: Bei der gegenwärtigen Kompetenzorientierung des Mathematikunterrichts handelt es sich um ein überaus zweischneidiges Schwert für das Projekt einer historisch-mathematischen Didaktik. Zum einen stellen gewisse Dimensionen des Kompetenzmodells aussichtsreiche Ventile für das Einbeziehen historischer Elemente in den Mathematikunterricht dar. Zum anderen drohen historische Elemente jedoch gerade im Zuge eines krampfhaften Schielens auf unmittelbar anwendbare Kompetenzen völlig unterzugehen. Mit der Einführung von Bildungsstandards, die den Bildungsstand von S&S messbar und auch vergleichbar machen sollen, hat auch die Orientierung an Kompetenzen, d.h. an konkret ausweisbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten Einzug in die österreichischen Klassenzimmer gehalten. Die Ausrichtung des Unterrichts an diversen Kompetenzen ist seitdem im Speziellen auch für den Mathematikunterricht prägend geworden, wobei hier insbesondere der kompetente Einsatz von Wissen im Umgang mit und Lösen von unbekannten Problemstellungen im Zentrum steht. Passend zu ihrer Vorliebe für strukturierte Darstellungen wurde für die Mathematik ein dreidimensionales, kartesisches Koordinatensystem entworfen, an dessen Achsen die für den Mathematikunterricht zentralen Kompetenzdimen-sionen aufgetragen werden (siehe Abb. 6). Dabei handelt es sich um die Dimensionen Inhalt (I1-I4), Handlung (H1-H4) und Komplexität (K1-K3). Eine jede mathematische Kompetenz lässt sich in diesem Koordinaten-system damit als kleiner Kompetenzwürfel lokalisieren (vgl. [10], 1).

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Abbildung 6

Soweit eine grobe Skizze des mathematischen Kompetenzmodells. Die hier interessierende Frage lautet nun, wie sich eine historisch-mathematische Didaktik in dieses System einfügen kann, d.h. wieweit sie mit der propagierten und de facto auch exekutierten Orientierung an diversen Kompetenzen kompatibel ist. Tatsächlich zeigen sich im Kompetenzmodell – auch wenn die Geschichte der Mathematik darin als eigener Inhaltsbereich nicht aufscheint – bei genauerer Analyse einige Anknüpfungspunkte für eine historische Mathematikdidaktik. Der Komplexitätsbereich K3 „Einsetzen von Reflexionswissen, Reflektieren“ stellt etwa ein aussichts-reiches Ventil für historische Bezüge im Unterricht dar. So liest man: „Reflektieren umfasst das Nachdenken über eine mathematische Vorgangsweise [...], über Vor- und Nachteile von Darstellungen/Darstellungsformen bzw. über mathematische Modelle [...] im jeweiligen Kontext sowie das Nachdenken über (vorgegebene) Interpretationen, Argumentationen und Begründungen“ (Int.[10], 6). Mit anderen Worten: Reflexionswissen umfasst auch ein das konkrete Operieren übersteigendes Wissen über Mathematik, einen Blick von außen auf die Disziplin, wofür Beiträge aus der Geschichte der Mathematik sehr gut geeignet sind.

Ebenso ergeben sich auf der Handlungsachse des Kompetenzmodells Anknüpfungspunkte für eine historische Mathematikdidaktik. Sowohl der Handlungsbereich H3 „Interpretieren“ als auch der Handlungsbereich H4 „Argumentieren, Begründen“ stellen so eine kompetenzorientierte Grundlage für das Einbinden historischer Bezüge in den Unterricht dar. Der Handlungsbereich des Interpretierens wird etwa mit den Kompetenzen spezifiziert, mathematische Begriffe im jeweiligen Kontext deuten und zutreffende von unzutreffenden Interpretationen unterscheiden zu können (vgl. ebd., 3). In beiden Fällen ist der Einsatz von mathematikhistorischem Material sehr gut vorstellbar. Selbiges gilt auch für den Handlungsbereich des Argumentierens und Begründens, für den als charakteristische Tätigkeiten u.a. das Herleiten und Beweisen von Formeln genannt werden (vgl. ebd., 4). Eine Diskussion schultauglicher Beweise aus der Geschichte

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der Mathematik, wie etwa des Euklid‘schen Beweises der Unendlichkeit der Menge aller Primzahlen, würde so eine historische Ausrichtung des Unterrichts mit der Kompetenzorientierung zusammenführen.

Dies ist die eine Seite der Kompetenzorientierung, auf der sich durchaus zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine historisch-mathematische Didaktik ergeben. Die eben genannten Punkte sollen dies exemplarisch unterstrichen haben. Auf der anderen Seite ist jedoch ebenso klar, dass viele relevante Inhalte unvermeidlich durch den kompetenzorientierten Rost fallen, einfach weil sie sich nicht direkt in eine anwendungsbezogene Fertigkeit umwandeln lassen. Auf diese negative Kehrseite der Kompetenzorien-tierungsmedaille hat insbesondere der österreichische Philosoph Konrad Paul LIESSMANN in seiner Streitschrift „Geisterstunde“ aufmerksam gemacht. Mit unverhohlener Lust an der Polemik bringt er das Wesen der Kompetenzorientierung darin wie folgt auf den Punkt:

Kompetenzorientierung lautet das Zauberwort, das nun die Lehr- und Studienpläne dominiert, das alles, was man bisher glaubte, lehren und vermitteln zu müssen, hinfällig werden lässt, das endlich garantieren soll, dass anstelle toten Wissens brauchbare Fähigkeiten erworben werden, und das verspricht, dass nichts Unnützes mehr gelernt wird, sondern nur mehr das, was mit der Lebenswelt von Schülern und Studenten, mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun hat oder auf diese anzuwenden ist (Liessmann 2014, 45).

Die Orientierung an Kompetenzen, an konkreten Fertigkeiten und ausweisbaren Fähigkeiten wird dabei von Liessmann nicht im Bausch und Bogen abgelehnt. An den Pranger harter Kritik wird von ihm jedoch die Tendenz gestellt, ein an und für sich sinnvolles Prinzip zur alleinigen Doktrin zu erheben, sämtliche schulische Inhalte auf das Kriterium unmittelbarer Verwertbarkeit und Nützlichkeit zu überprüfen und damit insgesamt einen unreflektierten Tanz um das goldene Kalb der Kompetenzorientierung aufzuführen. Denn mit diesem krampfhaften Schielen auf das Primat der Anwendung und der Nützlichkeit, im Zuge dessen jedes als unnütz abgestempeltes Faktenwissen aus dem schulischen Kanon verbannt wird, entpuppe sich die allgegenwärtige Kompetenz-orientierung letztlich geradezu als Negation jeglichen verbindlichen Wissens (vgl. Liessmann 2014, 52 ff.).

Die Aussagen Liessmanns mögen in ihrer Radikalität übertrieben und teilweise undifferenziert sein, lenken die Aufmerksamkeit jedoch auf einen wichtigen Punkt: Wenn in ökonomischer Manier die Verwertbarkeit und der unmittelbare Nutzen zu den obersten Kriterien schulischer Inhalte erklärt werden, wenn sich jegliches Wissen in eine operationalisierbare Tätigkeit umwandeln lassen muss und wenn damit der intrinsische Wert von Wissen geleugnet wird, dann haben automatisch viele gemeinhin als bedeutsam erachtete Inhalte im Unterricht keinen Platz mehr und werden als unnützer

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Bildungsballast entsorgt. Ins Kreuzfeuer einer einseitigen Kompetenz-orientierung gerät damit jedoch nicht zuletzt auch die Geschichte der Mathematik, deren Inhalte nur schwer die propagierten Kriterien der Verwertbarkeit und praktischen Nützlichkeit erfüllen können. Welchen praktischen Nutzen hat ein Wissen um die Zahlenmystik der Pythagoreer? In welcher Hinsicht sind Einsichten in die historische Genese mathe-matischer Begriffe verwertbar? In welche Kompetenz lässt sich ein Wissen um die Kritik Berkeleys an dem Konzept infinitesimaler Größen umwandeln? Diese Beispiele zeigen schon: Historische Bezüge mögen ihren großen Wert darin entfalten, das Verstehen von Konzepten zu erleichtern, den mathematischen Horizont zu weiten und den mathematischen Blick auf die Welt zu schulen. Allein in direkt anwendbare Kompetenzen lassen sich diese wichtigen Einsichten jedoch nicht umwandeln. Es handelt sich dabei – in der Diktion Liessmanns – um totes Wissen, welches es in der Logik der Kompetenzorientierung schleunigst durch brauchbare Fähigkeiten zu ersetzen gilt.

Damit erweist sich die Kompetenzorientierung des Mathematik-unterrichts als überaus zweischneidiges Schwert, welches vordergründig zwar Anknüpfungspunkte für historische Bezüge bietet, diesen letzten Endes durch eine allzu einseitige Fixierung auf konkret operationalisierbare Fertigkeiten jedoch jegliche praktische Grundlage entzieht. Diese Janus-köpfigkeit der Kompetenzorientierung verstärkt sich im Hinblick auf die veränderte Prüfungskultur sogar noch: Historische Bezüge mögen sich zwar theoretisch irgendwie in das dreidimensionale Kompetenzmodell einordnen lassen, wenn jedoch bei Prüfungen mathematische Kompetenzen primär in Form standardisierter Antwortformate abgeprüft werden, in die sich historische Inhalte ob ihrer Vielschichtigkeit von vornherein schon nicht pressen lassen, dann verwundert es kaum, wenn die S&S selbst gegen das Einbinden von Mathematikgeschichte in den Unterricht als unnützes Abschweifen vom Wesentlichen, nämlich dem Training kompetenz-orientierter Prüfungsaufgaben, protestieren. Die kompetenzorientierte Prüfungskultur wirft damit einen wirkmächtigen Schatten auf das Unterrichten selbst voraus, in dem Inhalte aus der Mathematikgeschichte, die zwar dem Verstehen dienen, sich jedoch nicht eintrainieren und in Form von kompetenzorientierten Aufgaben verwerten lassen, wohl eher unter die Räder des schulischen Kompetenzwagens geraten.

Das Fazit dieser These kann daher nur lauten, die Ausrichtung des Mathematikunterrichts auf konkrete Kompetenzen nicht einseitig zur alleinigen Doktrin zu verabsolutieren und vielmehr auf einen Bereich zu beschränken, in welchem diese sinnvoll und wertvoll ist. Das Kriterium der Anwendung darf nicht zum blinden Anwendungszwang mutieren. Kompetenzen mögen zwar einen wichtigen didaktischen Wegweiser darstellen, sie sind jedoch nicht das allein seligmachende Prinzip

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schulischen Unterrichts. Ansonsten droht das zweischneidige Schwert der Kompetenzorientierung in der tunnelblickartigen Fixierung auf An-wendung, Verwertung und Nutzen einer historisch orientierten Didaktik den Todesstoß zu versetzen. Es gilt somit neben der an und für sich wichtigen Orientierung des Mathematikunterrichts an konkreten Fähig-keiten im Umgang mit und dem Lösen von Problemen auch die Komponenten des Verstehens und der kulturellen Orientierung nicht verkümmern zu lassen. Allein schon – siehe These Nummer 2 – weil der Mathematikunterricht auch einen wichtigen allgemeinbildenden Auftrag hat.

6.4 Mathematikgeschichte und Lehrendenbildung

Die ersten drei Thesen sind im Kontext der Schule diskutiert worden. Mit der vierten und letzten These wird der direkte Fokus der Aufmerksamkeit jedoch von der Schule genommen und vielmehr auf die Ausbildung der Lehrkräfte gerichtet. Insofern der historische Kulturwandel in der Mathematikdidaktik primär über die in den Klassenzimmern stehenden L&L verläuft, ist diese Perspektive für ein vollständiges Bild schlichtweg unverzichtbar. These 4: Das vielfach noch rein theoretische Projekt einer historisch-mathematischen Didaktik kann nur dann schulische Wirklichkeit werden, wenn es von den L&L mitgetragen wird. Die Lehrkräfte nehmen in diesem didaktischen Kulturwandel damit eine Schlüsselrolle ein, wodurch ein Einbeziehen der universitären Lehramtsausbildung in die Betrachtungen unbedingt notwendig wird. Diese These bezieht ihre argumentative Kraft aus dem Umstand, dass eine wirkungsvolle und nachhaltige Änderung der Unterrichtskultur nur unter Einbindung der L&L gelingen kann. Es können noch so viele Bibliotheken mit theoretisch brillanten Argumenten und empirisch schlagenden Befunden für ein Einbeziehen historischer Elemente in den Unterricht gefüllt werden, wenn die Lehrkräfte als primäre Träger des Unterrichts dafür nicht gewonnen werden, dann findet der mit wuchtigem Paukenschlag angekündigte didaktische Klimawandel nur auf dem Papier statt. Das Projekt einer historisch-mathematischen Didaktik landet sodann im schulischen Sondermüll und alles bleibt beim Alten. Der didaktische Status quo perpetuiert sich.

Schon jetzt zeigt sich, dass es häufig die (subjektiv empfundene) mangelnde Kompetenz der Lehrkräfte ist, die zu einer mangelnden Umsetzung bzw. sogar zu einem Totalausfall historischer Elemente im

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Unterricht führt (vgl. Madincea 2008, 113). Wie sollen die S&S auch in das didaktisch vielfach gelobte Land der Mathematikgeschichte geführt werden, wenn diese selbst für die Lehrpersonen eine unerforschte terra incognita darstellt. Vielmehr brauchen L&L orientierende Grundkenntnisse in der Geschichte der Mathematik, um diese mit didaktischem Fingerspitzen-gefühl im Unterricht umsetzen zu können (vgl. Ullrich 2008, 200). Um in der Metapher der Erkundungsreise zu bleiben: Eine tabula rasa in Bezug auf die Mathematikgeschichte ist ein denkbar schlechter Ausgangspunkt für die Anleitung einer Expedition zu den historischen Wurzeln der Mathematik.

Aus diesem Grund rückt die universitäre Ausbildung angehender L&L der Mathematik in den Fokus. Es gilt die Lehrerbildung so zu gestalten, dass Studierende der Mathematik bereits im Laufe ihres Studiums die Mathematikgeschichte gleichsam am eigenen Leib, d.h. über das eigene Lernen zu spüren bekommen und auf diese Weise für das große didaktische Potential historischer Bezüge im Unterricht sensibilisiert werden (vgl. Thom 2013, 22). Nur wenn es gelingt, die angehenden Lehrkräfte so von der didaktischen Effektivität eines Einbezuges der Mathematikgeschichte zu überzeugen und sie mit einem Funken der Faszination anzustecken, werden sie später in der Lage sein, die eher vagen Vorgaben des Lehrplans in dieser Richtung auch kompetent in die Unterrichtspraxis umzusetzen. In den Worten des Mathematikdidaktikers Albrecht BEUTELSPACHER:

Angehende Mathematiklehrerinnen und –lehrer für das Gymnasium müssen während des Studiums eine aktive Beziehung zur Mathematik als Wissenschaft in Theorie und Anwendung sowie als Kulturgut entwickeln, um das Fach im Mathematikunterricht und darüber hinaus souverän vertreten zu können (Beutelspacher 2011, 2).

Diese Neuorientierung kann in der universitären Praxis nur so aussehen, dass das gymnasiale Lehramtsstudium obligatorische Elemente aus der Geschichte und Philosophie der Mathematik enthält. Nicht als ein dem opportunistischen Ignorieren preisgegebenes, optionales Beiwerk, sondern als Inhalt eigenen Rechts. Es gilt die Geschichte der Mathematik innerhalb der Studienarchitektur als wichtigen Stützpfeiler zu etablieren. Dies ist auf unterschiedliche Art und Weise möglich: Zum einen als Einbindung historischer Elemente direkt in fachmathematische Lehrveranstaltungen wie Analysis oder Lineare Algebra. Zum anderen stellen jedoch auch gesonderte Veranstaltungen zur Geschichte und Philosophie der Mathematik einen wichtigen Schritt in die richtige universitäre Richtung dar. Wichtig ist es in beiden Fällen, den angehenden L&L einen Blick von außen auf die Mathematik zu ermöglichen, der sie nicht als starres Theoriegebäude ewiger Wahrheiten, sondern als historisch gewordene und nach wie vor sich entwickelnde Disziplin sichtbar und erfahrbar werden lässt.

Anhand zweier Beispiele sei abschließend nun skizziert, wie eine derartige Neugestaltung des Lehramtsstudiums konkret aussehen kann. So

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kam es im Zuge des Projekts Mathematik Neu Denken beginnend im Wintersemester 2005/06 an den deutschen Universitäten Gießen und Siegen zu einer grundlegenden Neuorientierung des Studiums für das gymnasiale Lehramt, sowohl in Bezug auf die Studienorganisation als auch in Bezug auf die inhaltliche und methodische Gestaltung der einzelnen Lehrver-anstaltungen (vgl. Beutelspacher 2011, 21). Ein zentraler Punkt dieser Neuorientierung war dabei nicht zuletzt die Integration historischer wie philosophischer Momente in die Studienarchitektur. So bestand u.a. – wie in Abbildung 7 ersichtlich – eine wichtige Zielsetzung des Siegener Teilprojekts in der engen Verzahnung von Schulanalysis, kanonischer Hoch-schulanalysis, Didaktik der Analysis und eben auch Geschichte und Philosophie der Analysis (vgl. ebd., 22).

Abbildung 7

Als zweites Beispiel für eine universitäre Neuausrichtung hin zu einer verstärkten Integration historischer Elemente dient – um mit einem regionalen Bezug zu schließen – schließlich das neu konzipierte, mit Wintersemester 2015/16 startende Mathematik-Lehramtsstudium an der Universität Graz. Im Zuge eines Vertiefungsmoduls sind darin neu zwei gesonderte Lehrveranstaltungen zur Geschichte und Philosophie der Mathematik für alle angehenden L&L verpflichtend vorgesehen (vgl. Int.[11], 8). Während die Mathematikgeschichte damit an den Universitäten Gießen und Siegen verstärkt in die fachmathematischen Veranstaltungen integriert wird, wählt das Grazer Modell den Weg gesonderter Lehrveranstaltungen, die neben genuin fachlichen und fachdidaktischen Veranstaltungen die Mathematikgeschichte explizit als Inhalt eigenen Rechts zur Sprache bringen. Jedes Modell stellt damit für sich einen wichtigen Beitrag dazu dar, den angehenden Lehrkräften im Zuge ihres Studiums einen inhaltlich-methodischen Rucksack mit Elementen aus der

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Mathematikgeschichte mitzugeben, ohne den eine historisch-mathe-matische Didaktik nicht sinnvoll gelingen kann.

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VII CONCLUSIO

Das Verhältnis der Mathematik zu ihrer eigenen Geschichte ist durchaus ambivalent. Zum einen werden im Zuge der ständigen Systematisierung und Abstraktion ihrer Erkenntnisse historisch kontingente Bezüge, die für den mathematischen Gehalt nicht von Bedeutung sind, aus der mathe-matischen Theorie entfernt, sodass der Eindruck einer überzeitlichen, ewigen Disziplin entsteht. Die geschichtliche Stufenleiter, über welche die Mathematik in immer höhere Sphären der Erkenntnis aufsteigt, wird bei Erreichen eines sicheren Niveaus sozusagen zurückgestoßen. Mit ihren bewiesenen, in den Stein der Ewigkeit gemeißelten Theoremen scheint die Mathematik sodann gleichsam über der Zeit zu schweben. Mathematik als ewige Disziplin.

Zum anderen ist es jedoch gerade dieser Aspekt, welcher der Mathematik im schulischen Kontext oft herbe Kritik einbringt. Die Mathematik sei abgehoben, könne in ihrer Abstraktion nicht an die Lebenswelt der Lernenden anknüpfen und wirke auf die S&S dadurch oftmals wie ein steriles Konglomerat von Antworten, ohne jedoch die ursprünglichen Fragen und Probleme als Motoren des Erkenntnisstrebens zu kennen. Eine sowohl für die Lehrenden wie auch für die Lernenden höchst unbefriedigende Situation. Als didaktisches Remedium werden nun gerade die oftmals aus der reinen Mathematik beseitigten historischen Bezüge genannt, welche die Mathematik aus allzu abstrakten Höhen wieder in einen menschlichen und für die S&S zugänglichen Bereich bringen sollen. Welches didaktische Potential einer diesbezüglichen Verzeitlichung des Zeitlosen innewohnt bzw. welche Möglichkeiten und Grenzen eine historisch orientierte Mathematikdidaktik aufweist, wurde im Zuge der vorliegenden Arbeit nun untersucht.

Dabei hat sich in pädagogischer Hinsicht das historisch-genetische Prinzip als aussichtsreiches theoretisches Fundament für die Entwicklung einer historisch-mathematischen Didaktik erwiesen. Mit seinem Fokus auf das Werden im Allgemeinen und das geschichtliche Werden im Speziellen stellt es eine solide Basis für das Einbeziehen von Elementen aus der Geschichte der Mathematik und für eine Orientierung des Unterrichts am historischen Werdegang dar. Dies vor allem deshalb, weil geschichtliche Orientierungspunkte die Entwicklung von Begriffen besser nachvollziehen lassen, die in ihrer aktuellen, abstrakt überformten Gestalt kaum noch Verknüpfungen zu ihrem ursprünglichen Entwicklungskontext aufweisen. Historische Bezüge können in diesem Sinne helfen, Begriffe und Konzepte entlang ihrer Genese verständlicher zu machen. Ebenfalls kristallisierte sich im Zuge der Diskussion jedoch klar heraus, dass das historisch-genetische

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Prinzip nicht dahingehend radikalisiert werden darf, den geschichtlichen Werdegang in all seinen Zufälligkeiten und Irrwegen zur obersten didaktischen Richtschnur zu adeln. Primärer Orientierungspunkt auch eines historisch-genetischen Zuganges muss immer die Wissensentwicklung der S&S bleiben und nicht etwas dem Lernprozess Äußerliches wie die Geschichte. Auch im Rahmen dieser wichtigen Einschränkung können geschichtliche Elemente im Mathematikunterricht jedoch eine fruchtbare Wirkung entfalten.

Auf diesem Fundament wurde dann das Konzept einer historisch-mathematischen Didaktik aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Ein Blick durch die empirische Linse lies dabei ein deutliches Forschungsdesiderat zum Vorschein kommen. Auch wenn es vereinzelte Studien zur didaktischen Effektivität einer historischen Orientierung des Mathematikunterrichts gibt, bedarf diese Thematik doch in vielerlei Hinsicht noch einer systematischen empirischen Erforschung. Worin bestehen die relevanten Wirkmechanismen? Welche Rolle spielt die Lehrperson im Wirken historischer Elemente? Wie sehr ist die Effektivität einer historischen Orientierung vom allgemeinen Leistungsniveau der Klasse abhängig? Im Moment gibt es in all diesen Fragen viel zu wenige gesicherte Erkenntnisse, um auf empirischer Basis eine sichere Aussage über das didaktische Potential historischer Bezüge im Unterricht treffen zu können. Einzelne Befunde zu diesen Fragen sind daher ob der vielen Fragezeichen, die sich um diese Thematik ranken, noch mit Vorsicht zu genießen und in ihrer Aussagekraft keinesfalls überzubewerten.

So nebulos das Bild auf systematisch-empirischer Ebene ist, so deutlich sind die Argumente, die auf theoretischer Ebene bzw. auf Basis persönlicher Erfahrungen für einen Einbezug historischer Elemente in den Mathematik-unterricht sprechen. Mathematik wird über ihre Geschichte greifbar und lebendig, aus einer wie von einem platonischen Ideenhimmel herab-gefallenen, vollendeten Disziplin wird im Zuge ihrer historischen Kontextualisierung ein menschliches Unternehmen. Der Wert historischer Bezüge zeigt sich dabei jedoch nicht nur auf kognitiver wie affektiver Ebene in ihrem Beitrag zu einer Erleichterung und Vertiefung des mathematischen Verständnisses auf Seiten der S&S. Neben diesem instrumentellen Charakter, der historische Bezüge primär in den Dienst des Lernens mathematischer Begriffe und Methoden stellt, bildet ein Wissen um die historische Entwicklung der Mathematik, welches den innermathe-matischen Bereich formalen Operierens überschreitet und vielmehr einen Blick von außen auf die Disziplin ermöglicht, auch einen integralen Bestandteil mathematischer Allgemeinbildung. Historische Bezüge stellen damit nicht nur ein positivistisches Verfügungswissen dar, sondern fördern durch ihre distanzierende Wirkung auch eine Orientierung in der Mathematik und der Welt.

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Die Untersuchung ist hiermit nun an ihr Ende gelangt, die Hoffnungen und Erwartungen an das didaktische Potential einer Verzeitlichung des Zeitlosen, d.h. an ein Einbinden von Elementen aus der Mathematik-geschichte in den Unterricht haben sich großteils als berechtigt erwiesen. Diese Conclusio ist jedoch nicht ausschließlich, nicht einmal vorrangig von akademischem Interesse. Der Endpunkt dieser theoretischen Arbeit stellt vielmehr gleichzeitig den Startpunkt ihrer praktischen Umsetzung dar. Das letzte Wort dieser Abhandlung sei mit Felix KLEIN damit einem der wichtigsten Pioniere auf dem Feld einer historisch-mathematischen Didaktik gegeben:

Möge diese Erkenntnis einst – mit diesem Wunsche möchte ich meine Vorlesung schließen – nachhaltigen Einfluss auf die Gestaltung Ihres eigenen Unterrichts an der Schule gewinnen! (Klein 1933, 289).

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VIII QUELLENANGABE

Im Folgenden werden alle inhaltlichen Quellen, die bei der Erstellung dieser Arbeit angezapft wurden, aufgelistet. Bücher, Internetquellen und Ab-bildungen werden dabei separat angeführt.

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Int.[9]: Information des Bifie über die Oberstufe Neu (zuletzt eingesehen am 04.08.2015), https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/oberstufeneu. html

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8.3 Abbildungsverzeichnis

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Abb. 2: LIU, Po-Hung (2003), „Do Teachers Need to Incorporate the History of Mathematics in Their Teaching?“, in: The Mathematics Teacher, Vol. 96, Nr. 6, 418.

Abb. 3: LIU, Po-Hung (2003), „Do Teachers Need to Incorporate the History of Mathematics in Their Teaching?“, in: The Mathematics Teacher, Vol. 96, Nr. 6, 418.

Abb. 4: GLAUBITZ, Michael R. (2010a), Mathematikgeschichte lesen und verstehen. Eine theoretische und empirische Vergleichsstudie. Band 1, Dissertation an der Fakultät für Mathematik der Universität Duisburg-Essen, 178.

Abb. 5: GLAUBITZ, Michael R. (2010b), Mathematikgeschichte lesen und verstehen. Eine theoretische und empirische Vergleichsstudie. Band 2, Dissertation an der Fakultät für Mathematik der Universität Duisburg-Essen, 4.

Abb. 6: Dokument „Bildungsstandards für Mathematik 8. Schulstufe“ des Bifie, 1, https://www.bifie.at/system/files/dl/bist_m_sek1_kompetenzbereiche_m8_2013-03-28.pdf

Abb. 7: BEUTELSPACHER, Albrecht/DANCKWERTS, Rainer/NICKEL, Gregor/ SPIES, Susanne/WICKEL, Gabriele (2011), Mathematik Neu Denken. Impulse für die Gymnasiallehrerbildung an Universitäten, Wiesbaden: Vieweg+ Teubner, 22.

Page 154: Gabriel Hofer-Ranz Die Verzeitlichung des Zeitlosen · Augenzwinkern zu lesen, gilt in der Philosophie das Kürzel HISTOMAT doch als Abkürzung für die Anschauung des Historischen

ISBN 978-3- 902897-07-7

Das „Nachwuchsforum Fachdidaktik“ des Forschungsnetzwerks Fachdidaktik (FNF) an der Universität Graz ist eine Initiative zur Nachwuchsförderung im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „Lernen – Bildung – Wissen“, die jungen NachwuchswissenschafterInnen die Möglichkeit gibt, ihre wissen-schaftlichen Arbeiten im Bereich der Fachdidaktik einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. In die Reihe aufgenommen werden ausgezeichnete Diplom- und Masterarbeiten, Dissertationen und Habilitationen.