Gadamer Der Ununterbrochene Dialog

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Jacques Derrida und Hans-Georg Gadamer lernten sich in den frühen 80er Jahren kennen, und seit dieser Zeit entspann sich eine kon

troverse Auseinandersetzung über die Hermeneutik, die Kunst der

Interpretation, insbesondere über die Endlichkeit unseres Verstehens. Als Gadamer starb, hielt Derrida im Februar 2003 die Festredezur Gedenkfeier der Universität Heidelberg. Mit einer eindringlichen Celanlektüre führt Derrida vor, wie das Gespräch mit Gada

mer über seine letzte Unterbrech ung hinaus am Ende zu einem »ununterbrochenen Dialog« werden könnte. Dem Band beigefügt sindKommentare Gadamers zu Celans Gedichtfolge Atemkristall sowie

Materialien aus der Zeit de r ersten Begegnung. In Derridas Reflexionüber den Abschied und das Abschiednehmen kommt es hier zu einerletzten, vielleicht entscheidenden Annäherung.

Jacques Derrida, geb. 1930, ist Professor für Philosophie an der Ecole

des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Hans-Georg Gada-

J cques Derrida

Hans-Georg Gadamer

Der ununterbrochene Dialog

Herausgegeben und

mi t einem Nachwort versehen

von Martin Gessmann

mer (19°0-2002) war Professor für Philosophie an der Universität SuhrkampHeidelberg.

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edi tion suhrkamp 23 57

Erste Auflage 2004© der deut schen Ausgabe Suhrkamp Verlag

Frankfurt am Main 2004Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der

Übersetzung , des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf i n irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-BadenUmschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rol f StaudtPrinted in GermanyISBN 3-518-12357-2

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Inhalt

Jacques Derrida

Der ununterbrochene Dialog: zwischen zweiUnendlichkeiten, das Gedicht 7

Jacques Derrida

Guter Wille zur Macht (I)Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer 51

Hans-Georg Gadamer

Wer bin Ich und wer bist Du?Kommentar zu Celans Gedichtfolge >Atemkristall< 55

Nachwort von Martin Gessmann 97

Textnachweise 109

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J cques Derrida

Der ununterbrochene Dialog:

zwischen zwei U nendlichkeiten,

das Gedicht

Kann ich hier vor Ihnen meine Bewunderung für Hans

Georg Gadamer überhaupt angemessen und wahrheitsge

treu wiedergeben?

Sie ist vor so langer Zeit aus Respekt und Zuneigung zu

ihm entstanden, und in sie mischt sich dunkel eine uralte

Melancholie.

Diese Melancholie hat, so würde ich sagen, nicht nur

historische Gründe. Denn selbst wenn es ein solches Er

eignis gäbe, an dem man sie festmachen könnte, so bliebees noch schwer zu entziffern, und die Art und Weise, wie

es in ihr widerhallt, wäre immer noch einzigartig, intim,

fast privat und geheim, noch zurückhaltend. Dort, wo sie

anhebt, zielt sie nicht immer ins Epizentrum jener Er

schütterungen, die meine Generation mehr aus ihren Wir

kungen denn aus ihren Ursachen, verspätet, indirekt und

vermittelt wahrgenommen hat. Ih r großer Zeitzeuge ist

Gadamer, er ist ihr Philosoph. Das gilt nicht nur für

Deutschland. Jedesmal, wenn wir miteinander gesprochen

haben, übrigens immer auf französisch, mehr als einmal

hier in Heidelberg, oft auch in Paris oder in Italien, hatte

ich bei allem, was er mir in herzlicher Freundschaft anver

traut hat - einer Freundschaft, durch die ich mich geehrt,

mehr noch gerührt und bestärkt fühlen durfte -, den Ein

druck, einJahrhundert deutschen Denkens, deutscher Phi

losophie und Politik besser zu verstehen. Un d dies gilt

wiederum nicht nur für deutsches Denken, deutsche Phi

losophie und Politik.

De r Tod hat diese Melancholie sicherlich verändert,durch ihn lastet sie unendlich schwerer. De r Tod hat sie

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besiegelt. Fü r immer. Es fällt mir aber dennoch schwer zu

unterscheiden, unter diesem starr gewordenen, versteinerten Siegel, in dieser schwer zu lesenden, aber auch irgendwie gesegneten Unterschrift, inwiefern sie auf den Toddes Freundes zurückgeht oder ihm schon so langevorangegangen ist. Schon bei unserer ersten Begegnung in Paris

I9 8I muß mich diese Melancholie, eine andere damals unddoch dieselbe, befallen haben. Unsere Diskussion konntewohl nur mit einer merkwürdigen Unterbrechung beginnen, die nicht etwa ein Mißverständnis war, sonderneine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unent-

lichiedenen. Und eher die Geduld einer unbestimmten Er-

wartung, einer Epoche, die den Atem anhält, das Urtei l zurückhält und sich die Schlußfolgerung aufbehält. Da standich, mit offenem Mund, sprachlos. Ich sprach kaum mit

ihm, und was ich damals sagte, richtete sich nur indirekt anihn. Und doch war ich mir sicher, daß wir von nun an aufeine merkwürdige, aber innige Weise etwas teilen würden.Vielleicht eine Teilhaberschaft. Damals schon hatte ich eineVorahnung: Was Gadamer wahrscheinlich einen »innerenDialog« genannt hätte, sollte in jedem von uns weitergeführt werden, manchmal wortlos, unmittelbar in uns oder

indirekt. Eine Bestätigung fand dies in den Folgejahren dadurch, daß, diesmal allerdings wort reich und sehr gelehrt,eine ganze Reihe von Philosophen auf der ganzen Welt, in

Europa, besonders aber in den Vereinigten Staaten, den oftauch fruchtbaren Versuch gemacht haben, ihrerseits diesenAustauschzu übernehmen, der j anoch rein virtuell und zu-

rückgehalten war, ihn dadurch erst richtig herzustellen, zu

verlängern oder seinen merkwürdigen Bruch zu deuten.

1.

Wenn ich hier von einem Dialog spreche, verwende ich ein

Wort, das meinem Sprachgebrauch zugegebenermaßenfremd bleiben wird, und zwar aus tausenderlei Gründen,

8

guten und schlechten, deren nähere Erläuterung ich Ihnenhier erspare. Dieses Wort bleibt mir fremd wie eine Fremdsprache, deren Gebrauch ein besorgtes und umsichtigesÜbersetzen erforderte. Wenn es dann darum geht, genauzu sagen, was »innerer Dialog« heißt, b in ich froh, daß ichGadamer schon in mir habe sprechen lassen. Ich über

nehme von ihm, und zwar wortwörtlich, was er kurz nachunserer ersten Begegnung I98 5 gesagt hat, zum Schluß seines Textes Destruktion und Dekonstruktion:

»Vollends das Gespräch, das wir in unserem eigenen Denken weiterführen und das sich vielleicht in unseren Tagen um neue großePartner aus einem sich planetarisch erweiternden Menschheitserbe bereichert, sollte überall seinen Partner suchen - und insbesondere wenn er ein ganz anderer ist. Wer mir Dekonstruktion

ans Herz legt und auf Differenz besteht, steht am Anfang eines

Gespräches, nicht an seinem Ziele.« 1 (HervorhebungJ. D.)

Was macht diese Begegnung heute noch so unheimlich,

nachdem sie in den Augen vieler geradezu mißlungen war,sich aus meiner Sicht aber eben dadurch als glückliche Fü-

gung, wenn nicht gar als Erfolg erweisen sollte? Ihr Scheitern geriet so erfolgreich, daß sie eine lebendige und pro-

vozierende Spur hinterließ, der eine größere Zukunft beschieden sein sollte als einem Dialog voll Harmonie und

Einverständnis.Diese Erfahrung nenne ich unheimlich, un d zwar auf

deutsch. Im Französischen habe ich keine Entsprechung,die dieses Gefühl mit einem Wort beschreiben könnte. Im

Laufe dieser einmaligen, un d damit unersetzlichen Begegnung schlich sich eine einzigartige Fremdheit ein und verschmolz mit dieser innigen und verstörenden Nähe, diemanchmal beunruhigend, beinahe gespenstisch war. Dieses unübersetzbare deutsche Wort, unheimlich, braucheich noch einmal jetzt, in dem Augenblick, da ich hier vor

Ihnen auf französisch spreche und Sie auf deutsch mitle-

I Gesammelte Werke, Band II, Tübingen 1986, S. 361-372, hier: S. 372.

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sen können, um unsere gemeinsame Sensibilität für die .Grenzen der Übersetzung zu schärfen. Damit möchte ichauch daran erinnern, wie Gadamer selbst das diagnosti':'ziert hat, was viele unserer Freunde ein wenig überstürztals so etwas wie ein U rmißverständnis gedeutet haben. Ermeinte, die Hürden der Übersetzung seien einer der we

sentlichen Gründe für jene Unterbrechung gewesen, diedoch überraschend kam, damals, r981. Sieben Jahre später, es muß kurz nach unserer zweiten öffentlichen De-

batte gewesen sein, diskutier ten wir hier in Heidelberg zu-

sammen mit Philippe Lacoue-Labarthe und Reiner Wiehlüber Heideggers politisches Engagement. Damals, gleicham Anfang von Dekonstruktion und Hermeneutik, sahq-adamer in den Sprachgrenzen den Ort, an dem uns dieUbersetzung herausfordert und stets die Gefahr des Mißverständnisses droht:

»Das Gespräch zwischen selbständigen Fortführern Heideggerscher Anstöße, das meine Pariser Begegnung mit Derrida vor einigenJahren sein wollte, hatte es mit besonderen Erschwerungenzu tun. Da ist vor allem die Sprachbarriere. Sie wird immer dann

groß, wenn Denken oder Dichten Traditionsformen zu verlassenstrebt und aus der eigenen Muttersprache neue Weisungen her-auszuhören trachtet.«2

Gadamer spricht also lieber von »Denken oder Dichten«als von Wissenschaft und Philosophie. Dies ist kein Zufall,

und daran gälte es heute anzuknüpfen. In einem Aufsatzmit dem Titel »Die Grenzen der Sprache« (I984), der demsoeben zitierten von I988 vorausging und also noch näheran unserem ersten Treffen (r98r) liegt, betonte er noch

einmal ausdrücklich, daß die Frage der Übersetzung engmit der dichterischen Erfahrung verbunden ist. Das Gedicht ist nicht nur das beste Beispiel dafür, daß etwas un-

übersetzbar ist, es ist der eigenste, am wenigsten uneigeneOr t der Herausforderung für eine jede Übersetzung. Das

2 Gesammelte Werke, Band X, Tübingen 1995, S. 138-147, hier: S. 138.

10

Gedicht zeigt wahrscheinlich den einzigen Ort an, an demsich Sprache einzig erfahren läßt, nämlich in ihren idiomatischen Besonderheiten, die einerseits für immer derÜbersetzung widerstehen und deshalb andererseits eineÜbersetzung einfordern, der zugemutet wird, das Un-

mögliche zu leisten, das Unmögl iche in einem unerhörten

Ereignis möglich zu machen.Gadamer schreibt in »Die Grenzen der Sprache«: »Füruns alle aber gilt das [gemeint ist das »Phänomen derFremdsprache«], wo es sich um Übersetzung handelt.[Und in einer Fußnote verweist er auf seinen Aufsatz»Lesen istwie Übersetzen«.3] Da ist Poesie, das lyrische Gedicht, die große Instanz für die Erfahrung der Eigenheitund der Fremdheit von Sprache.«4

Ich nehme also einmal an, daß sich das Ganze der Poesiestückweise und schlicht und einfach aus dem ergibt, waswir Kunst oder die schönen Künste nennen, und erinnereauch daran, was Gadamer mehr als einmal, ganz besondersin seiner Selbstdarstellung,S zu diesem Thema sagt. Er unterstreicht die wesentliche Rolle dessen, was er in seinerphilosophischen Hermeneutik die »Erfahrung der Kunst«nennt, gegenüber allen anderen Verstehenskünsten, die ihrals Ausgangspunkt dienen. Vergessen wir nicht: Wahrheit

und Methode beginnt mit einem Kapitel über die »Erfahrung der Kunst«, und damit schafft sich Gadamer den

Raum für eine »Erfahrung des Kunstwerks«, die »jedensubjektiven Horizont der Auslegung, den des Künstlerswie den des Aufnehmenden, grundsätzlich immer übersteigt«.6 In diesem Horizont der Subjektivität steht dasKunstwerk dem Subjekt nie einfach gegenüber wie einObjekt. Es gehört zu seinem Werkcharakter, das Subjektzu affizieren und es zu verändern, angefangen bei dem, der

3 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 279-28 5.

4 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 35°-361, S. 360.5 Gesammelte Werke, Band II, Tübingen 1986, S. 479-508.6 A. a. 0., S. 437-448, hier: S. 441.

I I

 

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unterzeichnet. Gadamer schlägt vor, die zuvor angenom- .mene Ordnung durch eine paradoxe Formel umzukehren:

»Das >Subjekt< der Erfahrung der Kunst, das was bleibt und beharrt, ist nicht die Subjektivität dessen, der sie erfährt. Sonderndas Kunstwerk selbst.</

Diese souveräne Autorität des Werkes, die beispielsweisedas Gedicht zum erteilten Befehl und zum Diktum einesDiktats macht, ist aber auch die Aufforderung zur verantwortlichen Antwort und zum Gespräch. Sie erkennen hie rden Titel eines Werkes wieder, das Gadamer 1990 veröffentlichte: Gedicht und Gespräch.8

Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, ohne Anmaßungvon einem Dialog zwischen mir und Gadamer zu sprechen. Sollte ich aber doch Anspruch darauf erheben dürfen, wie gering er auch sein mag, so würde ich ein weiteres Mal darauf bestehen, daß dieser Dialog zunächst eininnerer und unheimlicher war. Das Geheimnis, das dieserUnheimlichkeit auch hier und jetzt zugrunde liegt, ergibtsich gerade daraus, daß dieser innere Dialog wohl jeneTradition am Leben, lebendig und glücklich erhalten hat,die ihn äußerlich aufzuheben schien - besonders in derÖffentlichkeit. Dieses Gespräch, davon gehe ich einmalaus, hat tief im Inneren die Erinnerung an jenes Mißverständnis mit einer bemerkenswerten Beständigkeit be

wahrt, ohne sich je nach außen zu verschließen. Es hat denverborgenen Sinn jener Unterbrechung ununterbrochen

kultiviert und gerettet, verschwiegen oder auch nicht - fürmich meistens innerlich und nach außen hin stumm.

Man spricht oft und ein bißchen leichtfertig von eineminneren Monolog. Indes geht ihm ein innerer Dialog voraus und macht ihn erst möglich. Er leitet und führt ihn, indem er ihn aufspaltet und bereichert. Mein innerer Dialogmit Gadamer, mit Gadamer selbst, mit dem lebenden,

7 Gesammelte Werke, Band I, Tübingen 1986, S. 108.8 Frankfurt am Main 1990.

12

noch immer lebenden Gadamer, wenn ich so sagen darf,sollte seit unserem ersten Treffen in Paris nie unterbro

chen werden.Wahrscheinlich beruhte diese Melancholie, wie immer

bei einer Freundschaft (zumindest empfinde ich es jedesmal so), auf einer traurigen und erschütternden Gewiß

heit: Eines Tages wird der Tod uns trennen. Das ist dasschicksalhafte und unabwendbare Gesetz: Von zweiFreunden wird der eine den anderen sterben sehen. Un d

so virtuell dieser Dialog auch sein mag, er wird durch eineletzte Unterbrechung doch für immer versehrt bleiben.Unvergleichlich ist diese Trennung zwischen Leben und

Tod, sie drückt dem Gespräch ein Siegel auf, das von nun

an das Denken vor ein erstes Rätsel stellen wird , das wir zu

entziffern versuchen, unendlich. Der Dialog geht wahrscheinlich weiter, seine Spur setzt sich im Überlebendenfort. Jener glaubt den anderen in sich zu bewahren, wie eres schon zu seinen Lebzeiten tat; künftig wird er ihn insich sprechen lassen. Vielleicht gelingt ihm dies besserdenn je - eine erschreckende Annahme. Doch das Überleben trägt in sich die Spur eines unauslöschlichen Einschnitts (aus). Die Unterbrechung vervielfacht sich, eineUnterbrechung affiziert die andere, (ist) eine Unterbre

chung in der Spiegelung, unheimlicher denn je.Aber warum muß man eigentlich soviel Wert auf diese

Unterbrechung legen? Un d was ist es in meiner Erinnerung, das mein Gedenken heute so nachhaltig verstört? Ehbien, es liegt wohl an all dem, was gesagt wurde, geschahoder sich ereignete seit jener letzten von drei Fragen, dieich Gadamer 1981 in Paris zu stellen wagte. Diese Fragebedeutete sowohl die Herausforderung, ja vielleicht gardie Bestätigung des Mißverständnisses, eine scheinbareUnterbrechung des Dialogs, wie auch andererseits den Beginn eines inneren Dialogs in jedem von uns beiden, eines

virtuell unendlichen und quasi-kontinuierlichen Dialogs.Tatsächlich, es war so, ich forderte eine gewisse Unterbre-

 

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chung geradezu heraus. Aber weit davon entfernt, damitden Dialog zum Scheitern zu verurteilen, konnte dieseUnterbrechung ebenso die Voraussetzung für Verstehenund Einvernehmen werden. Erlauben Sie mir ausnahms-weise, diese Frage in Erinnerung zu rufen. Sie war diedritte und letzte aus einer Reihe von Fragen zum guten

Willen im Streben nach Konsens sowie zur schwierigenEingliederung einer psychoanalytischen Hermeneutik ineine allgemeine Hermeneutik :

»Dritt e Frage: Auch diese geht auf die Axiomatik des guten Wil-lens. Mögen nun psychoanalytische Hintergedanken mit im

Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage berechtigt, was es mitdieser axiomatischen Bedingung des Interpretationsdiskurses aufsich hat, mit dem, was Professor Gadamer »Verstehen«, »verste-hen des anderen«, »sich miteinander verstehen« nennt. Ob mannun von der Verständigung oder vom Mißverständnis (Schleier-

macher) ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedin-gung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlichentfaltender Bezug zu sein (wie es gestern abend hieß), nicht docheher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewisserma-ßen, eine Aufhebung aller Vermittlung?«9

Die melancholische Gewißheit, von der ich hier rede, be-ginnt also wie immer bereits zu Lebzeiten der Freunde.Nicht nur durch eine Unterbrechung, sondern durch einWort der Unterbrechung. Ein cogito des Adieu, diesesendgültigen Grußes, zeichnet den Atem selbst des Dialo-

ges, eines Dialoges in der Welt oder eines inners ten Dialo-ges. Die Trauer wartet nicht mehr. Seit dieser ersten Be-gegnung kommt diese Unterbrechung dem Tod zuvor, siegeht ihm voran und hüllt einen jeden in die Trauer einerunerbittlichen zukünftigen Vergangenheit. Einer von u'ns

beiden wird alleine zurückgeblieben sein, wir wußten es

beide im voraus. Un d immer schon. Einer von uns beidenwird von Anfang an dazu verurteilt gewesen sein, ganz al-leine, in sich, sowohl den Dialog, den er über die Unter-

9 Forget, Philippe (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 58.

brechung hinweg fortsetzen muß , als auch die Erinnerungan die erste Unterbrechung weiterzutragen.

Und, so werde ich sagen, ohne es mir mit einer Über

treibung leicht zu machen, die ganze Welt des anderen.Die Welt nach dem Ende der Welt.

Denn der Tod ist, jedesmal, und jedesmal einzigartig, je-

desmal unwiederbringlich, jedesmal unendlich, nichts we-niger als ein Ende der Welt. Nicht nur ein Ende unter an-deren, das Ende einer Person oder einer Sache in der Welt,

das Ende eines Lebens oder eines Lebewesens. Der Todbereitet nicht nur jemandem in der Welt ein Ende, auchnicht nur einer Welt unter anderen; vielmehr zeigt er je-desmal, der Rechenkunst zum Trotz, das absolute Ende je-ner einen und selben Welt, desjenigen, was ein jeder wieeine einzige und selbe Welt eröffnet; er zeigt das Ende dereinzigartigen Welt, das Ende der Gesamtheit dessen, wasder Ursprung der Welt für ein solches einzigartiges Lebe-wesen ist (sei es nun ein Mensch oder nicht) oder als sol-cher erscheinen kann.

Der Überlebende bleibt also allein. Jenseits der Welt desanderen ist er auch auf gewisse Weise jenseits oder dies-seits der Welt selbst. In der Welt außerhalb der Welt und

der Welt beraubt. Er fühlt sich zumindest allein verant-wortlich, dazu bestimmt, sowohl den anderen als auchdessen Welt weiterzutragen, den verschwundenen anderen

und die verschwundene Welt, verantwortlich und weltlos,weltbodenlos, künftig in einer weltlosen Welt, als wäre ererdenlos jenseits des Weltendes.

11.

Eine erste Möglichkeit wäre es, wahrscheinlich nicht dieeinzige, den Klang eines Celanverses auf uns wirken zu

lassen, diesseits oder jenseits übe rprüfbarer Deutungen:Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.

 

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Es ist der letzte Vers eines Gedichts aus der Sammlung

Atemwende,lofestgehalten wie eine Sentenz, gleich einem

Seufzer oder einem Urteils spruch. Celan hatte mir kurz

vor seinem Tode ein Exemplar dieses Bandes geschenkt,

wir waren für einige Jahre Kollegen an der Ecole Normale

Superieure. Auch dies ein Bruch, auch dies eine Unterbre-chung.

Wenn ich hier seine Stimme zu Gehör bringe, wenn ich

sie jet zt in mir höre, so zunächst deshalb, weil ich Gada

mers Bewunderung für diesen anderen Freund teile, der

Paul Celan uns war. Wie Gadamer habe auch ich oft ver

sucht, Paul Celan zu lesen, nachts, und mit ihm zu denken.

Mit ihm, ihm entgegen. Wenn es mir jetzt noch einmal

darum geht, mich dem Gedicht zu nähern, geschieht dies

im Versuch, mich an Gadamer zu wenden, an ihn selbst, in

mir, außer mir, oder dies zumindest zu simulieren, um mit

ihm zu sprechen. Mit meiner Lektüre würde ich ihm heute

gerne eine Ehre erweisen. Doch wird sie auch eine be

sorgte Deutung sein, zitternd und durchzittert, vielleicht

sogar etwas ganz anderes als eine Deutung. Zumindest

verfolgt sie einen Weg, der den seinen kreuzen könnte.

GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG

mi t dem sich

hinaus- und hinweg-

wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:

der verkieselten Stirn eines Widders

brenn ich dies Bild ein, zwischen

die H ärner, darin,

im Gesang der Windungen, das

Mark der geronnenen

Herzmeere schwillt.

10 Gesammelte Werke, Band I I (Gedichte 2), Frankfurt am Main 2000 ,

S·97·

16

Wo

gegen

rennt er nicht an?

Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.

Wir werden dieses Gedicht erneut lesen. Wir werden versuchen, ihm zuzuhören und auf verantwortli che Weise auf

das zu antworten, was Gadamer oft den Anspruch des

Werkes nennt, den Anspruch, den es an uns richtet, die

andauernde Aufforderung des Gedichts an uns, ihm Rede

und Antwort zu stehen, die hartnäckige, aber immer be

rechtigte Erinnerung an sein Anrecht, seine Rechte gel

tend zu machen. Aber warum dieser Vorgriff? Und war

um habe ich den letzten Vers zuerst zitiert, allein und noch

vor allen anderen, und ihn damit wahrscheinlich gewalt

sam und künstlich isoliert: Die Welt ist fort, ich mu ß dich

tragen?

Wahrscheinlich, um ihm ein Gewich t beizumessen, des

sen Bedeutung [portee] ich im folgenden zu wiegen versu

chen werde, um ihre Schwere abzuwägen, sie zu ertragen,

wenn nich t gar, um sie zu denken. Was heißt wiegen? Und

was heiß t abwägen? Denken, das bedeute t auch, im Latei

nischen wie im Französischen: abwiegen, abwägen, aus

balancieren, vergleichen, untersuchen.Hierzu, um zu den

ken und zu wiegen, muß man also tragen (vielleicht Celanstragen), in sich tragen und auf sich tragen. Nehmen wir

einmal an, wir könnten alles auf die etymologische Karte

setzen, was ich niemals tun würde, so scheint es ganz so,

als hätten wir im Französischen nicht das Glück jener

Nähe von Denken und Danken. Wir haben Schwierigkei

ten, Fragen der Ar t zu übersetzen, wie sie Heidegger in

Was heißt Denken? stellt:

»Zum Gedachten und seinen Gedanken, zum »Gedanc« gehört

der Dank. Doch vielleicht sind diese Anklänge des Wortes »Denken« an Gedächtnis und Dank nur äußerlich und künstlich ausge-

17

 

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dacht. [ .. Ist das Denken ein Danken? Was meint hier Danken?Oder beruht der Dank im Denken?«!!

Wenn wir auch nicht dieses glückliche Zusammenspiel

oder Einverständnis zwischen Denken und Danken ha

ben, wobei allerdings der Dank immer in der Gefahr stün

de, Ersatz im Tausch mit dem Denken zu sein, so haben

wir doch in unseren romanischen Sprachen jene Freund-schaft zwischen Denken und Wiegen (pensare), zwischen

dem Gedanken und der Schwere. Zwischen Denken un d

Tragen. So auch beim Wort examen. Das Gewicht eines

Gedankens ruft nach un d benennt sich immer nach einem

Examen, und Sie wissen, daß Examen im Lateinischen den

Zeiger einer Waage bezeichnet, der man die Richtigkeit

und vielleicht Gerechtigkeit eines Urteils darüber anver

traut, was man ihr zu wägen aufträgt.

Mit dem anfänglichen Zitat und derWiederholung des letz

ten Verses, Die Welt ist fort, ich mu ß dich tragen, wollte

ich auch, bis zu einem gewissen Punkt zumindest und so

weit es irgend geht, Gadamer treu bleiben und ihn sogar

nachahmen, mit einer Geste, die er in seinem Buch Wer bin

Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Gedichtfolge

>Atemkristall<!2 zweimal wiederholt.

Gadamer hatte angekündigt, »nach dem hermeneuti

schen Prinzip« vorzugehen und mit dem Schlußvers be

ginnen zu wollen, auf dem das ganze Gewicht des zu

II Was heißt Denken?, Tübingen 1954, S. 91.12 Frankfurt am Main 1973.

18

Wenn mir nicht die Zeit gefehlt hätte und ich mutig genug gewesen

wäre, hätte ich hier noch versucht, um des Motivs der Hände und Fin-

ger willen auch auf »Aus der Vier-Finger-Furche .. . « und »ASCHEN

GLORIE hinter I deinen erschüttert-verknoteten I Händen am Drei-

weg. [ .. Aschen- I glorie hinter I euch Dreiweg- I Händen« in Aschenglorie (Atemwende) einzugehen.

Ich habe an anderer Stelle eine Interpretation dieses Gedichts vorgelegt: »A Self-Unsealing Poet ic Text: Poetics and politics of Witnessing«

in: Michael P. Clark (Hrsg.), Revenge 0/ the Aesthetic, Berkeley/LosAngeles/London 2000, S. 18of.

interpretierenden Gedichtes liegt: wühl ich mir den I ver

steinerten Segen. »Denn darin«, so schreibt er, »liegt of

fenbar der Kern dieses Kurzgedichts.«

Wir stehen also heute hier, zwischen zwei Atemzügen

oder zwei Inspirationen, Atemwende un d Atemkristall.

Unter den von Gadamer kommentierten Gedichten befin

det sich beispielsweise folgendes:

WEGE IM SCHATTEN-GEBRÄCH

deiner Hand.

Aus der Vier-Finger-Furche

wühl ich mir den

versteinerten Segen.

Dieses Gedicht spricht möglicherweise vom Glück eines

Segens, eines versteinerten Segens, so versteinert wie das

Siegel, das mich gerade schon faszinierte, eines Segens, in

dessen Zeichen ich diesen Moment gerne festschreiben

würde. Es wird wahrscheinlich von derselben Hand ge

schrieben, mit denselben Fingern, wie so viele andere

Segnungen Celans. Zu m Beispiel Benedicta: »Ge-I segnet

seist du, von weit her, von I jenseits meiner I erloschenen

Finger. «13

Sie haben es sicher bemerkt: Das Wühlen des anderen

Gedichts aus Atemwende (mit dem sich I hinaus- und hin

weg-I wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm) scheint ein

Echo zu sein auf jenes »Wühlen« aus dem vorliegenden

Gedicht der Sammlung Atemkristall (Wühl ich mir den I

versteinerten Segen).

Meint Wühlen nicht dasselbe unruhige Aufwühlen,

beide Male nämlich die Bewegung eines subversiven und

suchenden, neugierigen un d ungeduldigen Dranges nach

Wissen? Gadamer verweist mehr als einmal nachdrücklich

13 Gesammelte Werke, Band I (Gedichte I), Frankfurt am Main 2000,

S.249f.

 

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auf dieses Wort. De r Segen ist nicht gegeben, er wird gesucht, er scheint der Hand entwunden. Er übt einen fragenden Druck aus, er sucht eine Hand zu öffnen, die sichselbst und ihren Sinn verschließt. Eine Hand würde so dieBotschaft des Segens noch verborgen halten. Die Segenshand gibt damit etwas zu lesen, aber sie fordert auch auf zu

lesen, was sie der Lektüre vorenthält. Zugleich gibt sie undentzieht sie den Sinn der Botschaft. Sie hält den Segen zu-

rück. Als sei ein im voraus erworbener Segen, ein Segen,mit dem man rechnen kann, ein überprüfbarer, berechenbarer, entscheidbarer Segen kein Segen mehr. Muß ein Segen nicht immer unwahrscheinlich bleiben?

Dieses Gedicht stellt uns also vor ein erstes Deutungsproblem. Gadamer stellt folgende Hypothese auf:

»Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteinerungen gegenwärtig ist. Nu n sagt das Gedicht: Dieser Segen der segnenden Hand

wird mit der wühlenden, verzweifelten Inbrunst eines Bedürftigen gesucht.«14

Er wagt also einen kühnen Schritt. Er schlägt vor, in dieserVision eine umstürzende oder umstürzlerische Lektüreszene zu sehen. Was das Gedicht uns zu lesen gibt, wäreauch die Szenerie der Lektüre, die Provokation, die zur

Lektüre dessen aufruft, was das Gedicht selbst zu lesengibt:

»Damit geschieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand

zu der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hoffendeBotschaft verborgen ist.«15

De r Segen des Gedichts: Dieser doppelte Genitiv benenntwohl die Gabe eines Gedichts, das sowohl den anderensegnet als auch sich vom anderen, dem Adressaten oder

Leser, segnen läßt. Aber diese Wendung zum anderen hin

schließt diese selbstreferentielle Reflexion nicht aus: Es istimmer möglich zu sagen, das Gedicht spreche von sich

14 A. a. 0. , Gesammelte Werke, Band XI, S. 405.15 Ebd.

20

selbst, von der Szene des Schreibens, des Unterschreibensund von der Lektüre, die es eröffnet. Diese spiegelhafteund autotelische Reflexion bleibt nicht in sich verschlossen; sie ist gleichzeitig und unwiderruflich ein dem anderen gewährter Segen, eine gegebene Hand, zugleich geöff-

net und geschlossen.

Was ist die Hand? Diese Hand hier, die Hand dieses Gedichts? Wie soll man sich hier in einem Bild gleichzeitigdie Öffnung und das Schließen vorstellen? Vom erstenSatz an hatte Gadamer angekündigt, ich wiederhole es noch

einmal, daß er »nach dem hermeneutischen Prinzip« mitdem Schlußvers beginnen würde, auf dem der Akzent liegt:wühl ich mir den / versteinerten Segen, jenem Schlußvers,in dem sich ihm zufolge ganz offenbar »der Kern diesesKurzgedichts« findet. Nehmen wir einmal vorläufig und

fraglos hin, daß dies das einschlägige hermeneutischePrinzip ist und daß es eine solche Evidenz gibt. Unters tellen wir, daß der Schlußvers den Sinn des ganzen Gedichtsträgt. Doch im Verfolgen dieser beiden Axiome gestehtGadamer sehr schnell ein, un d zwar ausdrücklich, daß ersich in seiner Deutung mit mehr als einer Unterbrechungkonfrontie rt sieht. Sie muß auch eine Reihe von Fragen inder Schwebe lassen, in Form von Unterbrechungen beimEntziffe rn des Sinns.

Die ersten Unterbr echungen folgen zunächst Falten, die

auch Furchen der Lektüre sind. Gadamer schreibt:

»Was mit dem >Schatten-Gebräch< gemeint ist, lehrt der Zusammenhang. Wenn die Hand sich etwas krümmt und die FaltenSchatten werfen, dann werden in dem >Gebräch< der Hand, dasheißt in dem Geflecht von Brechungen und Faltungen, die Brücheals Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen dieSprache des Schicksals oder des Wesens heraus. Die >Vier-FingerFurche< nun ist die durchgehende Querfalte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Daumen in einer Einheit zusammenfaßt.«16

16 Ebd.

21

 

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Gadamer beschreibt zunächst, so scheint es, eine Ar t

mehrfacher, aber ganz innerlicher Unterbrechung, eine

solche, die sich im Innern der Hand gleichzeitig zur Lek

türe anbietet und sich dieser verweigert: »Im Geflecht von

Brechungen und Faltungen [werden] dieBrüche als Linien

sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus ihnen die

Sprache des Schicksals oder des Wesens.« Diese Bruchlinien verorten sich bereits in einem Text, der sich aufspannt

und hergibt. De r Text ist hier eine segnende Hand, die je

doch ebensogut Gefahr läuft, sich entlang ihrer internen

Grenzen zu verweigern, zu entziehen, zu verschwinden.

Ohne diese Gefahr, ohne diese Unwahrscheinlichkeit, oh

ne diese Unmöglichkeit der Beweisführung, die unendlich

verbleiben muß und nicht durch eine Sicherheit gesättigt

oder abgeschlossen werden darf, gäbe es keine Lektüre,

keine Gabe, keinen Segen.

Später geschieht die Unterbrechung am Rande, sie

durchzieht diesmal nicht mehr das Innere des Textes. Sie

umschließt ihn. Eine externe Grenze zeichnet eine in der

Schwebe lassende Unterbrechung. Nachdem Gadamer

eine Reihe von Lesarten skizziert und riskante Fragen

aufgeworfen hat, besonders hinsichtlich des »Ich« - das

»Ich« des Dichters oder das des Lesers, der nach einem Se

gen, nach einer gesegneten Lektüre sucht -, läßt er eine

Reihe von Fragen unentschieden, unentscheidbar, auf der

Schwelle. Weit davon entfernt, die deutende Lektüre abzuschließen, eröffnen und befreien sie ihre eigentliche Erfah

rung. Diesmal wird es um das »Du« nicht weniger als um

das »Ich« gehen. Es sind alles Aussagen, die, mit einem Fra

gezeichen versehen, die Möglichkeit der Segnung und die

Zukunft der Interpreta tion an eineUnterbrechung binden,

die nachdenklich macht und die Dinge in der Schwebe hält.

Damit der feste Entschluß darin deutlich wird, das U nent

scheid bare wirkl ich unentschieden zu lassen, möchte ich

nun, wenn Sie erlauben, den gesamten Absatz zitieren. Erschließt ohne Schlußfolgerung. Hier wird dem Gedicht

22

selbst - und nicht etwa dem Dichter oder dem Leser - das

Recht zuerkannt, im Unentschiedenen zu bleiben.

»Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segenshand, die

nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand des verborgenen

Gottes zu sehen, dessen Segensfülle unkenntlich wurde und uns

nur noch wie in Versteinerungen überkommen ist, ob diese nun

das er starrte Zeremoniell der Religionen oder die erstarrte Glaubenskraft der Menschen sein mägen. Aber wieder wird es so sein,

daß das Gedicht darüber nichts entscheidet, wer hier »Du« ist.

Seine alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der in >dei-

ner< Hand - wessen Hand es auch sei - nach Segen sucht. Was er

findet, ist >versteinerter< Segen. Ist das noch Segen? Ein letztes an

Segen? Aus deiner Hand?«'7

Ich will Ihnen nu n anvertrauen, was ich, zu Recht oder zu f.Unrecht, im Nachklang dieser letzten Fragen weiterhin

und unbedingt lebendig halten will. Mehr noch als die Un

entschiedenheit an sich bewundere ich Gadamers ausge

sprochenen Respekt gegenüber einer solchen U nentschie

denheit. Sie scheint zwar die Entzifferung der Lektüre zu

unterbrechen oder aufzuheben, sichert jedoch tatsächlich

deren Zukunft. Die Unentschiedenheit hält die Aufmerk

samkeit immerzu in Atem, d. h. am Leben, wach und

wachsam, bereit zu neuem Engagement auf ganz anderen

Wegen, bereit, jenes andere Wort mit gespitztem Oh r und

genauem Hinhören kommen zu lassen, im Atem des ande

ren Wortes und des Wortes des anderen gehalten - selbstdort, wo es noch unverständlich, unhörbar und unüber

setzbar scheinen mag. Die Unterbrechung ist unentschie

den, sie unentscheidet [indecideJ. Sie haucht der Frage ih

ren Atem ein, der nicht etwa lähmend wirkt, sondern sie in

Bewegung bringt. Die Unterbrechung setzt sogar eine un

endliche Bewegung frei. In Wahrheit und Methode kann

Gadamer nicht umhin, den »endlosen Charakter des Dia

loges« zu unterstreichen. In »Die Grenzen der Sprache«

17 Ebd., S. 405f.

 

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spricht er an mindestens zwei Stellen vom »unendlichenProzeß«. Dieser charakterisiert einerseits das Gespräch im

allgemeinen, so daß es »vom hermeneutischen Standpunktaus [ .. kein Gespräch gibt, das zu Ende i s t ~ bevor es zu

einem wirklichen Einverständnis geführt hat«.18 Wenn es

stimmt, daß kein Dialog in Wahrheit jemals abgeschlossen

ist, so liegt das daran, daß ein »wirkliches Einverständnis,ein ganz vollständiges Einverständnis zwischen zwei Menschen, dem Wesen der Individualität widerspricht«.19Hierin erkennt Gadamer das Zeichen der Endlichkeitselbst. Ich würde sagen, daß die unterbrechende Endlichkeit eben dies ist, was den unendlichen Prozeß hervorruft.Eine Seite später wird andererseits der »unendliche Pro

zeß« als Charakteristikum des unabschließbaren Dialogseines Übersetzers mit sich selbst genannt.

Was meines Erachtens weite rhin lebendig bleiben solltein diesen letzten Fragen Gadamers über das, was im Gedicht unentschieden gelassen wurde, ist die einzigartigeund wahrscheinlich beabsichtigte Art und Weise, in der

Gadamers Rhetor ik die Sache wendet. Es handelt sich dabei in Wahrheit um etwas anderes als eine rhetorischeWendung. Über das Rhetorische einer Trope hinausgehend, sagt Gadamer wortwörtlich, daß das Gedicht selbst

nichts entscheiden werde. Das Gedicht ist hier durchausschon das Subjekt, von dem gerade die Rede war. Wenn es

überhaupt eine Initiative behält, die scheinbar souveränist, unvorhersehbar, unübersetzbar, fast unleserlich, dannliegt das auch daran, daß eine verlassene Spur zurückbleibt, die plötzlich unabhängig wird von dem, was derUnterzeichner bewußt und eigentlich sagen wollte, eineSpur, die zwar von einem Bezugspunkt zum nächsten irrt,dies aber nach einer geheimen Regel - und die dazu bestimmt ist, in einem »unendlichen Prozeß« die Entzifferungen eines jeden künftigen Lesers zu überleben. Wenn

18 Gesammelte Werke, Band VIII, Tübingen 1993, S. 359.19 Ebd.

es so ist, daß das Gedicht wie eine jede Spur auf diese Art

un d Weise schicksalhaft verlassen und von seinem Ur

sprung un d Ende abgeschnitten ist, dann macht es diesedoppelte Unterbrechung nicht nur zu jenem unglücklichen Waisenkind, als das in Platons Phaidros die Schriftbezeichnet wird. Dieses Verlassensein, das anscheinend

dem Gedicht den Vater raubt, es von ihm emanzipiert un dtrennt, von einem Vater, der die Berechnung der Unberechenbarkeit einer unterbrochenen Abstammung aussetzt;diese unmittelbare Unlesbarkeit ist dann auch die Quelle,die es dem Gedicht erlaubt, einen Segen zu erteilen (vielleicht,. nur vielleicht), zu geben, zu denken zu geben, seineTragweite abzuschätzen, zu lesen zu geben, zu sprechen(vielleicht, nur vielleicht).

Vom Herzen seiner Einsamkeit aus vermag das Gedichtselbst - und über sich selbst - stets durch seine unmittel bare Unlesbarkeit hindurch zu sprechen. Und zwar hierauf durchsichtige, dort auf eine mit esoterischen Tropendurchsetz te Weise, die eine Einweihung und eine Technikdes Lesens erfordern. Diese Selbstreferentialität bleibtstets ein Anspruch an den anderen, und sei es an den unzu

gänglichen anderen in uns. Sie hebt den Bezug auf dasNicht-Aneigenbare keineswegs auf.

Selbst dort , wo das Gedicht von der U nlesbarkeit, seinereigenen Unlesbarkeit spricht, behauptet es gleichzeitig

die Unlesbarkeit der Welt. Ein anderes Gedicht Celansbeginnt so: UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt.

2G

20 UNLESBARKEIT dieser

Welt. Alles doppelt

Die starken Uhren

Geben der Spaltstunde recht,

heiser.

Du, in dein Tiefstes geklemmt,

entsteigst dir

für immer.

aus: Schneepart (1971), in: Gesammelte Werke, Band II . (Gedichte 2),

S·33 8.

 

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Und wenig später zögert man beim Versuch, das »Du« zu

identifizieren, das das Gedicht aufruft: irgend jemand,

mancher, das Gedicht selbst, der Dichter, der Leser, die

Abgrundtiefe dieser oder jener für immer verschlüsselten

Einzigartigkeit, jeder andere, Gott, Du und ich (Du, in

dein Tiefstes geklemmt . .. ).

UI.

Werden wir auch nur in der Lage sein, die Abfolge oder

Stellvertretung der bestimmten Artikel (männlichen, weib

lichen oder neutralen Geschlechts) richtig zu lesen, wer

den wir die Kraft haben, sie zu übersetzen, im Versuch ei

ner Antwort, in der Übernahme einer Verantwortung; be

sonders auch jene Folge der persönlichen Fürwörter(ich,

er, dich), die als Pronomen genausogut für Lebendiges wie

für Totes stehen können, für Tiere, Menschen oder Götter,

und auf kunstvolle Weise das Gedicht skandieren, das fol

gendermaßen schließt:

Die Welt ist fort, ich muß dich tragen.

Ich lese das Gedicht ein weiteres Mal, eigentlich müßte

man es endlos tun. Ich hebe dabei diesmal die persön

lichen Fürwörter hervor, als ob ich unterstellen wollte, der

Anspruch dieses Gedichts erstreckte sich auch auf Gada

mers Celan-Buch: Wer bin Ich und wer bist Du? Ich tue

dies nich t ganz unbefangen, als ob ich mir erlauben würde,

darin ein Postskriptum einfließen zu lassen. Fast wie auf

einem Wachtposten wacht über jeder Strophe, unüberseh

bar und unüberhörbar - es wird Ihnen nicht entgehen -

ein je anderes Fürwor t: sich, ich, er bei jeder der drei Stro

phen, ich und dich beim letz ten Vers. Dieser sagt etwas aus

über die Tragweite (tragen), die wir uns versuchsweisedenken wollen. Man könnte beinahe meinen, ihm sei der

ganze Sinn des Gedichts in seiner Last zu tragen aufgege

ben, das, wie man dann gleich weiter vermutet , überhaupt

nur da ist, um vorab auf ihn hinzuweisen oder ihn zu il

lustrieren. Der letzte Vers ist jedoch vom Rest des Ge

dichts gesondert und getrennt durch die abgründige

Dauer eines weißen Verstummens, vergleichbar einem aus

den Fugen geratenen Aphorismus, einer Sentenz oder einem Urteil aus ferner Zeit. Er folgt auf eine spürbare,

überlange Unterbrechung, bei der man versucht ist, sie mit

virtuellen Diskursen, Bedeutungen oder endlosen Medita

tionen aufzufüllen, wenn nicht gar zu überfüllen.

GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG

mit dem sichhinaus- und hinweg-

wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:

der verkieselten Stirn eines Widders

brenn ic h dies Bild ein, zwischen

die Hörner, darin,

im Gesang der Windungen, das

Mark der geronnenen

Herzmeere schwillt.

Wo

gegenrennt er nicht an?

Die Welt ist fort, ich muß d ic h tragen.

Was Sie hier zu hören bekommen, sind bestenfalls Hilfe

rufe, bei aller Verwegenheit des folgenden Abenteuers.21

21 Jene begannen wahrscheinlich während eines diesem Gedicht gewid

meten Seminars vor einigen Monaten in Ne w York (New York Uni-

versity). Avital Ronell und Werner Hamacher waren dort meine Ge-sprächspartner. Ihnen sei hier gedankt.

 

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Ich bin mir hier über gar nichts sicher, und wenn ich mirauch sicher bin, daß überhaupt niemand hier das Rechthat, sich irgendeiner Sache sicher zu sein, werde ich diesnicht ausnutzen. Zu glauben, es gebe eine verläßliche Lesart, wäre bereits die erste Dummheit oder der schlimmsteVerrat. Das Gedicht bleibt für mich der Ort einer einzig

artigen Erfahrung. Das Berechenbare und das Unbere-chenbare verbünden sich dabei nicht nur in der Sprache eines anderen, sondern in der Fremdsprache eines anderen, 'der mir die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit zum

Gegenzeichnen gibt (was für ein zweifelhaftes Geschenk):Das Unlesbare steht dem Lesbaren nicht mehr entgegen.Indem es unlesbar bleibt, scheidet es unendliche Lektüremöglichkeiten aus und verheimlicht sie, im selben Cor-

pus.Als ich auf das Gedicht gestoßen bin, habe ich mich in

meiner Faszination, das gestehe ich als möglichen Fehlerein, sogleich auf den letzten Vers gestürzt. Gierig habe ichmir damals eine Vielzahl von Bedeutungen zu eigen gemacht, mit Hilfe welcher Hypothesen, sage ich Ihnen später noch, als wären es Aufführungen, Inszenierungen,mögliche Welten, als wären es Anschreiben, bei denen mit

ich und du alle möglichen Menschen und alle möglichenDinge belegt werden konnten, angefangen beim Dichter,dem Gedicht oder ihrem Adressaten, in der Literaturge

schichte oder im Leben, zwischen der Welt des Gedichtsund der Welt des Lebens, sogar noch über jene Welt hinaus, die fort ist. Ich versuchte also zunächst, den letztenVers ins Französische zu übersetzen. Sein grammatischesPräsens enthält mehr als nur eine Zeit: Die Welt ist f ~ r t : Die Welt ist schon fort, die Welt hat uns verlassen, die Weltist nicht mehr, die Welt ist fern, die Welt ist verloren, dieWelt ist aus den Augen, die Welt ist außer Sichtweite, dieWelt ist fortgegangen, der Welt Adieu, die Welt ist verstor

ben etc. Aber welche Welt, was ist die Welt? Und, früheroder später: Was ist diese Welt hier? In ihrer ganzen Reich-

weite alles unvermeidliche Fragen. Natürlich werde ichnoch einmal auf jene ersten Schritte zurückkommen, aufjenes Ich muß dich tragen, das scheinbar leichter zu übersetzen, aber ebenso schwer zu deuten ist.

Ich werde jetzt nicht vor Ihnen verschiedene Verfahrentheoretischen oder methodologischen Vorgehens entfal

ten, ich habe. dies an anderer Stelle versucht, hier fehlt mirdie Zeit dazu. Ich werde also nicht, zumindest nicht di- 1rekt, von jener unüberschreitbaren und doch stets schonmißbräuchlich überschrittenen Grenze sprechen zwischeneinerseits formalen Herangehensweisen, die natürlich un-

erläßlich sind, aber selbst schon thematisch und polythemathisch erscheinen, und - wie es sich für jede Herme-

neutik gehört - der Entfaltung expliziter wie impliziterSinngehalte aufmerksam nachgehen, auf semantischeZweideutigkeiten aufmerksam machen, auf Überbestimmungen, auf die Rhetorik, auf das, was der Autor bewußtsagen will, wie auf alle idiomatischen Ressourcen desDichters und seiner Sprache etc; und andererseits einerdisseminalen Lese- und Schreibpraxis [lecture-ecriture],die zwar versucht, all dies mitzubedenken, ihm Rechnungzu tragen, seine N otwendigkeit a n z u e r k e n ~ e n , sich aberauch noch auf einen Rest oder irreduziblen Uberschuß erstreckt. Das Überschießende jenes Restes entzieht sichschlechthin jeder Zusammenstellung in einer Hermeneu-

tik. Jene Hermeneutik wird vielmehr erst durch diesenÜberschuß notwendig, sie wird durch ihn erst möglich,wie er hier unter anderem auch die Spur des dichterischenWerks möglich macht, ihre Preisgabe oder ihr Überleben,über die Frage hinaus, wer der Unterzeichner oder jeweilige Leser ist. Ohne diesen Rest gäbe es nicht einmal denAnspruch, die Weisung, den Ruf, die Provokation, die injedem Gedicht singende oder singen lassende Provokation, in jenem, was man mit Celan als Singbarer Rest be

zeichnen könnte, gemäß einem Titel oder Anfang einesanderen Gedichts der Atemwende ~

 

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r Zwar dürfen wir keine Mühe scheuen in unserem Ver-such, den bestimmbaren Sinn jenes Gedichtes herauszu-finden, das folgendermaßen schließt und unterzeichnet ist:Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Aber nehmen wir

einmal an, wir könnten tatsächlich verstehen und ausma-chen, was Celan sagen wollte, von welchem datierbaren

Ereignis in der Welt oder in seinem Leben er Zeugnis ab-legt, wem er das Gedicht widmet oder an wen es adressiertist, wer das Ich, das er un d das dich im ganzen Gedichtund, davon möglicherweise verschieden, wer es im jewei-ligen Vers ist. Und selbst dann würden wir nicht die Spurjenes Restes ausschöpfen, das Übrigbleiben selbst diesesRestes, der uns, für uns das Gedicht zugleich lesbar und

unlesbar macht. Wer ist übrigens dieses »wir«? Wo ist seinOrt, von dem Moment an, da es zwar aufgerufen ist, aberdoch schweigt oder zumindest niemals als solches vor-kommt im Gedicht, das ausschließlich und durchgängignur Ich, du, er beim Namen nennt. Sein Schibboleth setztsich uns aus und entzieh t sich uns, es erwartet uns, wir er-warten uns noch selbst eben dort, wo Niemand/ zeugt für

L den/ Zeugen.22

Am Rande eines Abgrundes, nach dem Weiß einer viel-leicht unendlich dauernden Pause, steht der letzte Seufzer,das Aushauchen des Gedichts Die Welt ist fort, ich muß

dich tragen, als ein Vers, der allem Anschein nach aus den

Fugen geraten ist. Er erscheint aber auch wiederum von

Celan eingebunden in und verbunden mit dem Werk, dasseiner Form nach für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Fü r

sich genommen hätte dieser Vers auch an anderer Stellestehen können, wobei er auch dort seine Sinnressourcennicht verloren und zu neuen Lesarten Anlaß gegeben hät-te. Zwar ist der Atem dieses Seufzers in der Atemwende

T r ä g e ~ des Gedichts (Gadamer würde vielleicht sagen,vielleicht ein wenig übereilt, das Subjekt des Gedichts);

22 Gesammelte Werke, Band II (Gedichte 2), S. 72.

doch wird er, in seiner eigentlichen Tragweite und der Mu-

sik in dem, was er mit sich trägt, ebenso getragen, ertragen,ja gar eingeflüstert von dem, was ihm vorangeht, ihn erstankündigt und hervorbringt.

Um nun aber mit dem sichersten un d einfachsten anzu-fangen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken,

daß die formale Gliederung in dreizehn und einen Vers er-staunlich kunstvoll erscheint. Ich hebe nur vier Haupt-

züge in der orchestralen Architektur ihrer Kompositionhervor:

I. Grammatikalisch gesehen, wird jedes ihrer Verben im

Präsens konjugiert. Alles läuft so ab, als ob die Rede nie-mals die Präsenz eines Präsens verließe, auch wenn die-ser grammatikalische Anschein jene sehr ungleichartigenZeitlichkeiten verbirgt, die er tatsächlich ins Werk setzt.Ich werde gleich noch darauf zurückkommen.

2. Zwischen diesen Präsensformen skandiert die Zei-chensetzung in vier Phasen das Gedicht auf eine deutlichsichtbare Weise und mit sichtlichen Unterschieden bei ih-rer Anordnung: a) Doppelpunkt nach der ersten Strophe(wobei die zweite dann als deren Erklärung oder Überset-zung erscheint, nach einer Art implizitem »das heißt«);b) ein Punkt nach der zweiten Strophe; er bringt eine Dar-

stellung zum Abschluß; c) ein Fragezeichen nach der drit-ten, dreizeiligen Strophe: es ist die einzige Frage im Ge-

dicht; d) ein Endpunkt, dann endlich, nach der Sentenz,dem Spruch des Anspruchs, der Sentenz, dem Urteil, der

letzten Berufung, dem Sagen oder dem Diktum, ja sogardem Verdikt des Gedichts, das dem veridictum ähnlich ist,der Wahrheit der Dichtung.

3. Wenn wir nach dem grammatikalischen Tempus derVerben und der Zeichensetzung nun den Wechsel der Per-sonen und der persönlichen Fürwörter analysieren, so stel-len wir fest, daß zwischen dem »sich« am Anfang und dem

»dich« am Ende »er« dem »ich« nachfolgt (brenn ich .. .Wo- / gegen / rennt er nicht?), in einer Windung fragend

31

 

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verneinender Art. Diese fragend verneinende Wendung[tournureJ prägt dem ganzen Gedicht eine Verdrehung[torsionJ ein, ich würde sogar sagen eine krampfhafteQual [tourmentJ, die vorab schon ihr schmerzliches Zeichen in der Unterschr ift des letzten Verses hinterläßt.

4. Zuletzt: Ob man die grammatikalischen Präsensfor

men gemäß der Zeit ihrer Aussage oder hinsichtlich derZeit ihres tatsächlichen Aussagens im Gedicht analysiert-

alle verweisen sie nicht nur auf verschiedene Formen derGegenwart, sondern auch jedesmal, und jede von ihnenfür sich, auf radikal verschiedenartige Zeitlichkeiten, aufinkommensurable Zeitordnungen oder chronologischeZeitfolgen, die füreinander anachronistisch bleiben und

ohne gemeinsamen Nenner. Un d folglich unübersetzbar.Unverhältnismäßig. Unübersetzbar ineinander, ohne Ana logie. Anders gewendet: Man kann allenfalls versuchen,

das eine in das andere zu übersetzen. Das macht das Gedichtwohl selbst; es schreibt, es unterschreibt und schreibtvor. Es ereignet sich, indem es sich so übersetzt - indem es

bis zur Atemlosigkeit jenen »unendlichen Prozeß« derÜbersetzung ablaufen läßt, von dem, wenn ich dies nochauf französisch sagen darf, taut Ci, l'heure die Rede war.Was ereignet sich zwischen den vier entbundenen und verbundenen Zeitlichkeiten, gemäß ihrer ent-verbundenenSchreib art [ecriture des-aj ointee ?

A. Am Anfang steht ohne Zeitwort stumm und schweigend ein Bild (Bild oder Gemälde):

GROSSE, GLÜHENDE WÖLBUNG

mi t dem sichhinaus- und hinweg-

wühlenden Schwarzgestirn-Schwarm:

B. Darauf folgt eine Handlung: das performative Präsens

einer ersten Person:

der verkieselten Stirn eines Widders

brenn ich· dies Bild ein, zwischen

die H ärner, darin,

im Gesang der Windungen, das

Mark der geronnenen

Herzmeere schwillt.

N ach dem Bild, vor dem Hintergrund des Bildes, aberauch um die Handlung, für die es gleichsam die Theaterkulisse bildet, zu beschreiben oder zu erklären, erscheintnach dem Doppelpunkt eine Handlung wie die Dauer einer Erzählsequenz.c. Nach dem Gemälde und der Handlung, nach der Ku

lisse und einer Ar t performativer Erzählung steht alles stillangesichts einer negativen Frage, markiert durch ein Fragezeichen:

Wo

gegen

rennt er nicht an?

D. Zum Schluß erscheint das Präsens der Verantwortlichkeit, es simuliert zumindest eine indirekte Antwort auf dienegative und besorgte Frage, zwischen Erschrecken und

Bewunderung vor dem so unheimlich erscheinenden: die

Sentenz zwischen der Pflicht und dem Versprechen, denanderen zu tragen, dich zu tragen, die Wahrheit des Verdikts am Rande des Endes der Welt:

Die Welt ist fort, ich mu ß d ic h tragen.

Man könnte mit der Analyse der formalen Gliederungfortfahren, und um ein Beispiel unter vielen anderen herauszugreifen, sich dem nähern, was man ein In-Schwin

gung-Bringen des Silbenspiels [syllabaireJ nennen könnte.Die Buchstaben sind gemurmelt, gehaucht, ausgehaucht,

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seufzend oder pfeifend: zwischen den sc h - zwischensc h w a und sc h w i - (5 c h warzgestirn 5 c h warm ...

zwis c h en ... sc h willt), die Ws (W ölbung, weg, w ühlen-

den, Welt), und auf noch bestimmtere Weise, die W i s(W i dders, Windungen, schw i llt).

Diese Formanalyse kann man weit treiben. Und man

muß das auch.Sie

scheint dabei aber n icht sehr gewagt. Siegehört noch in das Reich der berechenbaren Sicherheitenund entscheidbaren Evidenzen. Ganz anders jedoch liegendie Dinge bereits im Falle einer hermeneutischen Antwort

auf den Anspruch des Gedichts oder im inneren Dialog desLesers oder Gegen-Zeichners. Diese Antwort wie auchderen Verantwortlichkeit kann unendlich und ununter-

brochen weiterverfolgt werden, sie geht von einem Sinnzum anderen, von Wahrheit zu Wahrheit, ohne ein anderesberechenbares Gesetz als jenes, das der Buchstabe und

die formale Gliederung des Gedichts ih r zuweisen. Aber

obwohl sie unter demselben Gesetz steht, ihm auf ewigunterworfen ist und ihm genauso verantwortlich bleibt,macht und erleidet jene Erfahrung, die ich eine disseminale nenne, durch das Moment der Hermeneutik selbst,direkt an der Hermeneutik, die Prüfung einer Unterbre-

chung, einer Zäsur oder einer Verkürzung, einer leichtenVerletzung. Was so offensteht, gehört nicht mehr derEbene des Sinns an, auch nich t der Ebene der Phänomeneoder der Wahrheit, sondern macht jene erst möglich in ihrem Übrigbleiben, es zeichnet in das Gedicht den Hiat einer Wunde ein, deren Lippen sich niemals schließen oder

zusammenkommen. Jene Lippen formen sich um einensprechenden Mund herum, der, selbst wenn er schweigt,noch den anderen ohne Vorbedingung anruft, und dies in

der Sprache einer Gastfreundschaft, die nicht einmal mehrzur Entscheidung steht. Eben weil diese Lippen selbst anihrem Ende niemals mehr zueinander kommen, weil sich

die Verbindung der so Verbundenen nicht mehr in einemerfüllbaren Kontext absichern läßt, bleibt der Vorgang

34

r zwar immer unendlich, aber diesmal auf eine diskontinuierliche Weise. Das heißt, auf eine andere Weise endlichund unendlich. Hier, alleingelassen in der Weltferne, kannes geschehen, daß das Gedicht winkt oder segnet, den 'l.n-

deren trägt, ich will sagen »dich«, wie man gleichermaßenTrauer trägt und ein Kind austrägt, von der Empfängnis

über die Schwangerschaft bis zum Auf-die-Welt-Kommen. In der Schwangerschaft. Das Gedicht ist das »dich«und das »ich«, das sich an »dich« wendet, aber auch jederandere.

IV.

Versuchen wir nun dem hermeneutischen Anspruch ansich gerecht zu werden, soweit es überhaupt nur möglichist, dabei aber auch jener einzigartigen Andersheit [alterite], die ihn selbst über sich selbst hinausträgt, in sich jenseits seiner selbst. Gehen wir, befangen wie wir sind, dieKonstellation dieses Gedichts an, das auch das Gedichteiner gewissen Konstellation ist, der Konfiguration derSterne im Himmel, über der Erde, ja sogar jenseits derWelt. Wenn auch diese Konstellation niemals so zustandekommt, so scheint sie doch verheißen zu sein oder zumindest sich von der ersten Strophe an, die ich oben als Bildbezeichnet habe, anzukündigen. Leuchtend, strahlend,

funkelnd, weißglühend belebt sich die Wölbung des Him-

melsbogens (Große glühende Wölbung) mit animalischemLeben. De r gestirnte Schwarm schwarzer Sterne reißt denSchwung des Gedichts in eine getriebene, treibende, über stürzte Bewegung einer wahrlich planetarischen Irrfahrt.

De r griechische Name hinterläßt hier seine Spur, eine Irr-

fahrt mit planetarischer Bestimmung. J t A a v ~ ' t Y J ~ bedeutet»umherirrend«, »nomadenhaft«, was man manchmal richtigerweise von umherirrenden Tieren sagt. J t A a v Y J ' t L x . 6 ~ bedeutet unstet, aufgewühlt, stürmisch, unvorhersehbar,unregelmäßig; J t A a v o ~ sagt man von einem Irrlauf, aber

35

 

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auch von der Abschweifung in Rede und Schrift, also auch

im Gedicht. Liegt es allein am Schwarm der Sterne, daß

jene Konstellation beseelt, sogar animalisch erscheint?

N ein, denn schon bald trit t im Gedicht ein Widder in

Erscheinung: als Opfertier, Holzramme, kriegerischer

Rammbock, der im Sturm auf Burgen, Tore und Mauern

bricht (Mauerbrecher). Widder ist auch noch der Name eines Tierkreiszeichens (21. März). De r zodiakos (von zo

dion, einer Verkleinerungsform von zoon, das Lebewesen)

zeigt sow ohl Stunde als auch Datum an (je nachdem, wo

der Lichtschein auf der Ellipsenbahn erscheint). Die Kon

junktion der Sterne bei einer Geburt zeigt das Horoskop.

Wie der Name schon sagt, macht die H oroskopie sichtbar,

was die Stunde geschlagen hat im Schicksal einer mensch

lichen Existenz. So wird aus der Himmelswölbung vor

unseren Augen eine Kalenderskala, deren Bild als Hinter

grund des Gedichts figuriert. Es ist die elliptische Verkür

zung einer unabschließbaren Meditation über das, was

Heidegger die Datierbarkeit genannt hat. Alle geheimen

Zeitpunkte Qahrestage wie auch einzigartige und krypti

sche Ereignisse, die wiederkehren, wie Geburt, Tod etc.)

kann man in diesem Kalender immer suchen, finden oder

auch niemals finden, auf einem Weg, den ich in Schibbo-

leth. Für Paul Celan23

erforscht habe. Wir können gar

nicht, was wir hier müßten, nämlich das Gedicht im Echo

raum des gesamten Celanschen Werks anhören, durch dashindurch, was er als Erbe übernimmt, indem er es wieder

neu erfindet, in jedem seiner Themen, Tropen, ja sogar in

seinen Vokabeln, die manchmal für ihre Prägung und Ver

bindung auf die Einzigartigkeit eines Gedichts angewiesen

sind. Man könnte dies sogar noch auf das Silbenspiel aus

weiten. Ich beschränke mich auf eines unter so vielen an

deren möglichen Beispielen: Der Tierkreisbogen erinnert

hier an eine ganze Reihe weitere r Horoskop-Konstellatio-

23 2. Auflage (übersetzt v on Wolfgang Sebastian Baur), Wien 1996. Zur"Datierbarkeit« insbesondere bei Heidegger vgl. S. 33.

nen oder kündigt sie an. So beginnt in der Niemandsrose

das Gedicht UND MIT DEM BUCH AUS TARUSSA (nach

dem Marina Zwetajewa entlehnten Motto: »Alle Dichter

sind Juden«) mit den Versen Vom / Sternbild des Hundes.

Diesmal ist der Stern hell (vom/ Hellstern darin .. .). Viel

leicht ist es ein gelber Stern (mein gelber Fleck, mein blin

der Fleck, mein Judenfleck, heißtes

in einem anderen Gedicht Celans).24 Das Ghetto ist nich t fern. Nach einer An

spielung auf die drei Gürtelsterne Orions ruft Celan noch

die Himmelskarte auf. In HÜTTENFENSTER ist davon

die Rede, wie der Mensch als Dichter wohnen würde,

wenn alle Dicht er Juden wären:

[ .. ... geht zu Ghetto und Eden, pflückt

das Sternbild zusammen, das er,

der Mensch, zu m Wohnen braucht, hier,

unter Menschen, [ ..

Auf den Doppelpunkt folgt die längste Strophe mit sechs

Versen, in der man meinen könnte, es werde nun eine

Handlung vor dem Hintergrund oder besser hinter dem

Hintergrund jener Himmelswölbung erzählt, in der es

von animalischem Leben nur so wimmelt. Es erforderte

Stunden und Jahre, um ihre Vielstimmigkeit zu entziffern.

Man müßte, unter manch anderem, sowohl die Bibel als

auch den Celanschen Textkorpus von Anfang bis Endedurchzitieren. D ie verkieselte Stirn eines Widders erinnert

zunächst an die schwarze Konstellation (Stirn, Schwarz-

gestirn ) der Himmelswölbung, aber auch an das Motiv der

24 EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE

GESUNGEN ZU PARIS EMPRES PONTOISE

VO N PAUL CELAN

AUS CZERNOWITZ BEI SADAGORA

aus: Die Niemandsrose, in: Gesammelte Werke I (Gedichte r), S. 229.

Macula, der Name des Flecks (das Gelbe am Grunde des Auges) behält

sehr wohl jene Konnotation eines Zeichens, das das Unbefleckte befleckt, besudelt oder anklagt, wie eine Ursünde des Sehens.

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Versteinerung, von dem wir gerade schon ein Beispiel hat

ten (versteinerter Segen) un d dessen verblüffende Wieder

kehr im Werk Celans sich verfolgen ließe.

Was ist das aber für ein Bild, das »ich« in die Stirn jenes

rätselhaften Widders präge (rätselhaft, denn es kann ja

auch eine Widder-Sphinx sein, deren Botschaft noch zu

entziffern ist; diese Bedeutung hat Widder ja auch), das icheinschreibe und zwischen die Hörner einbrenne (brenn

ich dies Bild ein)? Natürlich kann diese Inschrift immer

auch eine Gestalt oder eine Form (Bild) des Gedichts

selbst sein, das sich auto-deiktisch und performativ selbst

hervorbringt, inde m es seine Unterschrift oder sein versie

geltes Geheimnis, sein Siegel in gewisser Weise zur Spra

che bringt. Die Anspielung auf den Gesang, noch mehr auf

die Wendungen und Drehungen der Tropen oder Stro

phen (im Gesang der Windungen) kann nicht umhin, auch

etwas über das Gedicht im allgemeinen, und auf einzigar

tige Weise über das vorliegende Gedicht zu sagen. Es

stimmt schon: Es gibt keine in sich geschlossene Autote lie

in dieser Hypothese; wir sollten das nie vergessen, uns

aber jetzt nicht zu lange damit aufhalten. Eingerahmt von

jenem Leben, animalisch wie kein anderes, es war gerade

mehrfach schon davon die Rede, und dem Tod oder der

Trauer, die den letzten Vers heimsuchen (Die Welt ist fort,

ich muß dich tragen), erinnern der Widder, seine Hörner

und sein Brandmal wahrscheinlich an einen bestimmtenAugenblick in einer Opferszene des Alten Testaments

und lassen sie vor unseren Augen wieder aufleben. Sie ist

mehr als ein Brandopfer (holocauste). Ersatz des Wid

ders. Brandmal. Fesselung Isaaks (Genesis XXII). N a ~ h -dem Abraham zum zweiten Mal gesagt hatte »Hier bin

ich«, und der von Gott geschickte Engel das zum Töten

erhobene Messer Abrahams in der Luft angehalten hatte,

wendet sich dieser um und sieht, wie sich ein Widder mit

seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hat. Er opfert ihnals Brandopfer an Stelle seines Sohnes. Gott verspricht

38

daraufhin, ihn zu segnen und seine Nachkommenschaft so

zahlreich zu machen wie die Sterne am Himmel , vielleicht

auch wie jene der ersten Strophe. Sie können auch fürch

terliche gelbe Sterne werden, sogar noch im Gedicht. Und

wiederum ist es ein Widder, neben einem jungen Stier, der

von Moses, und zwar auf Befehl Gottes nach dem Tod der

beiden Söhne Aarons, als Brandopfer geopfert wird, in einer überwältigenden Sühneszene, in der für die Unrein

heiten, Missetaten und Sünden Israels Buße getan wird

(Levitikus XVI). Ein Widder wurde oft auch zu anderen

Anlässen geopfert (Friedensangebote, Sühne, Bitte um

Vergebung etc.). Entsprechend viele in Stein gemeißelte

Darstellungen sind uns überliefert. Man sieht dort so oft

die Hörner des Widders gleichsam in sich eingerollt, viel

leicht auf der verkieselten Stirn des Tieres (der verkieselten

Stirn eines Widders). In der gesamten Kultur des Alten

Testaments werden die Hörner des Widders zu jenem In

strument, dessen Musik einen Atemhauch verlängert und

die Stimme trägt. In dem, was einem Gesang ähnelt, der

wie ein Satz interpunktiert ist, erhebt sich der Ruf des

Schofar gen Himmel und erinnert an die Brandopfer, er

hallt nach im Gedächtnis aller Juden der Welt. Dieser Ge

sang herzzerreißender Freude ist untrennbar von der

sichtbaren Form, die ihm einen Durchgang sichert: von

den seltsamen Spiralen, Kreisen un d Umkreisen, Drehun

gen oder Verdrehungen des Horn-Körpers. Im Gesangder Windungen spielt vielleicht auf diese Wendung des

Atems, ich wage nicht zu sagen Atemwende an. Am ersten

Tag des Kalenders, am jüdischen Neujahrstag, wird jener

bekannteste Ritus wiederholt, der allerdings nich t der ein

zige ist, zu dem man in allen Synagogen der Welt die Er

zählung von der Fesselung Isaaks liest (Genesis XXII).

Das Schofar kündigt auch das Ende des Yom Kippur an.

Alle Juden der Welt verbinden damit seitdem Sündenbe

kenntnis, Sühne und Vergebung, die erbeten, gewährtoder verweigert wird. Gegenüber anderen oder sich selbst.

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Zwischen zwei Schicksals daten, zwischen dem Neujahrs tag und dem Tag der Großen Vergebung, kann GottesSchrift, von einer Stunde zur anderen, die einen im Buchdes Lebens tragen, und die anderen nicht. Jeder Jude fühltsich dann an der Grenze zu allem, an der Grenze des Ganzen, zwischen Leben und Tod, wie zwischen Wiederge

burt und Ende, zwischen der Welt und dem Ende derWelt, das heißt der Trauer tragenden Vernichtung des anderen oder seiner selbst.

Was geschieht nach der Interpunktion dieser zweitenStrophe? Diese schließt also mit dem ersten Punkt diesesGedichts ab, nach dieser Handlung oder dieser Dramatur

gie eines Opfervollzugs. Er ist der ersten Person einesDichters auferlegt, der in ein und demselben Gestus seinBild einprägt und brennt (brenn ich dies Bild). Auf diesenersten Punkt folgt die Frage, das einzige Fragezeichen desGedichts: Wo- / gegen / rennt er nicht an? Wenn die Alliteration an die Brutalität des Opfers erinnert (das Mark der

geronnenen Herzmeere schwillt), kann das Anrennen und

Anstürmen des Widders ebensogut die Bewegung desTiers beschreiben als auch jene des Holzbalkens, sogar desBaumstamms. Ihr Lauf, ih r Vorstoß, ihr Ansturm bringtsie dazu, sich Kopf voraus zu überstürzen, um anzugreifen oder sich zu verteidigen, um den Schutz des Gegners

zu erschüttern. Es ist Krieg, und der Widder, der Widderaus Fleisch oder aus Holz, der Widder auf Erden oder imHimmel, stürzt sich ins Rennen. Er rennt, um den Gegner einzurennen. Es ist ein Anrennen , eine charge (In- / to

what / does he not charge? um die scharfsinnige Überset zung von Michael Hamburger zu zitieren). Diese charge -

die Zweideutigkeit zwischen den Sprachen eröffnet hiermehr als eine Möglichkeit - , ist sie nicht auch eine Anklageoder ein zu zahlender Preis (charge im Englischen), also

die Begleichung einer Schuld oder das Sühnen einerSünde? Belädt nicht der Widder seinen Gegner, sei es ein

Opfernder oder eine Mauer, mit allen Verbrechen? Denn

die Frage ist, wir merkten es bereits an, in negativer Frageform gehalten: Wogegen rennt er nicht an? Was greift ernicht an? Er kann es tun, um anzugreifen oder sich zu rächen, er kann den Krieg erklären oder auf das Opfer antworten, indem er dagegen protestiert. De r Ausbruch sei

nes aufgebrachten Unverständnisses würde nichts undniemanden auf der Welt verschonen. Niemand auf derWelt ist unschuldig, nicht einmal die Welt selbst. Manstellt sich den Zorn jenes Widders vor, des Widders Abrahams und Aarons, die unendliche Auflehnung des Widders aller Brandopfer. Aber auch, in übertragenem Sinne,die gewaltsame Rebellion aller Sündenböcke, aller Stellvertreter. Warum ich? Die Widrigkeiten, die Widersacherwären überall. Die Stirne seines Protestes ließe den Widder gegen das Opfer selbst anrennen, gegen die Menschenund gegen Gott. Er würde ihrer gemeinsamen Welt endlich ein Ende setzen wollen. De r Widder würde gegen alles und jeden anrennen, in alle Richtungen, als wäre erblind vor Schmerz. De r Rhythmus dieser Strophe, Wo- /

gegen/ rennt er nicht an?, skandiert treffend die ruckartigeBewegung dieser Stöße. Wenn man sich daran erinnert,daß Aaron zusätzlich zu dem Widder auch einige jungeStiere opferte, so denkt man an das letzte Sich-Aufbäumendes Tieres vor seiner Tötung. De r Torero ähnelt auch ei

nem Opferpriester.Soviel hier Hypothese ist, soviel bleibt natürlich unent

schieden. Dies bleibt für immer das eigentliche Elementder Lektüre, ihr »unendlicher Prozeß«: Die Zäsur, derHiat, die Ellipse sind alles Unterbrechungen , die zugleichöffnen und schließen. Sie halten den Zugang zum Gedichtfür immer auf der Schwelle zu seinen Krypten (eine unter

ihnen, nur eine, würde sich auf eine einzigartige un d geheime, ganz andere Erfahrung beziehen, deren Konstella

tion nur dem Zeugnis des Dichters oder einiger wenigerzugänglich ist). Die Unterbrechungen eröffnen so, auf dis-

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seminale und nicht zu erfüllende Weise, unvorhersehbareKonstellationen, so viele weitere Sterne, von denen manche vielleicht noch jener Nachkommenschaft ähneln mö

gen, von der Jahwe zu Abraham, nach der Unterbrechungdes Opfers, sagt, daß er sie so zahlreich wie Sterne machen

I wird: Die Preisgabe der hinterlassenen Spur ist auch die

Gabe des Gedichts an alle Leser und Gegen-Zeichner die,immer noch unter seinem Gesetz, jenem der Spur am

Werk, der Spur als Werk, mitreißen werden oder sich mitreißen lassen zu einer ganz anderen Lektüre oder GegenLektüre. Diese wird auch manchmal, von einer Sprachezur anderen, in der abgründigen Gefahr der Übersetzung,eine inkommensurable Schrift sein.

Was so für die Verse gilt, die wir soeben zitiert haben,muß das nicht auch a fortiori für den letztenVers gelten?Die Welt ist fort, ich muß dich tragen: Dies ist die Sentenz,der Celan zugebilligt hat (was für eine Entscheidung, und

von woher wurde sie ihm diktiert?), wie einer vielleichteschatologischen Unterschrift, das letzte Wort zu sprechen. In der Tat können wir sie unsererseits nur ausspre-

chen nach einer deutlich markierten Unterbrechung. De r

längsten des Gedichts. Wir müssen lange Zeit die Zeit un

seres Atems anhalten, wieder Atem schöpfen, das tiefe At

men eines ganz anderen Atems (es ist wie eine andereWende, eine Revolution, eine Umkehrung des Atems,

Atemwende), um zu seufzen oder um das Leben auszuhauchen: Die Welt ist fort, ich muß dich tragen. Vielleichtist sie dort - man wird es aber nie wissen, und niemand hat

die Macht, darüber zu entscheiden - die mögliche Ant

wort auf die Frage Wogegen rennt er nicht an?

Die Sentenz ist ganz allein. Sie hält sich, stützt sich, siebegibt sich alleine auf eine Linie. Zwischen zwei Abgrün

den. Isoliert wie eine Insel, für sich stehend wie ein Apho

rismus, sagt sie wohl etwas Wesentliches über die absolute

Einsamkeit. Wenn die Welt nicht mehr ist, wenn sie im Begriff ist, nicht mehr hier, sondern dort zu sein, wenn sie

nicht mehr nah ist, wenn sie nicht mehr da ist, sondernfort, wenn sie nicht einmal mehr da ist, sondern fort in

weiter Ferne, vielleicht unendlich unerreichbar, dann muß

ich dich tragen, dich ganz allein, dich allein in mir oder aufmir allein.

Es sei denn, man kehrte in einer Drehung um die Achse

des ich muß die Satz- oder Verbordnung (von sein undtragen) und die Abfolge des wenn-dann um: Wenn (dortwo) es Notwendigkeit oder Verpflichtung dir gegenübergibt, wenn (dort wo) ich dich, ich dich, tragen muß, dannneigt die Welt wohl zum Verschwinden, sie ist nicht mehrda oder dort, die Welt ist fort. Sobald ich verpflichtet bin,in dem Moment, da ich dir verpflichtet bin, in dem ichmuß, in dem ich dir schulde, mir gegenüber schulde, dich

zu tragen, sobald ich zu dir spreche und für dich oder vor

dir verantwortlich bin, kann eigentlich keine Welt mehrdasein. Keine Welt kann uns mehr stützen, uns als Vermittlung, Boden, Erde, Fundament oder Alibi dienen.Vielleicht gibt es nur noch die abgründige Höhe einesHimmels. Ich bin allein auf der Welt, dort wo es keineWelt mehr gibt. Oder gar: Ich bin allein auf der Welt, sobald ich dir verpflichtet bin, sobald du von mir abhängst,sobald ich, unter vier Augen, von Angesicht zu Angesicht,ohne einen Dritten, Vermittler oder Schlichter, ohne aufErden oder in der Welt einen eigenen Platz zu haben, die

Verantwortung trage und übernehmen muß. Eine Verantwortung, der ich entsprechen muß, vor dir und für dich.Ich bin allein mit dir, allein nur für dich allein, wir sind allein: Diese Erk lärung ist auch ein Engagement. Alle Protagonisten des Gedichts sind seine virtuellen Unterzeichneroder Gegen-Zeichner, ob sie genannt werden oder nicht:ich, er, du, der Widder, Abraham, Isaak, Aaron, die un

endliche Nachkommenschaft ihrer Stammfolge, Gott I_

selbst. Ein jeder von ihnen wendet sich, wenn die Welt fort

ist, an die absolute Einzigartigkei t des anderen. Alle Protagonisten hören, wie sie beim Namen gerufen werden,

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und also auch der Leser oder Adressat des Gedichts, ich

~ ~ l b s t , wir selbst hier, sobald das Gedicht uns als einziger

Uberlebender anvertraut ist und wir nu n an der Reihe

sind, es zu tragen, es um j eden Preis retten zu müssen, und

sei es auch jenseits der Welt. Auch das Gedicht spricht

zwar noch von sich selbst, jedoch ohne Autotelie un d

Selbstgefälligkeit. Im Gegenteil: Wir hören, wiees

sich derObhut des anderen anvertraut, sich unserer Obhut anver

traut und sich insgeheim in die Trag- un d Reichweite [por

tee] des anderen begibt. Das Gedicht tragen heißt sich in

seine Trag- und Reichweite begeben, es in jene des anderen

bringen, es dem anderen zu tragen geben.

v.

Ich möchte Ihre Geduld nicht strapazieren. Um mich

nicht ganz unerträglich zu machen, beeile ich mich mei

nerseits, wenigstens zum Anschein eines Schlusses zu

kommen, indem ich auf einer virtuellen Landkarte fünf

Pflichtstationen eines potentiell unendlichen Parcours

markiere - Gadamer hätte von einem »unendlichen Pro-

zeß« gesprochen. Zwei dieser Punkte würden uns für im-

mer bei dem Wort tragen aufhalten, drei weitere bei demWort Welt.

1. Zunächst tragen. Was bedeutet dieses Verb und das,was man hier zu tun hat, zum Beispiel, wenn man dieses

Gedicht unterzeichnet? Niemand wird mit voller Gewiß-

heit entscheiden können, an wen sich die Schlußsentenz

richtet, als ein Gruß oder eine Zueignungsstrophe an den

anderen. Dich kann einerseits ein Lebewesen bezeichnen:

ein menschliches oder nicht menschliches, anwesendes

oder nicht anwesendes, den Dichter eingeschlossen, an

den sich das Gedicht seinerseits in einer Anrede auch wie

der zurückwenden könnte, ganz allgemein auch den Leserun d j eden Adressaten dieser Spur. Es kann auch ein Lebe-

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wesen gemeint sein, das erst noch kommt. Das ich muß

muß sich notwendig der Zukunft zuwenden. Es orientiert

sich im Denken, wie Kant sagen würde, es orientiert sich

auf den Orient dessen hin, was kommt, was noch im Kom-

men ist, was im Himmel aufsteigt un d aufgeht. Über die

Erde hinaus. Tragen sagt man geläufig auch von der Er-

fahrung, ein noch ungeborenes Kind zu tragen. ZwischenMutter und Kind, eines im anderen un d das eine für das

andere, in diesem einzigartigen Paar von Einzelgängern, in

der geteilten Einsamkeit zwischen einem un d zwei Kör-

pern verschwindet die Welt, sie ist in der Ferne, sie bleibt

gewiss.ermaßen ein ausgeschlossenes Drittes. Fü r die Mut-

ter, die ihr Kind trägt, gilt: Die Welt ist fort.

2. Wenn jedoch andererseits Tragen die Sprache der Ge-

burt spricht, wenn es sich an ein anwesendes oder noch

kommendes Lebewesen wenden muß, kann es sich doch

auch an ein Totes wenden, an das Überlebende oder an

deren Gespenster, und dies in einer Erfahrung, die darin

besteht, den anderen in sich zu tragen, wie man Trauer

trägt - und Melancholie erträgt.

3. Von nun an tauschen diese zwei möglichen Bedeutun-

gen von tragen ihre verschiedenen Möglichkeiten mit drei

Gedanken der Welt aus, oder zumindest mit drei Denk-

welten von Welt, drei Weisen der Welt, fort zu sein, fort

eher als da, fort in der Ferne, aufgehoben, neutralisiert -

oder abwesend und vernichtet. Die Welt ist fort: Dies kannals eine wesentliche Wahrheit immerwährend gelten, es

kann sich aber auch nur ein einziges Mal ereignen, auf ein

zigartige Weise, in einer Geschichte, und dieses Vor

kommnis wäre dann wie ein Ereignis in einer Erzählung

jemandem zugeeignet und anvertraut worden. Das Prä-

sens des Gedichts (Die Welt ist fort) erlaubt es nicht, zwi

schen diesen beiden Hypothesen zu entscheiden. Genauso

kann die Welt die Totalität der Seienden oder »alle ande

ren«, »alle Welt« bezeichnen, die Welt der Menschen oderdie Welt der Lebewesen.

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Ich muß hier, zu mindest aus algebraischer Sparsamkeit,

drei große Eigennamen nennen, deren Diskurs durch die

Zueignungsstrophe des Gedichts zugleich bestätigt und

bestritten, und in einem paradoxen Sinne des Wortes ge

gen-gezeichnet würde. An erster Stelle steht der Name

Freud: zugleich wegen unserer gerade gemachten Anspie

lung an Traueroder

Melancholieund

auchum

unsereAnalyse, sei sie auch unabschließbar, der Ordnung des Be

wußtseins, der Selbstpräsenz und des Ich, also jeder Ego

logie zu entziehen. Nach Freud besteht die Trauer darin,

den anderen in sich zu tragen. Es gibt keine Welt mehr, es

ist das Weltende für den anderen bei seinem Tode, und ich

nehme dieses Ende der Welt in mich auf, ich muß den an

deren und seine Welt, die Welt in mir tragen: Introjektion,

Verinnerlichung der Erinnerung, Idealisierung. Die Me

lancholie würde das Scheitern und die Pathologie dieser

Trauer aufnehmen. Doch wenn ich den anderen in mir tra

gen muß (darin besteht Ethik), um ihm treu zu sein, um

seine einzigartige Alterität zu respektieren, dann muß sich

noch eine gewisse Melancholie gegen die übliche Trauer

auflehnen. Sie darf sich niemals mit der idealisierenden In-

trojektion abfinden. Sie muß aufbegehren gegen das, was

Freud mit einer gelassenen Sicherheit über sie sagt, als

wolle er die Norm der Normalität bestätigen. Die »Norm«

ist gar nichts anderes als das gute Gewissen eines Ge

dächtnisschwunds. Sie erlaubt uns zu vergessen, daß wir,wenn wir den anderen in uns bewahren, ihn wie uns be

wahren, wir ihn dann bereits vergessen. Das Vergessen be

ginnt hier. Also bedarf es der Melancholie. An diesem Ort

diktiert das Leiden einer gewissen Pathologie das Gesetz -

und das Gedicht, das dem anderen gewidmet ist.

4· Dieser Rückzug der Welt, diese Entfernung, in der

sich die Welt zurückzieht bis zur Möglichkeit ihrer Ver

nichtung, ist das nicht die notwendigste, die folgerichtig

ste, aber auch die verrückteste Erfahrung einer transzendentalen Phänomenologie? Erklärt uns nicht Husserl in

dem berühmten Paragraphen 49 aus den Ideen I in einer

Beweisführung, wie sie strenger nich t sein kann, daß es der

Zugang zum absoluten Ich-Bewußtsein im reinsten phä

nomenologischen Sinne erfordert, die Existenz der trans

zendenten Welt in einer radikalen Epoche aufzuheben?

Die Hypothese einer Weltvernichtung würde die Sphäre

der reinen phänomenologischen und egologischen Erfahrung in ihrem Eigenrecht und -sinn nicht bedrohen. Im

Gegenteil würde sie vielmehr erst einen Zugang zu ihr er

öffnen, sie würde ihn erst in seiner phänomenologischen

Reinheit zu denken geben. Die Zueignungsstrophe unse

res Gedichts wiederholt unbeugsam diese phänomenolo

gische Radikalisierung. Sie treibt jene Erfahrung einer

möglichen Weltvernichtung und das, was von ihr noch

übrigbleibt oder sie noch überlebt, das heißt ihre Bedeu

tung für »mich«, für ein reines Ego, an ihre Grenze. Doch

am eschatologischen Rand dieser äußersten Grenze trifft

er auf das, was auch für die Husserlsche Phänomenologie

schon die beunruhigendste Prüfung war, für das nämlich,

was Husserl sein »Prinzip der Prinzipien« nennt. In dieser

absoluten Einsamkeit des reinen Ego, wenn sich die Welt

zurückgezogen hat, wenn die Welt [. . .] fort ist, ist das al

ter ego, das sich im Ego konstituiert, in einer ursprüng

lichen und rein phänomenologischen Anschauung nicht

mehr zugänglich. Husserl muß dies in seinen Cartesiani

schen Meditationen eingestehen. Das alter ego ist nur peranalogiam, durch eine Appräsentation konstituiert, indi

rekt, in mir, der ich es dann dorthin trage, wo es keine

transzendente Welt mehr gibt. Ich muß es also tragen, dich

tragen, dorthin wo die Welt sich entzieht, dort liegt meine

Verantwortung. Aber ich kann den anderen nicht mehr

tragen, auch dich nicht, wenn tragen bedeutet, den ande

ren in sich selbst, in die Anschau ung seines eigenen egolo

gischen Bewußtseins einzuschließen. Es geht darum, zu

tragen, ohne sich anzueignen. Tragen heißt nicht mehr»mit sich bringen« [comporterJ, einschließen, in sich be-

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greifen, sondern sich zur unendlichen Unaneigenbarkeitdes anderen hinzubegeben, in Richtung auf seine absoluteTranszendenz in meinem Inneren selbst, das heiß t in miraußer mir. Und ich bin nur, kann nur, darfnur sein, ausgehend von dieser seltsamen, aus den Fugen geratenen Tragweite des unendlich anderen in mir. Ich muß den anderen

tragen und dich tragen, der andere muß mich tragen (denndich kann mich oder den unterzeichnenden Dichter bezeichnen, an den sich die Rede ihrerseits wiederum zu

rückwendet), ebendort, wo die Welt nicht mehr zwischenuns oder unter unseren Füßen ist, um uns Vermittlungswege zu sichern oder Grundlagen zu festigen. Ich bin allein mit dem anderen, allein ganz sein und für ihn, alleinfür dich und ganz dein: ohne Welt. Diese Unmittelbarkeitdes Abgrunds verpflichtet mich gegenüber dem anderen,überall dort, wo das »ich muß« - ich mu ß dich tragen -ewig den Sieg über das »ich bin«, das sum und das cogitodavonträgt. Bevor ich bin, trage ich, bevor ich ich bin,trage ich den anderen. Ich trage dich und muß es, ich bin es

dir schuldig. Ich bleibe in der Schuld [devant], verschuldet[en dette] und in deiner Schuld [devant a oi] vor dir [devant toi], ich muß mich in deiner Tragweite halten, dochich muß auch deine Tragweite sein. Immer einzigartig und

unersetzbar, bleiben diese Gesetze oder diese Weisungenunübersetzbar: vom einen zum anderen, von den einen zu

den anderen und von einer Sprache in die andere, und

doch sind sie deshalb nicht weniger universell. Ich muß

das Unübersetzbare in einer weiteren Wendung übersetzen, überführen, übertragen, selbst dort, wo es, einmalübersetzt, unübersetzbar bleibt. Das ist das gewaltsameOpfer eines Über-Übergangs : Übertragen:: übersetzen.

5. Dieses Gedicht sagt die Welt, den Ursprung und dieGeschichte der Welt, die Archäologie und Eschatologiedes Welt-Konzeptes, sogar die Empfängnis [conception]

der Welt. Es sagt, wie die Welt gezeugt [ c o n ~ u ] wurde, wiesie geboren wird, und sogleich nich t mehr ist, wie sie sich

entfernt, und uns verläßt, wie sich ih r Ende ankündigt. De r

andere Eigenname,·den ich hier nennen muß, ist der Name

eines Menschen, mit dem Gadamers innerer Dialog, wieich glaube, immer und ununterbrochen verbunden war,gleich jenem Celans, vor und nach der Zäsur von Todtnauberg: Heidegger, der Denker des I n-der-Welt-seins,

hat nicht nur, und mehr als einmal, eine unumgänglicheMeditation über die - christliche oder nicht-christliche -Genealogie des Kosmos- und Welt-Konzeptes oder ihrerregulativen Idee im Kantischen Sinne vorgebracht. Er hat

nicht nur vom Welten der Welt oder von ihrer Planetarisierung gesprochen. Er hat auch die Ent-fernung zu bedenken gegeben, die das Nahe entfernt und ent-entfernt.Dies mit Blick auf das Vokabular, das sich um tragen herum zusammenfindet (Übertragung, Auftrag und Austrag), das in Identität und Differenz,25 un d nicht weit wegvon einer Anspielung auf jene Ent-fernung, die noch im

Herholen etwas entfernt un d ent-entfe rnt, jenes Zwischenbenennt: Worin Überkommnis und Ankunft zueinandergehalten, auseinander-zueinander getragen sind. Die Dif-

ferenz von Sein und Seiendem ist als der Unter-schied von

Überkommnis un d Ankunft der entbergend-bergendeAustrag beider. [ . .] Unterwegs zu dieser denken wir denAustrag von Überkommnis und Ankunft.

Vor allem hat Heidegger versucht, zwischen dem zu

unterscheiden, was weltlos, was weltarm und was weltbildend ist. Ich kann hier nur noch auf diese Reihe von Begriffen eingehen. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von drei»Thesen«, die Heidegger übrigens kurz nachSein und Zeit in einem Seminar von 1929-3026 über dieWelt, die Endlichkeit und die Einsamkeit vorstellt, und

zwar folgendermaßen: der Stein ist weltlos, das Tier istweltarm, der Mensch ist weltbildend.

25 pfullingen 1957, S. 62f.26 Die Grundbegrif fe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit,

(Gesamtausgabe Band 29/30), Frankfurt am Main 1983, S. 273ff.

49

 

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Aus Gründen, die ich hier nicht ausführen kann, scheint

mir allerdings nichts problematischer als diese Thesen.

Doch was geschähe, wenn in unserem Gedicht das Fort

sein der Welt im Moment seines Ereignisses keiner dieser

Thesen oder Kategorien entspräche? Wenn es von einem

ganz anderen Ort aus über sie hinausginge? Wenn es alles

andere wäreals

weltlos, weltarm oder weltbildend? Müßteman dann nicht den Gedanken der Welt selbst von diesem

Fortsein aus denken, und dieses wiederum ausgehend von

dem, was es heißt, I eh muß dieh tragen?

Das ist eine der Fragen, die ich hilferufend Gadamer

gerne im Laufe eines unabschließbaren Gesprächs gestellt

hätte. Um uns im Denken zu orientieren, um uns in dieser

gefährlichen Aufgabe zu helfen, hätte ich zunächst daran

erinnert, wie sehr wir den anderen brauchen und wie sehr

wir ihn noch brauchen werden, wie sehr wir ihn tragen

müssen und von ihm getragen werden müssen, dort wo er

in uns spricht, noch bevor wir sprechen.

Vielleicht hätte ich, aus all diesen Gründen, mit einem

Hölderlin-Zitat beginnen sollen: Denn keiner trägt das

Leben allein (Die Titanen).

Aus dem Französischen von Martin Gessmann,

Christine Ott undFe/ix Wies/er

J cques Derrida

Guter Wille zur Macht (I)

Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer

Gestern abend, beim Vortragund der

anschließenden Diskussion,l habe ich mich gefragt, ob es hier etwas anderes

geben würde als Auseinandersetzungen, deren Zustande

kommen unwahrscheinlich sein dürfte, Gegenfragen und

uneinlösbaren Sachbezug (um einige Formulierungen wie

der aufzunehmen, die wir gehört haben). Ich frage mich

das immer noch.

Versammelt s ind wir hier um Professor Gadamer. An

ihn möchte ich mich daher zunächst wenden un d ihm die

Ehre erweisen, ihm einige Fragen zu stellen.

Die erste Frage geht auf das, was er uns gestern abend

über den guten Willen gesagt hat, den Appell an den guten

Willen un d die absolute Verbindlichkeit im Bestreben

nach Verständigung. Wie könnte man nicht versucht sein,

die machtvolle Evidenz dieses Axioms zu unterschreiben?

Ist es doch nicht bloß eine ethische Forderung, sondern es

steht am Anfang aller für eine Sprechergemeinschaft gel

tenden Ethik, ja, es regelt sogar noch das Auftreten von

Streit und Mißverständnis. Das Axiom bringt den guten

Willen mit der »Würde« im Sinne Kants in Zusammen-

I Die Einlassung von Jacques Derrida, die wir hier nach ihrer Bandauf

nahme transkribieren, nimmt selbstredend auf den Vortrag Bezug, den

Professor Gadamer am 25. April 198 in Paris gehalten hat. Für die vor

liegende Veröffentlichung wurde derselbe umgearbeitet und stark er

weitert. Dabei wurden selbstverständlich Akzente verlagert. So war

z. B. die Problematik des guten Willens, die von Jacques Derrida fast

ausschließlich zum Thema des ersten Teils seiner Einlassung gemacht

wurde, in der Vortragsfassung etwas ausführlicher ausgefallen, als es

hier in der Druckfassung der Fall ist. De ssen Funktion als mitkonstitu

ierende Voraussetzung des Verstehens bei Gadamer ist aber auch hier,

wie der Leser selbst festgestellt haben wird, völlig erhalten geblieben.(Anm. d. Hg.)

 

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hang - und auf solche Weise mit dem, was in einem mora

lischen Wesen über jedem Marktwert, jedem auszuhan

delnden Preis und jedem hypothetischen Imperativ steht.

Es wäre demnach etwas Unbedingtes und stünde wohl

auch jenseits jeglicher Bewertung überhaupt, jenseits aller

Werte, wenn anders Werte eine Skala und Vergleichung

voraussetzen.

Meine erste Frage wäre also folgende: Setzt dieses unbe

dingte Axiom nicht gleichwohl voraus, daß der Wille die

Form dieser Unbedingtheit, ih r absoluter Rückhalt und in

letzter Instanz ihre Bestimmung bleibt? Un d was ist Wille,

wenn es, wie Kant sagt, nichts unbedingt Gutes außer dem

guten Willen gibt? Würde diese Bestimmung - als letzte

Instanz - nicht dem Seienden angehören, was Heidegger

mit vollem Recht die Bestimmung des Seins des Seienden

als Wille oder wollende Subjektivität nennt? Gehört nicht

eine solche Redeweise - bis in ihre Notwendigkeit hinein

- einer vergangenen Epoche an, nämlich jener der Meta

physik des Willens?

Zweite Frage, immer noch in bezug auf den Vortrag von

gestern abend: Was macht man mit dem guten Willen als

Voraussetzung von Verständigung, die auch noch im Streit

gilt, wenn eine psychoanalytische in eine allgemeine Her

meneutik integriert werden soll? Genau das aber hat Pro

fessor Gadamer gestern abend vorgeschlagen. Was bedeu

tet der gute Wille in einer Psychoanalyse? Oder auch nurin einem Diskurs, der mit dergleichen wie Psychoanalyse

rechnet? Wird da, wie Professor Gadamer offensichtlich

der Ansicht ist, eine einfache Ausweitung des interpreta

torischen Zusammenhangs genügen? Wird nicht vielmehr

im Gegenteil, wie ich eher sagen würde, ein Bruch not

wendig sein oder eine allgemeine N eustrukturierung des

Kontextes bis zum Kontextbegriff selber? Dabei beziehe

ich mich auf überhaupt keine spezifische psychoanalyti

sche Doktrin, sondern nur auf eine Frage, die durch dieMöglichkeit der Psychoanalyse ge(kenn)zeichnet ist, auf

eine psychoanalytisch interessierte Interpretation. Eine

solche Interpretation stünde doch vielleicht der Interpre

tation im Stile Nietzsches näher als jener anderen her

meneutischen Tradition von Schleiermacher bis zu Gada

mer - mit all den inneren Differenzierungen, die man in

ihr feststellen mag (wie das ja gestern abend der Fall war).

Hinsichtlich dieses Kontextes hat uns Professor Gada

mer mehrmals gesagt, er sei der Lebenszusammenhang (so

lautete sein Ausdruck) im lebendigen Dialog, in der leben

digen Erfahrung des lebendigen Miteinanderredens. Dies

war gestern abend einer der entscheidenden Punkte und

der in. meiner Sicht besonders problematische in allem,

was wir über kontextbezogene Kohärenz hörten - syste

matische oder auch nichtsystematische Kohärenz -, muß

doch nicht jede Kohärenz die Form des Systems haben.

Fü r mich ganz besonders problematisch in allem, was uns

über die Definition des literarischen, poetischen oder iro

nischen Textes gesagt wurde.

Ich erinnere auch an die letzte Frage, die einDiskussions

teilnehmer aufwarf. Es ging da um die Geschlossenheit

eines Corpus. Was ist in dieser Hinsicht Zusammenhang

und was ist eigentlich streng genommen die Erweiterung

eines Zusammenhangs? Kontinuierlich fortschreitende

Ausweitung? Oder nicht eher diskontinuierliche Um

strukturierung?

Dritte Frage: Auch diese geht auf die Axiomatik des guten Willens. Mögen nun psychoanalytische Hintergedan

ken mit im Spiele sein oder nicht, so ist doch die Frage be

rechtigt, was es mit dieser axiomatischen Bedingung des

Interpretationsdiskurses auf sich hat, mit dem, was Profes

sor Gadamer »verstehen«, »verstehen des anderen«, »sich

miteinander verstehen« nennt. Ob man nun von der Ver

ständigung oder vom Mißverständnis (Schleiermacher)

ausgeht, immer muß man sich doch fragen, ob die Bedin

gung des Verstehens, weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein (wie es gestern abend

53

 

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hieß), nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der

Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung allerVermittlung?

Schließlich hat sich Professor Gadamer mit Nachdruck

auf jene »Erfahrung« berufen, »die wir alle kennen«, auf

eine Beschreibung von Erfahrung, die nicht selber eine

Metaphysik sein soll. Oft hat sich nun Metaphysik (und

womöglich sogar in allen Fällen) als Beschreibung der Er

fahrung, nämlich als eine Selbstdarstellung, vorgestellt.

Ich bin nun meinerseits auch nicht sicher, ob wir eben

diese Erfahrung überhaupt machen, die Professor Gada

mer meint, nämlich, daß im Dialog »Einvernehmen« oder

erfolgs bestätigende Zustimmung zustande kommt.

Kommt im Netz dieser Fragen und Bemerkungen, die

ich hier ihrer elliptischen und improvisierten Form über

lasse, nicht doch ein anderes Denken von »Text« in den

Blick?

Aus dem Französischen von Friedrich A. Kittler

Hans-Georg Gadamer

Wer bin Ich, und wer bist Du?

Kommentar zu Celans Gedicht/alge >Atemkristall<

Schöpft des Dichters reine Hand ,Wasser wird sich ballen

Goethe

In seinen späteren Gedichtbänden nähert sich Paul Celan

mehr und mehr der atemlosen Stille des Verstummens im

kryptisch gewordenen Wort. Im folgenden soll eine Ge

dichtfolge aus dem Gedichtband Atemwende betrachtet

werden, die zuerst 1965 unter dem Titel Atemkristall in

einer bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde. Jedes der Ge

dichte hat seinen Ort in einer Folge, und es wächst dem

einzelnen Gedicht von da aus gewiß etwas an Bestimmt

heit zu - aber die ganze Folge dieser Gedichte ist herme

tisch verschlüsselt. Wovon ist die Rede? Wer redet?

Gleichwohl ist jedes Gedicht dieser Folge ein Gebilde

von eindeutiger Bestimmtheit, zwar nicht durchsichtig

und von unmittelbar sprechender Klarheit, aber doch nicht

so, daß etwa alles verhüllt bliebe oder Beliebiges zu be

deuten vermöchte. Das ist die Erfahrung des Lesens, die

sich dem geduldigen Leser ergibt. Gewiß darf es kein eili

ger Leser sein, der hermetische Lyrik verstehen und entschlüsseln will. Aber es muß keineswegs ein gelehrter ode r

besonders belehrter Leser sein - es muß ein Leser sein, der

immer wieder zu hören versucht.

Die besonderen Belehrungen, die ein Dichter über seine

verschlüsselten Schöpfungen zu geben vermag - auch Paul

Celan sagte man nach, daß solches Verlangen gelegentlich

an ihn gerichtet wurde und daß er es freundlich zu befrie

digen suchte -, haben stets etwas Mißliches. Bedarf es der

Auskunft über das, was ein Dichter sich bei seinem Gedicht gedacht hat? Es kommt doch wohl allein darauf an,

55

 

.,

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was ein Gedicht wirklich sagt - und nicht, was sein Verfasser meinte und vielleicht nicht zu sagen verstand. Gewiß kann der Wink des Verfassers, der auf den unverwandelten Zustand des >Stoffes< weist, auch bei einem in sichvollendeten Gedicht von Nutzen sein und vor Fehlversuchen des Verstehens bewahren. Aber es bleibt eine gefähr

liche Hilfe. Wenn derDichter

seine privatenund

okkasionellen Motive mitteilt, verschiebt er im Grunde das, wassich als dichterisches Gebilde ausbalanciert hat, nach derSeite des Privaten und Kontingenten - das jedenfalls nichtdasteht. Sicherlich ist man gegenüber hermetisch verschlüsselten Gedichten mit der Aufgabe der Deutung oftin großer Verlegenheit. Aber auch wenn man in die Irregeht, in wiederholendem Verweilen bei einem Gedichtwird man seines eigenen Vers agens doch immer wiederinne, und wenn das Verständnis im Ungewissen oder im

U ngefähren bleibt, ist es doch immer noch das Gedicht,das im Ungefähren und im Ungewissen zu einem spricht,und nicht ein Einzelner in der Privatheit seiner Erlebnisseoder Empfindungen. Ein Gedicht, das sich verweigert und

weitergehende Klarheit nicht gewährt, scheint mir immernoch bedeutungsvoller als eine Klarheit, die einem durch

die bloße Versicherung zuwachsen kann, die ein Dichterüber das, was er meinte, abgibt.

So ist es offenkundig sehr im Ungewissen, wer in diesen

Gedichten Celans Ich und Du sind, und doch soll mannicht den Dichter fragen. Ist es Liebeslyrik? Ist es religiöseLyrik? Ist es das Zwiegespräch der Seele mit sich selbst?De r Dichter weiß das nicht. Eher schon mag man s.ich

durch die Methoden der vergleichenden Literaturforschung, insbesondere durch die Heranziehung von gattungsmäßig Verwandtem, Aufklärung versprechen - aberman wird sie doch nur unter Bedingungen finden: nur

dann, wenn kein sachfremdes Gattungsschema benutzt

wird und wenn wirklich Vergleichbares verglichen wird.Um dessen sicher zu sein, bedarf es aber gewiß nicht nur

der Beherrschung der Methoden der Literaturforschung.Das gegebene Gebilde muß in der Polyvalenz seinerStruktur darüber entscheiden, welche von den Subsumtionsmöglichkeiten, die sich im Vergleichen bieten, angemessen ist und ob sie eine - in sich begrenzte - Aufschlußkraft gewährt. So erwarte ich für die Gedichte Paul Celans

im Grunde nicht viel von einer gattungstheoretischenZurüstung für die hier gestellte Frage, wer hier Ich istund wer Du. Alles Verstehen setzt die Antwort auf dieseFrage - oder besser: eine dieser Fragestellung überlegenevorgängige Einsicht - schon voraus.

Wer. ein lyrisches Gedicht liest, versteht in gewissemSinne schon immer, wer hier Ich ist. Nicht in dem trivialenSinne allein, daß er weiß, daß immer nur der Dichterspricht und keine von ihm eingeführte sprechende Person.Er weiß vielmehr darüber hinaus, was das Dichter-Ich eigentlich ist. Denn das »ich«, das in einem lyrischen Gedicht gesagt wird, läßt sich nicht mit Ausschließlichkeitauf das Ich des Dichters beziehen, das ein anderes wäre als

das des ichsagenden Lesers. Selbst wenn der Dichter sich»in Gestalten wiegt« und sich ausdrücklich von der Mengescheidet, die »gleich verhöhnet«, ist es, als ob er gar nichtmehr sich selbst meinte, sondern den Leser in seine IchGestalt selbst hineinzöge und von der Menge ebenso schiede, wie er sich selbst geschieden weiß. Un d gar hier bei

Celan, wo ganz unvermittelt, schattenhaft-unbestimmtund in beständig wechselnder Weise »ich«, »du«, »wir«gesagt wird. Dies Ich ist nicht nur der Dichter, sondernviel eher »jener Einzelne«, wie ihn Kierkegaard genannthat, der ein jeder von uns ist.

Enthält diese Überlegung nun eine Antwort auf dieFrage, wer hier Du ist, der in fast allen Gedichten diesesZyklus ebenso unvermittelt und unbestimmt angeredetwird, wie der Redende Ich ist? Du ist der Angeredete

schlechthin. Das ist die allgemeine semantische Funktionvon »ich« und «du«, und man wird sich fragen müssen,

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wie die Sinnbewegung der dichterischen Rede diese Funk-

tion ausfüllt. Ist die Frage sinnvoll, wer dieses Du ist?Etwa in dem Sinne: Ist es ein mir naher Mensch? MeinNächster? Oder gar der Allernächste und Allerfernste:Gott? Das ist nicht auszumachen. Es ist deshalb nicht auszumachen, wer jenes Du ist, weil es nicht ausgemacht ist.

Die Anrede zielt, aber sie hat keinen Gegenstand -es

seidenn den, der sich der Anrede stellt, indem er antwortet.Auch bei dem christlichen Liebesgebot ist es ja nicht ausgemacht, wieweit der Nächste Gott ist oder Gott derNächste. Das Du ist so sehr und so wenig ein bestimmtesanderes Ich, wie das Ich ein bestimmtes Ich ist.

Damit ist nicht etwa gemeint, daß in der Gedichtfolge,die hier »ich« und »du« sagt, der Unterschied zwischendem Ich, das spricht, und dem Du , das angeredet wird,sich verwischte, und auch nicht, daß das Ich nicht eine gewisse Bestimmtheit im Fortgang der Gedichtfolge erhielte. So ist zum Beispiel von vierzig Lebensbäumen dieRede und damit auf das Alte r des Ich angespielt. Aber entscheidend bleibt, daß auch dann noch in die Stelle desDichter- Ichs jedes Leser-Ich willig eintrit t und sich mitgemeint weiß und daß sich von da aus jeweils das Du mit Bestimmtheit ausfüllt. In der ganzen Folge scheint nur eineAusnahme zu bestehen, und das ist in jenen vier Versen,die der Dichter in Klammern gesetzt hat und die auch me

trisch durch ihre fast epische Diktion herausfallen. Sie

scheinen deswegen wie beiläufig gegeben, weil sie sichnicht, wie die anderen alle, allbereit verallgemeinern. - So

bleibt alles offen, wenn wir jetzt erprobend an die Gedichte der Celanschen Folge herantreten . Wir wissen nichtvorher und nicht aus einem distanzierten Überblick oder

Voraus blick, was »ich« oder »du« hier meint und ob es dasIch des Dichters ist, der sich selbst meint, oder das einesjeden von uns. Wir haben es zu lernen.

Du darfst mich getrostmit Schnee bewirten:sooft ich Schulter an Schultermit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer,schrie sein jüngstesBlatt.

Das ist wie ein Proömium der ganzen Folge. Es ist einschwieriger Text, der seltsam unvermittelt beginnt. DasGedicht ist von einem scharfen Kontrast beherrscht.Schnee, das Gleichmachende, Kältende, aber auch Stillende, wird hier nicht nur hingenommen, sondern begrüßt.Denn der Sommer, der hint er dem Sprechenden liegt, war

offenbar in der Überfülle seines Treibens, Knospens und

Sich-Entfaltens kaum zu ertragen. Gewiß ist es kein wirklicher Sommer, der hinter dem Sprechenden liegt, so we

nig das angeredete Du etwa den Winter meint oder wirklichen Schnee anbietet. Offenbar war es eine Zeit derÜberfülle, der gegenüber die karge Armut des Winters wieeine Wohltat wirkt. De r Sprechende schritt Schulter anSchulter mit dem unermüdlich treibenden Maulbeerbaumdurch den Sommer. De r Maulbeerbaum ist ohne Zweifelhier der Inbegriff treibender Energie und immer neuenüppigen Herausbildens neuer Triebe, ein Symbol unstillbaren Lebensdurstes. Denn anders als anderes Gesträuch

treibt er nicht nur im Frühjahr frische Blätter, sondern denganzen Sommer hindurch. Es scheint mir nicht richtig, andie ältere metaphorische Tradition der Barockpoesie zu

denken. Zugegeben, daß Paul Celan auch ein Poeta doctuswar - noch mehr war er ein Mann von ganz erstaunlicherNaturkenntnis. Heidegger hat mir erzählt, daß Celan im

Schwarzwald hoch oben über Pflanzen und Tiere besserBescheid wußte als er selber.

Auch hier muß man in erster Näherung so konkret wie

möglich verstehen. Dabei giltes

freilich, die Sprachbewußtheit des Dichters richtig einzuschätzen, der Worte

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r

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nicht nur in ihrem klaren Gegenstandsbezug nimmt, son

dern beständig mit dem spielt, was in den Worten an Be

deutungen und Nebenbedeutungen anklingt. So fragt es

sich hier, ob der Dichter etwa mit dem Wortbestand

»Maul« auf die Maulhelden des Wortes anspielt, deren Ge

schrei er nicht mehr erträgt. Selbst wenn das so ist, bleibt

aber die Forderung präziser Kohärenz als erste bestehenund muß zunächst erfüllt werden. Der Pflanzenname

»Maulbeerbaum« ist ganz geläufig, und wenn man dem

dichterischen Zusammenhang folgt, in dem der Name auf

tritt, so ist es dort ganz eindeutig, daß das Gedicht nicht

auf die Maulbeere oder das Maul verweist, sondern auf das

frischgelbe Grün, das an Maulbeerbäumen unermüdlich

den ganzen Sommer über sprießt. Von da muß auch jede

weitere Transposition ihre Sinnrichtung empfangen. Undwir werden sehen, daß diese weitere Transposition des

Gesagten am Ende in die Sphäre des Schweigens oder des

sparsamsten Redens weist. Aber offenkundig wird hier

durch die Parallele mit dem Maulbeerbaum überhaupt

nicht auf die Maulbeere, sondern auf die sprießende Üp-

pigkeit des Laubwerks gewiesen. So wird der Doppelsinn

von »Maul« nicht durch den Kontext getragen, sondern es

ist der Schrei des Blattes, auf den sich die Sinnbewegung

gründet. Das steht scharf akzentuiert als das letzte Wort

des Gedichtes im Text. Es ist also das Blatt und nicht die

Beere, was die Transposition in das eigentlich Gesagteträgt. In einer Ebene der Übertöne mag man dann von

dem Schrei auf den Wortbes tandteil »Maul« zurückgewie

sen werden und diesen mit Rede zusammenbringen: Es

gibt ja den Maulhelden. Und das könnte in unserem Zu:..

sammenhang alles eitle und leere Reden und Dichten an

klingen lassen. Das ändert aber nichts daran, daß das Wort

»Maul« als selbständige Sinneinheit überhaupt nicht auf

tritt, sondern nur als einleitende Bedeutung von »Maul

beerbaum«. Die Beere des Maules statt der Blume desMundes, das scheint mir nicht der Weg, von der ersten

60

i

Ebene des Sagens in die Transposit ionsbewegung des Be

sagens überzuleiten, in die ein solches vielschichtiges Ge

dicht versetzt.

Um so mehr ist nun zu fragen, was das ist, was das Ge

dicht >besagt<, das heißt, worauf der Sinnvollzug des Wort

lauts hinauswill. Achten wir auf einzelnes. »Schulter an

Schulter«: Mit dem Maulbeerbaum Schulter an Schulter

schreiten heißt offenbar nicht hinter ihm zurückbleiben

und so wenig, wie er es mit seinem Wachsen tut, je einhal

ten - und das wäre hier: e inkehren bei sich selbst. Ferner

muß man jedenfalls beachten, daß es »sooft« heißt. In die

ser Betonung wiederhol ten Weges liegt, daß sich die Hoff-

nung des immer aufs neue aufbrechenden Wanderers nie

erfüllt, auch nur ein einziges Mal still und stumm vom

Maulbeerbaum des Lebens begleitet zu werden. Immer

war neues Treiben, das wie der durstige Schrei des Säug

lings forder t und nicht zur Ruhe kommen läßt.Fragen wir weiter, we r mit dem ersten »Du« angeredet

ist. Wohl nichts Bestimmteres als das andere oder der an

dere, das nach diesem Sommer des ruhelosen Schreitens

einen empfangen soll. Da immer wieder ein neuer Schrei

des Lebensdurstes das Ich begleitete, ist ihm im Kontrast

der Schnee willkommen, dies Einförmige, in dem keiner

lei Verlockung und Reiz mehr ist. Gerade das aber soll

eine Bewirtung sein, das heißt das Willkommengeheißene.

Wer will das festlegen, was da zwischen Verlangen undVerzicht zwischen Sommer und Winter, Leben und Tod,

Schrei und Stille, Wort und Schweigen spielt? Was in die

sen Versen steht, ist Bereitschaft, dies andere anzunehmen,

was immer es sei. So scheint es mir durchaus möglich, sol

che Bereitschaft am Ende geradezu als Todesbereitschaft

zu lesen, das heißt als die Annahme des letzten, äußersten

Gegensatzes zu allzuviel Leben. Es ist ja unzweifelhaft,

daß das Todesthema bei Celan stets, auch in diesem Zy-

klus, gegenwärtig ist. Gleichwohl gilt es, sich der besonderen Kontextbestimmtheit zu erinnern, die diesem Gedicht

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als Proömium eines Zyklus zukommt, der >Atemkristall<

heißt. Das weist einen auf die Sphäre des Atmens und da

mit auf das von ihm geformte Sprach geschehen.

So fragen wir erneut: Was heißt hier »Schnee«? Ist es die

Erfahrung des Dichtens, auf die hier angespielt wird? Ist

es vielleicht gar das Wort des Gedichtes selbst, das sich

hier aussagt, sofernes

in seiner Diskretion die winterlicheStille gewährt, die wie eine Gabe dargeboten wird? Oder

meint es uns alle und ist dann jenes Stummsein nach zu

vielen Worten, das wir alle kennen und das uns allen als

eine wahre Wohltat erscheinen kann? Die Frage ist nicht

zu beantworten. Das Unterscheiden hier zwischen Ich

und Du, zwischen dem Ich des Dichters und uns allen, die

sein Gedicht erreicht, mißlingt. Das Gedicht sagt es dem

Dichter so gut wie uns allen, daß die Stille willkommen ist.

Es ist dieselbe Stille, die bei der Wende des Atems, diesem

leisesten Wiederbeginn des Atemschöpfens, zu hören ist.

Denn dies vor allem ist Atemwende, die sinnliche Erfah

rung des lautlosen, reglosen Augenblicks zwischen Ein

und Ausatmen. Ich will nicht leugnen, daß Celan diesen

Moment des wendenden Atems, den Augenblick, da der

Atem umkehrt, nicht nur mit dem reglosen Ansichhalten

verknüpft, sondern die leise Hoffnung mitklingen läßt, die

mit aller Umkehr verbunden ist. So sagt er in der Meri

dian-Rede: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeu

ten.« Aber schwerlich wird man deshalb die diese Folgebeherrschende Bedeutung des »leisen« Atems abschwä

chen dürfen. Dies Gedicht ist ein wahres Proömium, das

wie in einer musikalischen Komposition mit dem ersten

Ton die Tonlage für das Ganze angibt. Die Gedichte dieser

Folge sind in der Tat so leise und fast unmerklich wie die

Atemwende. Sie geben von einer letzten Lebensbeklem

mung Zeugnis und stellen zugleich auch immer aufs neue

ihre Lösung dar - oder besser: nicht ihre Lösung, aber ih r

Aufsteigen zur festen Sprachgestalt. Man hört sie so, wieman die tiefe Winterstille hört, die alles einhüllt. Ein Lei-

sestes fällt im Kristall aus, ein Kleinstes, Leichtestes und

zugleich Genauestes: das wahre Wort.

Von Ungeträumtem geätzt,

wirft das schlaflos durchwanderte Brotland

den Lebensberg auf.

Aus seiner Krume

knetest du neu unsere Namen,

die ich, ein deinem

gleichendes

.Aug an jedem der Finger,

abtaste nach

einer Stelle, durch die ich

mich zu dir heranwachen kann,

die helle

Hungerkerze im Mund.

Ein Maulwurf ist tätig. Man sollte dies als durch primäre

semantische Gegebenheit Evozierte nicht abstreiten. »Auf

werfen« ist eindeutig. Daß das Subjekt dieses »Aufwer

fens« das »Brotland« ist, kann nicht beirren, sondern nur

die erste Transposition einleiten - von dem Maulwurf auf

die blinde Lebensbewegung hin, die wie eine schlaflose

Wanderung erscheint, die durch das »Brotland« geht. Das

evoziert Brotarbeit und Broterwerb und alles, was mit dieser Lebenshypothek impliziert ist. Nu n sagt das Gedicht:

Was das rastlos wühlende Wesen treibt, das wir Leben

nennen, ist unget räumter Traum. Es ist also ein Versäum

tes oder ein Verwehrtes, das durch seine beständige Schär

fe immer weitertreibt: es »ätzt«. Ätzende Säure, die von

dem ausgeht, das durch seine Verweigerung versehrt, ist

eine der Leitmetaphern des Zyklus, den wir betrachten,

und wohl des Menschenschicksals, wie es der Dichter

sieht. Was durchwandert wird, ist das Brotland, das einen zwar satt zu machen verspricht, aber das Wandern

 

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r ~  

führt nirgends hin. Dies Wandern und Wühlen g e ~ c h i e h t »schlaflos«, d. h., es gibt keine Einkehr in Schlaf und

Traum, u ~ d so. wird der Hügel mehr und mehr aufgewor

fen. Er wIrd em ganzer Lebensberg. Aber hier klingt das

so, als ob das Leben unter seinem immer lastenderen Ge

wicht b e g r a ~ e n wird. Es zieht seine Spur, so wie der

Maulwurf seme Gänge durch sein Aufwerfen der Hügel

erkennen läßt.In der !at, der »Lebensberg« sind wir, mit dem Ganzen

unserer sIch a u f t ~ r m e n d e n Erfahrung. Das zeigt die Fort-

setzung: »Aus semer Krume knetest du neu unsere Na-

~ e n « . M ö ~ l i c h , daß ~ i e r bestimmte biblische oder jüdIsch-mystIsche AnspIelungen darin stecken. Aber auch

w e ~ n . man sie nicht kennt, sondern nur die Verse der Ge

neSIS 1m Oh r hat und si.e z u g l ~ i c h hinter sich läßt, gewinnt

der Celansche Vers emen Smn. Wenn es die schwere

Fracht des Lebens ist, woraus unsere Namen neu geknetetwerden, so muß es doch wohl das Ganze unserer Welter

f a h r u n ~ s e i ~ , was sich aus diesem Erfahrungsstoff aufbaut.

Das heI0t h ~ e r »unsere Namen«. Der Name ist ja das, was

u,ns a n f ~ n g h c h g e g e b ~ n wird und das wir noch gar nicht

smd. ~ I e I ? a n d kann m der Namensgebung wissen, wasder sem wIrd, den er so tauft. So ist es mit allen Namen. Sie

a l ~ e w ~ r d e n erst im Laufe des Lebens das, was sie sind: So

':,Ie wlr.werden, was wir sind, wird auch erst, was die Welt

fur uns1St.

Das besagt,.d a ~

die».N

amen« beständig neu geknetet werden, oder SIe smd mmdestens in einer fortdau

ernden ~ o r ~ u n g begriffen. Von wem, wird nicht gesagt.Aber es 1St em Du. Die Alliteration von »neu« und »Na

~ e n « ~ c h l i e ß t die zweite Vershälfte so zusammen, daß auf

d ~ , e MItte de,r Akzent eines leichten Hiats fällt, der in der

n a ~ h s t e n Zelle nachwirkt. Da vereinzelt sich das allen Ge

m ~ m , s a m e - unsere »Namen« - plötzlich zu einem Ich:

»dIe Ich .. . « Mit dem Ich plötzlich erst gewinnt die Bewe

gung des Lebens i h r ~ eigentliche heimliche Richtung, so-

fern das Ich gegen dIe beständig wachsende Verdeckung

64

ranstrebt und Durchlaß ins Freie sucht. Nicht erstickt un-

ter dem wachsenden Lebenshügel oder Lebensberg, der

hier aufgeworfen wird, ist das Ich immer noch tätig und

auf der Suche - nach Sehen und Helle, wenn auch blind

wie der Maulwurf.

Nu r das Nächste kann »ich« wahrnehmen mit tastender

Hand. Aber immerhin ist es Wahrnehmen: Unser blindes

Auge ist »deinem« gleichend. Vielleicht spielt der Dichter

hier auf die Maulwurfshand an, diese eigentümlich ge

formten hellen Flächen der Grabehand des Maulwurfs,

mit der er seine Gänge gräbt, die ihn im Dunkeln weiter

führen bis hin zu dem Hellen des Ausgangs. In jedem Falle

besteht' die Spannung zwischen dem Graben im Dunkeln

und dem Streben nach dem Licht. Der Weg im Dunkeln ist

aber nicht nur der Weg, der ins Helle führt, sondern ist

selbst ein Weg der Helle, selbst ein Hellsein. Man beachte,

wie sich in der vorletzten Zeile »die helle« durch das Für-

sichstehen dieses Attributs förmlich ausbreitet. Es ist eine

besondere Helle. Denn es ist die Tätigkeit des Ich, das hier

am Werke ist, und sie ist nichts als Wachen (»heranwa

chen«). Wachen aber nimmt den Verzicht auf Schlaf und

Traum auf, von dem eingangs die Rede war, und ebenso ist

in »Hungerkerze« Hungern gemeint, d. h. das Verschmä

hen des sättigenden Brotes, das den Lebensberg be

schwert, So ist dies Beharren auf der Helle und dem Drang

nach Helle wie eine Leistung des Fastens. Das Schlußbildvon der »Hungerkerze im Mund« legt das durch ein be

stimmtes religiöses Ritual aus, und damit wird das Du, das

Gesuchte, als kultisch Verehrtes gekennzeichnet. Wie, mir

Tschizewskij erzählt hat, gibt es auf dem Balkan emen

Brauch der Hungerkerze, der das fromme Fasten vor allen

sichtbar macht (an der Kirchentür) - eine Ar t Gebets- und

Bittfasten, das die Eltern, die auf die Rückkehr des Sohnes

hoffen, auf sich nehmen. Analog ist es ein »Fasten«, das

hier das Streben nach der Helle begleitet. Aber das Besondere dieses Fastens ist offenbar, daß das ins Helle Stre-

65

 

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bende die Hungerkerze im Munde hält. Das soll d ~ c h wohl heißen, daß es sich nicht um Fasten handelt, sondern

daß das Ic h sich all die reichlich sättigenden Worte verbie

tet, mit denen man sich im Leben abfindet - um selber für

das wahre, erleuchtete Wort fähig zu werden. So wird das

Ritual sprechend für eine Glaubensleistung ganz anderer

Art. Es gibt offenbar kein Ritual der Hungerkerze im

Mund! Mit dieser paradoxen Verbindung bricht das Ge

dicht vielmehr den evozierten Fastenbrauch um. Es ist ein

anderes Fasten, und das, wofür es geschieht, ist auch ein

anderes. Wie mir Milojcic erzählt, kennt er den Brauch der

Hungerkerze anders: Wenn jemand verarmt war und ihm

seine frühere gesellschaftliche Stellung verbot, betteln zu

gehen, legte er sich verhüllt mit der Hungerkerze an die

Kürchentür, um ungesehen und ohne zu sehen Gaben zu

empfangen. Danach wäre es nicht freiwilliges Fasten, son

dern die Not des Hungerns selber, was durch die Kerzeangezeigt wird . In jedem Fall heißt es »im Mund« - es geht

um das wahre Wort, nach dem ich hungere oder das ich

herbeihungere. Das kann man, meine ich, auch ohne folk

loristische Information erraten, wenn man nur über die

Spannung zwischen ritueller Hungerkerze und dem »im

Mund« nachdenkt. Spielt die Hungerkerze wie alle Ker

zen obendrein darauf an, daß unserem hungernden Stre

ben in die Helle eine Frist gesetzt ist? Vielleicht. Jedenfalls

aber: Man läßt nicht ab, nach der Helle zu streben, indemman die »Namen« abtastet. Die Bev.;egung des Gedichts

ist deutlich eine zweigeteilte: Die eine Bewegung vollfüh

ren alle, indem ungeträumte Träume sie treiben und eine

immer längere Lebensspur zeichnen und einen immer

schwerer lastenden Berg aufwerfen. Die andere Bewegung

ist die unterirdische des Ich, das wie ein blinder Maulwurf

ins Helle drängt. Man denkt an Jacob Burckhardt: »Der

Geist ist ein Wühler.«

Folgen wir der Transpositionsbewegung, in die wir ge

rieten, noch einmal: Wer ist hier das Du , das die Namen

66

neu knetet, das ein wahrhaft sehendes Auge besitzt, das

wahrhafte Sättigung und Erhellungverspricht? Wen meint

»ich« und wen »du«? Der Übergang zum Ich ist plötzlich

und stark akzentuiert. Es hebt sich aus dem allen gemein

samen Geschick heraus. De r Lebensberg aller wird be

ständig aufgeworfen, und aus ihm bildet sich Sinn und

Sinnlosigkeit eines jeden Lebens. So werden unser aller

»Namen« geknetet. Aber es sind n icht alle, es ist das eine

Ich, das hier »ich« meint, das diese Namen abtastet. Das

Tun des Dichters klingt an, der es mit den Namen, mit al

len Namen, versucht. Es bestätigt sich also: »Name« mein t

nicht nur die Namen der Menschen. Es meint sicherlich

den g a ~ z e n Berg der Worte, es meint die Sprache, die über

alle Erfahrung des Lebens gelagert ist wie eine deckende

Last. Sie ist es, die »abgetastet«, d. h. auf ihre Durchlässig

keit geprüft wird, ob sie nicht doch irgendwo den Durch-

bruch ins Helle gewährt. Mir scheint, es ist die Entbehrung und die Auszeichnung des Dichters, was hier be

schrieben wird. Aber ist es nur die des Dichters?

In die Rillen

der Himmelsmünze im Türspalt

preßt du das Wort,

dem ich entrollte,

als ich mit bebenden Fäusten

das Dach über unsabtrug, Schiefer um Schiefer,

Silbe um Silbe, dem Kupfer

Schimmer der Bettel-

schale dort oben

zulieb.

Das sind bittere Zeilen. In den Ausgaben liest man statt

»Himmelsmünze« »Himmelssäure«. Dies wird zu berich

tigen sein. Aber die Frage bleibt, wie die Lesart der Aus

gaben zu verstehen war. Denn ohne Zweifel hat man es in

 

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gewissem Umfang verstehen können.1Dafür spricht nicht

nur das Verhalten des Dichters als solches, der - nach Be

richten - beim Bemerken des Druckfehlers höchst gleich

mütig blieb. Die Sinnkohärenz des Ganzen ist im ganzen

stark genug, damit Einzelteile austauschbar sein können.

Das hat seinerzeit schon Walter Benjamin unter dem Be

griff »das Gedichtete« beschrieben. Wäre es nicht so, dann

wäre alle Auslegung, die mit unsicheren Vermutungen ar

beiten muß, ohne Wert. Wir erörtern die beiden Lesarten

nebeneinander, um eine jede von beiden im Ganzen des

Gedichtes zu orten. -

Zwischen der ätzenden Schärfe der Himmelssäure, von

der wir offenbar durch eine niemals sich öffnende Tür ge

schieden sind und die für uns gewiß unerträglich wäre,

und der kupfernen Bettelschale »dort oben« spannt sich

der Bogen eines einzigen Satzes. Eine Theologie des sich

verweigernden Himmels liegt zugrunde. Doch die Tür istundicht. Die Himmelssäure, gegen die wir durch die Tür

abgedichtet sind, hat Rillen in den Türspalt geätzt, und so

kommt etwas hindurch. Was hindurchkommt, ist das

Wort. Offenbar wird die Metapher der ätzenden Säure

deshalb vom Himmel gesagt, weil er sich verweigert. Als

der sich verweigernde hat er seine verzehrende Schärfe -

und doch sucht man jeden Tropfen dessen, was da zu uns

gelangt - eben »das Wort«.

Doch nun hat man zur Kenntnis zu nehmen, daß es imText nicht »Himmelssäure« sondern »Himmelsmünze«

heißt. Damit ist die Bildvorstellung eine gänzlich andere.

Der Genitiv »der Himmelsmünze« ist auf »Rillen« natür

lich nicht mehr kausativ bezogen, sondern als ein subjek

tiver Genitiv zu verstehen: die Münze hat Rillen. Wenn

man fragt, wie kommt die Münze in den Türspalt? - so hat

man keine Antwort. Genug, daß sie darin steckt. Man stellt

sich vor, daß sie dazu dienen sollte, die Tü r zu öffnen, aber

I Vgl. dazu unten, S. 435.

68

diese öffnet sich nicht, gibt keinen wirklichen Eintritt.

Statt dessen dringt durch die Tür etwas heraus. Nun ist es

offenbar so, daß die Rillen der Münze die Tür undicht ma

chen. Worauf es anzukommen scheint, das ist, daß nicht

die Münze selbst als legitime Einlaßgebühr für den Him-

mel (oder als Ausgangs- un d Durchlaßgebühr aus dem

Himmel?) die kleine Durchlässigkeit schafft, sondern et

was, das an ihr ist und das zwar auf ein blankes, neuge

prägtes Geldstück weist, aber nichts mit seinem Münz-

wert zu tun hat. Das ist recht dunkel. Handelt es sich um

ein raffiniertes Symbol für Gnade? Jedenfalls hatte der

Versuch, die Einlaßgebühr zu entrichten, keinen Erfolg.

Was aus diesem sich verweigernden Himmel allein bei uns

ist, ist »das Wort«. Ist das so gemeint? So lutherisch?

Gewiß ist freilich, daß die Himmelsmünze der Bettel

schale »dort oben« entspricht. Beides hat auf ein uner

reichbar Jenseitiges Bezug. In der Bettelschale werdenMünzen gesammelt (Himmelsmünzen ? Münzen für den

Himmel?) - und zu diesem ärmlichen Schatz scheint der

hinzustreben, der seine Bestimmung aus dem »Wort« her

leitet, dem einzigen, das aus dem ganzen Reichtum des

Himmels bei uns ist.

In der Tat, es sind bittere Zeilen, welche der beiden Les

arten man auch zugrunde legt. Das jedenfalls steht fest,

daß nichts aus jenem Himmel verlautet als das, was »du«-

wieder dieses unbekannte Du - durch die Undichte derversperrenden Tür preßt. Es ist keine strömende Heils

botschaft, sondern einmühsam erpreßtes Wort, und oben

drein scheint es wie eine seltsam verkehrte Mühe. Denn

offenbar sind nicht wir es, die sich mühen, da hineinzu

kommen oder da herauszukommen, sondern »das Wort«

soll offenbar heraus. So will es das Du. Meint das, daß wir

gegen die Wahrheit versperrt sind und die Wahrheit uns

gar nicht verweigert wird? Halten wir sozusagen die Tür

zu oder finden den Schlüssel nicht, weil wir an die Gültigkeit unserer Münze glauben? Ich stelle alle diese Fragen in

 

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dem Bewußtsein, daß jedenfalls die Theologie des Deus'

absconditus anklingt.

Eine weitere Schwierigkeit: Wenn das Wort heraus und

da ist, bin »ich« es, der ihm »entrollte«. Wer - ich? Bin ich

aus dem Wort? Bin ich das Wort, wie alle Kreatur ein

Schöpferwort ist? Ist es das Wort, aus dem ich komme, zu

dem ich nun und immerzu zurückstrebe ? Das gäbe auch

bei der äußersten Gottesferne Sinn. Denn unter dem Dach

der Sprache leben wir alle. Vielleicht gilt auch von uns al

len, daß ein jeder von uns das Dach, das uns allen gemein

samen Schutz gewährt, weil es den Durchlaß und Aus

blick nimmt, gleichwohl abtragen möchte, um nach oben,

ins Freie zu blicken. Vor allen anderen ist es gewiß der

Dichter, der hier von sich sagt, was vielleicht für uns alle

gilt. Die Decke der Worte ist wie ein Dach über uns. Sie

sichern das Vertraute. Indem sie aber uns ganz mit Ver

trautheit umschließen, verhindern sie jeden Ausblick indas U nvertraute. Der Dichter - oder wir alle? - sucht Silbe

um Silbe, das heißt mühsam und unermüdlich, abzutra

gen, was verdeckt. Offenbar entspricht dieses Abtragen

»Silbe um Silbe« dem, was im vorigen Gedicht als das Ab-

tasten der Namen und das Heranwachen begegnete. Hier

wie dort scheint eine verzweifelte Anstrengung dessen,

der ins Helle, nach oben strebt, beschrieben.

Aber gelangt man je zum Ziele? Die Antwort des Ge

dichtes ist niederschmetternd. Was hier durch die Arbeitder bebenden Fäuste allenfalls erreicht wurde, wäre in

Wahrheit nichts als die kupferne Bettelschale mit ihrem

jenseitigen Schimmer. Daß eine ganz gewöhnliche Bettel

schale auf einer Pariser Straße den Dichter inspiriert hat,

wie mir Bollack erzählt hat, ändert nichts daran, daß hier

von einer »Bettelschale dort oben« die Rede ist und damit

eine bestimmte Transposition von uns verlangt wird. Das

Gedicht versetzt die Bettelschale in den Zusammenhang

von Heiligkeit und Heilsverlangen. Freilich, mit welcherTönung? De r Erwartung? Kaum. Eher so: Wir reichen

nicht weiter mit unserer Vorstellung von Heil als noch ge

rade an die Bettelschale, in der die Op fergaben gesammelt

werden - im Kirchenraum das profanste aller Geräte.

Oder auch: Wir reichen nur bis an die dürftige Mildtätig

keit einer »Sammlung«, in der weder Wärme noch Liebe

ist. Jedenfalls ist es nicht einmal etwas von wahrhaft Hei

ligem, das auf mich wartet, wenn ich das schützende Dach

abzutragen suche. Es ist kaum der Abglanz des Heiligen.

Oder ist es überhaupt nichts Heiliges, sondern etwas, das

vielleicht wie Heiliges, aber in falschem Schimmer glänzt?

Jedenfalls ist der verzweifelt sich Anstrengende voll von

Bitterkeit und sich der Enttäuschung bewußt, die auf ihn

wartet.

Doch lassen wir einmal alle Theologie beiseite und prü-

fen die einzelnen Wendungen. Was heißt es, daß ich dem

Wort entrollte? Bei der Wendung »entrollte« und im Ab-

tragen »Silbe um Silbe« denkt man zunächst an die Tätigkeit des Entrollens einer Schriftrolle und des Entzifferns

eines Urtextes, wie er etwa das dichterische Wort sein

könnte. Hier ist aber das Wort »entrollte« intransitiv ge

braucht. »Ich entrollte« dem von oben durchsickernden

Wort, diesem geringsten Tropfen einer jenseitigen himm

lischen Substanz. Das klingt paradox. Nicht »ich« bin es,

der Silbe um Silbe das Wort - wie eine Schriftrolle - ent

rollte, sondern »das Wort« ist es, dem ich selber entrollte.

Es ist offenbar so, daß der Dichter selber aus dem Wortkommt und daß seine ganze Anstrengung darauf geht, dies

Wort wieder zu erreichen, aus dem er kommt und das er

als das Seine weiß. Kein Zweifel, daß dies atemlos ver

zweifelte Suchen nach dem Wort über all den Silben und

Wörtern dem gilt, was »das Wort« - das wahre Wort - ist:

das Wort, in dem der, der das Wort sucht, selber darin ist.

Das scheint in der Tat so, daß es der Dichter ist, der hier

von sich »ich« sagt und der ganz im Wort lebt. Die Auf

gabe des Dichters besteht eben darin, daß er nach dem

wahren Wort, das nicht das übliche schützende Dach aller

 

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Tage ist, sondern das von jenseits her ist, wie nach seiner'

wahren Heimat strebt und deshalb Silbe um Silbe das Ge

füge der alltäglichen Worte <1.btragen muß. Er muß gegen

die verbrauchte, gewöhnliche, verdeckende und alles ein

ebnende Funktion der Sprache ankämpfen, um den Blick

in den Schimmer dort oben freizulegen. Das ist Dichtung.

Aber es ist noch etwas anderes darin. Es heißt ja, der

Dichter entrollte dem Wort, als er in seinem Dichten,

Wort um Wort, nach seiner Herkunft aus dem wahren

Wort aufschaut, und kann doch von dem Heiligen nie

mehr gewahren als seinen profansten, ärmlichsten Schim

mer - vielleicht sogar: seinen falschen, durch das Betteln

entstellten Glanz. Damit gewinnt das Entrollen eine noch

andere, negative Tönung. Mit dem Abtragen des Daches,

dem Suchen der rechten Worte (»als ich abtrug«) kehrt er

nicht heim, sondern verliert sich der Dichter gerade. Er

»entrollte« dem Wort, das er eigentlich ist, wird hoffnungslos von ihm geschieden und ist vergeblich - »mit be

benden Fäusten« - bemüht, zu ihm zurückzugelangen.

»Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben« (G. Eich).

Un d wieder fragt man sich: Ist es wirklich nur der Dichter,

dem dies widerfährt , daß das eigentliche Wort unerreich

bar bleibt, obwohl es sein eigenstes ist? Oder ist es viel

mehr unser aller Erfahrung, von dem eigentlichen Wort

und seiner Wahrheit geschieden zu sein, gerade dadurch,

daß man Worte macht un d daß man »mit bebendenFäusten« auf etwas hin tätig ist, das man haben möchte,

das n icht erreichbar ist - un d das am Ende gar nicht einmal

so ist, daß es die Mühe lohnt?

In den Flüssen nördlich der Zukunft

werf ich das Netz aus, das du

zögernd beschwerst

mit von Steinen geschriebenen

Schatten.

Man muß das Gedicht in seinem Zeilenbruch nicht nur ge

nau lesen, man muß es so auch hören. Celans meist sehr

kurzzeilige Gedichte nehmen es damit sehr genau. Bei

breiter strömenden Versen, wie etwa den Duineser Ele

gien, die ohnehin viel technischen Zeilenbruch, insbeson

dere in den der Erstauflage folgenden Drucken, nicht ver

meiden konnten, sind nur sehr deutliche Verszäsuren von

so siegelhafter Prägnanz wie die Schlußzeilen dieser Ge

dichte Celans. In unserem Falle ist der Schlußvers ein ein

ziges Wort: »Schatten« - ein Wort, das so schwer sich

senkt wie das, was es bedeutet. Indessen, es ist ein Schluß,

und wie jeder Schluß rückt er die Maße des Ganzen fest.

Auch der evozierten Bedeutung nach: »Schatten fallen«

heißt immer auch: Sie werden geworfen. Wo Schatten fal

len und verdunkeln, ist immer auch Licht mit da und das

Lichte, und wirklich, es wird hell in diesem Gedicht. Was

es evoziert, ist Klarheit un d Kälte eisnahen Gewässers.Die Sonne durchscheint das Wasser bis auf den Grund.

Die Steine, die das Netz beschweren, sind es, die die Schat

ten werfen. Das ist alles höchst sinnlich und konkret: Ein

Fischer wirft das Netz aus, und ein anderer hilft ih m dabei,

indem er das Netz beschwert. Wer ist Ich? Und wer ist

Du?

Das Ich ist ein Fischer, der das Netz auswirft. Auswer

fen des Netzes ist eine Handlung reiner Erwartung. Wer

das Netz ausgeworfen hat, hat alles getan, was er tunkonnte, und muß warten, ob etwas sich fängt. Es wird

nicht gesagt, wann diese Handlung vollzogen wird. Es ist

eine Art gnomischer Gegenwart, d. h., es geschieht immer

wieder. Das wird durch das pluralische »in den Flüssen«

unterstrichen, das nicht wie das nahe liegende »Gewäs

sern« eine unbestimmte Ortsangabe bedeutet, sondern

sehr bestimmte Plätze, die man aufsucht, weil sie Fang

verheißen. Diese Plätze liegen alle »nördlich der Zu-

kunft«, d. h. noch weiter draußen, außerhalb der gewohn

ten Wege und Fahrten, dort, wo keiner sonst fischt. Es ist

73

 

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offenbar eine Aussage über das Ich, nämlich, daß es ein Ich'

solcher besonderer Erwartung ist. Es erwartet das Zu-

künftige dort, wo keine Erwartung der Erfahrung hin

reicht. Aber ist nich t jedes Ich ein Ich solcher Erwartung?

Ist nicht in jedem Ich etwas, das in eine Zukunft ausgreift,

die hinausliegt über das, womit man zukünftig rechnen

kann? Das Ich, das so anders ist als die anderen, ist gerade

das Ich eines jeden.

Nun beruht der kunstvoll gespannte Bogen dieses Ge

dichtes, das ein einziger schlichter Satz ist, darauf, daß das

Ich nich t alleine ist und nicht allein den Fischfang durch

führen kann. Es bedarf des Du. Betont steht das »du« am

Ende der zweiten Zeile, wie angehalten, wie eine unbe

stimmte Frage, die sich erst durch den Fortgang des drit

ten Verses - oder besser: der zweiten Hälfte des Gedichts

- mit ihrem Sinn erfüllt. Hier wird ein Tun sehr genau be

schrieben. »Zögernd beschwerst« meint nicht ein inneresZögern der Unentschiedenheit oder des Zweifels, das das

Du, wer es auch sei, die Zuversicht des fischenden Ich

nicht ganz teilen läßt. Es wäre völlig mißverstanden, wenn

man in das »zögernd« diesen Sinn legen würde. Was be

schrieben wird, ist vielmehr das Beschweren des Netzes.

Wer das Netz beschwert, darf nicht zuviel tun und nicht

zuwenig; nicht zuviel, dami t das Netz nicht ab sinkt, und

nicht zuwenig, damit es nicht obenhin treibt. Das Netz

muß, wieder Fischer sagt, »stehen«. Von hier bestimmt sichdas Zögernde des Beschwerens. Wer das Netz beschwert,

der muß vorsichtig Stein auf Stein hinzutun wie auf eine

Waagschale, in der man das Gewicht von etwas wägt.

Denn es kommt darauf an, den richtigen Augenblick des

Gleichgewichts zu treffen. Wer das beim Beschweren des

Netzes tut, hilft, daß der Fang überhaupt möglich wird.

Die sinnliche Konkretion des Vorgangs ist aber kunst

voll ins Imaginäre und Spirituelle gehoben. Schon die erste

Zeile nötigte durch die sinnlich uneinlösbare Fügung

»nördlich der Zukunft«, die Aussage in ihrer Allgemein-

74

heit zu verstehen. Die gleiche Funktion übt in der zweiten

Hälfte die nicht minder uneinlösbare Fügung einer Be

schwerung mit Schatten aus, un d gar »mit von Steinen ge

schriebenen Schatten«. Wie dort der Mensch als das Wesen

der Erwartung in der sinnlichen Gebärde des Fischers

sichtbar wurde, so bestimmt sich hier, was Erwartung ist

und möglich macht, näher. Denn offenbar sind hier zwei

Handlungen in ihrem Zusammenspiel gezeigt: das Aus

werfen und das Beschweren des Netzes. Zwischen ihnen

ist eine geheime Spannung, und doch sind sie das einheit

liche Tun, das allein Fang verheißt. Gerade der geheime

G e g e n ~ a t z zwischen Werfen und Beschweren ist es, auf

den es ankommt. Man würde mißverstehen, wenn man die

Beschwerung als eine Hemmung des reinen Wurfs in die

Zukunft verstünde, als eine Trübung der reinen Erwar

tung durch die beschwerende Einsicht in das, was nach

unten zieht. De r Sinn der Spannung ist vielmehr, daß nur

durch sie die Leere des Erwartens und die Eitelkeit des

Hoffens Bestimmtheit von Zukunft gewinnt. Die kühne

Metapher der »geschriebenen Schatten« läßt nicht nur das

Imaginäre und Spirituelle der ganzen Handlung hervor

treten, sondern bezeugt so etwas wie Sinn. Was »geschrie

ben« ist, läßt sich entziffern. Es bedeutet etwas und ist

nicht einfach der dumpfe Widerstand des Schweren. Soll

man übertragen: Wie der Ak t des Fischers nur aussichts

reich ist durch Zusammenspiel von Wurf und Beschwerung, so ist auch alle Zukünftigkeit, in die das menschliche

Leben hineinlebt, keine bloße unbestimmte Offenheit für

das Kommende, sondern bestimmt sich durch das, was

war und wie es aufbewahrt ist wie in einem von Erfahrun

gen und Enttäuschungen geschriebenen Buch.

Aber wer ist dieses Du? Es klingt fast, als wisse da einer,

wieviel er dem Ich aufladen kann, wieviel das hoffende

Herz des Menschen erträgt, ohne daß es die Hoffnung sin

ken läßt. Ein unbestimmtes Du, das vielleicht in dem Dudes Nächsten, vielleicht in dem Du des Fernsten seine

75

 

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Konkretion findet, oder gar in dem Du, das ich mir selbst

bin, wenn ich meiner eigenen Zuversichtlichkeit die Gren-

zen des Wirklichen fühlbar mache - in jedem Fall ist das

Zusammenspiel von Ich un d Du, das den Fang verheißt,

das, was in diesen Versen eigentlich präsent ist und dem

Ich seine Wirklichkeit verleiht.

Was ist es aber nun, was da Fang heißen soll? Der flu

tende Austausch zwischen dem Dichter und Ich erlaubt,

es in einem besonderen wie in einem allgemeineren Sinne

zu verstehen - oder besser: im besonderen den allgemei

nen Sinn zu erkennen. Der Fang, der glücken soll, mag das

Gedicht selbst sein. Der Dichter mag sich selbst darin mei

nen, daß er das Netz dort auswirft, wo Klarheit und Un-

berührtheit die Gewässer der Sprache ungetrübt findet

und ihn erwarten läßt, daß das über alles Herkömmliche

Hinausgehende seiner Kühnheit ihm einen Fang gewährt.

Daß der Dicht er sich selbst meint, wenn er in dieser Weisesich als ein fischendes Ich darstellt, läßt sich auch durch

den Zusammenhang stützen - nicht nur den großen welt

literarischen Zusammenhang, der den dichterischen Fund

gern aus dunkler Tiefe - eines Brunnens oder eines Sees -

hervorholen läßt. Man denke an die bekannten Gedichte

Stefan Georges Der Spiegel und Das Wort. Auch der be

sondere Zusammenhang der vorliegenden Gedichtfolge

läßt das wahre Gedicht, das kein »Meingedicht« ,kein täu

schender Schwur der Angeblichkeit ist, gegenüber demeitlen Worttreiben, in dem die Sprache hin- und hergezerrt

wird, zur Abhebung kommen. So ist es durchaus berech

tigt, auch in unserem Gedicht das ganze Geschehen vom

Dichter und seiner Erwartung des Wortes, das ihm ge

lingt, her zu verstehen. Un d doch ist das, was hier be

schrieben wird, so, daß es weit über das Besondere des

Dichters hinausgeht. Un d das nicht nur hier. Es ist eine der

großen Grundmetaphern der gesamten Neuzeit, daß das

Tun des Dichters wie ein Exempel des Menschseins selberist. Das Wort, das dem Dichter gelingt und dem er Bestand

verleiht, ist nicht sein spezielles artistisches Gelingen, son

dern ein Inbegriff menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten

überhaupt, der dem Leser erlaubt, das Ich zu sein, das der

Dichter ist. In unseren Versen sind Ich und Du in einer ge

heimen Solidarität des Gelingens beschrieben, die nicht

nur die des Dichters und seines Genius oder Gottes ist. Da

ist nicht ein beschwerendes Wesen, Mensch oder Gott , das

da Wortschatten auflädt, die die Freihe it beengen. In die

sem Gedicht, das ein eigenes Gelingen dichterischer Exi

stenz meinen mag, kommt in Wahrheit zur Aussage, wer

Ich ist, indem deutlich wird, wer Du ist. Wenn des Dich

ters Verse uns dieses Zueinander präsent machen, dann

rückt ein jeder von uns in eben den Bezug ein, den der

Dichter als den seinen aussagt. Wer bin ich und wer bist

du? Das ist eine Frage, auf die das Gedicht seine eigene

Antwort dadurch gibt, daß es die Frage offenhält.

O. Pöggeler schlägt vor, das »nördlich der Zukunft« als

eine Todeslandschaft zu verstehen, da von dem »ungreif

baren Abgrund« des Todes her jede auf uns zukomme nde

Zukunft schon überholt sei - eine Radikalisierung der

menschlichen Grunderfahrung, die es nötig machen wür-

de, das Du als den Todesgedanken zu verstehen, der allem

Dasein sein Gewicht gibt. Es ist wahr, daß so »nördlich

der Zukunft« präziser verstanden würde: dort, wo keine

Zukunft mehr ist - und das hieße: auch keine Erwartung .

Und dennoch: Fischzug. Es lohnt, darüber nachzudenken. Ist es das Einverständnis mit dem Tode, das neuen

Fang verheißt?

Vor dein spätes Gesicht

Allein-

gängerisch zwischen

auch mich verwandelnden Nächten,

kam etwas zu stehn,

das schon einmal bei uns war,un-

berührt von Gedanken.

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Dies Gedicht erschien mir lange besonders schwierig.'

Denn bei aller Eindeutigkeit seiner Aussage läßt es einen

besonders weiten Raum für die Ausfüllung. Ist es ein Lie

besgedicht? Oder spricht es von Mensch und Gott? Sind

es Liebesnächte oder die Nächte des Einsamen, die »mich«

verwandelt haben?

Es liegt, wie bei sehr kurzzeil igen Gedichten oft, gerade

durch die Kürze und Knappheit seines Baues ein be

sonders starkes Gewicht auf der letzten Verszeile. »Be

rührt von Gedanken« - das ist fast wie ein epigrammati

sches Siegel. Von hier muß im Grunde das Ganze wie von

seiner Verdichtung her begriffen werden. Die spannungs

volle Trennung »un-berührt von Gedanken« stellt das Be

rührtsein von Gedanken für sich. Aber in welchem Sinne?

Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu verstehen: als eine po

sitive und durch die Zeilentrennung verstärkte Aussage

über die Unberührtheit dessen, was da »vor dein Gesicht«t ra t - daß es nämlich nichts ausdrücklich Gewußtes und

Gedachtes ist. Oder aber es ist eine Aussage darüber, daß

das, was »schon einmal bei uns war«, nun anders, nämlich

»berührt von Gedanken«, also verwandelt ist. Es hieße

also gerade nicht: nach wie vor unberührt. Nu n ist die

Aussage des Gedichtes durchweg von der Spannung zwi

schen »nach« und »vor« beherrscht. Es ist von einem

»späten« Gesicht die Rede, das ein »früher« heraufruft; es

ist von einem »schon einmal« die Rede und ausdrücklichvon »verwandelnden« Nächten. So muß auch in dem »un

berührt«, das nicht umsonst Zeilentrennung in sich

austrägt, die Spannung zwischen Eins t un d Jetzt liegen.

Die Frage geht bis in die letzten Eigenheiten von Rhyth

mik, Versbau und Sinnfügung. Es handelt sich um eine

Frage letzter Sinnkohärenz - un d die scheint mir für die

von mir vorgeschlagene Deutung zu sprechen, daß eine

neue Bewußtheit eingetreten ist. Denn jenes »etwas«, das

da zu stehen kommt, bliebe allzusehr in der Unbestimmt

heit, wenn über es überhaupt nichts ausgesagt würde.

Wenn dagegen der Sinn ist, daß die Unberührtheit von

Gedanken durch den Gedanken zerstört wird, dann ver

steht man immerhin , daß »etwas« eingetreten ist, nämlich

bei aller Unbestimmtheit eine neue, Alleinsein einschlie

ßende Bewußtheit. Wachsende Bewußtheit, Abstand, Al

leinsein: das ist nicht die enttäuschte Feststellung eines

verlorenen Zugangs - wie eine Entfremdung es wäre -,

sondern es findet hier gegenseitige Anerkennung statt:

»auch mich« - also auch dich - »verwandelnd« heißen die

Nächte. De r Abstand, der jetzt bewußt wird, war an sich

immer da, als das, was man Diskretion nennt/ bis zu jener

»unendlichen Diskretion«, mit der Rilke sein Verhältnis

zu Gott beschreibt.

Aber das ist nu n die eigentliche Erfahrung, die aus die

sen Versen spricht: Inzwischen ist es anders geworden.

Was von Gedanken unberührt war, ist nicht länger so, und

das ein für allemal. Eben die Endgültigkeit dessen, wasnun eingetreten ist, spricht aus der epigrammatischen

Schlußzeile »berührt von Gedanken«.

Hier scheint die Frage besonders dringlich, wer Ich ist

und wer Du. Aber auch hier ist nicht so zu fragen. Das ein

zige, worauf es ankommt, ist, daß zwischen dem Ich, das

hier spricht, und dem Du, das es anspricht, die Geschichte

einer innigen Beziehung heraufgerufen wird, deren Be

ginn länger zurückliegt. Darauf deutet das Beiwort »spät«,

das dem Gesicht zugesprochen wird, und weiter klingt esso, als ob dies Gesicht inzwischen in sich zurückging und

sich stärker in sich verschlossen hat. Denn es heißt »allein

gängerisch«, und das meint nicht einfach allein-gehend,

sondern ein bewußt gewähltes und festgehaltenes Allein

sein. Wieder ist es die Wortt rennung, welche die Spannung

dieses Alleinseins verleiblicht. Sie läßt beides anklingen,

das Alleinsein und den Willen dazu. Das bestätigt sich von

der anderen Seite durch »mein« Eingeständnis, daß auch

2 Zu diesem Begriff und seiner Rolle für das Verständnis mod erner Lyrikvgl. >Verstummen die Dichter?<, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd.

9, Tübingen I993, s. 362ff.

79

 

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ich verwandelt bin. Was da »vor dein spätes Gesicht« tritt,

ist aber ausdrücklich nicht als etwas Fremdes anzusehen,

das früher nicht da war. Es war ja schon einmal »bei uns«.

Was inzwischen anders geworden ist, hebt die Vertraut

heit der gegenseitigen Bindung durchaus nicht auf. Es ist

nicht etwas Fremdes. Man soll nicht fragen, was das ist.

Offenbar weiß der Sprechende es selber nicht zu benen

nen. Es ist »nichts«.

Was das Gedicht darüber hergibt, liegt einzig in der

Wendung »un-berührt von Gedanken«. Das besagt, daß

man sich inzwischen Gedanken macht und daß gerade da

durch »etwas zu stehn« gekommen ist. Man achte darauf,

daß es nicht heißt: etwas trat dazwischen. Es ist überhaupt

keine besondere Begebenheit gemeint, die alles veränderte,

sondern eher der Niederschlag der Zeit selbst, der nicht

etwa etwas N eues enthüllt, sonde rn das, was an sich schon

bekannt ist, weil es »schon einmal bei uns war«, nun fürsich stehen läßt. Es heißt »bei uns« - und nicht: zwischen

uns. Was da zum Bewußtsein kommt, ist vielleicht nichts

anderes als Alleinsein in wechselseitiger Vertrautheit.

So scheint es kaum nötig zu wissen, wer Ich und wer Du

ist. Denn das, wovon die Rede ist, geschieht beiden. Ich

und Du sind beide Verwandelte, sich Verwandelnde. Es ist

die Zeit, die ihnen geschieht. Ob nu n dieses Du das Ge

sicht des Nächsten trägt oder das ganz andere des Gött

lichen - die Aussage ist, daß bei aller Vertrautheit zwischen beiden ihnen mehr und mehr der Abstand bewußt

wird, der zwischen ihnen bleibt. In jenen Nächten, das

heißt in der Nähe und Innigkeit des Beisammen, die alles

andere auszulöschen und alles Trennende aufzulösen ver

mag, gerade da verwandelte sich etwas und kam etwas zu

stehen. Ist das überhaupt etwas Trennendes? Es trat »vor

dein Gesicht«. Gewiß liegt darin auch, daß ich keinen so

unmittelbaren Zugang mehr zu dir habe, aber doch auch,

daß ich nicht von dir getrennt bin. Es war ja schon vorher

»bei uns«. Eher scheint es, als würde in einem neuen Wis-

80

rII\I

\

sen der Abstand bejaht, der immer war, der Abstand zum

verborgenen Gott oder die Ferne des Allernächsten.

Die Schwermutsschnellen hindurch

am blanken

Wundenspiegel vorbei:

da werden die vierzig

entrindeten Lebensbäume geflößt.

Einzige Gegen

Schwimmerin, du

zählst sie, berührst sie

alle.

Es geht um die Erfahrung der Zeit. An einem Punkte wird

es handgreiflich, worauf das Gedicht anspielt. Jemand

denkt an die vierzig Jahre, die er alt ist. Man wird sagen:der Dichter. Gewiß, und doch ist in dem, was der Dichter

hier von sich selbst sagt, ein Allgemeines da, ein so sehr al

len Gemeinsames, daß diese besonderen vierzig Jahre

nicht die des Dichters allein sind. In dem ganzen Gedicht

wird überhaupt nich t »ich« gesagt, so sehr ist im Sprechen

des lyrischen Wortes das Ich da, das wir alle sind. Dieses

Ich, das wir alle sind, denkt an seine vierzig Jahre, das heiß t

an alles, was an ihm, und an alles, woran es selbst vorüber

gekommen ist: Zeiten der Schwermut, Stromschnellen, dienicht so sehr durch ihr Dasein als durch die Plötzlichkeit

und Unvorhersehbarkeit ihres Auftretens Gefahr sind.

Die Gefährlichkeit dessen, was so plötzlich über einen

kommt, ist in dem einzigen Wort »Schwermutsschnellen«

beschworen - aber auch, daß das Ich durch alle Anfech

tungen hindurchkam. Jetzt geht es durch ruhigeres Wasser,

an dem spiegelnden See vorbei, der im Kontrast zu den

Stromschnellen eine so unbewegte Wasserfläche ist, daß

sich alles in ihm spiegeln kann. So ist in ihm Wissen und

Eingedenken. Was sich in ihm spiegelt, sind die sichtbaren

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Spuren sichtbarer V e r l ~ t z u n g e n , Wunden, deren ~ a s d ~ ~ hinrauschende Leben sIch schmerzhaft bewußt wIrd. SIe

vor allem sind es, die in der Lebensbilanz auftreten.

Un d doch ist die eigentliche Bewegung des Gedichtes,

daß das Leben weitergeht, vorbei an den jähen Verdüste

rungen wie an der Klarsicht offener Leiden. Die Lebens

bäume der Jahre, die da dahintreiben, heißen ihrerseits

»entrindet«. Das kann heißen: Es liegt der Kern bloß (für

den sich Erinnernden?) , dergestalt, daß alles Unwesentli

che abgestreift ist. Vielleicht auch: Das eigentliche Leben

dige ist nicht mehr dabei. Die Entrindung läßt den Säfte

strom des Lebens nicht mehr steigen und sinken. Was da

ist, ist nur ein verholztes Gehäuse. In jedem Falle: sie wer

den geflößt. Die Kraft der Wasser trägt sie dahin, talab

wärts. Diesem Strom des Vergehens schwimmt jemand

entgegen, für den, als die »einzige Gegenschwimmerin«,

all diese Unterschiede von jähen Verdüsterungen undspiegelnder Klarheit der Wunden und all das, was sie an

Leben einschließen, überhaupt nicht zu existieren schei

nen. Diese Gegenschwimmerin wird als Du angeredet, be

wundernd, besiegelnd.

Die letz te Verszeile »alle« macht das Allumfassende die

ser Gegenbewegung deutlich. Die Gegenschwimmerin

zählt alle und berührt alle diese Bäume des Lebens. Das

Gleichmaß un d die unbeirrbare Genauigkeit, die hier am

Werke sind, machen es eindeutig, scheint mir, daß dieGegenschwimmerin die vergehende Zeit selber ist. Kein

menschliches Erinnern oder Gedächtnis oder gar die mit

gehende Sorge eines anderen vermöchte so beständig und

unverrückt und untrennbar vom ersten Jahre an dabeizu

sein. Plato lehrt uns: Die Zeit ist die Zahl, das bewegte

Außereinander. Die Gegenschwimmerin hier ist freilich

mehr als nur ein Maß, an dem sich die Bewegung mißt. Sie

tu t etwas, indem sie selber der Stromversetzung des Ver

gehens widersteht. Dadurch allein ist sie wie ein festes

Maß, mit dem sich alles zusammenfassen und messen läßt

und von dem aus sie sich zählend all des Vorüberfließen

den vergewissert, wie mi t berührender Hand. Nichts wird

dabei weggelassen, alles gehört dazu, auch all die >unge-

zählten< Leiden, die hinter sich zu lassen und zu vergessen

leben heißt. Das Gezählte ist also die ganze Summe der

durchlebten Zeit. Nun lehrt uns Aristoteles: Irgendwie ist

mit der Zeit die Seele da. Das »Gegen«, das sich nicht mit

reißen läßt und nicht davon abläßt, dabeizusein und alles

zU:2ählen, ist also nicht so sehr die Ze it selber wie das ste

hende und widerstehende Selbst, das Ich, das, worin die

Zeit ist. In ihm erst faßt sich, wie Augus tin gezeigt hat, die

Lebensgeschichte zu einem Ganzen zusammen. In ihm

erst ist Zeit da. Es ist etwas Rätselhaftes mit der Selbigkeit

des Ich. Es lebt, weil es vergißt - aber es lebt auch nur als

Ich, weil alle seine Tage »für es« gezählt werden und ge

zählt sind, die unvergeßlichen. Daß nichts, was ich war,

ausgelassen ist, macht das Wesen der Zeit aus. Aber gewißist es nicht das wirkliche Bewußtsein des Vierzigjährigen

oder irgendeines, der zurückblick t, derar t alles zu umfas

sen. Gerade dieser Unterschied der alles zählenden Zeit

und des Lebensbewußtseins des Ich wird diesem vielmehr

zur Erfahrung. De r Vierzigjährige wird an solchem

Gleichmaß der Zeit und am Gleichmut dieses Bewußt

seins, das die Zeit selber denkt, seiner wie eines höheren

Selbst bewußt.

Die Zahlen, im Bundmit der Bilder Verhängnis

und Gegen-

Verhängnis.

De r drübergestülpte

Schädel, an dessen

schlafloser Schläfe ein irr

lichternder Hammer

all das im Welt akt

besingt.

 

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Auch hier geht es um das Erleben der Zeit. »Die Zahlen<;

nimmt das Zählen der Zei t auf. Die Zeit erscheint hier alsVerhängnis, denn sie steht »im Bund mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis«. »Der Bilder Verhängnis«meint offenbar das, was hinter dem Schädel wach ist, dasunvermeidliche Verhängnis des Bewußtseins, in dem immer etwas sich abbildet. Es kann nicht fehlen, daß da etwas

ist - nicht ein Gerufenes, nicht ein Gewünschtes. Die Zahlen, das heißt dieses Ablaufen der Augenblicke, sind nichtfür sich. Sie sind »im Bund«, d. h. schließen immer zugleich ein, daß als Gegebenheiten der inneren ErfahrungBilder da sind. Diese Bilder nun, die so mit den Zahlenund der Zeit unlösbar mitgehen, sind nicht nur wie dieZei t» Verhängnis«, d.h. notwendiges, unabänderliches Geschehen, sie haben die Funktion eines »Gegenverhängnisses«. Das will sagen, daß sie zugleich gegen die Zahlen ste

hen, gegen das Einerlei der Folge, das unaufhörlich wie einHammer pocht. Doch diese Bilder sind auch selber Verhängnis. Als Verhängnis der Bilder erlangt indes das Wort»Verhängnis« einen neuen Gegensinn, nämlich, daß es etwas verhängt, so daß das Verhängte nicht mehr in seinereigentlichen Gestalt offen liegt und unverhüllt sichtbar ist.Indem das Gegenverhängnis der Bilder beides zugleich ist,nicht nur Verhängtes, sondern auch Verhängendes, gewinnt auch das Verhängnis selber etwas von dem Doppel

sinn, verhängt und zugleich verhängend zu sein. Das, wo-gegen die Bilder das Verhängende und Verhängte sind,sind die Zahlen, die Zeit, das unabänderliche Vergehen. Esist - als im Bunde mit den Bildern - nicht nur ein unaufhörliches Pochen der Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegenwart liegt und

den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, derbunte Teppich der Bilder.

Die Zeit ist der innere Sinn, in dem sich die Sukzessionder Vorstellungen findet. Das hatte schon Kant und imAnsatz schon Aristoteles gelehrt. Man versteht das Be-

fremdliche, daß diese Unendlichkeit der Folge und derBilder wie unter einem Helm eingeschlossen ist. Es ist derSchädel, an dessen Wand der Äußerlichkeit sich diese innere Unendlichkeit im Hammerschlag des Zeitpulses manifestiert. Nu n heißt es aber »im Welttakt besingt«: Daßder Taktschlag des Zeithammers Welttakt ist, ist klar - erumfaßt alles. Was heißt es aber, daß der pochende Ham-

mer diese ganze innere Folge» besingt«? Aus solchem Taktdes unaufhaltsamen Vorbei wird doch wahrlich keine Musik. Die kühne Metapher »besingt« bildet einen Endversund hat dadurch einen starken Nachdruck, die Emphasedes Paradoxon, das sich selbst setzt und entgegensetzt.Nu n meint »besingt« auf alle Fälle: nicht entgegenstehen,sondern preisen und in der Preisung gegenwärtig machen.Was bedeutet das? Wieso ist der »irrlichternde Hammer«,das Aufzucken des Bewußtseins, das dem Strom von Zeit

und Bild nur folgt und mit ihm geht, zugleich das, was zuihm ja sagt, ihn ganz zum meinigen macht - als jenes »Ichdenke«, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können?

Oder ist es gerade die Monotonie dieses Hammerschlages der Vergänglichkeit, die in einem bitteren Oxymoron

»singen« genannt ist? Doch die semantische Gegebenheitscheint mir eindeutig: Im großen Takt der Zeit, die wiederPulsschlag ist, ist das Aufleuchten des Bewußtseins wie ein

Gegenverhängnis. Es sind Bilder, deren Wechselgehalt dasEinerlei des Vergehens in unaufhörlicher Folge irrlichternd belebt. Wie nahe hier - wie überhaupt bei Celan -ein Wortspiel lauert, zeigt in der zweiten Strophe die Wendung »schlaflose Schläfe«. Wie alle Wortspiele verkörpertauch dieses einen Gedankenbruch - oder besser: eine verborgene Harmonie, die, wie Herakli t wußte, stärker ist alseine offene.) In der Tat ist es das Rätsel des Bewußtseins

3 Zur Tragweite dieses Heraklitischen Gru ndsatzes nicht nur für das Ce-

lan-Verständnis, sondern der modernen Kunst im allgemeinen siehe ,ImSchatten des Nihilismus<, in: Gadamer, a.a.O. , S. 379ff.

 

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selbst, wie dies Ineins von Schlaf und Schlaflosigkeit, diese

Schlaflosigkeit im Schlaf, sein kann. Wenn man sich seiner

selbst bewußt ist, ist man wach. Aber der, der sich da sei

ner selbst bewußt wird, ist stets wie ein aus dem Schlaf Er-

weckter. So sicher sind wir unserer Selbigkeit im Selbstbe

wußtsein, daß seine Wachheit auch seinen Schlaf, sein

Dämmern und Vergessen, fraglos umfaßt. Nun ist der

Hammer, der an die Schläfe pocht, im Einerlei des uner

bittlichen Weitergehens der Zeit, Gesang - oder wie Ge

sang? - In jedem Falle meint das etwas, was da zustande

und zum Stehen kommt. Das ist die eigentliche Aussage.

Indem der Hammer nicht nur den Welttaktschlägt, son

dern im Takt all das, was in der ganzen Greifbarkeit der

Bilder auftaucht, besingt, wird das Einerlei aufgehoben.

Die wechselnden Bilder treten in ein bleibendes Sein, das

dem Vergehen ins Tonlose widersteht und in dem Zustim

mung geschieht.

Wege im Schatten-Gebräch

deiner Hand.

Aus der Vier-Finger-Furche

wühl ich mir den

versteinerten Segen.

N ach hermeneutischem Grundsatz beginne ich mit derbetonten Schlußzeile. Denn darin liegt offenbar der Kern

dieses Kurzgedichtes. Es spricht von »versteinertem Se

gen«. Segen wird nicht mehr offen und strömend erteilt.

Die Nähe und die Spende des Segnenden muß vielmehr so

sehr entbehrt werden, daß Segen nur noch in Versteine

rung gegenwärtig ist. Nun sagt das Gedicht: Dieser Segen

der segnenden Hand wird mit der wühlenden, verzwei

felnden Inbrunst eines Bedürftigen gesucht. Damit ge

schieht ein kühner Umschlag von der segnenden Hand zu

der Hand, in der für das Handlesen eine segensreiche hof-

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fende Botschaft verborgen ist. Was mit dem »Schatten

Gebräch« gemeint ist, lehr t der Zusammenhang. Wenn die

Hand sich etwas krümmt und die Falten Schatten werfen,

dann werden in dem »Gebräch« der Hand, das heißt in

dem Geflecht von Brechungen un d Faltungen, die Brüche

als Linien sichtbar, die der Handleser deutet. Er liest aus

ihnen die Sprache des Schicksals oder des Wesens heraus.

Die»Vi er-Finger-Furche« nu n ist die durchgehende Quer-

falte, welche die vier Finger im Unterschied zu dem Dau-

men in einer Einheit zusammenfaßt.

Wie ist das alles seltsam! Das Ich, wer auch immer es sei,

der Dichter ode r wir, sucht den fernen und ungreifbar ge

wordenen Segen aus der Segenshand herauszu»wühlen«.

Das geschieht aber nicht in einem kundig vertrauten

Entziffern geheimnisvoller Linienspiele. Die Situation des

Handlesers, die hier deutlich heraufbeschworen ist, bildet

in Wahrheit und alles in allem eine Kontrastsituation . Mangestehe es sich ein: Handlesen, wo es im Ernst und nicht

zum reinen Scherz geschieht, behält eine merkwürdige

Berührungskraft. Die Unenthüllbarkeit der Zukunft er

füllt jede Aussage über solche Zeichen mit einem locken

den Geheimnis. Aber hier ist es alles ganz anders. Die In-

brunst und die verzweifelte Not des Suchenden ist so

groß, daß er nicht etwa im kundigen Deuten über der Rät

selschrift der Hand und der Zukunft halb scherzhaft und

halb ernsthaft verweilt - im Gewirr der Handlinien suchter wie ein Verdurstender nur die größte, tiefste, in Wahr

heit geheimnislose Furche allein, in deren Schatten nichts

geschrieben ist. Aber seine Not ist so groß, daß er selbst

noch aus dieser nichts mehr spendenden Handfurche so

etwas wie Segen erfleht.

Wessen Hand ist es? Es scheint schwer, in der Segens

hand, die nicht mehr segnet, etwas anderes als die Hand

des verborgenen Gottes zu sehen, dessen Segensfülle un-

kenntlich wurde und uns nur noch wie in Versteinerungen

überkommen ist, ob diese nun das erstarrte Zeremoniell

 

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der Religionen oder die erstarrte Glaubenskraft der Men

schen sein mögen. Aber wieder wird es so sein, daß das

Gedicht darüber nicht entscheidet, wer hier Du ist. Seine

alleinige Aussage ist die inständige Not dessen, der in

»deiner Hand« - wessen Hand es auch sei - nach Segen

sucht. Was er findet, ist »versteinerter« Segen. Ist das noch

Segen? Ein Letztes an Segen? Aus deiner Hand?

Dein vom Wachen stößiger Traum.

Mit der zwölfmal schrauben

förmig in sein

Horn gekerbten

Wortspur.

Der letzte Stoß, den er führt.

Die in der senkrechten, schmalen

Tagschlucht nach oben

stakende Fähre:

sie setzt

Wundgelesenes über.

Das Gedicht ist streng gebaut. Zwei Strophen, die erste

und die dritte, werden je von einer Kurzstrophe gefolgt,die jeweils eine Ar t Folgerung zieht. So zerfällt das Ge

dicht in zwei Hälften. Es sind durchaus verschiedene

Bildsphären, die in ihnen heraufgerufen werden. Aber sie

betreffen ein Gemeinsames: Schlaf und Traum sowie d.as

Erwachen. Offenbar sind es auch rhythmisch zwei sehr

verschiedene Vorgänge, die hier zusammengebunden sind.

Auf der einen Seite das Drängen des Traumes, der wie ein

Bock stößt, und auf der anderen Seite die mühsam nach

oben stakende Fähre. Indessen zielt beides, wenn auch

ganz verschieden gesehen, auf das gleiche.

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Das ist ein Ausgangspunkt für die Frage, wie das Ganze

zu verstehen ist. Man muß es vom einzelnen her versu

chen. Der Traum ist »stößig« geworden wie ein Ziegen

bock. Dadurch gelangt etwas von demDunkel an den Tag.

Nun muß man beachten, daß es nicht etwa ein beim na

henden Erwachen stößig werdender Traum ist, wie wir

das sonst aus dem Traumerleben Schlafender kennen. Er

wird im Gegenteil vom Wachen stößig. Es ist also ein allzu

langer Vorgang des Wachens, der schließlich den Traum so

stößig werden läßt, daß am Ende etwas nach oben über

setzt, »übergesetzt« wird. Das steht jedenfalls fest, daß das

Gedicht nicht etwa den wirklichen Traum im Schlaf meint,

und das wird vollends deutlich und eindeutig durch das

Reizwort im letzten Verse: »Wundgelesenes«. Daraus geht

hervor, daß es die Welt der Wor te und des Lesens ist, in der

sich der Traum regt. Es entspricht dem, daß dieser stößige

Bock ein Horn hat, auf dem sich, wie man das von manchen Widderarten kennt, gekerbte Windungen zur Spitze

hinziehen, und daß diese gekerbte Spur »Wortspur« heißt.

So wird deutlich, daß es sich um die lange anstehende, sich

lange vorbereitende Geburt des Wortes handelt, die in

dem Gedicht beschrieben wird. Das Horn windet sich in

zwölf Windungen bis in die Spitze hinauf, mit der der

Bock den letzten Stoß führt. Die Zwölfzahl deutet auf ein

rundes Ganzes von Zeit, zwölf Monate, ein volles Jahr, je

denfalls eine lange Zeit. Mit anderen Worten: Schon langehält das Wachen den Traum nieder, und immer wieder

führt der Traum, der sich regt, seine S t ö ß e ~ Es ist also wie

ein langes »Heranwachen«, um einen Ausdruck des Ge

dichts »Von Ungeträumtem« zu verwenden. Offenbar

will das Gedicht sagen, daß ein Gedicht nicht ein plötz

licher Einfall ist, sondern lange Arbeit der Vorbereitung

verlangt. Aber die tatsächliche Arbeit an dem Gedicht, die

im zweiten Gleichnis als eine langsam und mühevoll sta

kende Fähre erscheint, ist gleichwohl nicht die eigentliche

Aussage desselben. Die eigentliche Aussage ist vielmehr,

 

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daß es »Wundgelesenes« ist, das so nach oben kommt.»Wundgelesenes«, Wundgelaufenes - das meint ein von

allzulanger Wanderschaft des Lesens Wundgewordenes.Oder ist»Wundgelesenes« von noch tieferer Zweideutig-keit und meint nicht nur den Schmerz des Lesens, des zu

vielen, des sinnlosen Lesens, sondern ebenso vielleicht denSchmerz und die »Wunde des Gelesenen«, das heißt des

schmerzhaft Erfahrenen überhaupt, das auch »gelesen«heißen kann: zusammengelesen, wie durch eine Ährenlesedes Leides?

In jedem Fall ist das, was ins Wort »übergesetzt« wor-

den, ins Wort übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dun-

kel des Unbewußten mit Hilfe des Traumes durch eine Art

Arbei t des Traumes gewonnene Text.Muß man noch einzelnes erläutern? Die Bildsphären

sind von höchster Kraft anschaulicher Selbstauslegung:

die Stöße des Bocks, die schl ießlich - mit dem letzten Stoß- die Wachwelt durchstoßen und den Traum erwecken.Welch eine Vertauschung von Traum und Wachen! Un d

dann diese tiefe »Tagschlucht«: Wie in eine senkrechteschmale Schlucht das Tageslicht einfällt, so arbeitet sichwie an einer Leiter des Lichts das im Dunkeln Gesammelte, »Wundgelesene« ans Licht hinauf - auch dies nichtauf einen Schlag, sowenig wie der Bock auf einen Stoß denTraum aufweckt. Aber am Ende erweckt er den Traum,

am Ende langt das aus dem Dunkel ans Licht Übergesetztean - das ist das Gedicht.

Das Recht des Lesers

Wenn man die literaturwissenschaftliche und literaturkritische Resonanz auf das Werk von Paul Celan, wie siemittlerweile vorliegt, mustert, empfindet der LiebhaberCelanscher Verse vielfach eine gewisse Enttäuschung. Wasda von Kennern und Kundigen über dieselben gesagt

wird, oft mit viel Subtilität, manchmal mit wirklicher Penetrationskraft, macht doch alles, gewollt oder ungewollt,die Voraussetzung, man verstünde die Verse und urteileaufgrund dieses Verständnisses, etwa wenn man das beklemmende Scheitern des Dichters im kryptisch werdenden Wort oder sein jähes Verstummen feststellt. Für dasVerständnis des noch nicht verstummten Wortes dagegen

scheint mir bisher zu wenig getan. Fü r den Celan-Leserbleibt eine der dringendsten Aufgaben noch weitgehendunerfüllt. Wessen er bedarf, ist nicht eine kritische Beurteilung, die feststellt, daß man nicht mehr versteht, sondern dort anzusetzen, wo man zum Verständnis vorzudringen vermag, und dann zu sagen, wie man versteht. In

guten alten Zeiten nannte man das ganz schlicht >Real-

interpretation<. Man sollte deren Recht und Möglichkeitnicht leichtfertig preisgeben, am allerwenigsten bei einem

so traditionsbewußten Dichter, wie Celan war. Es geht dabei nicht darum, die Eindeutigkeit des vom Dichter Gemeinten zu ermitteln. Das schon gar nicht. Auch nichtdarum geht es, die Eindeutigkeit des »Sinnes« festzulegen,den die Verse aussprechen. Eher schon geht es um denSinn des Vieldeutigen und Unbestimmten, den das Gedicht aufgerührt hat und der kein Freiraum der Willkürund des Beliebens des Lesers ist, sondern der Gegenstandder hermeneuti schen Anstrengung, die diese Verse verlan

gen. Wer die Schwierigkeit dieser Aufgabenstellung kennt,weiß, daß es sich nicht darum handeln kann, alle Konno-

tationen namhaft zu machen, die das »Verständnis« dichterischer Gebilde anklingen läßt, sondern darum, dieSinn-Einheit, die einem solchen Text als einer sprachlichen Einheit zukommt, so weit sichtbar zu machen, daß die sich anihn anschließenden unüberschaubaren Konnotati onen ihrem Sinn-Halt finden. Das ist bei einem Dichter, der dieVerfremdung natiirlichen Sprechens so hochgezüchtet hat

wie Celan, stets voller Risiken und bedarf der kritischenKontrolle. Einem Versuch, in dem gewiß viele Irrtümer

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stecken werden, der aber als Aufgabe durch nichts abge- 'löst oder ersetzt werden kann, ist dieser Kommentar gewidmet. 4

Daß gerade die Folge Atemkristall, die ehedem gesondert veröffentlicht worden ist und den Band Atem-

wende einleitet, hier behandelt wird, hat zunächst keinenanderen Grund, als daß ich diese Gedichte einigermaßen

verstanden zu haben glaube. Es ist aber ein alter hermeneutischer Grundsatz, daß man bei der Interpretation von

schwierigen Texten dort einsetzen muß, wo man ein erstes, halbwegs sicheres Verständnis besitzt. Ob die Folge>Atemkristall<, wie mir scheinen will, obendrein einenHöhepunkt der Celanschen Kunst darstellt und es insofern mehr als zufällig ist, daß ich diese Gedichte geradenoch zu verstehen glaube, weil sie mir weniger als mancheseiner späteren Gedichte ins Unentzifferbare versinken,

mag dahingestellt bleiben.Ich bin mir bewußt, daß die Welt Paul Celans von der

Überlieferungswelt, in der ich selber - wie die meisten seiner Leser - aufgewachsen bin, weit abliegende Ursprüngebesitzt. Mir fehlt originale Kennerschaft der jüdischenMystik, der Chassidim (die auch Celan wohl nur aus Buber kannte), und vor allem der östlich-jüdischen Volksbräuche, die für Celan den selbstverständlichen Grund

bildeten, aus dem heraus er sprach. Mir fehlt auch die er

staunlich detaillierte Naturkenntnis des Dichters, und oftwäre man für Belehrung in der einen oder anderen Richtung im Grunde dankbar. Aber solche Belehrung hätteauch ihr Bedenkliches. Man geriete in eine gewisse Gefahrenzone: es könnte geschehen, daß man Kenntnisse aufböte, die der Dichter vielleicht selber nicht besaß. Celan

4 Die vorangehenden Bemerkungen b e z ~ . e h e n sich auf die Beiträge in demSammelband von Dietlind Meinecke (Uber Paul Celan. Fr ankfurt 1970,erw. Aufl. 1973). Die reiche spätere Forschung bringt gewiß viel Wis

senswertes, aber muß sich doch de m Maßstab unterwerfen, den ein Leser hat, der die Sinn-Einheit dieser Gedichte sucht, die er liest.

hat gelegentlich vor solchem Wissenseifer gewarnt. Selbstwo uns Kenntnisse oder gar vom Dichter selber stammende Informationen helfen - noch die Legitimität solcher Hilfe entscheidet sich am Ende an der Dichtungselbst. Die Hilfe kann »falsch« sein - und sie ist »falsch«,wenn die Dichtung sie nicht voll einlöst. Eine gewisse Einübung verlangt freilich jeder Dichter, und so ist auch hier

die »Sprache« des Dichters aus dem Kontext seines Werkes nicht abgelöst. Vielleicht werden uns die erhaltenenVorstufen der Celanschen Gedichte weitere Hilfe bringen- selbst diese wäre aber keine eindeutige, wie das BeispielHölderlins uns gelehrt hat. Alles in allem scheint mir derGrundsatz gesund, Dichtung nicht als gelehrtes Krypto-

gramm für Gelehrte anzusehen, sondern als für die An-

gehörigen einer durch Sprachgemeinschaft gemeinsamenWelt bestimmt, in der der Dichter ebenso zu Hause ist wie

sein Hörer oder Leser. Wenn es dem Dichter gelungen istund wo es ihm gelungen ist, sprachliche Gebilde zu gestalten, die in sich stehen, sollte es dem dichterischen Ohr

möglich sein, das Gültige auch unabhängig von solchemEinzelwissen und jenseits von ihm zu einiger Klarheit zu

erheben und damit der Präzision nahezukommen, die dasoffene Geheimnis dieser krypti schen Poesie ist.

Freilich, das Verfahren, ein Gedicht zu verstehen, verläuft nicht auf einer einzigen Ebene. Zwar ist es zunächst

nur eine einzige Ebene, in deres

vorliegt: die der Worte.Die Worte verstehen ist daher das allererste. Ohnehin istjeder der betreffenden Sprache Unkundige ausgeschlossen, und da die Worte eines Gedichts die Einheit einerRede, eines Atems, einer Stimme sind, sind es auch durchaus nicht nur die einzelnen Wörter, deren Bedeutung man

verstehen muß. Vielmehr legt sich die genaue Bedeutungeines Wortes erst durch die Einheit einer Sinnfigur fest, diedie Rede bildet. Das kann eine noch so dunkle, spannungsvolle, rissige, zersprungene und brüchige Einheit

sein, die die Sinnfigur dichterischer Rede besitzt - die

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Polyvalenz der Wörter legt sich im Vollzug des Redesin-'

nes fest und läßt die eine Bedeutung sich ausschwingen,

andere nur mitschwingen. Darin ist Eindeutigkeit, die al

lem Sprechen mit Notwendigkeit eignet, auch dem der

poesie pure. Das sollte selbstverständlich sein, und es

scheint mir durchaus irrig, zu leugnen, daß nicht jedes

Wort erst einmal in der genauen Konkretion seiner Bedeu

tung in der Rede erfaßt werden muß und daß diese allererste Ebene des Verstehens nicht übersprungen werden darf.

Das gilt vollends für Paul Celan, bei dem das einzelne

Wort sehr konkret und präzise gesagt ist. Man kann gar

nicht genau genug erwägen und ermitteln, was die Rede

»zunächst« sagt, wenn sich auch die eigentliche Präzision

des Gesagtseins, die die Rede ein Gedicht sein läßt, auf

dieser ersten Ebene der Wörter, ihrer Bedeutungs- und

Benennungsfunktion und der Redeeinheit, die sie bilden,

nicht erfüllt. In Wahrheit kann man sich in ihr gar nichthalten. Denn immer schon sind verschiedene Ebenen in

einandergeschoben. Das macht die Aufgabe des Verste

hens so schwer.

Aber was heißt hier überhaupt »verstehen«? Es gibt sehr

verschiedene Formen von »Verstehen«, die sich in einer

gewissen Unabhängigkeit voneinander zu vollziehen ver

mögen. Doch ist schon in der älteren hermeneutischen

Theorie die Verflechtung der verschiedenen Interpreta

tionsarten miteinander immer betont worden, auch wennman, wie insbesondere F. A. Boeckh in seiner Methoden

lehre der Interpretation, sich bemüht, die verschiedenen

Interpretationsmethoden scharf voneinander getrennt zu

halten. Das gilt insbesondere von der älteren Lehre von

dem vierfachen Schriftsinn, daß sie nur eine Beschreibung

der Dimensionen des Verstehens ist. Was ist bei Celan

»sensus allegoricus«? Bekanntlich hat Celan nichts davon

wissen wollen, daß es bei ihm Metaphern gebe, und wenn

man Metaphern als Redeteile und Redemittel versteht, die

sich aus dem eigentlich Gesagten herausheben bzw. in es

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eingliedern, so versteht man diese Abwehr recht wohl. Wo

alles Metapher ist, ist nichts Metapher. Wo der schlichte

und genaue Wortlauf das, wovon da die Rede ist, nicht als

ein »Positives« im Hegelschen Sinne, als eine vorgegebene

Welt von Sinn und Form »meint«, sondern im einen das

andere, im Gesagten gar nicht es und im »Nicht es« gleich

wohl nichts anderes »meint«, sind nicht nur verschiedene

Ebenen des Sagens unterschieden, sondern gerade auch in

ihrer Verschiedenheit in eins gebunden. Da gibt es keine

Allegorien. Alles ist es selbst.

Das dichterische Wort ist in dem Sinne »es selbst«, daß

nichts anderes, Vorgegebenes, da ist, an dem es sich mißt -

und doch gibt es kein Wort, das nicht außer ihm selbst-

und das heißt: außer seiner vielschichtigen Bedeutung und

dem mit dieser Bedeutung in ihren verschiedenen Ebenen

Benannten - nicht auch noch sein eigenes Gesagtsein

wäre. Das aber heißt, daß es Antwort ist. Antwort schließtFragen ein und schließt Fragen ab, d. h. aber, das Gesagte

ist nich t aus sich selbst allein, auch wenn nichts sonst vor

zeigbar ist als seine Sprachwirklichkeit.

Das ändert nichts an dem unbegreiflich Verbindlichen

eines Gedichts, daß es in sich selbst steht, daß keines seiner

Worte in der Weise für etwas steht, für das etwa auch ein

anderes Wort stehen könnte. »Als die eigentliche Sprache

erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zu-

sammenfallen« (G. Eich). Doch impliziert die Einzigkeitdes Wie seines Gesagtseins immer noch etwas anderes.

Auch das Gedicht hat - wie jedes Wort des Gesprächs -

den Charakter des Gegenwortes, das mithören läßt, was

gerade nicht gesagt wird, was aber als Sinnerwartung vor

ausgesetzt ist, ja durch das Gedicht geweckt wird - viel

leicht nur, um als Erwartung gebrochen zu werden. Das

scheint insbesondere für heutige Lyrik wie die Celans zu

beachten. Das ist nicht Barocklyrik, die ihre Aussagen

innerhalb eines einheitlichen Bezugsrahmens hält und

mythologisch-ikonographisch-semantisch eine gemein-

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same Vörgegebenheit besitzt. Celans W o r t e n t s c h e i d u n g e ~ waren in sich ein Geflecht sprachlicher Konnotationen,

dessen verborgene Syntax von nirgends anderswoher er

lernbar ist als aus den Gedichten selbst. Das schreibt der

Interpretation ihren Weg vor: Man wird nicht vom Text

auf eine in ihrer Kohärenz vertraute Sinnwelt verwiesen.

Sinnfragmente sind wie ineinandergekeilt, man kann nicht

den Weg der Transposition von einer Ebene schlichten

Gemeintseins zu einer zweiten Ebene des eigentlich Ge

sagtseins gehen - das eigentlich Gesagte ist vielmehr auf

eine schwer beschreibbare Weise noch immer dasselbe,

das die Rede meinte. Was im Verstehen geschieht, ist nicht

so sehr eine Transposition als die beständige Aktualisie

rung der Transponierbarkeit, d. h. die Aufhebung aller

~ > P o s i t i : ~ t ä t « j ~ n e r ersten Ebene, die man dadurch gerade

1m posItIVen Smne »aufhebt« un d erhält.

Das ist für die Celan-Interpretation - und nicht nur fürsie - ganz entscheidend. Denn von da aus bestimmt sich

der so überaus umstrittene Stellenwert der Informationen

die nicht aus dem Gedicht selbst stammen, sondern a u ~ Mitteilungen des Dichters und seiner Freunde gewonnen

we:-den und den »biographischen« Anlaß, das biogra

phIsch lokalisierte Motiv, die konkrete un d bestimmte Si

tuation eines Gedichts betreffen. Man weiß, nicht zuletzt

aus Celans eigenem Munde in der Büchner-Preis-Rede,.

daß es für Celan gerade auch gegenüber dem KunstbegriffMallarmes und seiner Nachfolger charakteristisch ist daß

~ e i n e Dichtung und Art Wortschöpfung und Wortfindung

1St, die jeweils wie ein Bekenntnis aus einer genauen

Lebenssituation aufsteigt. Diese ist freilich nicht in ~ l l e n ihren Einzelbestimmtheiten aus dem Gedichttext allein

faßbar. Man nehme ein Gedicht wie Blume, das inzwi

schen durch eine Arbeit von Rolf Bücher in seinen Text

stufen überschaut werden kann.

Martin Gessmann

Nachwort

Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlich-

keiten, das Gedicht, ist Jacques Derridas »Adieu« an

Hans-Georg Gadamer. Die Festrede zu r Gedenkfeier anden Heidelberger Philosophen wurde am 15. Februar

2003 in der Aula der Neuen Universität in Heidelberg

gehalten.

.Derridas Heidelberger Rede fügt sich in eine lange

ReIhe von Abschiedsreden, die er im Laufe der vergan

genen 20 Jahre verfaßt hat, un d sie steht an deren vorläu

figem Ende. Die Tode von Roland Barthes waren Derridas

erste. Trauerarb,eit, auch in Deutschland berühmt gewor

den1St

das Adzeu an Emmanuel Levinas, andere illustreNamen. kommen hinzu: Michel Foucault, F r a n ~ o i s Lyo

tard, Gilles Deleuze, zuletzt Maurice Blanchot.

Wenn er es überhaupt wagen wollte, all jenen Ab

schiedsreden eine »Einführung« voranzustellen dann

schreibt Derrida im Vorwort einer jüngst e r s c h i e n e n e ~ Sammlung dieser Beiträge, müßte es der Essay über den

ununterbrochenen Dialog sein. Auch dieser ist in seinem

Ursprung zwar eine Abschiedsrede, aber Derrida will

damit zugleich offenbar mehr - über die Trauer über einen

Freu"?-d hinaus ein Nachdenken beginnen über die philo

sophIschen Schwierigkeiten des Abschiednehmens selbst.

Eine dieser Schwierigkeiten, wenn nicht sogar die wichtig

ste, besteht für Derrida in dem Anspruch, am Ende eines

Lebens von der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit

jene: Existenz angemessen Zeugnis abzulegen. Nicht

wellIger sollte man demnach von einer echten Trauerrede

~ r w a r t e n dürfen, als daß sie sagt, wer dieser Mensch im In

nersten seines Wesens wirklich gewesen ist. Hier beginnt

aber das Problem, denn zuerst einmal muß man sich sicher

97

 

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sein können, daß man den anderen tatsächlich kennt und'

weiß, wer er in Wahrheit ist. Man muß es erst so weit

bringen, den anderen im emphatischen Sinne verstehen zu

können, mit all seinen Besonderheiten und höchst indi-

viduellen Eigenarten.

Um eine Antwort auf die Frage, inwiefern dies über

haupt möglich ist, wie weit das Verständnis des Gegen-

über bestenfalls zu dessen Wesen vordringen kann, dar-über haben H a n s - G ~ o r g Gadamer un d J acques Derrida

Jahrzehnte miteinander gerungen. Jetzt erscheint der

ununterbrochene Dialog als eine letztmögliche Antwort

darauf, eine finale Annäherung, die nicht ohne ein

gewisses Paradox besteht. Schon in der Rede vom unun-

terbrochenen Dialog selbst wird dies deutlich: denn nur

wo der Dissens über das Verstehen als solcher verständig

kultiviert wird, hat das gegenseitige Einvernehmen als

ausgezeichnete Form philosophischer Freundschaft eineChance.

Der ununterbrochene Dialog

Dieser begann fü r Gadamer schon weit früher als für Der

rida. Dessen »Ousia et gramme« hat Gadamer bereits in

den frühen 60er Jahren gelesen. Derridas Gadamerlektüre

setzt dagegen erst sehr viel später ein, wobei man im Auge

behalten muß, daß Gadamers Hauptwerk Wahrheitund

Methode erst 1976 (und auch nur in einer stark gekürzten

Fassung) ins Französische übersetzt wurde. Im selben

Jahr sollte es zu einem Zusammentreffen in Italien kom

men, die Einladung ging von Gadamer aus, aus dem Tref-

fen wurde allerdings nichts. Was Derrida in seiner Rede als

die erste »Unterbrechung« in seinem Verhältnis zu

Gadamer anspricht, dat iert auf das Jahr 1981, in dem es am

Pariser Goethe-Institut um Fragen von »Text und Inter

pretation« gehen sollte. Thema waren schon hier die

Grenzen unseres Verstehens, vor allem mit Blick auf die

Möglichkeiten, den Besonderheiten von Autor und Text

in der Auslegung gerecht zu werden.

Im Hintergrund der Debatte steht die Gemeinsamkeit

eines von beiden geteilten Heideggererbes. Heidegger hatte

in den 20er un d 30erJahren ganz grundsätzlich die Philoso-

phie gegen die moderne Wissenschaft un d Technik in Stel-

lung gebracht, insofern diese es schon mit ihrem speziellen

Vokabular dem Menschen schwerrnachen, das spezifisch

Menschliche im Umgang mit sich und der Welt richtig zu

beschreiben. De r »Verdinglichung« un d »Vernutzung«

alles Humanen ausgehend von der Wissenschaftssprache

sollte <;lie Philosophie entgegentreten mit der Forderung

nach einer Besinnung auf tieferliegende und noch sinntra-

gende Schichten unserer sprachlichen Ressourcen.

Dieser Spur ins Grundsätzliche folgend hat Gadamer

auf die Notwendigkeit eines besonderen Umgangs mit der

Sprache geschlossen, den man zu einer eigenständigenVerstehensform ausbauen müsse. Daraus ließe sich dann

eine methodische Grundlage für all jene Geisteswis-

senschaften gewinnen, die sich dem Druck des modernen

Szientismus nicht beugen wollten. Im Anschluß an

Schleiermacher und Dilthey nennt er diese »methodische«

Form des Verstehens »Hermeneutik«.

Derrida bietet komplementär dazu ein Verfahren an,

wie die Selbstsicherheit der verdinglichenden Wis-

senschaftssprache noch im Zuge ihrer Entstehung in Fragegestellt werden könnte. De m Systemdenken wird hier

nicht wie bei Gadamer eine Alternative geboten, es wird

vielmehr anarchisch unterwandert. Die entsprechende

Methodenanweisung nennt Derrida »Dekonstruktion« in

Anlehnungun d Fortschreibungder Heideggerschen »De-

struktion von Metaphysik«. Wollte Heidegger noch mit

seiner Philosophie auf ein sicheres Sinn-Fundament in der

Sprache stoßen, nutzt Derrida jene Wiederentdeckung

sprachlicher Tiefendimensionen vo r allem zu Zwecken

der Verunsicherung. Geht es doch der »Dekonstruktion«

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letztlich darum, die Bodenlosigkeit all unseres Verstehensin der prinzipiellen Zwei- oder Vieldeutigkeit der Zeichenvor Augen zu führen.

In Paris wurde nu n ausgelotet, inwiefern beide Verstehens-Konzepte noch einmal einander angenähert werdenkönnten . Das Problem zeichnet sich dabei an der Stelle ab,an der die gemeinsame Opposition gegen das System

denken der exakten Wissenschaften zwar weiter vorausgesetzt ist, dafür aber innerhalb der Hermeneutik erneut einDissens um die nötige Systemhygiene droht. In DerridasAugen entsteht der Verdacht, Gadamer gehe möglicherweise mit seiner Skepsis gegenüber möglichen Sinnvermutungen im Felde der Geisteswissenschaften nicht weitgenug. Das zeige sich in letzter Instanz an der Frage,wieweit sich ein Text und dessen Autor hermeneutischschließlich doch auf eine bestimmte Aussage festlegen

lassen müssen. Derrida wirft Gadamer konkret vor, denAutor als den »Anderen« immer noch als eine feste Größe

ins Auslegungsgeschehen einzubeziehen, anstatt, gemäßden Maximen der Dekonstruktion, auch noch diesen in

seiner Identität mitsamt dem Gehalt seiner Aussageradikal in Frage zu stellen.

Hier beginnt nun im eigentlichen Sinne der »ununterbrochene Dialog« mit einer Replik Gadamers, der sich angesichts des Vorwurfs, seine Hermeneutik sei schließlich

noch eine Ar t Sinnfeststellungsverfahren, deutlich mißverstanden fühlt. Denn so, wie er das hermeneutische Wechselspiel zwischen» Text und Interpretation«, zwischen Au-

to r und Ausleger konzipiert, bestehe von Anfang nicht diegeringste Gefahr, daß es zu vorschnellen Festlegungenüber Sinn und Bedeutung von Textaussagen kommenkönne. Gadamer hilft dabei, daß er die Textarbeit desInterpreten immer schon nach dem Vorbild eines Zwiegesprächs verstanden hat, wobei für ihn natürlich dersokratische Dialog das philosophische Muster dazuabgibt. Un d ein solches Gespräch lebt ja in der Tat von

100

einer Grundevidenz: Ha t man sich erst einmal von persönlichen Eitelkeiten verabschiedet und diskutiert nur um derSache willen, ist es bereits dem Gesprächsverlauf überlassen, einen von selbst und ganz all eine weg von einer jeden voreiligen Fixierung auf bestimmte Vorverständnissezu führen. Kein Gesprächspartner findet sich mehr, sollteer ehrlich zu sich sein, am Ende einer echten Kontroverse

genau an dem Punkt wieder, von dem er am Anfang einmalausgegangen war. De r jeweilige Horizont der Betrachtung,sagt Gadamer, hat sich dann im lebendigen Austausch divergierender Ansichten wechselseitig geöffnet, und seinG e s p r ~ c h s i d e a l sieht zum Schluß sogar ein gemeinsam vertieftes Verständnis der diskutierten Angelegenheit vor.Eine derart glückliche Konvergenz wesentlicher Hin-

sichten heißt im hermeneutischen Vokabular eine »Hori-

zontverschmelzung«.

Der Gadamersche Verweis auf hermeneutische Gesprächstugenden reicht in Derridas Augen allerdings nichtaus. Er hakt dabei an dem Punkt ein, an dem Gadamer mit

der »Horizontverschmelzung« einen letzten Ruhepunkt

im Gespräch vorsieht. Eine solche Harmonie der Hin-

sichten sei letzten Endes immer von der Philosophieerzwungen, sie sei ein Oktroi eines quasi-metaphysischen»Willens zur Verständigung«. Anstatt den anderen zu

dekonstruieren, werde er vielmehr gemäß diesem Willen

zur Einigung erst hervorgebracht, er ist dessen Konstrukt.Derrida kann hier seinerseits auf eine Grundevidenz verweisen. Denn bleibt nicht auch noch im »besten«hermeneutischen Gespräch, trotz aller Einigung, aller Beteuerung des Einverständnisses in der Sache und sogargrößtmöglicher Annäherung im Grundsätzlichen, dennoch am Ende ein möglicher Zweifel: ob es nicht dochwieder nur wir selbst sind, die unsere eigenen Ansichten in

die Äußerungen des anderen hineinlegen oder hineinprojizieren; ob also der andere es tatsächlich so gemeint hat,wie wir meinen, daß er es gemeint haben müßte; und ob er

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deshalb nicht, und zwar um seiner selbst willen, in einer'

letzten Instanz ganz anders-verstanden werden wollte, als

wir dies mit unserer Aneignung des anderen ständig tun?

Man darf deshalb nicht glauben, schließt Derrida aus

alldem, das hermeneutische Gespräch würde dem phi

l ~ s o p h i s c h e n Anliegen allein schon aus seiner Eigenlo

gik heraus gerecht. Vielmehr gelte es, an einem jeden An

haltspunkt des Gesprächs von neuem allem Verdrängten,

Unterdrückten, Marginalisierten, kurz allem Nicht-Ver

standenen in allem hermeneutischen Verstehen nachzu

spüren und es aufzudecken. Dies nennt er eine »disse

minale« Lektürepraxis, weil sie jede Interpretation nur

als den »Keim« neuer Interpretationen nimmt, in denen

zugleich immer auch neues Nicht-Verstehen ans Licht

gebracht wird, dessen Auslegung wiederum neue, mehr

und mehr wuchernde Interpretationen nach sich zieht.

Gadamer nahm die Herausforderung an, wie manchemeinen, mit beinahe jugendlichem Eifer: »Wer mir De

konstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht,

steht am Anfang eines Gespräches, nicht am Ende.« Die

kommenden zehn Jahre sollten in der Tat dazu bestimmt

sein, Vorwürfe wie Vorurteile auszuräumen. Gadamer be

stand ganz zu Recht darauf, daß auch seine Hermeneutik

keineswegs im Verstehen einen Abschluß suche. Auch die

beste Interpretation berge ganz natürlich einen Keim für

weitergehende Deutunge n, und an keinem Punkt des Proz e s ~ e s .läßt sich endgültig feststellen, was eigentlich ge

meInt 1st. So verlaufen in der Tat die»Wirkungsgeschich

ten«, von denen Gadamer immer schon ausgeht: Jeder

Interpret meint vielleicht zwar, seinen Gegenstand oder

sein Gegenüber endgültig verstanden zu haben. Mit nur

ein wenig historischem Abstand zeigt sich aber dann

schon wieder, daß eine jede solche Sicherheit verfrüht sein

muß und immer neue Deutungen für sich ein Besser-Ver

stehen beanspruchenund

gegenüber den Vorgängern einklagen. Die Beruhigung selbst bei einer Horizontver-

I02

schmelzung ist immer nur vorläufig, denn Horizonte ha

ben es an sich, ihre Grenzen je nach Standpunkt in der Ge

schichte zu bewegen und zu verschieben. So bleibt auch

hermeneutisch gesprochen der endgültige Sinn einer Sache

bei jeder Deutung immer noch ausstehend. Nur in der

Unendlichkeit des Deutungsprozesses ließe sich der ge

suchte Sinn zur Erfüllung bringen.

Auch Derrida nahm die Herausforderung an, wenn

auch zuerst mehr aus der Ferne. Es brauchte noch mehrere

Treffen, in Heidelberg, auf Capri, und nach zehn Jah

ren ein weiteres Mal in Paris, bis es zu einer wirklichen

Annäherung kam. Persönlich wie philosophisch. Der rida

schickte von nu n an Gadamer seine Publikationen mit

herzlicher Widmung. Gadamer fand dagegen »Aspekte

von Derridas Begriffsbildung« in seiner eigenen Herme

neutik wieder. Unterschiede blieben aber auch jetzt, von

beiden Seiten. Das Angebot der Hermeneutik, auch nochin der gelungenen Deutung mit einem Entzug des endgül

tigen Sinns zu rechnen, geht der Dekonstruktion naturge

mäß nicht weit genug. Zwar kommt es in der Tat dadurch

nicht mehr zu einem Abschluß im Verstehen. Derr ida geht

aber davon aus, daß selbst dann noch ein Rest an Unver

standenem bliebe, wenn man den unabschließbaren Wir

kungsgeschichten bis an ih r virtuelles Ende folgen könnte.

Selbst wenn alle Verstehensmöglichkeiten vollkommen

erschöpft wären, bliebe noch dasselbe Unbehagen, das

sich schon bei jedem einzelnen Einverständnis gemeldet

hatte: daß man das Wesentliche immer noch nicht oder

noch gar nicht erfaßt habe. Hinzu käme nur die unend

liche Wiederholung jener Erfahrung, über die als solche

freilich dadurch nich t hinauszukommenwäre. Ausschlag

gebend dafür ist Derridas Intuition, daß am Ende das

ganze Dialogverfahren und das hermeneutische Gespräch

sich als unzureichend erweisen könnten. Wenn die Her

meneutik richtigerweise davon ausgehe, daß sich in jedem

Deutungsakt immer noch etwas der verstehenden Aneig-

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nung entziehe, so sei diese Einsicht entsprechend zu radi- '

kalisieren. Die Zugangsweis,e .4er Hermeneutik insgesamt

sei in Frage zu stellen. Dem »entfaltende(n) Bezug« stellt

Derrida so erst einmal den»Bruch des Bezuges« entgegen,

dem Gesprächsangebot die Gesprächsverweigerung. Aus

dekonstruktiver Sicht ist dies nichts weniger als konse

quent gedacht. Denn es hieße schon, sich auf die Wahr

heitsansprüche der Hermeneutik einzulassen, würde man

das Gespräch mit ihr beginnen von einer Position aus, die

sich von vornherein skeptisch zeigt, was den philosophi

schen Ertrag eines solchen Gesprächs angeht. Gadamer

hatte ja nicht umsonst auf die Unhintergehbarkei t des Ge

sprächs verwiesen - noch um den Dissens zu formulieren,

bräuchte es ein vorangehendes Einverständnis. Im »Bruch

des Bezuges« wird dies freilich unterlaufen, auch wenn ein

solcher Bruch seinerseits wiederum erst einer Deutung

bedarf, um als solcher richtig verstanden zu werden. ImRückblick Derridas jedenfalls scheint es beinahe unum-

gänglich, daß ein echter »entfaltender Bezug« zwischen

dem Doyen der Dekonstruktion und dem Erfinder der

philosophischen Hermeneutik nur durch das anfängliche

Ausschlagen eines Gesprächsangebotes begründet werden

konnte. Oder, anders gesagt, als ein Dialog, der nur über

den Bruch hinaus »ununterbrochen« werden konnte.

Zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht

Was den Dialog zwischen Derrida und Gadamer über alle

Brüche hinaus tatsächlich »ununterbrochen« machen

konnte, ist, wie Derrida gleich eingangs bemerkt, die

philosophische Aufmerksamkeit beider für das Gedicht,

die große Lyrik. Auch hier ist wieder der gemeinsame

Heideggerbezug vorauszusetzen, Derrida spielt darauf in

Gadamers Wendung von »Denken oder Dichten« an. De r

späte Heidegger sah in der Formel einer Verbindung von

»Dichten un d Denken« die letzte Möglichkeit der Philo-

1°4

sophie, über das rein negative Verfahren einer »Destruk

tion von Metaphysik« hinauszukommen und überhaupt

noch »positive« Einsichten zu formulieren. Durch die

moderne metaphysische Wissenschaftssprache wird uns

der Weltzugang verstellt, un d das philosophische Verfah

ren zielt darauf, diese Vers teIlungen abzubauen und mög

lichst die verschütteten Zugänge wieder freizuräumen.

Das Dichten dagegen ist allererst in der Lage, uns in dieserSituation wieder einen Weltzugang zu eröffnen, uns Welt

zu erschließen. Dichten im Sinne großer Dichtung muß

nämlich nicht von Vers teIlungen befreit werden, weil

Dichtung selbst keine Lehre ist. Sie erklärt die Welt nicht

und kann auch selbst nicht erklärt werden. Und doch gilt

gemeinhin als ausgemacht, daß im Gedicht nichts weniger

als eine ganze Welt aufscheint, daß die lyrische Sprache in

ganz besonderer Weise in der Lage ist, als »weltbildend«

verstanden zu werden. Sie kann den Sinn der Welt und ihreErfahrung zwar nicht wissenschaftlich erklären, dafür

aber künstlerisch »evozieren«. An diese Grunderfahrung

knüpfen Gadamer und Derrida gleichermaßen an, wie zu

vor auch schon der späte Heidegger. Anders als die Philo

logie interessiert sie allerdings im Aufscheinen einer Welt

nicht die Welt, die da aufscheint, was es von ihr alles zu sa

gen und zu explizieren gibt, sondern vielmehr der schiere

Umstand des Aufscheinens von Welt, das Erscheinen der

Welt in der Spracheoder

die Sprache als der Ort ihrerEr-

scheinung. Nicht das Was des Ausgesagten, sondern das

Wie des Aussagens ist entscheidend, oder anders gewen

det: Daß überhaupt Welt zugänglich ist, und zwar sprach

lich zugänglich ist, ist die philosophische Botschaft des

Gedichts. Lyrik sagt dies nicht wie die Wissenschaften, sie

zeigt es aber. Sie zeigt nichts anderes als die ganze sprach

liche Färbung und Tönung von Welt, so sie uns überhaupt

zugänglich ist. Was damit an »positiver« Einsicht für die

Philosophie gewonnen ist, müßte man so formulieren:

Wenn sich auch Philosophie unwiderruflich davon verab-

1°5

 

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schieden muß, selbst einen bestimmten Sinn der Welt fest- '

zustellen und wissenschaftlich zu definieren, so bleibt

durch die Verbindung von D{cllten und Denken immerhin

noch so viel an Aussage bestehen, daß uns überhauptnoch

ein Sinn der Welt zugänglich ist, daß nicht nichts ist, son

dern vielmehr etwas, noch ganz unabhängig davon, was

dieses dann bedeutet - wenn es nur gelingt, große Dich

tung richtig auszulegen.Paul Celan suchte das Gespräch mit Philosophen, und

Philosophen suchten das Gespräch mit ihm. Martin Buber

und Gershorn Sholem, Martin Heidegger und Theodor

W Adorno, Emmanuel Levinas und J cques Derrida ge

hörten zu seinen Gesprächspartnern und Freunden, und

nicht zuletzt Hans-Georg Gadamer. Die philosophische

Kontroverse um sein Werk beginnt mit Adornos Ein

spruch, eine Lyrik nach Auschwitz sei ':l:ndenkbar. Celans

Todesfuge gerät in den Verdacht einer Asthetisierung desGrauens, einer Verharmlosung des Holocaust, einer Be

schwichtigungsliteratur. Dahinter steht freilich auch ein

grundsätzlicher Disput um das Wesen der Lyrik, der am

Beispiel Celans zwischen der Phänomenologie und der

Frankfurter Schule aufbricht. Für Heidegger wie dann

später auch noch für Gadamer ist das, was sich im Celan

schen Gedicht zeigt, immer noch die sprachliche Erschei

nung von Welt, wie geschunden, versehrt und rätselhaft

diese Welt auch sein mag, wie brüchig und gebrochen auch

das Wort sein muß, in der diese Welt zur Erscheinung

kommt, und wie irrlichternd, schillernd und zuletzt un-

verständlich die Erscheinung selbst der Welt in der Spra

che sich zeigt; für Adorno dagegen ist alleine schon wieder

die ästhetische Erscheinung einer solchen Welt nichts

mehr als ein bunter Schleier, der über die wahre Abgrün

digkeit der Welt gelegt wird. Was in Celans Lyrik zur

Sprache kommt, ist an sich so unfaßlich, so unsäglich und

unbegreiflich in seiner bodenlosen Absurdität, daß es

keine lyrische Behandlung erträgt. Schon die dichterische

106

Darstellung jener maßlosen Sinnlosigkeit rechnet nur un

genügend mit der Radikalität eines Sinnentzugs, der über

jede sprachliche Erscheinungsform hinausgeht. Gebotenund angemessen ist hier alleine noch das lyrische Schwei

gen, oder noch entschiedener das Schweigen der Lyrik.

Am Beispiel Celans wird damit auch noch die letzte phä

nomenologische Möglichkeit in Frage gestellt, wie im Ge

dicht noch ein Sinn von Welt zugänglich werden könnte.Denn selbst noch das Entschwinden des Welt sinns aus der

Sprache wäre jetzt nicht mehr in der Sprache darstellbar.

»Zwischen« diesen beiden »Unendlichkeiten«, einer Er

scheinung eines unendlichen Sinnentzugs und eines un

endlichen Sinnentzugs der Erscheinung, einer Darstellung

der Verbergung und einer Verbergung der Darstellung,

plaziert Derrida seine Celanlektüre. Es geht darum, jenen

unterbrochenen Dialog zwischen zwei U nendlichkeiten

am Ende zumindest ununterbrochen zu machen, was fürDerrida methodisch jetzt das Spuren ziehen eines einzigar

tigen Mittelwegs verlangt. Auf der einen Seite steht der

»entfaltende Bezug« der Hermeneutik, auf der anderen

Seite deren vollkommener Abbruch im »Bruch des Be

zugs«, angesichts eines Entzugs der Welt im Gedicht, ge

mäß dem Celanschen Dichterwort »die Welt ist fort«.

Derridas Ansatz ist es nun, noch die Verschwiegenheit des

Gedichts und seiner hermetischen Weltabgeschlossenheit

selbst hermeneutisch zum Sprechen zu bringen, so paradox dies klingt, also eine Auslegung dessen zu wagen, was

sich jeder Auslegung grundsätzlich entzieht. Dies gelingt

durch eine entscheidende U minterpretation. Das, was sich

bisher als verborgener Rätselsinn der Welt selbst noch

dem Gedicht entziehen sollte, was sich also noch hinter al

lem Dichterwort unendlich verbirgt, wird für Derrida in

einem »linguistic turn« selbst zum Teil des Gedichts. Es

findet sich dort wieder, wo das Dichterwort selbst ver

stummt, wo sich noch im Gedicht selbst ein Schweigen

auftut, in dem die Sprache versagt. Sinnbildlich ist dies in

1°7

 

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dem Celangedicht GROSSE GLÜHENDE WÖLBUNG ander Stelle zu finden, wo zwischen der letzten Strophe unddem Schlußvers ein »blanc silence« einsetzt, ein weißesSchweigen, das aus mehreren Zeilenabständen im Textbesteht. Jene Leerzeilen gehören aber für Derrida jetztselbst zum Text, sie sind nichts anderes als die Vertextungjenes Sinnentzuges, von dem zuvor die Meinung war, daß

er sich der Sprache absolut entzieht. Dieser erscheint nunselbst als eine Schrift, eine Rätselschrift von der Art, als ob

das weiße Schweigen auf dem Papier geradezu mit Buchstaben übersät wäre, die nur alle mit weißer Tinte geschrieben sind. Un d genaugenommen ist dieses weißeSchweigen nicht nur dort, wo es dichterisch in Szene gesetzt ist durch den Rahmen einer großen Auslassung.Treibt man die Deutung weiter, findet es sich vielmehrzwischen allen Strophen, allen Versen und Worten, selbst

noch zwischen allen Silben und Buchstaben, wie DerridasAnalyse des »syllabaire« des Textes es nahelegt.

Derrida will »Gadamer treu bleiben oder ihn sogarnachahmen«, »bis zu einem gewissen Punkt und soweit es

irgend geht«. Die Auslegung unterscheidet sich allerdingsvon der üblichen Text-Hermeneutik in einem wesentlichen Punkt. Die Aneignung jenes »Unheimlichen«, dassich im Text als dessen innere Verschwiegenheit auftut,kann nur noch schwer nach dem Muster einer Deutung

und deren sukzessiver Verbesserung gedacht werden. DasSinnangebot, das der Interpret jener unendlich verschlüsselten Rätselschrift macht, wird nicht mehr wenigstenszum Teil bestätigt, so daß dann ein Rest bleibt, den es ineinem »entfaltenden Bezug« anschließend zu klären gelte.Das Angebot wird vielmehr vom unheimlich gewordenenText vollkommen ausgeschlagen, insofern es hier garkeine Antwort seitens des Textes gibt, keinerlei Evidenz,ob das Gemein te auch nur ein Stück weit getroffen ist. Esfolgt aber eben wegen der Textgestalt jenes Sinnentzugesnicht wiederum der bloße Abbruch aller Deutungsbemü-

10 8

hungen, ein »Bruch des Bezuges«, im Gegenteil: Die dekonstruktive Lehre aus der Antwortverweigerung desTextes besteh t vielmehr darin, andere, viel weitergehendeund außergewöhnliche Deutungen vorzuschlagen. Jeneverbessern die Lage des Interpreten zwar nicht, sie machen wiederum nur das Schweigen des Textes noch rätselhafter, noch undurchdringlicher, und im Überbieten aller

Sinnangebote zugleich unendlich tiefsinnig. Hiermit beginnt sich die Spirale zu drehen, denn eine weiter gesteigerte Sinnvermutung hat nur wiederum eine gesteigerteAuslegungsanstrengung zur Folge. Wahrhaft gesteigertwird so zum Schluß nicht die Annäherung der Deutung

an die Sache, sondern vielmehr nur die Wut des Interpreten, mit immer neuen Vorschlägen jenes Unheimlicheendgültig einzuholen, das sich mit jedem Deutungsschrittnur um so konsequenter entzieht. Das Moment der Be

stätigung, daß die Deutung auf dem richtigen Wege ist,kippt damit zugleich von der Evidenz einer jeden Deu-

tung zur Evidenz des Versagens einer jeden Deutung.Dort, in dem Augenblick, in dem klar wird, daß auchdiese Auslegung das Gemeinte vielleicht vollkommenverfehlt, zeigt sich allein noch das, was sich der Deutung

immer wieder entzieht. In der Unterbrechung der Deu-

tung, in ihrem Umschlag, im Moment ihres Versagensleuchtet die Vermutung auf, hier habe das Unheimliche

im Text tatsächlich seine paradoxe Ent faltung. So kommtes schließlich auch zu der methodischen U mwidmung des»entfaltenden Bezugs« der Hermeneutik über einen»Bruch des Bezugs« zu einem »Bezug als Bruch«. Denn

nur hier ist die Deutung wahrhaft auf ihre »Sache« gerichtet, wo sie diese verfehlt, denn die Sache ist gar nichtsanderes mehr als der Entzug selbst einer unheimlich gewordenen Welt.

Dort, an dieser methodischen wie auch inhaltlichenGrenze, wo sich die Welt in ihrem äußersten Erscheinennur darstellen läßt, indem sie sich unserer Deutung mehr

  r

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und mehr entzieht, beginnt in Wahrheit erst Derridas Me

ditation über philosophische Melancholie und Abschied.

Sie kreist beständig um die Frage nach dem Schwinden der

Welt, und mit Celans Schlußvers des Gedichts GROSSE

GLÜHENDE WÖLBUNG auch darum, was dann ist,

wenn schließlich »die Welt fort« ist. Hier ginge es darum,

auch noch die letzte Grenze des Gedichts zu überschrei

ten in Richtung eines einzigartigen und unwiederbringlichen Entzuges der Welt und des anderen, eines Er

eignisses, das philosophisch vollkommen undenkbar

bleibt, da es sich im Denken wie im Dichten nie mehr ein

holen läßt. Der »ununterbrochene Dialog« mit Gadamer

erscheint in diesem Zusammenhang als jenes vorläufige

Oszillieren zwischen der Erscheinungsseite und der Ent

zugsseite der Welt selbst, die in einem schon unmöglich

gewordenen Gespräch am Ende doch zueinandergefun

den haben. Hölderlins Sentenz: »Denn keiner trägt dieWelt allein« ist hier ein angemessenes Schlußwort.

Textnachweise:

J acques Derrida, Le dialogue ininterrompu: entre deux in/inis, le

poeme. Festrede zur akademischen Gedenkfeier zu Ehren von

Hans-Georg Gadamer am 15. Februar 2003 in der Neuen Aula

der Universität Heidelberg.

Jacques Derrida, »Guter Wille zur Macht (I)«, in: Ph. Forget

(Hg.), Text und Interpretation, München 1984, S. 56-58.

Hans-Georg Gadamer, Wer bin ich und wer bist Du? Kommentar

zu Celans Gedicht/olge >Atemkristall<, in: ders., Gesammelte

Werke, Bd. 9, Tübingen 1993, S. 383-406; 412 -4 14; 427-431.