Hans-Georg Gadamer Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze. 1991

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Hans-Georg GadamerVernunft im Zeitalter

der Wissenschaft

Aufsätze

Suhrkamp Verlag

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Dritte Auflage 1991© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976

Quellenangaben am Schluß des BandesDruck: Nomos VerlagsgeseUschaft, Baden-Baden

Printed in Germany

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Vernunft im Zeitalterder Wissenschaft

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Über das Philosophische in denWissenschaften und die

Wissenschaftlichkeit der Philosophie

Daß das, was wir Philosophie nennen, nicht in demsel-ben Sinne Wissenschaft ist wie die sogenannten positi-ven Wissenschaften, liegt auf der Hand. Ein Positives,Gegebenes, das von ihr erforscht würde und das nebenden gegebenen Forschungsbereichen anderer Wissen-schaften seinen Platz hätte, das ist ganz gewiß nicht derFall der Philosophie. Sie hat es mit dem Ganzen zu tun.Dies Ganze ist aber nicht nur, wie jedes Ganze, dasGanze aller seiner Teile. Es ist als das Ganze eine alleendlichen Erkenntnismöglichkeiten übersteigendeIdee, mithin nichts, was wir auf wissenschaftlicheWeise erkennen könnten. Und doch behält es einen gu-ten Sinn, von der Wissenschaftlichkeit der Philosophiezu reden. Mit Philosophie meint man ja vielfach so sub-jektive und private Dinge wie die eigene Weltanschau-ung, die sich über alle Ansprüche auf Wissenschaftlich-keit erhaben dünkt. Demgegenüber kann Philosophiemit gutem Rechte wissenschaftlich heißen, denn trotzallem Unterschied von den positiven Wissenschaftenwahrt sie dennoch eine verbindliche Nahe zu ihnen, diesie von dem Bereich der auf subjektive Evidenzen ge-gründeten Weltanschauung scheidet. Das ist nicht nurvon ihrer Herkunft her so. Dort sind auf untrennbareWeise Philosophie und Wissenschaft eines - und beidesist eine Schöpfung der Griechen. Mit dem umfassendenTitel Philosophie wurde bei den Griechen alles theore-

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tische Wissen bezeichnet. Freilich von der PhilosophieOstasiens oder Indiens reden wir inzwischen auch mitdem griechischen Worte, aber wir beziehen damit sol-che Gedankengestalten in Wahrheit auf unsere abend-ländische philosophische und wissenschaftliche Tradi-tion, konstruieren auch wohl aus ganz andersartigemMaterial, wie etwa Christian Wolff, wenn er die sapien-tia sinica als »praktische Philosophie« auffaßte.Philosophie heißt in unserem Sprachgebrauch aberauch all das, was hier »das Philosophische in den Wis-senschaften« genannt werden kann, d. h. die Dimen-sion der Grundbegriffe, die das jeweilige Gegenstands-feld einer Wissenschaft bestimmen, wie etwa anorgani-sche Natur, organische Natur, Pflanzenwelt, Tierwelt,Menschenwelt usw., und solche Philosophie will erstrecht nicht ihrem eigenen Denk- und Wissensstil nachhinter der Verbindlichkeit der Wissenschaften zurück-stehen. Sie nennt sich heute gern »Wissenschaftstheo-rie«, stellt sich aber unter den Anspruch der Philoso-phie, Rechenschaftsgabe zu sein. So stellt sich die Fra-ge, wie sie das vermag, ohne Wissenschaft zu sein, dieVerbindlichkeit der Wissenschaft zu besitzen, und ins-besondere, wie sie das heute vermag, der philosophi-schen Forderung der Rechenschaftsgabe zu genügen,wo die Logik der Forschung ihrer selbst bewußt genuggeworden ist, sich alle phantasievollen Spekulationenüber das Ganze zu verbitten, die ihrem Gesetz nichtunterworfen sind.Nun sagt man zwar, daß das bloße Ausgreifen derWissenschaften nach allen Seiten, das ihrem Metho-dengedanken Ausführung gibt, ein letztes Bedürfnis

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der Vernunft unbefriedigt lasse, nämlich, im Ganzendes Seienden Einheit zu gewahren. Das Verlangen nachsystematischer Zusammenfassung unseres Wissensbleibe daher der legitime Bereich der Philosophie. Abergerade dieses Zutrauen zur Philosophie, systematischeOrdnungsarbeit zu vollbringen, begegnet immer grö-ßerem Mißtrauen. Die Menschheit scheint heute aufeine neue Weise bereit, gleichsam die eigene Begrenzt-heit anzunehmen und trotz der unüberwindbaren Par-tikularität des Wissens, das die Wissenschaft weiß, inderen Fortschritt und der ihr verdankten steigendenNaturbeherrschung Genüge zu finden. Sie nimmt dabeisogar mit in Kauf, daß mit der steigenden Naturbeherr-schung auch die Herrschaft von Menschen über Men-schen nicht abnimmt, sondern gegen alle Erwartungimmer größer wird und die Freiheit von innen bedroht.Es ist ja eine Folge der Technik, daß diese zu einer sol-chen Manipulation der menschlichen Gesellschaft, deröffentlichen Meinungsbildung, der Lebensführung al-ler, der Zeiteinteilung jedes einzelnen zwischen Berufund Familie führt, daß es uns den Atem beklemmt. Me-taphysik und Religion scheinen den Ordnungsaufga-ben der menschlichen Gesellschaft besseren Anhalt ge-boten zu haben als die in der modernen Wissenschaftgeballte Macht. Aber die Antworten, die sie zu gebenbehaupteten, sind der heutigen Menschheit Antwortenauf Fragen, die man nicht wirklich fragen kann und die,wie sie meint, man auch nicht zu fragen braucht.So scheint heute wahr geworden, was noch Hegel ausseinem vollen Engagement in die Sache der Philosophieheraus als einen in sich unmöglichen Widerspruch emp-

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fand, wenn er sagte, ein Volk ohne Metaphysik sei wieein Tempel ohne Allerheiligstes, ein leerer Tempel, einTempel, in dem nichts mehr wohnt und der deshalbselber nichts mehr ist. Indes, »ein Volk ohne Metaphy-sik«! Man kann schwerlich überhören, daß in dieserWendung Hegels das Wort »Volk« nicht auf eine politi-sche Einheit, sondern auf eine Sprachgemeinschaftgeht. Damit aber schiebt sich Hegels Satz, der Rührungund Heimweh erregen mochte oder auch den Spott derradikalen Aufklärer herausfordert, plötzlich wieder inunsere eigene Zeit- und Weltsituation hinein und läßtuns im Ernste fragen: Liegt in der Solidarität, die alleSprecher einer Sprache eint, am Ende doch noch immeretwas, nach dessen Inhalt und Struktur sich fragen läßtund wonach keine Wissenschaft auch nur zu fragenvermag? Ist es am Ende bedeutsam, daß die Wissen-schaft nicht nur nicht »denkt« - im emphatischen Sinnedes Wortes, den Heidegger in seinem viel mißverstan-denen Satze meint - , sondern auch nicht wirklich eineeigene Sprache spricht?Kein Zweifel, das Problem der Sprache hat innerhalbder Philosophie unseres Jahrhunderts eine zentraleStellung errungen, die sich weder mit der älteren Tradi-tion Humboldtscher Sprachphilosophie noch mit denumfassenden Ansprüchen der allgemeinen Sprachwis-senschaft oder Linguistik deckt. Wir verdanken das ingewissem Umfang der Wiederbeachtung der prakti-schen Lebenswelt, die einerseits durch die phanomeno-logische Forschung, andererseits innerhalb der angel-sächsischen pragmatischen Denktradition erfolgt ist.Mit der Thematisierung der Sprache, die unlösbar zur

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menschlichen Lebenswelt gehört, scheint sich eine neueGrundlage für die alte Frage der Metaphysik nach demGanzen zu bieten. Sprache ist in diesem Zusammen-hang nicht ein bloßes Instrument oder eine ausgezeich-nete Ausstattung, die dem Menschen zukommt, son-dern das Medium, in dem wir als gesellschaftliche We-sen von Anbeginn leben und das das Ganze offenhält,in das wir hineinleben. Orientierung auf das Ganze-soetwas liegt in Sprache freilich nicht, solange es sich umdie monologischen Sprechweisen wissenschaftlicherBezeichnungssysteme handelt, die sich ganz und garvon dem jeweils zu bezeichnenden Forschungsbereichher bestimmen. Überall dort aber kommt Sprache alsOrientierung auf das Ganze hin ins Spiel, wo wirklichgesprochen wird, das heißt, wo das Zueinander zweierSprecher, die ins Gespräch geraten, die »Sache« um-kreist. Denn überall, wo Kommunikation geschieht,wird nicht nur Sprache gebraucht, sondern bildet sichSprache. Daher kann sich Philosophie von der Spracheführen lassen, wenn sie ihrem Hinausfragen über allewissenschaftlich objektivierbaren Gegenstandsberei-che nach dem »Ganzen« Führung geben will - und siehat es immer schon getan, von den hinführenden Redendes Sokrates an und jener »dialektischen« Orientierungan den logoi, an denen Plato und Aristoteles in gleicherWeise für ihre gedankliche Analyse gleichsam Maßnehmen. Es ist jene berühmte zweitbeste Fahrt, zu derSokrates im Platonischen Phaidon aufbricht, nachdemihn die unmittelbare Erforschung der Dinge, wie dieWissenschaft seiner Zeit sie ihm angeboten hatte, invöllige Orientierungslosigkeit versetzt hatte. Es ist die

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Wendung zur Idee, in der sich Philosophie als das Ge-spräch der Seele mit sich selbst, das heißt als Denken, inunendlicher Selbstverständigung vollzieht. Noch dieSprache der Hegeischen Dialektik, die die erstarrteSprache der Begriffe in Satz und Gegensatz, Spruch undWiderspruch aufzuheben und über sich hinauszuhebenstrebt, denkt Sprache weiter und kehrt selbst in Spracheein, sofern sie es ist, in der sich der Begriff zum Begriffbringt.Die Grundlage, auf der sich dergestalt in GriechenlandPhilosophie erhob, war zwar die Unbändigkeit desWissenwollens, aber doch nicht das, was wir Wissen-schaft nennen. Wenn der erste Name für die Metaphy-sik »erste Wissenschaft« (prima philosophia) lautete, sobesaß solches Wissen von Gott, Welt und Mensch, dieden Inhalt der traditionellen Metaphysik ausmachten,nicht nur auf unbestrittene Weise einen absoluten Vor-rang gegenüber allem anderen Wissen, das in den ma-thematischen Wissenschaften, der Zahlenlehre, Trigo-nometrie und Musik (Astronomie) seine vorbildlicheDarstellung hatte. Was wir Wissenschaft nennen dage-gen, wäre zu einem größeren Teile bei dem griechischenGebrauch des Wortes philosophia überhaupt nicht inden Blick getreten. Der Ausdruck Erfahrungswissen-schaften klingt für das Ohr des Griechen wie ein höl-zernes Eisen. Man nannte das Historie, Kunde. Wasdem uns gewohnten Begriff von Wissenschaft ent-spricht, hätten sie am ehesten als das Wissen verstan-den, auf Grund dessen ein Herstellen möglich wird: sienannten es poietike episteme oder techne. Das Stan-dardbeispiel dafür und zugleich die führende Spielart

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solcher techne war die Medizin, die auch wir nicht sosehr Wissenschaft nennen als Heilkunde, wenn wir ihremenschheitliche Aufgabe ehren wollen.Das Thema, das uns heute abend beschäftigt, umfaßtdaher auf seine Weise das Ganze des abendländischenGeschichtsganges, den Anfang mit Wissenschaft unddie heutige kritische Situation, in der sich eine auf derGrundlage der Wissenschaft zu einem einzigen techni-schen Riesenbetrieb umgearbeitete Welt befindet. Ja,unsere Frage reicht damit zugleich über unsere aus un-serer eigenen Geschichte gegenwärtige Welt hinaus, in-dem sie es als eine Herausforderung an unser Denkenanzunehmen beginnt, daß es auch Weisheits- und Wis-senstraditionen anderer Kulturkreise gibt, die sichnicht in der Sprache der Wissenschaft und auf der Basisder Wissenschaft formulieren. So wird es methodischgeboten sein, das Verhältnis von Philosophie und Wis-senschaft in seiner vollen Weite zum Thema zu machen,das heißt ebensosehr von seinen griechischen Anfängenaus wie auf seine späten Folgen hin, die in der Neuzeitzutage treten. Denn Neuzeit definiert sich - gegenüberall den umstrittenen Herleitungen und Datierungen -eindeutig dadurch, daß ein neuer Begriff von Wissen-schaft und Methode aufkommt, der zuerst von Galileiin einem Teilgebiet verwirklicht und zuerst von Des-cartes philosophisch begründet worden ist. Seit damals,also seit dem 17. Jahrhundert, findet sich das, was wirheute Philosophie nennen, in einer veränderten Lage.Sie ist der Legitimation gegenüber den Wissenschaftenbedürftig geworden, wie es das vordem niemals gab,und sie hat sich zwei Jahrhunderte lang, bis zu Hegels

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und Schellings Tode, in solcher Selbstverteidigung ge-genüber den Wissenschaften selber aufgebaut. Die Sy-stembauten der letzten zwei Jahrhunderte sind einedichte Folge solcher Anstrengung, das Erbe der Meta-physik mit dem Geist der modernen Wissenschaft zuversöhnen. Danach, mit dem Eintritt in das positiveZeitalter, wie man es seit Comte nennt, war es mit derWissenschaftlichkeit der Philosophie ein nur noch aka-demischer Ernst, mit dem man sich aus den Stürmender einander bekämpfenden Weltanschauungen aufs fe-ste Land zu retten sucht und dabei in den Sumpf des Hi-storismus geriet oder an den Untiefen der Erkenntnis-theorie strandete bzw. im Binnensee der Logik hin-und hertreibt.So liegt ein erster Zugang zur Verhältnisbestimmungvon Philosophie und Wissenschaft im Rückgang auf dieZeit, in der es mit der Wissenschaftlichkeit der Philoso-phie noch voller Ernst war, und das war zuletzt die ZeitHegels und Schellings. In der Wiederbesinnung auf dieEinheit alles unseres Wissens wollten vor nun andert-halb Jahrhunderten Hegels und Schellings systemati-sche Entwürfe »die Wissenschaft« neu rechtfertigenund umgekehrt den Idealismus auf die Wissenschaftbegründen, Schelling durch seinen physikalischen Be-weis für den Idealismus, Hegel durch die Zusammen-bindung der Philosophie der Natur und der Philoso-phie des Geistes zur Einheit der Realphilosophiegegenüber der Idealphilosophie der Logik.Nicht, als ob es darum gehen könnte, den Versuch einerspekulativen Physik zu erneuern, der im 19. Jahr-hundert geradezu als Alibi gegenüber der Philosophie

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gebraucht und mißbraucht wurde. Zwar bleibt das Be-dürfnis der Vernunft nach Einheit und Einheit des Wis-sens bis heute lebendig, aber es weiß sich von nun an imKonflikt mit dem Selbstbewußtsein der Wissenschaft.Je ehrlicher und strenger diese sich versteht, desto miß-trauischer ist sie gegen alle solche Einheitsversprechun-gen und Endgültigkeitsansprüche geworden. Einsehen,warum der Versuch einer spekulativen Physik und ei-ner Einordnung der Wissenschaften in das von der Phi-losophie gelehrte System der Wissenschaft gescheitertist, heißt daher zugleich, Rang und Grenze der Wissen-schaft schärfer erkennen.Nun waren Hegel und Schelling selber nicht blind ge-gen den legitimen Autonomieanspruch der Erfah-rungswissenschaften, die ihren eigenen methodischenGang gehen und die eben durch dies ihr eigene Schritt-gesetz der Philosophie der Neuzeit ihre neue Aufgabegestellt haben. Auf dem Höhepunkte seines BerlinerWirkens hat Hegel in der Vorrede zur zweiten Auflageseiner Enzyklopädie einiges darüber gesagt, wie er sichdas Verhältnis von Philosophie und Erfahrungswissen-schaften vorstellt und welche philosophischen Pro-bleme darin stecken. Es ist ja einfach genug einzusehen,daß die Zufälligkeit des hier und jetzt Begegnendennicht vollständig aus der Notwendigkeit des Begriffsabgeleitet werden kann. Selbst der Extremfall sichererVoraussage, wie ihn die großräumigen Verhältnisse un-seres Sonnensystems für die Berechnung der Länge vonTag und Nacht, der Dauer von Verfinsterungen usw.gestatten, enthält nicht nur immer noch einen Spiel-raum von Abweichungen (der freilich alle kunstlose

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Beobachtungsmöglichkeit um Dezimalen unterschrei-tet). Wesentlicher ist, daß das Erscheinen der vorausge-sagten Himmelsereignisse am Himmel als solches nichtselbst voraussagbar ist. Denn für die natürliche Beob-achtung hängt es in jedem Falle von den Wetterbedin-gungen ab - und wer wollte seine Zuversicht auf Wet-terprognosen gründen?Nun handelt es sich bei einem solchen drastischenBeispiel gewiß nicht um das universelle Verhältnis zwi-schen Zufall und Notwendigkeit, sondern um eine in-nerwissenschaftliche Problematik. Hegel hat gezeigt,daß zwischen der Notwendigkeit des allgemeinen Ge-setzes und der Zufälligkeit des einzelnen Falles einedeskriptive Identität besteht. Die Notwendigkeit derNaturgesetze ist, gemessen an der Notwendigkeit desBegriffs, selbst als eine zufällige anzusehen. Es ist keineeinsehbare Notwendigkeit - wie man es etwa eine ein-sehbare Notwendigkeit nennen kann, daß ein lebendi-ger Organismus im Prozeß des Stoffwechsels seinenBestand erhalten muß. Im Bereich der Naturforschungist die Formulierung mathematisch genauer Gesetzmä-ßigkeiten ein approximatives Ideal. Es ist eine sehr vageNormvorstellung von Einheit, Einfachheit, Rationali-tät, ja von Eleganz, der solche Gesetzesaussagen fol-gen. Ihr wahrer Maßstab sind allein die Daten der Er-fahrung selbst.Erst recht scheint der Bereich der menschlichen Dingein das Reich des Zufalls zu fallen. Der geschichtlicheSkeptizismus wird von der Erfahrung weit besser ge-stützt als der Glaube an geschichtliche Notwendigkei-ten und an die Vernunft in der Geschichte. Hier bliebe

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das Bedürfnis der Vernunft vollends unbefriedigt,wenn man sich bloß auf Regelhaftigkeiten im Laufe derGeschichte berufen würde, die wie die Naturgesetze ih-rem eigenen Seinssinne nach nur das ausformulieren,was wirklich geschieht. - Das Bedürfnis der Vernunftmeint etwas anderes, und Hegels Philosophie der Welt-geschichte ist eine gute Illustration dafür. Der apriori-sche Gedanke, der im Wesen des Menschen liegt undden er in der Geschichte erkennt, ist der Gedanke derFreiheit. Hegels berühmtes Schema von Orient, Antikeund christlicher Welt lautete: Im Orient ist nur einerfrei, in der Antike sind es einige, in der christlichenWelt sind alle Menschen frei. Das ist die Vernunftan-sicht der Weltgeschichte. Das will nicht sagen, daß da-mit die Weltgeschichte in allen Tatsächlichkeiten ihresGeschichtsganges konstruierbar wird. Der Spielraumder Erscheinungen, die man zufällig nennen darf, bleibtunendlich. Aber der Zufall ist keine Gegeninstanz,sondern geradezu eine Bestätigung des Sinnes vonNotwendigkeit, der dem Begriff zukommt. Es ist keineEinrede gegen die Vernunftansicht der Weltgeschichte,daß es die Freiheit aller, die Hegel als das Prinzip derchristlichen Welt dargestellt hat, in der Wirklichkeit garnicht gibt und daß Zeiten der Unfreiheit immer wiederauftreten, ja daß sich Systeme gesellschaftlicher Un-freiheit vielleicht, wie in unserer zugespitzten Welt-situation, auf eine unausweichliche Weise endgültigetablieren könnten. Das fällt in das Reich der Zufällig-keit der menschlichen Dinge, das dennoch gegen dasPrinzip keinen Bestand behält. Denn es gibt kein höhe-res Prinzip der Vernunft als das der Freiheit. So meint

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Hegel und so meinen wir. Es ist kein höheres Prinzipdenkbar, als das der Freiheit aller, und wir verstehen diewirkliche Geschichte von diesem Prinzip aus: als densich immer wieder erneuernden und nie endendenKampf um diese Freiheit.Es wäre ein Mißverständnis, das freilich oft genug be-gangen wird, als könnte dieser Vernunftaspekt des Be-griffs von den Tatsachen widerlegt werden. Das be-rüchtigte »Um so schlimmer für die Tatsachen« behälteine tiefe Wahrheit. Der Satz ist nicht gegen die Erfah-rungswissenschaften gerichtet, sondern im Gegenteilgegen das, was Hegel in der Berliner Vorrede die Über-tünchung der Widersprüche nennt, die zwischen derPhilosophie und den Wissenschaften klaffen. Er willvon einer solchen »mäßigen Aufklärung« nichts wis-sen, in der sich die Forderung der Wissenschaft und dieArgumentation aus Vernunftbegriffen wie in einer ArtKompromiß zusammenfinden. Das war ein »nur demAnschein nach glücklicher Zustand«. Der Friede war»oberflächlich genug«. »Aber in der Philosophie hatder Geist die Versöhnung seiner mit sich selbst gefei-ert«. Hegel will offenbar sagen, daß das Vernunftbe-dürfnis nach Einheit unter allen Bedingungen legitim istund daß es allein von der Philosophie befriedigt werdenkann, während die Wissenschaft, wenn sie sich anmaßt,sich selbst absolut zu setzen, aber nur dann, mit derPhilosophie in einen unauflösbaren Widerspruch tritt.Genau das ist der Fall in unserem Beispiel von der Frei-heit aller. Wer nicht sieht, daß das gerade Geschichteist, daß die Freiheit aller ein unabdingbares Prinzip ge-worden ist und doch immer erneut der Anstrengung ih-

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rer Verwirklichung bedarf, hat das dialektische Ver-hältnis von Notwendigkeit und Zufall und damit denAnspruch der Philosophie, konkrete Vernünftigkeit zuerkennen, nicht verstanden.Nun sehen wir Hegel nicht nur im Bereiche der Ge-schichtswissenschaft, wo seine produktiven Beiträgebeträchtlich sind, sondern auch im Bereich der Natur-erkenntnis heute mit immer gerechterem Auge. Erstand auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit. Wasseine und Schellings Naturphilosophie der Lächerlich-keit preisgegeben hat, war nicht ihr Informationsstand,sondern die Verkennung der wesenhaften Andersartig-keit der Vernunftansicht der Dinge gegenüber der Er-fahrungserkenntnis. Sie lag gewiß auch auf der SeiteSchellings und Hegels, weit mehr aber auf der Seite derErfahrungswissenschaften, die sich gegen ihre eigenenVoraussetzungen blind machten. Eine sich in ihrer Be-dingtheit wissende Erfahrungserkenntnis muß in Wahr-heit darauf bestehen, daß sie in ihrem eigenen For-schungsgange auf sich selbst steht und sich allem dogma-tischen Gerbrauche entzieht. Es ist eine bis heute nie ge-nug zu beherzigende Lehre geblieben, daß das Philoso-phische nicht aus der Arbeit der wissenschaftlichen For-schung gleichsam herausgelesen werden kann, sondernweit eher darin zutage kommt, daß sich die Wissenschaf-ten selber von allen philosophischen Ergänzungen undspekulativen Dogmatisierungen fernhalten und damitdie Philosophie vor kurzschlüssigen Interventionen be-wahren. Hegel und Schelling sind weit mehr das Opferdes Dogmatismus in den Wissenschaften als das ihreseigenen dogmatischen Vollendungswahns.

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Wenn später der Neukantianismus so gut wie die Phä-nomenologie erneut für sich in Anspruch nahmen, dieGrundbegriffe der jeweiligen Forschungsregionen inihrer apriorischen Gegebenheit zum Gegenstand zumachen, so hat zwar die Forschung den dogmatischenAnspruch, der damit verbunden ist, in Wahrheit des-avouiert. Die Chemie ist in die Physik, die Biologie istin die Chemie aufgegangen, und die ganze Klassifikationvon Pflanzenwelt und Tierwelt ist dem Interesse an denÜbergängen und der Kontinuität dieser Übergänge ge-wichen, und die Logik vollends ist mehr und mehr vonder modernen Mathematik unter ihre Fittiche genom-men worden. Mein eigener Lehrer Natorp hat nochversucht, die Dreidimensionalität des Raumes aprio-risch-begrifflich zu beweisen, so wie Hegel die Sieben-zahl der Planeten. Das ist vorbei. Aber die Aufgabebleibt. Denn das in der Sprache niedergelegte Ver-ständnis unserer Lebenswelt läßt sich nicht durch dieErkenntnismöglichkeiten der Wissenschaft voll ablö-sen. Die Wissenschaft kann uns vielleicht in den Standsetzen, Leben in der Retorte zu erzeugen oder die Ster-benszeit des Menschen künstlich ins Beliebige zu ver-längern. Aber dadurch ändert sich nichts an den hartenDiskontinuitäten von Stofflichkeit und Lebendigkeitoder gar an der von wirklich gelebtem Leben und demHinwelken in den Tod. Die Artikulation der Welt, inder wir leben, durch Sprache und kommunikativeKooperation, ist keine bloße Dimension des Konven-tionellen oder der Niederschlag eines vielleicht falschenBewußtseins: sie bildet ab, was ist, und ist im ganzenihrer Legitimität gewiß, gerade weil sie im einzelnen

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Einrede, Widerspruch und Kritik anzunehmen ver-mag. Die Zerlegbarkeit und Erzeugbarkeit alles Seien-den, die die moderne Wissenschaft leistet, stellt demgegenüber ein nur partikulares Feld des Ausgriffs undder Beherrschung dar, das sich nur so weit begrenzt, alsder Widerstand des Seienden gegen seine Vergegen-ständlichung nicht überwunden werden kann.So läßt sich nicht verkennen, daß sich die Wissenschaftimmer wieder und immer noch einem Anspruch desBegreifens gegenüberfindet, vor dem sie versagen -dem sie sich versagen muß. Dieser Anspruch wird, seitSokrates im Phaidon die Flucht in die Logoi, die Dia-lektik, begründete, von der Philosophie als ihre eigeneAufgabe festgehalten. Hegel steht in dieser Erbfolge.Auch er folgt der Führung der Sprache. »Die Sprachedes übertägigen Bewußtseins« ist bereits von Katego-rien durchzogen, die bis zum Begriff zu führen die phi-losophische Aufgabe ist. So hat Hegel die Dinge gese-hen. Wir stehen heute vor der Frage, ob wir die Dingeetwa deshalb nicht mehr so sehen dürfen, weil die Wis-senschaft sich selbst von der Sprache emanzipiert hat,indem sie eigene Bezeichnungssysteme und symboli-sche Darstellungsformen entwickelt hat, die sich nichtmehr in die Sprache des alltäglichen Bewußtseins über-setzen lassen. Gehen wir nicht in eine Zukunft, in dersprachlose, wortlose Angepaßtheit die Affirmation derVernunft überflüssig macht? Und wie sich heute dieWissenschaft gleichsam auf eine neue Weise autonomsetzt, indem ihr Wiedereingreifen in das Leben nichtdurch den gemeinsamen Gebrauch allgemeinverständ-licher Sprache vermittelt wird, so zeigt sich auch in ei-

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ner zweiten Dimension ein ähnliches Bedenken. Be-kanntlich hat Hegel das System der Bedürfnisse als dieGrundlage von Gesellschaft und Staat mit besonderemInteresse studiert, aber dies System den geistigen For-men des sittlichen Lebens entschieden untergeordnet.Heute dagegen sehen wir dieses System in einen Teu-felskreis von Produktion und Konsum gebannt, der dieMenschheit immer tiefer in die Selbstentfremdungtreibt, weil die natürlichen Bedürfnisse nicht mehrselbst »gemacht« sind, d. h. sich immer mehr als dasProdukt eines andersartigen Interesses und nicht desInteresses an der Bedürfnisbefriedigung erweisen.Nun könnte man freilich fragen, ob die Entdogmatisie-rung der Wissenschaft, die sich im 20. Jahrhundertvollzogen hat, indem sie die Trennung von der natürli-chen Anschauung zur Forderung erhob, damit nichtam Ende nichts weiter getan hat - und das wäre ver-dienstlich - , als einen allzu leichten Zugang desmenschlichen Vorstellungsvermögens zu den Feldernder Forschung zu versperren, und daß sie so auch um-gekehrt und positiv die dogmatische Verführung ge-brochen hat, die aus dieser Zugänglichkeit entsprangund die Hegel die Ubertünchung der Widersprüche ge-nannt hat. Das Modell der Mechanik, das in Hegels undSchellings Zeit auf der sicheren Grundlage der New-tonschen Physik beruhte, besaß eine alte Nähe zumMachen, zur mechanischen Verfertigung, und hattedamit die Handhabung der Natur zu künstlich erson-nenen Zwecken ermöglicht. Es lag in dieser universel-len technischen Perspektive eine gewisse Entsprechungzu dem philosophischen Vorrang, den das Selbstbe-

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wußtsein in der neueren Entwicklung gewonnen hatte.Wir sind dabei immer in der Gefahr, die Geschichts-konstruktion, die vom deutschen Idealismus geschaf-fen worden ist, unbesehen zu akzeptieren. Man mußsich fragen, ob beides am Ende zu kurz schließt. Diezentrale Stellung des Selbstbewußtseins ist im Grundeerst von dem deutschen Idealismus und seinem An-spruch, alle Wahrheit aus dem Selbstbewußtsein zukonstruieren, gefestigt worden, indem man Descartes'Auszeichnung der denkenden Substanz und ihres Ge-wißheitsvorranges als obersten Grundsatz aufbaute.Gerade hier hat aber das 19. Jahrhundert die Grundla-gen erschüttert. Die Kritik der Illusionen des Selbstbe-wußtseins, die von den Antizipationen Schopenhauersund Nietzsches inspiriert, inzwischen in die Wissen-schaft eingedrungen ist und der Psychoanalyse ihrenEinfluß gegeben hat, steht nicht isoliert da, und HegelsVersuch, den idealistischen Begriff des Selbstbewußt-seins zu überschreiten und die Welt des objektiven Gei-stes als eine höhere Dimension der Wahrheit aus derDialektik des Selbstbewußtseins hervorgehen zu las-sen, bedeutete eine Förderung in der gleichen Rich-tung, die Marx und die Ideologienlehre des Marxismusgegangen sind.Noch bedeutsamer aber konnte es scheinen, daß derBegriff der Objektivität, wie er in der Physik mit demder Meßbarkeit verkoppelt ist, durch die neuere theore-tische Physik tiefgreifende Wandlungen erfahren hat.Die Rolle, die die Statistik selbst in diesen Bereichen zuspielen begonnen hat und die sich unser ganzes wirt-schaftliches und gesellschaftliches Leben mehr und

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mehr unterwirft, läßt der Mechanik und der Kraftma-schine gegenüber neue Modelle ins Bewußtsein treten,deren Eigenart die Selbstregulierung ist und die damitstärker als an das Machbare an das Lebendige, an das inRegelkreisen organisierte Leben denken lassen.Es wäre jedoch ein Irrtum, den Herrschaftswillen zuverkennen, der sich in diesen neuen Methoden der Be-herrschung von Natur und Gesellschaft seinen Aus-druck geschaffen hat. Die Unmittelbarkeit, in der sichmenschlicher Eingriff überall dort empfiehlt, wo Me-chanismen vollkommen durchsichtig geworden sind,ist vermitteiteren Formen des Steuerns, Balancierens,Organisierens gewichen. Das scheint mir alles. Nunaber ist zu bedenken: Vermutlich muß man den Fort-schritt der industriellen Zivilisation, den wir der Wis-senschaft verdanken, gerade auch unter dem Gesichts-punkt sehen, daß die Macht selber, die von Menschenüber die Natur und die anderen Menschen ausgeübtwird, dadurch ihre Augenfälligkeit verloren hat unddaß damit eine gesteigerte Verführung zum Mißbrauchherbeigeführt worden ist. Man denke an den organi-sierten Massenmord oder an die Kriegsmaschine, dieauf einen Knopfdruck zu ihrer vernichtenden Wirkunggebracht wird. Man denke aber auch an den steigendenAutomatismus aller gesellschaftlichen Lebensformen,an die Rolle der Planung etwa, zu deren Wesen es ja ge-hört, daß sie auf lange Sicht hinaus Entscheidungentrifft, und das heißt Entscheidungsfreiheit benimmt,oder an die steigende Macht der Verwaltung, die demBürokraten eine von niemandem überhaupt gewollte,aber dennoch nicht vermeidbare Macht in die Hand

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gibt. Immer mehr Bereiche unseres Lebens treten sounter Zwangsformen automatischer Abläufe und im-mer weniger erkennt sich in diesen Objektivationen desGeistes der Mensch und sein Geist selber wieder.Indessen scheint mir eben mit dieser Situation des sichselber kreuzigenden Subjektivismus der Neuzeit einanderer Aspekt an Bedeutung zu gewinnen, der demneuzeitlichen Selbstbewußtsein und seiner Übersteige-rung bis zur Anonymisierung des Lebens gänzlich ent-rückt ist, ja nach der umgekehrten Richtung hin altenMotiven eine neue Einschlagskraft verheißt, und auchunter diesem Aspekt scheint mir Hegel eine neue Ak-tualität zu zeigen: Er ist nicht nur der Vollender des derNeuzeit zugrunde liegenden Gedankens der Subjekti-vität, der diese Struktur der Subjektivität über die Ge-stalten des objektiven Geistes und des absoluten Gei-stes hin ausdehnt, sondern er bringt auch einen Sinnvon Vernünftigkeit neu zu Geltung, der aus ältestemgriechischem Ursprung ist. Der Begriff der Vernunftund der Vernünftigkeit ist nicht nur eine Bestimmungunseres Selbstbewußtseins. Er spielte in der griechi-schen Philosophie eine entscheidende Rolle, ohne daßein Begriff des Subjektes oder der Subjektivität über-haupt entwickelt worden war, und es bleibt eine be-ständige Provokation unseres Hegel-Verständnisses,daß Hegel als den letzten Paragraphen seines Systemsder philosophischen Wissenschaft kommentarlos einengriechischen Text aus der Metaphysik des Aristotelesabdruckt. Gewiß ist es ein Text, in den wir kaum anderskönnen, als unseren Begriff des Selbstbewußtseins ein-zubringen. Das höchste Selbstbewußtsein muß dem

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höchsten göttlichen Seienden zukommen. Und dochgipfelt in dem Selbstbewußtsein des sich selber denken-den Gottes für das griechische Denken der gesamteAufbau des Seins, und zwar so, daß innerhalb desselbendas menschliche Selbstbewußtsein eine recht beschei-dene Rolle spielt.>τιμιώτατα τα άστρα<: Das Würdigste sind die Sterne-das bleibt der unverrückbare Maßstab, unter dem dasgriechische Denken die Stellung des Menschen imKosmos sieht. Das klingt uns fremd, daß nicht derMensch, sondern die Sterne das Ehrwürdigste unterdem Seienden darstellen sollen. Es klingt unerreichbarfern von Hegel sowohl als von unserer eigenen Gegen-wart. Und doch liegt darin eine dialektische Aktualitätverborgen, die es freizulegen gilt und die sowohl Hegelals auch unseren griechischen Vätern, wie mir scheint,eine neue Bedeutung verleiht. Hegels Bestimmung derPhilosophie als der Versöhnung des Verderbens er-scheint uns dann nämlich weniger als eine gültigeWahrheit oder idealistische Unwahrheit, denn als eineArt romantischer Antizipation. Aus der Entzweiungvon Selbstbewußtsein und Weltwirklichkeit sollte nachHegel die höhere Form der Wahrheit durch Versöh-nung und Vereinigung der Gegensätze hervorgehen,indem das Subjektive aus der Starrheit seiner Entgegen-setzung zum Objektiven befreit würde. Das war daseschatologische Pathos seiner Philosophie. Was unsumgibt, ist freilich das Gegenteil: die schlechte Unend-lichkeit eines endlos fortschreitenden, wie getriebenenBestimmens, Bemächtigens, Aneignens. Hegel ver-band solche schlechte Unendlichkeit mit dem äußeren

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Verstandesaspekt der vernünftigen Welt und der Hart-näckigkeit, mit der er auf Fixierung der Gegensätze be-steht und damit das Äußere in seiner Gegenstellung ge-gen sich, in seiner puren Gegenständlichkeit setzt.Wenn nun Hegel demgegenüber die wahre Unendlich-keit des sich in sich bestimmenden Seins lehrt, zum Bei-spiel die des Lebendigen, zum Beispiel die des Selbst-bewußtseins, zum Beispiel die der sich zum Bewußt-sein ihrer Freiheit befreienden Menschheit, oder dessich in Kunst, Religion und Philosophie selber durch-sichtig gewordenen Geistes, sieht man sich auf einmaljenseits der Zeitenschründe wie auf einen neuen Bodengestellt.Die griechische Vernünftigkeit, die Hegel mit dem mo-dernen Selbstbewußtsein zu neuer Einheit zu vereini-gen versucht, nimmt sich, wenn sie nicht mehr als einebloße Vorgestalt der Moderne gesehen wird, andersaus. Sie ist nicht mehr die rätselhafte Selbstvergessen-heit, die sich im Anschauen der Welt verlor und nur ineinem höchsten Weltengott sich auf sich selbst bezog -sie erscheint gegenüber der schlechten Unendlichkeit,in die es uns hineintreibt, als das Bild einer eigenen unsmöglichen Zukunft und eines möglichen Lebens undÜberlebens. Nicht mehr der Bau von Systemen, die inGedanken vereinigen, was in Widerspruch miteinandergetreten ist, nicht mehr die maßlose Leidenschaft derArchitekten des Systembaus scheint uns das Ideal derVernunft vor Augen zu halten. Auf eine rätselhafteWeise sieht sich ja das Bedürfnis der Vernunft nachEinheit im Fortgang der Forschung immer wieder ent-täuscht und hat in einer erstaunlichen Weise gelernt,

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sich in einer Vielzahl von Partikularitäten zurechtzu-finden, die ihrerseits jede für sich die partikulare Struk-tureinheit von Systemen besitzen. Es scheint mir voneiner symbolischen Tragweite, daß an die Stelle desSystembaus die Systemtheorie getreten ist.Freilich, welch ein Bedeutungswechsel im Sinne desWortes Theorie liegt hier vor! Was liegt in diesemWandel? Das Wort Theorie, das heißt theoria, ist eingriechisches Wort. Es stellt die eigentliche Auszeich-nung des Menschen, dieser gebrochenen und unterge-ordneten Erscheinung innerhalb des Universum dar,daß er seinen geringen und endlichen Maßen zum Trotzzu der reinen Anschauung des Universum fähig ist.Aber es wäre vom Griechischen her unmöglich, Theo-rien »aufzustellen«. Das klingt ja, als ob wir sie»machten«. Das Wort meint nicht, wie das vom Selbst-bewußtsein her gedachte theoretische Verhalten, jeneDistanz zum Seienden, die das, was ist, unparteiischerkennen läßt und es damit anonymer Beherrschungunterwirft. Die Distanz der theoria ist vielmehr die derNähe und der Zugehörigkeit. Der uralte Sinn von theoriaist Teilnahme an der Festgesandtschaft zur Verehrungder Götter. Das Schauen des göttlichen Vorgangs istnicht die teilnahmslose Feststellung eines Sachverhaltsoder Beobachtung eines prächtigen Schauspiels, son-dern eine echte Teilhabe an dem Geschehen, ein wirkli-ches Dabeisein. Dem entspricht, daß die Vernünftig-keit des Seins, diese große Hypothese griechischer Phi-losophie, nicht primär eine Auszeichnung des mensch-lichen Selbstbewußtseins ist, sondern eine des Seinsselber, das so das Ganze ist und so als das Ganze er-

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scheint, daß die menschliche Vernunft weit eher als einTeil dieser Vernünftigkeit zu denken ist und nicht alsdas Selbstbewußtsein, das sich dem Ganzen gegenüberweiß. So ist es gleichsam ein anderer Weg, in dem diemenschliche Besinnung sich in sich selbst vertieft undsich findet: nicht der Weg nach innen, zu dem Augustinaufrief, sondern ein Weg der vollen Hingabe an dasAußen, in dem der Suchende sich selbst dennoch fin-det. Das war Hegels Größe, daß er diesen Weg derGriechen nicht als einen falschen Weg gegenüber jenemneuzeitlichen der Selbstbesinnung erkannte, den manhinter sich gelassen habe, sondern als eine Seite, diedem Sein selber zukommt. Es war die großartige Lei-stung seiner Logik, in der Dimension des Logischendiesen das Entgegengerichtete sammelnden und tra-genden Grund erkannt zu haben. Ob er das nun nusoder Gott nannte, es ist jedenfalls ebensosehr das volleAußen, wie es in der mystischen Versenkung des Chri-sten das letzte Innen ist.Wir stehen am Ende unserer Überlegungen. Das Ver-hältnis von Wissenschaft und Philosophie erwies sichan dem Standort, auf den uns Hegel geführt hat und mitihm Schelling, als ein dialektisches. Nicht die aus denWissenschaften herauszuhebende Philosophie, die ih-ren begrenzten Sinn behalten mag, und auch nicht diespekulative Grenzüberschreitung nach der Seite einerdogmatischen Festlegung der in stetem Fluß befindli-chen Forschung können das Verhältnis von Philoso-phie und Wissenschaft angemessen beschreiben. Wirmüssen dies Verhältnis in seiner vollen Gegensätzlich-keit positiv denken lernen. Keine Abschwächung zu

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»mäßiger Aufklärung«, keine »Übertünchung« sollsein. Es wäre Verblendung zu meinen, daß diese Verle-genheit uns nötigte, Philosophie auf die Seite der Kunstzu stellen und ihr an allen Vorrechten der Kunst und al-len Gewagtheiten, die mit diesen Vorrechten verbun-den sind, teilzugeben. Die Anstrengung des Begriffsgilt es auch weiterhin auf sich zu nehmen. Zwar, derAnspruch systematischer Einheit scheint uns heute we-niger einlösbar, als im Zeitalter des Idealismus esschien. So zieht uns gleichsam eine innere Affinität zuder zauberhaften Mannigfaltigkeit herüber, die dieAussage der Kunst in den Reichtümern ihrer Werke voruns ausbreitet. Weder das Prinzip des Selbstbewußt-seins noch irgendein anderes Prinzip letzter Einheits-gebung und Selbstbegründung geben uns die Erwar-tung, das System der Philosophie doch noch konstru-ieren zu können. Indessen bleibt das Bedürfnis derVernunft nach Einheit unabweisbar. Dieses Bedürfnisschweigt auch nicht vor dem hundertäugigen Argus,den nach Hegels schönem Worte das Werk der Kunstdarstellt, in dem ja keine Stelle ist, die uns nicht sieht.Es bleibt in jedem Aspekt die Aufgabe der Selbstver-ständigung des Menschen mit sich selber bestehen, diein keiner seiner Erfahrungen verleugnet werden kannund so gewiß auch nicht in den Erfahrungen der Kunst.Aber sowie die Aussagen der Kunst in den Prozeß un-serer Selbstverständigung mit uns selber integriert wer-den, wenn sie in ihrer Wahrheit wahrgenommen wer-den, ist nicht mehr Kunst, sondern ist Philosophie amWerk. Es ist das gleiche Bedürfnis der Vernunft, dasuns die Einheit unserer Erkenntnis immer wieder her-

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zustellen nötigt, das auch Kunst in uns eingehen läßt.Dazu gehört aber auch in unserer Welt all das, was unsin der Durchmessung aller Weltzugänge und der Er-probung aller Weltausgriffe die Wissenschaften gewäh-ren. Dazu gehört nicht zuletzt das Erbe unserer Tradi-tion philosophischer Vernunftansichten, von denen wirnicht eine annehmen und ganz übernehmen können,aber die wir alle nicht ungehört lassen dürfen. Das Ein-heitsbedürfnis der Vernunft verlangt es.Das Vorbild der Wissenschaft, das unsere Zeit be-stimmt, sollte uns zugleich vor der Versuchung schüt-zen, im Philosophieren dem Bedürfnis nach Einheitdurch voreilige Konstruktionen nachzufolgen. Wie un-sere gesamte Welterfahrung einen nie zu Ende kom-menden Prozeß der Einhausung darstellt - um mit He-gel zu reden - auch in einer uns immer fremder schei-nenden, weil nur allzu sehr von uns veränderten Welt - ,so ist auch das Bedürfnis nach philosophischer Rechen-schaftsgabe ein unendlicher Prozeß. In ihm vollziehtsich nicht nur das Gespräch, das jeder einzelne denkendmit sich selbst führt, sondern auch das Gespräch, indem wir alle zusammen begriffen sind und nie aufhö-ren, begriffen zu sein - ob man die Philosophie tot sagtoder nicht.

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Hegels Philosophieund ihre Nachwirkungen bis heute

Es ist ebenso anziehend wie riskant, als akademischerLehrer in einen Kreis akademisch gebildeter und berufs-tätiger reiferer Menschen zu treten, mit dem ihn nichtdie regelmäßige Fühlung des akademischen Unterrichtsverbindet. Ich möchte Ihnen einen Zugang zu einemDenker bahnen, dessen Werk in einem seltenen, ja ein-zigartigen Maße verrätselt ist. Es ist keine Übertrei-bung, wenn ich sage, daß es keinen lebenden Menschengibt, der das Werk Hegels so zu verstehen und denkendnachzuvollziehen vermag, daß ihm ein vorgelegter Zu-sammenhang Hegelscher Sätze sofort oder auch nacheiniger Anstrengung ganz und gar verständlich würde.Es gibt eine berühmte Geschichte von einem BesuchHegels bei Goethe. Goethe, der sonst mit einer gewis-sen patriarchalischen Überlegenheit das Gespräch zuführen pflegte, war bei Tisch auffallend still, und He-gel, der Gast, redete auffallend viel - in einem allerdingsnoch besonders mysteriösen Schwäbisch. Die Schwie-gertochter Goethes, die bei Tisch dabei war, fragtenachher, als der Gast sich verabschiedet hatte: »Waswar denn das für ein merkwürdiger Gast?« Und daraufsagte Goethe: »Das war der erste Philosoph Deutsch-lands, Professor Hegel aus Berlin«. Die Szene mag alserstes daran erinnern, daß Hegel in das Zeitalter Goe-thes gehört und daß beide Männer- gleich stark, wennauch in unvergleichbarer Weise - die Folgezeit geprägt

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haben. Goethe darf wohl mit Recht das Symbol derbürgerlichen Gesellschaft des 19, Jahrhunderts genanntwerden, der Mann, der durch sein Talent und seineüberragende Persönlichkeit schließlich der eigentlicheSouverän am Weimarer Hof war, zu dem die Welt wiezu einem Fürsten des Geistes zu pilgern pflegte. Undauf der anderen Seite dieser seltsame Berliner Professor,der in seinem rauhen Schwäbisch und mit all der hoch-getriebenen Abstraktion des Gedankens, die sich inseinen Werken spiegelt, dennoch der wirksamste Leh-rer der Philosophie im 19. Jahrhundert gewesen ist -mehr als irgendeiner der großen Denker eine Figur, umderen echtes Profil der Streit der Schulen ging und anderen wahrer Bedeutung sich die Geister schieden.Nach Hegels Tode gab es geistige Diadochenkriege,wie nach dem Tode eines Weltherrschers. Man unter-schied eine Hegeische Rechte und eine Linke. Zwi-schen den »Rechtshegelianern« und den »Linkshege-lianern« tobte der Streit um den wahren Gehalt des He-gelschen Denkens. Unter den Zeitgenossen Hegels warGoethe sicher der universalste Geist. Doch selbst Goe-the war nicht imstande, Hegel wirklich zu lesen. Wirhaben ein sehr schönes Dokument dafür. In den erstenSätzen der »Phänomenologie des Geistes«, auf der er-sten Seite des Buches, hat Goethe, dem Hegel sein Buchnatürlich gesandt hatte, an einer Stelle Anstoß genom-men. Wie alles hat er auch dies angelesen, ist aber überdie erste Seite offenbar nicht hinausgekommen. Er hatnämlich ganz empört festgestellt, daß Hegel dort etwasihm absolut Zuwideres schreibt: »Die Knospe ver-schwindet im Hervorbrechen der Blüte, und man

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könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird«.Goethe, dieser überzeugte Gegner aller revolutionären,explosiven Theorien in der Erdgeschichte wie in derMenschengeschichte, hat bekanntlich das Geheimnisdes organischen Wachsens der Dinge gerade auch alsdas Vorbild für die rechte geistige Haltung des Men-schen angesehen. Daher seine Ablehnung des Hegel-schen Textes. Wenn man nun aber die Stelle, die Goe-the reizte, nachliest, stellt man fest, daß Goethe nichtmehr umgeblättert hat, denn auf der nächsten Seite gehtes ganz in Goethes Sinne mit einem »Aber« weiter, dasdie »organische Einheit« dagegen geltend macht. So hatdenn Goethe die innere Verwandtschaft, die er zu He-gel besaß, selber nicht ganz realisiert. Gleichwohl be-wahrte er für Hegel immer ein gutes Vorurteil, nichtzuletzt, weil Hegel zu seinen Verteidigern im Kampfum die Newtonsche Optik, d. h. zu den Anhängern derFarbenlehre Goethes gehörte. Bekanntlich sah sichGoethe selber nicht so sehr als der große Dichter, der erwar, sondern vor allem als der große Naturforscher,der die wahre Betrachtungsweise der Natur, insbeson-dere des Lichtes, und damit die wahre Physik gegenNewton zur Geltung gebracht habe. Die ZustimmungHegels, Schellings, Schopenhauers zu der GoetheschenFarbenlehre ist gewiß nicht ganz ohne sachliches Ge-wicht. Es wäre billig, sich als Physiker darüber erhabenzu fühlen. Was sich in diesem unglücklichen StreitGoethes gegen Newton spiegelte, ist vielmehr ein Phä-nomen von tiefster Bedeutung: In ihm wird manifest,daß die moderne Naturwissenschaft als ein wahrhaftverwandelndes Faktum in die Welt getreten ist und der

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Traditionsgestalt von »Wissenschaft«, die aus der na-türlichen Beobachtung und Erfahrung ohne mathema-tisierende Abstraktion schöpfte, ein Ende setzte. Diemoderne Erfahrungswissenschaft fand im 17. Jahrhun-dert in der Mechanik Galileis und Huygens ihre ersteGrundlage, entfaltete sich immer weiter, bezog alleWissensgebiete in ihre neue Methodik ein und suchteschließlich - das ist die Stunde, in der wir heute stehen-sogar die gesellschaftliche Wirklichkeit mit dem An-spruch wissenschaftlicher Steuerung zu erobern undihre Lenkung in den Griff zu bekommen. Im Grundewar schon mit dem 17. Jahrhundert der selbstverständ-liche Anspruch der Philosophie, die regina scientiarum,Inbegriff alles Wissens und der umschließende Rahmenfür jede mögliche menschliche Erkenntnis zu sein,nicht mehr einlösbar. Hegel war der Allerletzte, derden stolzen Anspruch der Philosophie, Rahmen undumfassendes Ganzes für alles mögliche menschlicheWissen zu sein, in seinem Denken zu verteidigen ge-wagt hat. Soweit das auch nach Hegel noch versuchtwurde, geschah es auf dem akademischen Schulhori-zont von Philosophieprofessoren und war nicht mehreine weltgeschichtliche Wirklichkeit, wie sie der Pro-fessor Hegel in Berlin noch gewesen war.Hegel versuchte eine letzte Synthese von Natur undGeschichte, von Natur und Gesellschaft in einem gro-ßen philosophischen Gedankensystem, das freilich, ge-rade weil es eine letzte Aufgipfelung eines ältesten An-spruches war, des griechischen Anspruches, den »lo-gos« des Seins zu denken, sehr schnell um seine Popula-rität gekommen ist. Es kennzeichnet die Wirkungsge-

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schichte Hegels, daß Rudolf Heym um die Mitte des19. Jahrhunderts, im Jahre 1854, etwa 20 Jahre nachHegels Tode, eine vielbeachtete polemische Darstel-lung der Hegeischen Philosophie gegeben hat und die-ses Buch mit Reflexionen über den raschen Zusammen-bruch der Hegeischen Philosophie eröffnete. Der etwasschnöde, kommerzielle Ton, in dem er da spricht undder für jeden, der ein Ohr für geschichtliche Töne hat,den kommerziellen Materialismus der frühindustriellenEntwicklung Deutschlands in der Mitte des vorigenJahrhunderts verrät, lautete: »Dieses große Haus hatnur deshalb so schnell falliert, weil der ganze Ge-schäftszweig darnieder liegt.« Heym meint damit, daßdie Philosophie als Ganzes sozusagen bankrott gingund der Zusammenbruch der Hegeischen Weltherr-schaft des Geistes nur eine Folge des Bankrottes derPhilosophie überhaupt war. Und es ist wahr: seit Hegelhat es keinen Denker mehr gegeben - vielleicht darfman sagen: nicht vor Heidegger - , der noch das Be-wußtsein aller aussprach, obwohl er nur intra muros,nur im Rahmen der Universität seine Stimme verneh-men ließ. Natürlich gab es große Schriftsteller wieSchopenhauer und Nietzsche oder auch Kierkegaard,aber es gab keinen Lehrer der Philosophie an Universi-täten mehr, der wirklich das allgemeine Bewußtseinerreicht hätte. Wenn Heideggers Denken heute von ei-nem Romancier wie Günter Grass, der nicht für Fach-leute schreibt, sondern allgemein gelesen wird, in ei-nem Roman verspottet wird, so dokumentiert sich ebendarin, daß Heideggers Stimme über den Hörsaal hinausgedrungen ist.

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Wenn wir uns fragen, was der Grund für den schnellenZusammenbruch der Hegeischen Philosophie war, soist die Antwort leicht. Der Anstieg der modernenForschung in allen Wissenschaftsgebieten hat den An-spruch, den Hegel als letzter noch erhoben und vertei-digt hatte, auch die Wissenschaft von der Natur in sei-nem apriorischen System des Gedankens vorzuzeich-nen und in es einzubeziehen, diskreditiert. Eine solcheBevormundung durch den Apriorismus der Vernunftmußte den Widerstand und den Spott der Erfahrungs-wissenschaften hervorrufen. Heute, in dem Abstandeines Jahrhunderts, denken wir ein wenig anders überdie führenden Kräfte in der unmittelbaren Epoche nachHegel und erkennen auf allen Gebieten auch positiveEinflüsse Hegels. Das gilt für die Grundbegriffe derNaturwissenschaft so gut wie für die Philosophie desJahrhunderts, die im Neu-Kantianismus gipfelte, ohnesich bewußt zu sein, wieviel Hegel in ihr weiterlebte -es gibt aber im besonderen die sogenannte historischeSchule, die in Berlin zentrierte Bewegung der histo-risch-kritischen Forschung, die sich im Gegensatz ge-gen die spekulative Geschichtsphilosophie Hegelsglaubte und wußte und von der wir heute erst sehen,wie sehr sie in Wahrheit von der idealistischen Philoso-phie und insbesondere den Hegeischen Ideen geleitetwar.Es bleibt eine merkwürdige Tatsache, daß dieser ver-kauzte Schwabe wirklich nicht durch äußerlich gewin-nende Mittel die Popularität errang, die er bei seinenStudenten in der Tat besaß. Nebenbei: Es bestätigt sicheine allgemeine Erfahrung, was einen Universitätsleh-

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rer wirksam macht, sind nicht seine rhetorischen oderformellen Tugenden. Ich selbst ζ. Β. habe etwa auf demGebiete der Geschichte der Wissenschaften das meistevon jemandem gelernt, der stotterte. Nach zwei Stun-den merkt man das nicht mehr, wenn ein Mann etwaszu sagen hat. So haben die Berliner Studenten Hegelsbald gewiß nicht mehr bemerkt, daß er schwäbelte,sondern hielten das für Deutsch.Indessen war das wissenschaftliche Selbstbewußtseindes späteren 19. Jahrhunderts durch seine Abkehrvon Hegel geprägt, und das so tief, daß Hegel bis zumheutigen Tage in der internationalen intellektuellenWelt eine suspekte Figur geblieben ist, insbesondere imangelsächsischen Raum. Erst in unseren Tagen kommtauch dort eine Gegenbewegung in Gang. Es gibt jetztauch in England, in Amerika neue Hegel-Vereinigun-gen, die diesem letzten Denker, der unser Wissen undunser Weltgefühl durch seine philosophische Genialitätzusammenzufassen vermochte, ihre Aufmerksamkeitwieder zuwenden. Aber man muß im ganzen sagen:noch heute bleibt Hegel in den Augen der Wissenschaftund aller derer verdächtig, die glauben, daß mit demFortschritt der Wissenschaft grundsätzlich allemenschlichen Probleme lösbar sind. Trotzdem gab esimmer wieder »natürliche« Hegelianer. Da war in Ita-lien Spaventa, auf den der spätere italienische Hegelia-nismus zurückgeht, der durch den Namen Croce undGentile bekannt ist. Da war in Holland eine Hegel-Schule, die an den Namen Bolland geknüpft ist, die so-genannten Bollandisten, eine noch heute fortlebendeGruppe von freidenkerischen, liberalen Geistern. Da

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war in England um 1900 ein weit verbreiteter Hegelia-nismus, dessen Spuren freilich in Oxford und Cam-bridge inzwischen mit Feuer und Schwert ausgerottetsind. Und da war in Deutschland immer wieder der eineoder der andere ein Hegelianer, und aus solchem natür-lichen Hegelianismus nährte sich auch in Deutschlandimmer wieder das Studium der Hegeischen Philoso-phie. Im Jahre 1910 hielt dann Wilhelm Windel-band, das Haupt des südwestdeutschen Neukantianis-mus, in der Heidelberger Akademie der Wissenschaf-ten eine Rede über den neuen Hegelianismus, in der ersich zum Sprachrohr seiner eigenen Studenten undSchüler machte, die innerhalb der herrschenden neo-kantianischen Philosophie und gegen sie Hegel auf denSchild erhoben. Einer der Wortführer dieser hegeliani-sierenden Gruppe war Julius Ebbinghaus, heute ein er-bitterter Hegelgegner und Altkantianer. Aber es gehör-ten viele Namen, die sehr bekannt sind, zu dieserGruppe, zum Beispiel Ernst Bloch, Georg von Lukâcs,Fedor Stepun, Richard Kroner, Ernst Hoffmann usw.,eine große Zahl von jungen Leuten, die damals anfin-gen, in Hegel die höchsten Erwartungen zu setzen. Fürunsere Zeit wird man etwas Ähnliches nicht mehr be-haupten wollen. Wenn ich selber Gründer und Leitereiner Vereinigung geworden bin, die sich das Studiumder Hegeischen Philosophie zur Aufgabe setzt, so istdas mehr in der Absicht, von Hegel zu lernen, d.h. sichan seinem Niveau begrifflicher Präzision und radikalerDenkenergie zu schulen, und nicht so sehr, seine Per-spektive zu erneuern - das gilt auch für diejenigen, dieHegel sagen, wenn sie Marx meinen. Es sind die Sa-

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chen, die man bei Hegel zu lernen hat, die den Hegelia-nismus auch ohne jede zünftige Prägung zu einem In-begriff lebendiger Fragen erheben. Das möchte ich andrei solcher Fragen erörtern: erstens an dem religiösenProblem von Glauben und Wissen, zweitens am Pro-blem des objektiven Geistes oder der geschichtlichenWelt und drittens an der Frage der Einheit von Naturund Geschichte im Begriff.Das religiöse Problem ist insoferne das erste in dieserReihe, als die von mir schon berührte Parteiung in derAusdeutung Hegels wesentlich auf diesen Punkt zu-rückgeht. Die Hegeische Rechte und die HegeischeLinke bilden primär eine theologische Differenz. Esging um die Frage : Ist Hegel im Recht, wenn er den An-spruch erhebt, in dem philosophischen Gedanken auchdie Wahrheit des Christentums zu umfassen und denGlauben in die Gestalt des Wissens überführt zu haben,oder ist er - unbeschadet aller persönlichen christlichenGebundenheit, um die der Streit nicht geht - darin sosehr im Unrecht, daß man sagen muß, er habe in Wahr-heit die christliche Wahrheit verfälscht und der Auflö-sung entgegengeführt. Zum Wesen einer Religion derwahren Lehre - und das Christentum erhebt den An-spruch, eine Lehre zu sein - gehört, daß sie stets vondem Verdacht der Häresie umwittert ist. So ist auch derHegeische Anspruch, die Wahrheit der Religion in dieForm des philosophischen Begriffs erhoben zu haben,von seiten der Kirche und der theologischen Reaktionbesonders heftig bestritten worden. Hegel wurde in diespiritualistischen Häresien eingereiht, die mindestensseit Joachim Da Fiori die christliche Kirche begleiten,

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in denen der dritte Artikel, die Lehre vom HeiligenGeist, so überbetont wurde, daß die Inkarnation, dieMenschwerdung Gottes, im Grunde zu einem bestän-digen, stets gegenwärtigen und sich überall wiederho-lenden Ereignis wird. In der Tat ist es das Pfingstwun-der, die Ausgießung des Heiligen Geistes, das das, wasdurch Christus in die Welt gekommen ist, nun als dieGemeinde der Heiligen, d.h. als eine Gemeinschaft imGeiste, lebendig erhält und fortbestehen läßt. Derdritte Artikel ist in den spiritualistischen Häresien - wiewir es auch bei Hegel finden - immer so sehr überbe-tont worden, daß der Tod Gottes, die Kreuzigung Jesuund seine Auferstehung fast nur zu einem Symbol derständigen Erneuerungskraft des Geistes wird. Was zu-grunde geht, lebt in neuer Auferstehung auf - das istdie geistige Bewegung, durch die sich der Geist imMenschen zur vollen Auferstehung zu erheben sucht,und diese Verklärung gipfelt in der totalen Vergeisti-gung des Menschen und in der Selbstdurchsichtigkeitdes Denkens. Wenn die Religion noch in der Form derVorstellung ihre Lehren vorträgt und etwa den Opfer-tod Jesu am Kreuze als ein Ereignis, als die GnadentatGottes interpretiert, hat der philosophische Gedankedie Wahrheit dieser Vorstellung in den Begriff erhoben.So hat Hegel in der Tat geglaubt und beansprucht, daßer Glauben und Wissen versöhnt habe. Hegel meintedamit nicht, daß keine Vorstellungsweise des Gläubi-gen neben der Klarheit des sich selbst begreifendenDenkens mehr möglich und berechtigt wäre - so wenigwie Hegel mit seiner berühmten Lehre von dem Ver-gangenheitscharakter der Kunst gemeint hat, daß es

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keine Kunst mehr gebe. Wenn Hegel gesagt hat:»Kunst ist nicht mehr die höchste Gestalt der Wahr-heit«, so hat er gemeint, daß das, was in der griechi-schen Skulptur noch als selbstverständliche Überein-stimmung zwischen dem verehrten Göttlichen unddem sichtbar Künstlerischen da war, bereits mit demChristentum und seiner Lehre von der inneren Wirk-lichkeit des Göttlichen nicht mehr besteht. Die Formder Kunstreligion ist zu Ende, d.h. eine höhere Formdes Begreifens der Dinge, wenn auch zunächst in derForm der Vorstellung, d.h. in der Form der christli-chen Glaubensvorstellungen, sei an die Stelle der schö-nen Göttergestalten der antiken Welt getreten. Es isteine theologische Frage, dazu Stellung zu nehmen, wiees mit dem Anspruch Hegels steht, zwischen Glaubenund Wissen eine echte Versöhnung gefunden zu haben.Aber eines muß man in jedem Falle ernst nehmen,daß sich Religion, auch gerade die christliche Religion,nicht ohne eigenen Schaden in einen Gegensatz zu dergeistigen Denkfreiheit des Menschen begeben darf unddaß eine jede Möglichkeit des Menschen, durch Den-ken Einsicht zu gewinnen, sich in einer lebendigenAuseinandersetzung mit unserer christlichen Überlie-ferung bewähren muß und umgekehrt. Die Philosophiewird von Hegel definiert als das Denken des Unendli-chen. In der Tat ist das - inhaltlich gesehen - ein kon-gruenter Ausdruck zu der Vorstellung des unendlichenGottes und zu einer Religion, die die Welttotalität alsSchöpfung versteht und an die Überwindung des Todesdurch die Heilstat der göttlichen Liebe glaubt.Der Streit um die Christlichkeit der Hegeischen Philo-

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sophie flammt daher immer wieder auf. Erst vor kur-zem ist ein vorzügliches Buch erschienen, das die Par-teinahme für die Christlichkeit Hegels erneut mit allenMitteln philosophisch gediegener Forschung aus-spricht: Michael Theunissen; »Hegels Lehre vom abso-luten Geist«.Aber wirksamer noch und aktueller ist der zweitePunkt, und das ist sicherlich derjenige Punkt, an demsich die Unentbehrlichkeit Hegels für den philosophi-schen Gedanken am stärksten manifestiert und wo mansicher sein kann, daß auch diejenigen, die die Philoso-phie - und besonders die Hegels - zum Teufel wün-schen, von ihr leben, insbesondere die Soziologen: dasist seine Lehre vom objektiven Geist. Der politischeHintergrund dieser Lehre Hegels ist besonders deutlichgeworden, seit die Jugendgeschichte Hegels durch dieHerausgabe seiner Jugendschriften ins allgemeine Be-wußtsein der Philosophie getreten ist. Wie seine ganzeGeneration litt Hegel unter der Entfremdung, die zwi-schen den politischen und religiösen Zuständen seinerZeit und dem eigentlichen Bedürfnis des Geistesherrschte. Das große Ereignis, mit dem sich das Den-ken des deutschen Idealismus besonders verbundenfühlte, war die Französische Revolution. Durch siewurden die unverstandenen und unwirksam geworde-nen Verfassungs- und Lebensformen von einem neuenFreiheitspathos überwunden. Das galt, wie insbeson-dere Joachim Ritter herausgestellt hat, auch für Hegel.Es wird berichtet, daß noch der Hegel der Berliner Zeit,dieser angebliche preußische Staatsphilosoph und Ver-teidiger der Reaktion, in einem Freundeskreis - es war

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in Dresden, glaube ich, im Jahre 1823, mitten in derZeit finsterster Metternichscher Restaurationspolitik -plötzlich das Glas hebt und sagt: »Wißt Ihr, was heutefür ein Tag ist?« und es auf den Sturm auf die Bastilleleert. So sehr war die Französische Revolution, dasheißt die Idee der bürgerlichen Freiheit und damit derFreiheit aller, das Leitmotiv auch des Hegeischen Den-kens. Es liegt seiner Philosophie des objektiven Geisteszugrunde. In dieser Lehre von dem zu Institutionenobjektivierten Geist geht es nicht darum, daß die beste-henden Institutionen in ihrer unveränderlichen Rich-tigkeit verteidigt würden. Hegel hat die Institutionennicht schlechthin, sondern gegenüber der Besserwisse-rei des einzelnen verteidigt. Er hat mit seiner überwälti-genden geistigen Kraft die Grenzen des Moralismus imgesellschaftlichen Leben gezeigt, die Unhaltbarkeit ei-ner rein innerlichen Moralität, die sich nicht in den ob-jektiven Formen des Lebens, die die Menschen zusam-menfassen, manifestiert. So hat er in der Tat zu zeigenvermocht, was für eigentümliche Zwiespältigkeiten,um nicht zu sagen Unaufrichtigkeiten, was für eineDialektik der Unaufrichtigkeit mit dem abstrakten Mo-ralismus der Menschen verbunden ist. Er wurde zumKritiker der Kantischen Moralphilosophie, sofern dieseauf die moralische Selbstgewißheit pocht und sich inder Erkenntnis der eigenen Pflicht von allen äußerli-chen Bedingungen, den natürlichen wie den gesell-schaftlichen und insbesondere von dem System der Sit-ten und der Erziehung, dem System von Lohn undStrafe unabhängig denkt und darauf besteht, daß diepraktische Vernunft imstande sei, allein durch die Au-

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tonomie ihrer selbst die zwingende Kraft des morali-schen Anspruchs des Sittengesetzes gegen alle andereRücksicht durchzusetzen und zu verteidigen. Dieser insich großartige kantische Impuls ist von Hegel kritischbehandelt worden, insbesondere dort, wo sich derselbeals eine Moralität der Innerlichkeit in eine moralistischeHaltung gegenüber der staatlichen und gesellschaftli-chen Wirklichkeit steigert. Das meint seine Theorie desobjektiven Geistes, daß nicht das Bewußtsein des ein-zelnen, sondern eine über das Bewußtsein des einzel-nen hinausgehende, gemeinsame und verbindendeWirklichkeit die Grundlage unseres menschlichen Le-bens in Staat und Gesellschaft ist. Er hat in großartigerWeise, vor allem in seiner »Phänomenologie des Gei-stes« und später in Berlin in der »Rechtsphilosophie«dargelegt, daß das menschliche Selbstbewußtsein denentscheidenden Schritt zu seiner Stabilisierung in derAnerkennung des eigenen Seins durch den anderen tut.Er entwickelt die abstrakte Idee des Selbstbewußtseins,die im deutschen Idealismus letzten Endes auf Descar-tes' »cogito me cogitare« zurückgeht und zum Grund-prinzip der Philosophie erhoben wurde - beiKant heißt es das Ich der transzendentalen Synthesisder Apperzeption - und zeigt, daß dieses Ich in Wahr-heit eine ganze Genese durchmacht, durch die es überseine bloße Ichheit hinaus in die Objektivität des Gei-stes übergeht. Die ichhafteste Form der Ichheit hat He-gel in der sinnlichen Begierde aufgewiesen. Das klingtsehr altmodisch. Was er meint, ist das vitale Selbstge-fühl, die Art, seiner selbst in der sinnlichen Befriedi-gung gewiß zu sein. Das ist in der Tat eine aus unserem

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Lebensgefühl aufsteigende Form der Ichbestätigung.Hier begegnet, was ich bin, sich selbst, etwa wenn ichHunger fühle. Aber bekanntlich verschwindet derHunger, wenn ich satt bin, bis ich wieder hungrig wer-de, und so ist dies Selbstgefühl außerordentlich labil.Hegel hat gezeigt, daß ein wahres Selbstgefühl auf demWege solcher Unterwerfung und Aneignung des Frem-den überhaupt nicht gelingt. Nicht einmal in der Form,daß ich als Herr andere Menschen versklave, um mir diesichere Befriedigung meiner Begierden zu verschaffen,gewinne ich ein echtes Selbstgefühl. Denn was kann mirschon die Anerkennung durch einen von mir Abhängi-gen bedeuten? Was kann es für jemanden, der seinSelbstbewußtsein zu finden sucht, ausmachen, daß an-dere, als Sklaven, ihn als ihren Herrn anerkennen? Da-gegen ist es ganz etwas anderes, von einem anderenSelbstbewußtsein anerkannt zu sein. Das gibt meinemSelbstbewußtsein wirkliche, konkrete Bestätigung.Wir kennen das alles an den Phänomenen, die wir imweitesten Sinne mit dem Begriff der Ehre umschreiben.Hegel zeigt darin die Dialektik des Selbstbewußtseins.Es ist eine der prächtigsten Partien Hegelscher Gedan-kendialektik, in der man sie sozusagen in ihrer Konkre-tion sehen kann. Anerkennung muß eine wechselseitigesein. Selbstbewußtsein ist nur Selbstbewußtsein, wennes vom anderen her seine Bestätigung findet, aber so,daß auch der andere seine Bestätigung nur von mir herfindet. Man kann es sich an einem ganz einfachen Bei-spiel klarmachen, das jeder schon erlebt hat. Eine deräußerlichsten Formen, Ehre zu erweisen, ist, jemandenzu grüßen. Wer kennt nicht dies unangenehme Gefühl,

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wenn man grüßt, und der andere sieht gleichgültig aneinem vorbei, sei es, daß wir jemanden verkannt haben,sei es auch, weil der andere einen nicht kennen will.Vergeblich gegrüßt zu haben, ist eine Erfahrung, beider einem das eigene Selbstgefühl bekanntlich augen-blickshaft zusammenbricht. Gewiß sind Grußsitten dasAlleräußerlichste am sozialen Leben - daß unsere jungeGeneration uns Professoren nicht mehr mit unseremTitel anredet und am liebsten auf die Schulter klopfenmöchte, als ob wir Amerikaner wären, scheint mir keinwesentlicher Beitrag zur Universitätsreform, auchwenn man nichts dagegen zu haben braucht. Aber mankann von diesem Äußerlichsten her das Substantielleunseres menschlichen Gemeinschaftslebens verständ-lich machen, zum Beispiel die Solidarität, die nötig ist,damit ein Rechtssystem funktioniert. Wir sind in denkritischen Zeiten, in denen wir heute leben, ganz gutmit Experimentalbeweisen dafür versehen, wie gefähr-lich es wird, wenn die Gesellschaft in ihrer Solidaritätso bedroht ist, daß keine gemeinsame Selbstverständ-lichkeit mehr die Anerkennung der Rechtsordnungverteidigt. Man denke etwa an die Mißlichkeit, die dieZeugenaussage in einer säkularisierten Gesellschaft ge-wonnen hat und die die Rechtsprechung seit langemdazu veranlaßt, die Vereidigung des Zeugen nach Mög-lichkeit zu vermeiden. Dabei ist die Rechtsordnungselber noch eine recht äußerliche Seite der gesellschaft-lichen Wirklichkeit. Es gibt sehr viel substantiellereWirklichkeiten des gemeinsamen Lebens. Jede Bin-dung in Freundschaft oder Liebe enthält solche sub-stantielle Gemeinsamkeit, die sich durch die Dialektik

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der gegenseitigen Anerkennung begrifflich beschreibenläßt. Es war eines der großen Verdienste Hegels, daßer Familie, Gesellschaft und Staat aus dieser einen Wur-zel, der Überwindung und Überschreitung des subjek-tiven Geistes, des Einzelbewußtseins, nach der Rich-tung eines gemeinsamen Bewußtseins gedanklich über-zeugend gemacht hat.Ich komme zum dritten Punkt meiner Darlegungen.Ich sagte schon, Hegel ist wie die ganze Generation sei-ner Zeit von einem Grunderlebnis auf den Weg seinesDenkens gefordert worden, und das war das Erlebnisder Entzweiung. Er nannte es »Positivität«. Bei Hegelmuß man sich daran gewöhnen, daß er oft ungefähr dasUmgekehrte mit einem Ausdruck meint, als man er-wartet. Wenn Hegel Positivität sagt, so meint er etwassehr Negatives, nämlich daß Normen nur als Autoritätgesetzt und nicht durch uns selber innerlich bejaht sind.Da ist es etwa die Positivität des Christentums, daß esvom Gläubigen bloßen Gehorsam verlangt, auch ohneEinsicht und inneres Engagement. Da ist es die Positivi-tät einer Verfassung, wenn sie zwar in ihren positivenBestimmungen als Verfassung gültig zu sein fortfährt,aber kein lebendiger Geist mehr in ihr ist. Bekanntlichwar es die Verfassung des Römischen Reiches deutscherNation, die in den Jugendjahren Hegels ein lebendigesAnschauungsfeld für solchen Verfall, für die Entfrem-dung zwischen dem äußerlich-positiv Geltenden unddem tatsächlich Wirklichen darstellte. Man erinneresich, daß das Ende des Römischen Reiches deutscherNation im Grunde in endlosen Prozessen - in Regens-burg oder sonstwo ~ ausgetragen wurde, während die

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wesentliche Bestimmung einer echten Reichsverfas-sung, die echte Solidarität aller Deutschen zu ordnen,durch den modernen Territorialstaat, durch die Gegen-sätze der Konfessionen und der absolutistischen Län-derregierungen unwirksam und leblos geworden war.Entzweiung, dieser erste Ansatzpunkt von Hegel, ent-hält als seine Entsprechung die Versöhnung der Ent-zweiung oder auch, wie er sagt, »die Versöhnung desVerderbens«. Das ist die Aufgabe, die sich Hegel alsDenker gestellt hat, die Versöhnung aller Entzweiun-gen, durch die Macht des philosophischen Gedankenswiederherzustellen. Um an den ersten Punkt meinerDarstellung noch einmal anzuknüpfen: Daß der Begriffder Versöhnung eine echte Gestalt der christlichen Bot-schaft ist, das hat Hegel offenkundig sehr früh empfun-den. Wir besitzen einen Schulaufsatz von HegelsSchulkameraden Hölderlin über das Thema »Jesus alsdas Genie der Versöhnlichkeit«. Das ist ein Thema derAufklärung und alles andere als theologische Orthodo-xie. Wir würden sagen, das könnte Harnack gesagt ha-ben oder sonst ein liberaler Theologe am Ende des 19.Jahrhunderts. Nicht das Theologische daran ist hierwichtig, aber daß Versöhnlichkeit oder Versöhnung einechtes Phänomen menschlicher Geistigkeit ist, ist vonHegel gezeigt worden. Sie liegt auch in der Dialektikdes Selbstbewußtseins. Es gibt keine Freundschaft,keine Ehe, keine Liebesbeziehung, in der nicht durchden Streit und die Versöhnung die innere Vertrautheitvon Menschen miteinander wächst. Dies Geheimnisder Versöhnung ist das Geheimnis der Hegeischen Dia-lektik. Es heißt: Synthesis. Wenn man bestimmen will,

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wodurch Hegel die abschließende Figur der großenTradition der metaphysischen Philosophie gewordenist und was ihn in dieser großen Traditionsreihe aus-zeichnet, so würde ich sagen: er hat die großartigeKonzeption der griechischen Metaphysik auf neuzeitli-chem Boden um die ganze andere Hemisphäre erwei-tert, die die geschichtliche Welt darstellt. Die Großar-tigkeit der griechischen Metaphysik war, daß sie dieVernunft im Kosmos suchte, den Nus, der in allenFormationen der Natur ordnend und unterscheidendam Werk ist. Vernunft in der Natur zu sehen, das wardas griechische Erbe. Hegel hat die Vernunft auch inder Geschichte aufzuzeigen gesucht. Zunächst scheintdas ein maßloses Paradox - nicht nur in unseren Augen,sondern ebenso in den Augen der Hegeischen Zeit - , zubehaupten, daß ausgerechnet der Wirrwarr menschli-cher Dinge mit den ruhigen Bahnen, die die Sterne amHimmel ziehen, den Vergleich aushalten soll. Das wartatsächlich das Vorbild der griechischen Kosmologieund Metaphysik gewesen: die Ordnung des Sonnensy-stems, die bereits die Pythagoräer als mathematisch-musikalisch bestimmte Harmonie erkannt hatten. Daßim Wirrwarr der menschlichen Dinge, in diesem Aufund Ab der Unbeständigkeit, kein Dauerndes sich hält,das war dem 18. Jahrhundert besonders durch das Bei-spiel des Niedergangs des römischen Weltreichs ver-traut. Die großen Geschichtsschreiber und Ge-schichtsdenker des 18. Jahrhunderts waren fast fixiertauf das Thema, wie die antike Oikumene zugrunde ge-gangen ist. Daß in der menschlichen Geschichte sichdennoch eine ähnliche Vernunft durchhalten und mani-

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festieren soll wie in der Natur, das war Hegels kühneThese. Die berühmte Wendung, die er in der Vorredezur »Rechtsphilosophie« formuliert hat und die denSpott aller derer, die nicht denken wollen, auszulösenpflegt, schließt das ein: »Was vernünftig ist, das istwirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig«.Beim ersten Hören wird man das eine unmögliche Be-hauptung finden. Kann man so sich mit gebundenenHänden einer veraltenden Wirklichkeit überliefern undalles Bestehende gut finden? Aber ist das gemeint?Meint Hegel mit »Wirklichkeit« das, was wir bei sol-chem ersten Verständnis dieses Satzes unterstellen?Meint er nicht am Ende - und es ist wohl ganz klar, daßer das meint - , daß auf die Dauer das Unvernünftigenicht wirklich zu bleiben vermag? Ist das so ganz abwe-gig, daß in der Wirklichkeit das Unvernünftige sich aufdie Dauer nicht durchzusetzen vermag, und ist es nichtgeradezu das ungeheuere Phänomen unserer geschicht-lichen Selbsterfahrung, daß der einzelne mit seinen Plä-nen, Tätigkeiten, Hoffnungen, Enttäuschungen undVerzweiflungen tätig und lebendig ist, ohne zu wissen,was er damit am Ende im geschichtlichen Ganzen undfür das gesellschaftliche Ganze ausrichtet und tut? Dasist doch unsere Erfahrung der Geschichte, daß wir alleso sehr in ihr stehen, daß wir in gewissem Sinne immersagen können: wir wissen gar nicht, was mit uns ge-schieht. Genau das ist Geschichte, daß wir nicht wis-sen, was mit uns geschieht, und daß wir trotzdem indies Spiel verwickelt sind, jeder an seinem Platze oder-wie es die Jüngeren besonders empfinden - seinen Platzsuchend und nicht findend, von dem her man tätig und

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verändernd an einer schlechten Wirklichkeit arbeitenkönnte. So meine ich, daß der Satz Hegels »Was ver-nünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das istvernünftig« viel mehr für jeden einzelnen eine Aufgabeformuliert, als daß es für uns alle eine Legitimation dereigenen Untätigkeit ist.An diesen Gedanken knüpft sich nun eine der vielleichtzukunftsvollsten Einsichten Hegels. Hegel hat be-kanntlich den dialektischen Dreischritt: Thesis - Anti-thesis - Synthesis in der Weise an der Weltgeschichtedurchgeführt, daß er die Weltgeschichte als einen Fort-schritt der Freiheit deutete: Wenn im Orient einer freiwar und alle anderen unfrei, und in Griechenland nurdie eigentlichen Bürger der Stadt frei waren, währenddie anderen Sklaven waren, so ist es schließlich durchdas Christentum und die neuzeitliche Geschichte, ins-besondere die Emanzipation des dritten Standes unddie Bauernbefreiung, so weit gekommen, daß alle freisind. Ist damit nicht das Ende der Geschichte eingetre-ten? Kann es in Hegels Augen, nachdem die Freiheit al-ler zutage getreten ist, noch Geschichte geben - undwas ist Geschichte seitdem? In der Tat: Geschichte istseitdem nicht auf ein neues Prinzip zu gründen. DasPrinzip der Freiheit ist unantastbar und unwiderrufbar.Es ist für niemanden mehr möglich, die Unfreiheit vonMenschen noch zu bejahen. An dem Prinzip, daß allefrei sind, kann also nicht wieder gerüttelt werden. Aberheißt das, daß deswegen die Geschichte zu Ende ist?Sind denn alle Menschen frei? Sind überhaupt die Men-schen wirklich frei? Ist nicht die Geschichte seithereben das, daß das geschichtliche Handeln der Men-

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sehen das Prinzip der Freiheit in die Wirklichkeit um-zusetzen hat? Offenkundig ist gerade damit der Welt-geschichte der unendliche Zug ins Offene ihrer künfti-gen Aufgaben gewiesen und nicht etwa eine beruhi-gende Versicherung abgegeben worden, daß imGrunde alles in Ordnung ist.

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Was ist Praxis?Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft

Praxis ist heute durch eine Art Gegensatz zur Theoriebestimmt. Es ist ein antidogmatischer Ton in demWorte Praxis, ein Verdacht gegen die bloß theoretischeAuskenntnis der Unerfahrenen - gewiß ein stets mit-schwingender Gegensatz, den auch die Antike kannte.Aber sein Gegenbegriff, der Begriff Theorie, ist etwasanderes geworden und um seine Würde gekommen.Nichts klingt in diesem Begriff mehr von dem mit, wasTheoria für das an das sichtbare Ordnungsgefüge desHimmels und die Ordnung der Welt und der menschli-chen Gesellschaft weggegebene Auge war. Theorie istzu einem instrumentalen Begriff innerhalb der Wahr-heitsforschung und der Einbringung neuer Erkennt-nisse geworden. Das ist die grundlegende Situation,von der aus sich für uns die Frage »was ist Praxis?«überhaupt erst motiviert: Wir wissen es nicht mehr,weil wir im Ausgang von dem modernen Begriff vonWissenschaft ganz in die Richtung der Anwendung vonWissenschaft gedrängt werden, wenn wir von Praxisreden.Wenn Praxis dergestalt für das allgemeine BewußtseinAnwendung von Wissenschaft ist, was ist dann Wissen-schaft? Welche neue Eigenwendung moderner, neu-zeitlicher Wissenschaft hat dazu geführt, daß Praxis indie.anonyme und fast unverantwortliche, mindestensvon der Wissenschaft unverantwortete Anwendung

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von Wissenschaft umgeschlagen ist? Wissenschaft istnicht mehr ein Inbegriff des Wissens und Wissenswür-digen, sondern ein Weg, ein Weg des Vorwärtskom-mens und Eindringens in unerforschte und deswegennoch unbeherrschte Bereiche. Solcher Vorstoß undFortschritt war nicht zu gewinnen ohne einen primärenVerzicht. Der erste Schöpfer moderner Wissenschaft,Galilei, der Schöpfer der klassischen Mechanik, kanndas illustrieren. Aber welche Kühnheit gehörte dazu,daß Galilei die Gesetze vom freien Fall entwickelt hat,als noch niemand durch Erfahrung einen freien Fall hatsehen können, da das Vakuum ja erstmals erst in nach-galileischer Zeit experimentell hergestellt worden ist.Was der uns so faszinierende Versuch aus dem Schulun-terricht, daß die Bettfeder im Vakuum tatsächlich ge-nauso schnell fallt wie die Bleiplatte, bestätigt, das hatteGalilei in einer enormen Antizipation des Geistes be-reits vorweggeleistet. So hat es Galilei selber beschrie-ben: mente concipio, im Geiste erfasse ich die Idee desfreien Falles, der, nicht durch ein Medium gehemmt,seine reine mathematische Gesetzmäßigkeit in den Re-lationen von Weg und Zeit aussprechen läßt.Damit wurde Wissenschaft eine prinzipiell neue Hal-tung. Im Absehen von dem primär erfahrbaren und ver-traut gewordenen Ganzen unserer Welt entwickelte siesich zu einer Erkenntnis durch isolierende Erforschungbeherrschbarer Zusammenhänge. Ihr Bezug zur prakti-schen Anwendung ist von da her als in ihrem neuzeitli-chen Wesen gelegen zu verstehen. Wenn abstrahierteRelationen zwischen Anfangsbedingungen und End-wirkungen griffig werden, berechenbar werden, so daß

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das Setzen von neuen Anfangsbedingungen eine vor-aussehbare Wirkung hat, dann ist in der Tat durch dieso verstandene Wissenschaft die Stunde der Technikherbeigeführt worden. Die alte Bindung des künstli-chen, handwerklich Gemachten an die in der Natur ge-gebenen Vorbilder ist damit in ein Konstruktionsidealumgeschlagen, in das Ideal einer der Idee nach artifi-ziellgemachten Natur.Das ist es, was am Ende die Zivilisationsgestalt der Mo-derne, in der wir leben, heraufgeführt hat. Das Kon-struktionsideal, das im Wissenschaftsbegriff der Me-chanik lag, ist zu dem ins Ungeheure verlängerten Armgeworden, der unser Maschinenwesen, unsere Umar-beitung der Natur und unseren Ausgriff in den Welt-raum ermöglicht hat.Die immanente Folgerichtigkeit dieses Zusammen-hangs von methodischer Konstruktion und technischerHerstellung wirkt sich zweifach aus : 1. Technik ist, wiedas alte Handwerk auch, auf einen vorentworfenenEntwurf hin bezogen. Das bodenständige Wirtschafts-leben der mittelalterlichen Welt oder der anderenHochkulturen der Menschheit stellte die technischeAnstrengung jeweils unter das Gebot des Verbrau-chers. - Wer letzten Endes für das, was zu machen ist,maßgeblich war, war der Verbraucher. Das ist offen-kundig für die antike Arbeitsweise bestimmend gewe-sen. Wir dagegen sehen mit eigenen Augen, wie in un-serer technisch sich steigernden Zivilisation mehr undmehr Künstliches sich als das neue Angebot, als daskonsumweckende, bedürfnisweckende Fabrikat umuns aufbaut. 2. Was durch diese artifiziell werdende

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Welt sich notwendig verbreitet, ist Flexibilitätsverlustim Umgang mit der Welt. Wer die Technik benutzt -und wer von uns tut es nicht? - , vertraut sich ihremFunktionieren an und ist mithin durch einen primärenFreiheitsverzicht in bezug auf sein eigenes Handeln-Können überhaupt erst in den Genuß dieser erstaunli-chen Bequemlichkeiten und Reichweiten gekommen,die die moderne Technik uns bereitstellt. Zwei Dingehaben sich damit verdunkelt: für wen wird hier gearbei-tet? und wie weit dienen die Leistungen der Technikdem Leben? Von da aus stellt sich auf eine neue Weisedas Problem, das in jeder Zivilisation gestellt ist, dasProblem der gesellschaftlichen Vernunft. Die Techni-sierung der Natur und der natürlichen Umwelt mit allihren weitreichenden Wirkungen steht unter dem TitelRationalisierung, Entzauberung, Entmythologisie-rung, Abbau vorschneller anthropomorpher Korre-spondenzen, und schließlich wird ökonomische Ren-tabilität, ein neues Schwungrad unaufhörlicher Umge-staltung in unserem Jahrhundert, - und das kennzeich-net die Reife oder, wenn man will, die Krisis unsererZivilisation - zu einer immer stärkeren gesellschaftli-chen Macht. Denn erst das 20. Jahrhundert wird durchdie Technik in einer entscheidenden Weise neu be-stimmt, sofern nun langsam die Übertragung des tech-nischen Könnens von der Beherrschung der Natur-kräfte auf das gesellschaftliche Leben einsetzt. Das warretardiert. Es gab im 18. Jahrhundert Propheten derneuen gesellschaftlichen Zukunft, aber die großen tra-genden Kräfte der europäisch-abendländischen Kultur,das Christentum, der Humanismus, das antike Erbe,

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die alten politischen Organisationsformen blieben be-stimmend. Und als mit der Französischen Revolutionein neuer unterer Stand, nämlich der dritte Stand in dasgesellschaftliche Leben bestimmend eindrang, derselbst noch oft in religiösen Bindungen lebte, verzö-gerte sich nochmals die ungehinderte, entschlosseneAnwendung technischen Könnens auf das gesellschaft-liche Leben.Jetzt aber sind wir soweit. Nicht, daß unsere Gesell-schaft von den Technikern der Gesellschaft wirklichganz und gar bestimmt wird. Aber in unserem Bewußt-sein breitet sich die neue Erwartung aus, ob sich nichtdurch sinnvolle Planung eine zweckmäßigere Organi-sation, kurzum Beherrschung der Gesellschaft durchVernunft und gesellschaftlich vernünftigere Verhält-nisse herbeiführen lassen. Das ist das Ideal der Exper-tengesellschaft, in der man sich an den Fachmann wen-det und bei ihm die Entlastung für praktische, politi-sche, ökonomische Entscheidungen, die man zu treffenhat, sucht. Nun ist der Experte wirklich eine unent-behrliche Figur in der technischen Beherrschung vonAbläufen. Er ist an die Stelle des alten Handwerks ge-treten. Aber dieser Experte soll auch die praktische undgesellschaftliche Erfahrung ersetzen. Das ist die Erwar-tung, die die Gesellschaft in ihn setzt und die er in nüch-terner und methodischer Selbsteinschätzung und redli-cher Gesinnung nicht erfüllen kann.Noch verhängnisvoller aber bewirkt die technischeDurchformung unserer Gesellschaft die Technisierungder Meinungsbildung. Das ist heute vielleicht der stärk-ste neue Faktor im gesellschaftlichen Kräftespiel. Die

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moderne Informationstechnik hat Möglichkeiten ge-schaffen, die in ungeahntem Ausmaß die Auswahl vonInformationen nötig machen. Jede Auswahl bedeutetaber Bevormundung. Das kann nicht anders sein. Werauswählt, enthält vor. Wenn er nicht auswählte, wäre esfreilich noch viel schlimmer. Dann würde man durchdie unaufhaltsamen Ströme von Information, die einenüberfluten, um den letzten Rest von Verstand gebracht.Es ist also unausweichlich, daß die moderne Kommu-nikationstechnik zu machtvoller Manipulation der Gei-ster führt. Man kann eine öffentliche Meinung planvollin bestimmte Richtungen lenken und für bestimmteEntscheidungen beeinflussen. Der Besitz der Nach-richtenmittel ist also das Entscheidende - weshalb in je-der Demokratie mehr oder minder ohnmächtige Versu-che gemacht werden, in die Verwaltung und Gestaltungder öffentlichen Nachrichtenmittel Balance und Kon-trolle zu bringen. Daß dies nicht in dem Grade gelingt,daß der Nachrichtenkonsument einer echten Befriedi-gung seines Informationsbedürfnisses sicher sein könn-te, zeigt sich in der steigenden Apathie der Massenge-sellschaft gegenüber den öffentlichen Dingen.Die Steigerung des Informationsgrades bedeutet alsonicht notwendig eine Stärkung der gesellschaftlichenVernunft. Es scheint mir vielmehr, daß gerade hierdas eigentliche Problem liegt: der drohende Identitäts-verlust des Menschen von heute. Wenn der einzelnein der Gesellschaft sich gegenüber ihren technisch ver-mittelten Lebensformen abhängig und ohnmächtigfühlt, dann wird er zur Identifizierung unfähig. Dasaber hat eine tiefe gesellschaftliche Wirkung. Hier

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liegt in meinen Augen die größte Gefahr, in der unsereZivilisation steht: die Privilegierung der Anpassungs-qualitäten.Es ist in einer technischen Zivilisation letzten Endesunvermeidlich, daß nicht so sehr die kreative Potenzdes einzelnen, als seine Anpassungspotenz prämiertwird. Im Schlagwort gesprochen: dre Gesellschaft derExperten ist zugleich auch eine Gesellschaft der Funk-tionäre. Denn das macht den Begriff des Funktionärsaus, daß er sich selber auf die Verwaltung seiner Funk-tion konzentriert. In den wissenschaftlichen, techni-schen, ökonomischen, monetären Prozessen, erst rechtin Verwaltung, Politik usw. hat er sich als der, der er ist,das heißt als der zum Funktionieren dieses ApparatesEingesetzte zu bewähren. Danach wird er ausgesucht,darin liegen seine Aufstiegschancen. Selbst wenn dieDialektik dieser Entwicklung einem jeden fühlbarwird, die besagt, daß immer weniger Menschen Ent-scheidungen treffen und immer mehr Menschen denApparat nur bedienen - die moderne Industriegesell-schaft unterliegt immanentem Sachzwang. Das aberführt zum Verfall der Praxis an die Technik und - nichtdurch die Schuld des Experten - zum Verfallen in ge-sellschaftliche Unvernunft.Was kann in dieser Lage die philosophische Reflexionüber den wahren Sinn von Praxis bedeuten? Ich setze aneinem Punkte an, der vielleicht unerwartet ist, mir aberalles in allem doch der tiefstliegende scheint, weil er denunwandelbaren anthropologischen Hintergrund füralle menschlichen und gesellschaftlichen Veränderun-gen, die hinter uns liegen oder in denen wir stehen, dar-

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stellt. Was ist in der Natur geschehen, als ein Wesen inder Kette der Bildungen der Natur oder der Schöpfungentstand, das aus der Eingefügtheit alles Lebendigen inseine Instinktzüge und in seinen Bezug auf die Erhal-tung der Gattung herausgedreht ist?Der Mensch ist ein Wesen, dessen Lebensinstinkt soverdreht worden ist, daß er gegenüber allem, was wiraus dem Tierreich kennen, eine unbestrittene Beson-derheit besitzt, die auch nicht durch das Studium vonTiergesellschaften und ihre Kommunikationsformen,Solidaritätsformen und Aggressionsformen auch nurim geringsten gemindert wird. Das ist das Hinausden-ken des Menschen über sein eigenes Leben auf derWelt, d. h. das Denken des Todes. Da ist die Bestattungder Toten, vielleicht das Grundphänomen derMenschwerdung. Bestattung meint ja nicht die eiligeVerbergung des Toten, das schnelle Verwischen des er-schreckenden Eindrucks eines plötzlich in einem blei-chen Dauerschlaf Erstarrten. Im Gegenteil wird mit ei-nem ungeheuren Aufwand an menschlicher Arbeit undHingabe das Verweilen beim Toten, ja sein Festhaltenunter den Lebenden betrieben. Wir stehen staunendvordem Reichtum an Weihgeschenken, der uns aus denGräbern aller alten Kulturen ständig neu entgegen-quillt. Weihgaben verbürgen Dasein. Sie lassen denTod nicht wahrhaben. Wir müssen das in seiner grund-sätzlichen Bedeutung sehen. Es geht hier nicht um Re-ligion oder die Umsetzung von Religion in säkulareFormen von Brauchtum, Sitte und dergleichen, son-dern um die Grundverfassung des Menschen, aus dersich der besondere Sinn menschlicher Praxis herleitet:

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daß es sich hier um ein Lebensverhalten handelt, das ausder Ordnung der Natur wie herausgedreht ist. Wiezwanghaft sind die Lebensinstinkte, die wir an den Tie-ren beobachten können, etwa bei Vögeln, wie erstaun-lich das Ausweichen vor dem toten Artgenossen oderdie totale Gleichgültigkeit gegenüber demselben. Dasweist kontrasthaft darauf, daß sich der Mensch gegendie natürlichen Instinkte des Lebens und Weiterlebenszu kehren begonnen hat. Von diesem Ausgangspunkteaus lassen sich wesentliche Züge spezifisch menschli-cher Praxis erkennen. Da ist zunächst die Arbeit. Hegelhat sehr richtig gezeigt, was für eine gewaltige Ver-zichtleistung in der Arbeit liegt. Sie ist gehemmte Be-gierde: wer arbeitet, folgt nicht der unmittelbaren Be-friedigung von Bedürfnissen. So gehört das Produktder Arbeit nie dem einzelnen allein, und insbesondere,wenn die Arbeitswelt durch Arbeitsteilung organisiertist, gehört es der Gesellschaft. Was sich in dieser begin-nenden Gesellschaft als erstes bildet, ist aber Sprache.Was ist Sprache? Wo geht Sprache über die auch stummgelingende Verständigung - wie wir es etwa an Ameisenoder Bienen sehen - hinaus? Aristoteles hat das Ent-scheidende gesehen: ein Wesen, das Sprache hat, istdurch Abstand gegenüber dem jeweils Gegenwärtigenausgezeichnet. Denn Sprache macht gegenwärtig. ImGegenwärtighalten entfernter Ziele wird die Wahl desHandelns im Sinne der Mittelwahl zu gegebenen Zwek-ken getroffen - und darüber hinaus werden die verbin-denden Normen festgehalten, auf die hin sich mensch-liches Handeln als gesellschaftliches entwirft.Darin liegt ein erster Schritt zu dem, was wir Praxis

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nennen. In einem Wesen, dessen Bedürfnisziele kom-plex und widerspruchsvoll geworden sind, kommt esauf besonnene Wahl, richtige Vornahme, richtige Un-terordnung unter gemeinsame Zwecke an. Man denkean die Jägergesellschaften der Frühgeschichte und alldie erstaunlichen Gemeinschaftsleistungen, zu denender Mensch schon damals geschritten war. Derengrößte ist die Stabilisierung der Handlungsnormen imSinne von Recht und Unrecht. Sie erhebt sich auf demHintergrund einer fundamentalen und im Bereich derNatur einzigartigen Instabilität des menschlichen We-sens. Ihr unheimlichster Ausdruck ist das Phänomendes Krieges, das unsere heutige Ethnologie und Prähi-storie besonders bewegt. Es ist, wie es scheint, die ei-genste Erfindung dieses verdrehten Wesens, das manMensch nennt, und erscheint wie ein Widerspruch derNatur in sich selbst, daß sie ein Wesen hervorgebrachthat, das sich so gegen sich selbst kehren kann, daß esplanvoll und organisiert die eigenen Artgenossen über-fällt, ausrottet oder verzehrt.Man muß diese Spannweite des Menschlichen - zwi-schen Totenkult, Rechtspflege und Krieg - im Augebehalten, um den wahren Sinn menschlicher Praxis zuerfassen. Sie erschöpft sich nicht in kollektiv-funktio-naler Anpassung an die natürlichsten Lebensbedingun-gen, wie wir es etwa bei den staatbildenden Tieren fin-den - menschliche Gesellschaft organisiert sich selbstauf eine gemeinsame Lebensordnung hin, so daß jedereinzelne sie als gemeinsame erkennt und anerkennt(und selbst noch im Bruch derselben, im Verbrechen). -Es ist gerade der Überschuß über das zur Er-

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haltung des Lebens Notwendige, das sein Handeln alsmenschliches Handeln auszeichnet.Zwar hat man auch für andere Hervorbringungen derNatur, Pflanzen wie Tiere, allmählich zu erkenen be-gonnen, daß das rationale ideologische Schema derhaushälterischen Natur, die nichts »umsonst« tut, zueng ist. Aber dort, wo das Verhalten bewußte Zweck-mäßigkeit kennt, in der man sich menschlich-vernünf-tig versteht, weil man die Zweckmäßigkeit der Mittelzu gemeinsam gewünschten Zwecken einsieht, gewinntder Bereich all dessen, was über Nützlichkeit, Brauch-barkeit, Zweckmäßigkeit hinausgeht, eine eigene Aus-zeichnung. Wir nennen dergleichen »schön« in demselben Sinne, in dem die Griechen Kalon sagten: dasmeinte nicht nur die Schöpfungen der Kunst und desKults, die jenseits alles Notwendigen stehen, sondernumfaßt all das, worin man sich fraglos versteht, da eswünschbar ist, ohne einer Rechtfertigung seinerWünschbarkeit unter Gesichtspunkten seiner Zweck-mäßigkeit fähig oder bedürftig zu sein. Das nannten dieGriechen Theoria: Weggegeben-Sein an etwas, das sichin seiner überwältigenden Präsenz allen gemeinsamdarbietet und dadurch ausgezeichnet ist, daß es im Ge-gensatz zu allen anderen Gütern durch Teilung nichtweniger wird und deswegen umstritten ist wie alle Gü-ter sonst, sondern durch Teilhabe gewinnt. Das ist amEnde die Geburt des Vernunftbegriffs: je mehr sich al-len überzeugend Wünschbares für alle darstellt, je mehrsie sich in diesem Gemeinsamen wiederfinden, destomehr haben die Menschen im positiven Sinne Freiheit,d. h. wahre Identität mit dem Gemeinsamen.

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Aber was sind das für alte Geschichten und wie sieht dieWirklichkeit aus, in der wir heute stehen? Wo habenwir solche Verklärung in der Gemeinsamkeit der Le-bensformen unserer Gesellschaft? Und hat es die über-haupt je gegeben? Wie war es denn damals, wenn manan die Schrecklichkeiten der Sklaverei denkt? und er-wächst nicht in jedem Fall aus der Notwendigkeit derArbeitsteilung und aus der notwendigen Unterschied-lichkeit der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung eineunvermeidliche Einschränkung solcher Gemeinsam-keit, wie sie sich nicht im »naturwüchsigen« Verhältnisvon Herrschaft und Dienst zeigte? Liegt es nicht in derNatur der Sache, daß dieses Verhältnis sich in das Ver-hältnis von Herrschaft und Knechtschaft verkehrt?Von den reflektiertesten unter den Kritikern unsererGesellschaft wird dies heute als Ideologieverdacht for-muliert. Geht es nicht bei aller angeblichen Gemein-samkeit um Interessen der Herrschaft, die sich mit of-fener Gewalt durchgesetzt hat und nun dieselbe imNamen der Freiheit und als freiheitliche Verfassung de-klariert? Die Neomarxisten nennen das die verzerrteKommunikation. Auch die Sprache, die das eigentlichGemeinsame und Kommunikative darstellt, sei vonHerrschaftsinteressen deformiert. Es wird als Ziel deremanzipatorischen Reflexion, d. h. der vollendetenAufklärung erklärt, diese Nichtidentität, dieses Sich-nicht-Verstehen in dem, was als gemeinsame Weltsprachlich kommuniziert wird, aufzuheben und zurWiederidentität zu gelangen. Die emanzipatorische Re-flexion soll das dadurch leisten, daß sie bewußtmachtund indem sie bewußtmacht, aufhebt, was als trennend

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und blockierend den eigentlichen Kommunikations-fluß einer Gesellschaft auf das Gemeinsame zu hindert.Das ist der Anspruch der Ideologiekritik.Für das, was sie zu leisten verspricht, wird als Modellvon dieser Seite immer wieder auf die Psychoanalyseverwiesen, d. h. auf die psychoanalytische Aufhebungvon solchen Identitätsverlusten.Es ist nun der Anspruch der Ideologiekritik, daß mandas auch in Staat und Gesellschaft leisten könne. DurchReflexion, durch Vollendung der Aufklärung, im ge-waltlosen Gespräch seien die Repressionen und gesell-schaftlichen Deformationen abzubauen - mit dem Zie-le, wie es etwa Habermas formuliert, der kommunika-tiven Kompetenz, so daß man wieder imstande ist -über alle Unterschiede hinweg - zu kommunizieren,miteinander zu sprechen und durch Einsicht zu Einver-ständnis zu gelangen.Das Modell der Psychoanalyse reicht freilich nicht soweit wie der ideologiekritische Anspruch. Das Modellder Psychoanalyse zielt ja auf den Wiederanschluß desGestörten an eine bestehende kommunikativ verbun-dene Gesellschaft. Das zeigt sich darin, daß Psychoana-lyse die Krankheitseinsicht des Patienten voraussetzt.Niemals wird eine psychoanalytische Behandlung Er-folg haben, wenn jemand widerstrebend und widerwil-lig und ohne sich in wirklich echter Hilflosigkeit zuwissen, diesen Weg geht. Das Modell ist also nur soweittragfähig, als es sich auch da um die Wiederherstellungvon gestörten kommunikativen Gemeinschaftsbedin-gungen handelt.Das hat in meinen Augen eine positive und eine nega-

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tive Seite, ich würde zunächst nur sagen: die ideologie-kritische Arbeit hat dialektische Struktur, sie ist bezo-gen auf bestimmte gesellschaftliche Bedingungen, aufdie sie korrigierend und abbauend wirkt. Sie gehört alsoselbst in den gesellschaftlichen Prozeß, den sie kriti-siert. Das ist ihre unaufhebbare Voraussetzung, diedurch keinen Wissenschaftsanspruch ersetzt werdenkann. Das gilt am Ende auch von der Psychoanalyse.Mag immer in der psychoanalytischen Therapie eintechnisch-wissenschaftliches Können eingesetzt wer-den - es ist immer auch ein Moment echter Praxis dabei.Hier wird nicht etwas »gemacht« oder durch Kon-struktion hergestellt, auch nicht die Lebensgeschichtedes Patienten. Die konstruktiven Angebote des Thera-peuten müssen ja durch Eigenreflexion des Patientenakzeptiert werden. Das geht weit über jeden techni-schen Prozeß hinaus, sofern es den Patienten in seinerganzen gesellschaftlichen und seelischen Verfassung infreie, spontane Arbeit an seiner eigenen Heilung ver-setzt.Einen indirekten Bezug auf den echten Begriff von Pra-xis enthält auch die Utopie. Hier ist es vollends klar:Utopie ist ein dialektischer Begriff. Utopie ist nicht derEntwurf von Handlungszielen. Das Charakteristischeder Utopie ist vielmehr, daß sie gerade nicht bis an denMoment der Handlung, das »hier und jetzt ist Handanzulegen« führt. Das gerade nicht. Eine Utopie ist da-durch definiert, daß sie (wie ich es einmal genannthabe), eine Form der Anzüglichkeit aus der Ferne ist.Sie ist nicht primär Handlungsentwurf, sondern Ge-genwartskritik. Das läßt sich bei den Griechen lernen.

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Sie haben das vorgemacht. Was Plato in seiner Politeia,was er in seinen Gesetzen etwa vorführt, was wir alsZeugnis einer ganzen Literaturgattung der Utopie beiden Griechen aus anderen Spuren kennen oder wovonwir wissen, ist dadurch bestimmt, daß es an einem oftbis ins Groteske verzerrten Bilde Einsicht in die Ge-genwart und ihre Schwächen vermittelt. Man denkeetwa an die Rolle, die die Weiber- und Kinder-Gemein-schaft in der platonischen Politeia spielt, eine provozie-rende Erfindung, in der offenbar Plato mit einer sehrdeutlichen Adresse an die retardierende Funktion vonFamiliendynastien im gesellschaftlichen Leben dergriechischen Polis hinblickt. Es scheint mir naiv, wennman den Utopiecharakter der Platonischen Schriftenmöglichst zu mildern sucht, indem man sagt: Aber ei-niges könnte doch immerhin auch verwirklicht werden.Es soll sogar alles verwirklicht werden, nur nicht geradedurch die Zwangsordnung, die Plato da vorschreibt.Es soll vielmehr echte Solidarität, echte Gemeinsamkeitverwirklicht werden. Die Quintessenz seiner Erkennt-nis war, daß nur Freundschaft mit sich selbst Freund-schaft mit anderen möglich macht. Es wäre eine langeGeschichte, wie Plato das auch in seinem praktischenpolitischen Leben als Berater bei jenem unseligen sizi-lianischen Abenteuer gezeigt hat, über das wir durchseine Sendschreiben, insbesondere den 7. Brief, so gutinformiert sind. Die platonische Utopie soll hier nureine begriffliche Unterscheidung greifbar machen: denUnterschied zwischen Wünschen und Wählen. Es defi-niert das Wünschen, daß es die Vermittlung mit demTunlichen schuldig bleibt. Das in Wahrheit ist Wün-

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sehen. Damit ist nichts gegen das Wünschen gesagt. Ichmeine sogar, daß Ortega y Gasset vermutlich recht hat,wenn er sagt: Die Technik wird an dem Mangel anPhantasie, an Kraft des Wünschens zugrunde gehen.Es ist die schöpferische Fähigkeit des Menschen, Wün-sche zu erfinden und dann die Wege zu ihrer Befriedi-gung zu suchen. Aber das ändert nichts daran, daßWünschen nicht Wollen, nicht Praxis ist. Zur Praxisgehört wählen, sich für etwas und gegen etwas ent-scheiden, und darin ist eine praktische Reflexion wirk-sam, die in sich selber in höchstem Maße dialektisch ist.Wenn ich etwas will, dann setzt eine Reflexion ein,durch die ich mir die Erreichbarkeit in einem analyti-schen Prozeß vor Augen führe: wenn ich das und daswill, dann muß ich das und das haben, wenn ich das unddas haben will, dann muß ich das und das haben . . . sokomme ich schließlich bis zu dem zurück, was bei mirsteht, wo ich selber Hand anlegen kann. Mit Aristoteleszu sprechen: Der Schluß des praktischen Syllogismus,der praktischen Überlegung ist der Entschluß. DieserEntschluß aber und der ganze Weg der Reflexion vondem Gewollten zu dem Zu-Tuenden ist zugleich eineKonkretisierung des Gewollten selber. Denn prakti-sche Vernunft besteht nicht nur darin, daß einer einenZweck, den er für gut hält, auf seine Erreichbarkeit hinreflektiert und das Tunliche tut. Aristoteles unterschei-det sehr ausdrücklich die bloße Findigkeit, die zu ge-setzten Zwecken mit einer übersinnlichen Geschick-lichkeit die rechten Mittel findet, das heißt, sich überallherauslügt, überall herausbetrügt, überall herausredet.Solche hochstaplerische Scharfsichtigkeit ist keine

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wirkliche »praktische Vernunft«. Bei dieser geht es umetwas, was sich gegen jede technische Rationalität ab-grenzt, nämlich darum, daß das Ziel selber, das »All-gemeine« durch das Einzelne seine Bestimmtheit ge-winnt. Das kennen wir in manchen Bereichen unserergesellschaftlichen Erfahrung. Wir kennen es zum Bei-spiel aus der Jurisprudenz aller Zeiten. Was das Gesetzvorschreibt, was ein Fall des Gesetzes ist, das ist nur inden Augen lebensgefährlicher Formalisten eindeutigbestimmt. Rechtsfindung heißt, den Fall und das Ge-setz so zusammenzudenken, daß dabei das eigentlicheRechte oder das Recht konkretisiert wird. Oft ist daherdie Judikatur, das heißt die gefällten Entscheidungen,in den Rechtssystemen wichtiger als die allgemeinenGesetze, nach denen die Entscheidungen getroffenwerden; mit Recht insofern, als der Sinn eines Allge-meinen, einer Norm, sich nur in der Konkretion unddurch sie wirklich rechtfertigt und bestimmt. Nur soerfüllt sich auch der praktische Sinn der Utopie. Auchsie ist keine Handlungsanweisung, sondern eine Refle-xionsanweisung.Das sind charakteristische Formen von »Praxis«. Man»handelt« nicht, indem man nach freiem eigenen Gut-dünken Pläne ausführt, sondern hat es miteinander zutun und bestimmt die gemeinsamen Angelegenheitendurch sein Tun mit.Praxis beruht also gewiß nicht auf einem abstraktenNorm-Bewußtsein allein. Sie ist immer schon konkretmotiviert, zwar voreingenommen, aber auch zur Kritikan Voreingenommenheiten aufgerufen. Wir sind im-mer schon durch Konventionen beherrscht. In jeder

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Kultur gilt eine Reihe von ihrem eigenen Bewußtseinvöllig entzogenen Selbstverständlichkeiten, und selbstin der allergrößten Auflösung von Herkommensfor-men, Sitten und Gewohnheiten ist es nur verborgen, inwelchem Grade noch immer Gemeinsamkeiten alle be-stimmen. Das ist in Hegels Lehre von der bestimmtenNegation grundsätzlich erkannt, aber erscheint mireine sehr wichtige, in unsrer Zeit nicht zuletzt durchden Historismus und alle möglichen relativistischenTheoreme verdeckte Einsicht. Man mag vielleicht fra-gen: Ist diese vielleicht vorhandene Restgemeinsamkeitgenug, aufgrund deren Staat und Gesellschaft über-haupt nur existieren können - etwa, daß vor Gericht einZeuge mitunter noch die Wahrheit sagt, weil er dieRechtsordnung achtet, auch wenn ihn kein religiössanktionierter Eid mehr bindet? usw. Wenn das dasGanze ist, was einem durch die Besinnung auf »Praxis«wieder bewußt werden soll, ist das nicht zu wenig?Aber vielleicht ist das eine zu negative Perspektive.Vielleicht ist die Verbindlichkeit von Praxis und damitdie Wirksamkeit gesellschaftlicher Vernunft »in derPraxis« noch immer weit großer, als die Theorie meint?Zwar sieht es zunächst so aus, als erlägen wir in unse-rem wirtschaftlich-gesellschaftlichen System einerRationalisierung aller Lebensverhältnisse, die imma-nentem Sachzwang folgt, so daß wir immer weiter er-finden, immer weiter unsere technische Aktivität stei-gern, ohne daß wir sehen, wie aus diesem Teufelskreisherauszukommen ist. Weitblickende Leute halten dasbereits für die Todeslinie, der die Menschheit entge-gengeht. Aber es gibt noch andere, gemeinsame Erfah-

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rungen in dieser im Profitstreben atomisierten Gesell-schaft, an denen die Grenzen des Machen-Könnens al-len bewußt zu werden vermögen. Ich erinnere etwa anden genetischen Schauder, an die Welle von Erschrek-ken, die durch die Welt ging, als das CIBA-Kollo-quium, das über die Züchtungsmöglichkeiten auf gene-tischem Felde ausgetragen wurde, in die Öffentlichkeittrat. War es ein sittliches Bewußtsein - oder was war esfür ein Erschrecken darüber, daß auf genetischem Wegeeine Art Übermensch gezüchtet werden und diese Ge-sellschaft in das Arbeitsbienendasein für solche Droh-nen verwandelt werden könnte? Oder nehmen wir einanderes Phänomen, die Gehirnwäsche. Ich erinneremich noch aus den frühen dreißiger Jahren, wie die Sta-linschen Gehirnwaschprozesse im allgemeinen Be-wußtsein mit einer Art fernen Grauens angesehen wur-den, man zur Erklärung auf Drogen geriet oder andereManipulationen, mit denen solche Umdrehung desBewußtseins erzielt wird.Heute ahnen wir voller Bestürzung, daß die universaleTendenz zum Konformismus, die sich in unserer Weltwie in jeder menschlichen Gesellschaft zeigt, die natür-liche, aber freilich unheimliche Ursache einer solchenUmdrehmöglichkeit lang eingewurzelter Überzeu-gungen zu sein vermag. Vor solchem Machen-Könnenweichen wir auch hier nicht ohne Schauder zurück.Oder nehmen wir ein Drittes: die Demokratie. Was istdas für eine Demokratie, die von den photogenen Vor-zügen des Präsidentschaftskandidaten abhängt? Auchwenn man zugeben mag, daß keiner dadurch allein Prä-sident wird, daß er photogen ist, aber daß es eine Be-

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dingung sein kann, ohne die es nicht geht - fragen wiruns da nicht besorgt, ob das die echte Erfüllung despraktisch-politischen Sinnes von Demokratie sei. Odernehmen wir ein letztes, sehr unheimliches Problem un-serer technischen Welt: die Sterbensverlängerung. Esstellt eine Überforderung des Arztes von heute dar, daßer, entgegen seinem hippokratischen Eid, sterben»läßt«. Er kann endlos lange eine sinnlose, maschinellgestützte vegetative Funktion des Organismus fortset-zen. Aber irgendwann muß er den Mut aufbringen und,wie ich aus vielen Gesprächen mit verantwortlichenÄrzten sagen kann, die ihn quälende Verantwortungauf sich nehmen, zu sagen: jetzt Schluß!Aber hinter all diesen Beispielen steht eine allgemeinereErfahrung, die als ganze an unsere praktische Vernunftappelliert, indem sie die Grenzen unserer technischenRationalität bewußtmacht: die ökologische Krise. Siebesteht darin, daß ein potentielles Wachstum unsererWirtschaft und Technik auf dem Wege, auf dem wirsind, in absehbarer Zeit zu der Verunmöglichung desLebens auf diesem Planeten führt.Wie alle Kenner dieser Dinge einem sagen, ist das so si-cher wie etwa der errechnete Zusammenstoß mit einemgroßen Himmelskörper, der zu dem kosmischen Endedieses Planeten als Lebensraum führen würde. Nunverdanken wir diese erste tragende Einsicht selber derWissenschaft, und ihr verdanken wir noch weit mehr.Wir leben schließlich nicht mehr im Zeitalter der Me-chanik mit ihrem riesig ausgestreckten Arm, sondernwir leben im Zeitalter der Reglersysteme, der Kyberne-tik, der Selbstkontrolle von Systemen. Wir beginnen,

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durch die wissenschaftliche Aufklärung unserer Zeitzu lernen, daß es Gleichgewichtsbedingungen undGleichgewichtslagen gibt, auf deren Aufrechterhaltunges ankommt. Diese Einsicht ist zwar vorläufig noch aufsehr begrenzte Teilaspekte unseres Daseins beschränktund noch nicht bis zum führenden Modell unsererWelterfahrung aufgestiegen, aber was sich hier ankün-digt, ist jedenfalls mehr als ein technisches Problem.Die geschlossene Werkstatt der Erde ist am Ende dasSchicksal aller. Vielleicht dringt dies Bewußtsein lang-sam auf dem Wege über die Politik weiter vor. Manbraucht sich da gar nichts vorzumachen: Nixon hattesicherlich bestimmte innenpolitische Gründe, in einembestimmten Augenblick die ökologische Krisis zumpolitischen Kampfmittel zu machen, und hätte es nichtohne solche Absichten getan. Schadet nicht, die List derVernunft geht krumme Wege. Immerhin ist die Sache indas gesellschaftliche Bewußtsein der Industrievölkerdadurch eingedrungen.Nun weiß ich wohl: was helfen die Industrievölker undinsbesondere die eines Wirtschaftsblockes ohne dasMitgehen der anderen Industrievölker? Und wie hoff-nungslos es ist, einem unterentwickelten Lande dieSchaudermär von einer überentwickelten Technik auchnur klarzumachen, habe ich an manchen Beispielen sel-ber erlebt.Wir sind noch weit entfernt von dem gemeinsamen Be-wußtsein, daß es um das Schicksal aller auf dieser Erdegeht und daß niemand überleben kann, so wenig wie beisinnlosem Einsatz von Atomzerstörungswaffen, wennnicht die Menschheit im Laufe einer vielleicht noch vie-

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le, viele Krisen und viele, viele Leiden bringenden Er-fahrungsgeschichte eine neue Solidarität - aus Not -wiederfinden lernt. Niemand weiß, wieviel Zeit wirnoch haben. Aber vielleicht ist der Grundsatz gesund:zur Vernunft ist es nie zu spät. Auch darf man den Zeit-berechnungen von Krisenpropheten niemals glauben.Solche Berechnungen hängen von zu vielen Unbekann-ten ab, als daß man zuverlässige Aussagen erwartenkann, und man kann sich, wenn einen gelegentlich garzu pessimistische Informationen bedrücken, mit derErinnerung an die Zeit nach Erfindung der Eisenbahntrösten. Damals sagten die Psychiater, Ärzte usw.übereinstimmend voraus, daß mit diesem mörderi-schen Gerüttel des neuen Transportmittels die seelischeGesundheit der Menschheit zerstört werden würde.Wäre das wahr gewesen, wären wir längst alle verrückt.Vielleicht haben wir auch jetzt etwas Zeit.Man wird das vielleicht einen traurigen Trost finden.Aber ich meine gar nicht, daß das alles ist: es ist ein er-stes, nämlich ein erstes Bewußtsein von Solidarität.Gewiß, lediglich aus Not. Aber ist das ein Einwand?Spricht es nicht eher für das Vorhandensein eines fun-damentum in re? Auch eine Solidarität aus Not kannandere Solidaritäten wieder aufdecken.So wie wir in dem überreizten Fortschrittsprozeß unse-rer technischen Zivilisation blind sind für die stabilen,unveränderlichen Elemente unseres gesellschaftlichenZusammenlebens, so könnte es auch mit dem wieder-erwachenden Solidaritätsbewußtsein einer Menschheitwerden, die langsam anfängt, sich als Menschheit zuwissen, das heißt, zu wissen, daß sie auf Gedeih und

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Verderb zusammengehört und das Problem ihres Le-bens auf diesem Planeten lösen muß. Und da glaube ichnun freilich an Wiederaufdeckung von Solidaritäten,die in eine Zukunftsgesellschaft der Menschheit einge-hen könnten: ich sehe gewisse Züge der lateinischenWelt, die sich mit einer erstaunlichen Widerstandskraftgegen die industrielle Profitisierung zur Wehr setzt,eine Heiterkeit des natürlichen Lebens, die uns in südli-chen Ländern begegnet wie eine Art Beweisstück fürein stabileres Zentrum von Glück und Genußfähigkeitdes Menschen. Ich frage mich, ob nicht in den fremdenHochkulturen, die jetzt langsam von der europä-isch-amerikanischen Zivilisation technisch überzogenwerden, also China, Japan, Indien vor allem, aus derreligiösen und gesellschaftlichen Tradition ihrer jahr-tausendealten Kultur unter der Decke des europäischenZimmers und des amerikanischen Jobs noch manchesfortlebt, das in der Not vielleicht neue verbindende undgemeinsame Solidaritäten wieder bewußt macht, diepraktische Vernunft sprechen lassen.Und am Ende glaube ich, daß auch die bürgerliche Ge-sellschaft noch einen Beitrag zu leisten hat. Ich meinedas nicht im Sinne der Herrschaft einer sozialen Klasseund ihrer Standesideale. Was durch die bürgerliche Ge-sellschaft als Kulturerbe des Abendlandes in die künf-tige Weltzivilisation eingeht, mag heute noch in mehroder minder bürgerlichen oder kleinbürgerlichen For-men des Genusses und der Kompensationsformen füreine drückende Wirklichkeit bestehen. Aber die Listder Vernunft geht krumme Wege. Es könnte sein, daßauch von dem, was uns aus einer langen antiken und

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christlichen Geschichte als Leitbild von Humanitäteingeprägt worden ist, noch mehr lebt und zum Selbst-bewußtsein zurückkehren kann, als wir heute sehen.Und so möchte ich als eine Art Antwort auf die Frage:Was ist Praxis? zusammenfassen: Praxis ist Sich-Ver-halten und Handeln in Solidarität. Solidarität aber istdie entscheidende Bedingung und Basis aller gesell-schaftlichen Vernunft. Es gibt ein Wort von Heraklit,dem »weinenden« Philosophen: Der Logos ist allengemeinsam, aber die Menschen benehmen sich, alshätte ein jeder seine Privatvernunft. Muß das so blei-ben?

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Hermeneutik als praktische Philosophie

Hermeneutik ist an sich eine alte Sache. Aber seit etwa15 Jahren hat sie eine neue Aktualität gewonnen. Wennwir diese Aktualität würdigen und uns die Bedeutungder Hermeneutik und ihrer Beziehung zu den zentralenProblemen der Philosophie und Theologie klarmachenwollen, müssen wir den geschichtlichen Hintergrundausarbeiten, vor dem sich das hermeneutische Problemzu seiner neuen Aktualität erhob, und das heißt, wirmüssen verfolgen, wie sich die Hermeneutik von einemspeziellen und okkasionellen Anwendungsgebiet in dasweite Feld philosophischer Fragestellungen hinein ge-weitet hat.Man versteht unter Hermeneutik die Theorie oder dieKunst der Auslegung, der Interpretation. Der dafürübliche deutsche Ausdruck des 18. Jahrhunderts,>Kunstlehre<, ist eigentlich eine Übersetzung des grie-chischen >Techne< und rückt die Hermeneutik mit sol-chen >Artes< wie Grammatik, Rhetorik und Dialektikzusammen. Doch verweist der Ausdruck >Kunstlehre<in Wahrheit noch auf eine andere als diese spätantikeBildungstradition, nämlich auf die von weither kom-mende und heute nicht mehr wirklich lebendige Tradi-tion der aristotelischen Philosophie. In ihr gab es einesogenannte philosophia practica (sive politica), die biszum Ende des 18. Jahrhunderts noch fortlebte. Sie bil-

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dete den systematischen Rahmen aller >Künste<, sofernsie alle im Dienste der >Polis< stehen.Um uns in die Mitte der Probleme zu versetzen, müssenwir die Begriffe, die in diesen Namengebungen stecken,einer begriffsgeschichtlichen Reflexion unterziehen.Da ist zunächst das Wort >Philosophie< selbst. Es hatteim 18. Jahrhundert nicht den ausschließlichen Sinn,den wir damit verbinden, wenn wir Philosophie vonWissenschaft unterscheiden und allenfalls darauf beste-hen, daß auch sie eine Wissenschaft - oder gar die Kö-nigin der Wissenschaften - sei. Philosophie heißt viel-mehr nichts anderes als >Wissenschaft<. Aber als >Wis-senschaft< galt damals nicht nur die auf den neuzeitli-chen Methodenbegriff begründete, Mathematik undMessung handhabende Forschung, sondern alle Sach-kunde und Wahrheitserkenntnis war mitgemeint, auchsoweit sie nicht durch den anonymen Prozeß erfah-rungswissenschaftlicher Arbeit erworben wurde. So istauch in dem aristotelischen Ausdruck >praktische Phi-losophie< mit >Philosophie< >Wissenschaft< in jenem all-gemeinen Sinne gemeint, zwar als ein mit Beweisen ar-beitendes und Lehre ermöglichendes Wissen, abernicht von der Art der Wissenschaft, die den Griechendas Vorbild theoretischer Erkenntnis (επιστήμη) war:die Mathematik. >Praktisch< heißt diese Wissenschaftim betonten Gegensatz zur theoretischen Philosophie,welche >Physik<, das heißt das Wissen von der Natur,>Mathematik< und >Theologie< (oder erste Wissen-schaft, das heißt Metaphysik) umfaßte. Da der Menschein politisches Wesen ist, gehörte zur praktischen Phi-losophie als ihre oberste die politische Wissenschaft,

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die als die sogenannte >klassische Politik< bis ins 19.Jahrhundert hinein gepflegt wurde. Der moderne Ge-gensatz von Theorie und Praxis nimmt sich auf diesemHintergrund etwas seltsam aus. Denn der klassischeGegensatz war letzten Endes ein Gegensatz des Wis-sens, nicht der Gegensatz zwischen Wissenschaft undAnwendung der Wissenschaft.Darin liegt zugleich, daß auch der ursprüngliche Begriffder Praxis anders strukturiert war. Um ihn wieder zuerfassen und den Sinn der Tradition der praktischenPhilosophie zu verstehen, muß man ihn aus der gegen-sätzlichen Beziehung zur >Wissenschaft< ganz heraus-drehen. Nicht einmal der Gegensatz zu >Theoria<, dergewiß in der Aristotelischen Einteilung der Wissen-schaften liegt, ist hier wirklich bestimmend, wie schonder schöne Satz des Aristoteles beweist, daß wir dieje-nigen im höchsten Maße >tätig< nennen, die allein durchihre gedankliche Leistung bestimmend sind. (Pol.1325 b 21 ff.). Die Theoria ist selber eine Praxis (πράξιςτις).

Das klingt nur für moderne Ohren wie ein Sophisma,weil nur für uns die Bedeutung von Praxis durch dieAnwendung von Theorie und Wissenschaft bestimmtist - mit all den ererbten Konnotationen von >Praxis<,die solcher Anwendung der reinen Theorie Unreinheit,Halbheit, Akkomodation oder Kompromiß nachsa-gen. In sich ist das ganz richtig, und insbesondere Platohat uns diesen Gegensatz in seinen Staatsschriften be-ständig eingeschärft. Die unaufhebbare Scheidung, diezwischen der reinen idealen Ordnung und der getrüb-ten und gemischten Sinnenwelt besteht und die Piatos

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Lehre von der Idee beherrscht, ist jedoch nicht mit demVerhältnis von Theorie und Praxis im griechischenSinne identisch. Das Begriffsfeld, in dem Wort und Be-griff Praxis ihren eigentlichen Ort haben, ist nicht pri-mär durch den Gegensatz zur >Theorie< und als eineAnwendung von Theorie bestimmt. >Praxis< formuliertvielmehr, wie insbesondere Joachim Ritter in seinenArbeiten gezeigt hat, die Verhaltensweise des Lebendi-gen in weitester Allgemeinheit. Praxis als Lebendigkeitsteht zwischen Tätigkeit und Befindlichkeit. Sie ist alssolche nicht auf den Menschen beschränkt, der alleinaus freier Wahl (Prohairesis) tätig ist. Vielmehr meintPraxis den Lebensvollzug (Energeia) des Lebendigenüberhaupt, dem ein >Leben<, eine Lebensweise, ein Le-ben, das in gewisser Weise geführt wird (Bios), ent-spricht. Auch Tiere haben Praxis und Bios, das heißteine Lebensweise.Freilich ist hier ein entscheidender Unterschied zwi-schen Tier und Mensch. Die Lebensweise des Men-schen ist nicht von Natur so festgelegt wie die der ande-ren Lebewesen. Das drückt der ihm allein zukom-mende Begriff der >Prohairesis< aus. Prohairesis meintVornahme und vorgängige Wahl. Wissentlich das einedem anderen vorzuziehen und bewußt zwischen Mög-lichkeiten zu wählen, ist die alleinige und besondereAuszeichnung des Menschen. Der aristotelische Begriffder Praxis bekommt nun noch einen spezifischen Ak-zent, sofern er auf den Status des freien Bürgers in derPolis angewandt wird. Dort ist menschliche Praxis imeminenten Sinne des Wortes. Sie ist durch >Prohairesis<des >Bios< ausgezeichnet. Die freie Entscheidung orien-

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tiert sich an leitenden Vorzugsordnungen der Lebens-führung, sei es an Genuß oder an Macht und Ehre oderan Erkenntnis. Daneben begegnen in der politischenVerfaßtheit des menschlichen Zusammenlebens nochandere Unterschiede der Lebensführung, zwischenMann und Frau, Greis und Kind, Abhängigen und Un-abhängigen (was damals vor allem den Unterschied vonSklaven und Freien meinte). Das alles ist >Praxis<. Praxisist also hier nicht länger das Naturhafte einer Verhal-tensweise, wie bei den Tieren, die in die Züge eingebo-rener Lebensinstinkte eingelassen sind. Insbesonderedie sophistische Aufklärung bestand darauf, daß die>Arete< des Menschen in all diesen Fällen eine verschie-dene sei - wenn auch auf die ganze, auf Wissen undWählen beruhende >Arete< erst im freien Stande des Po-lisbürgers sich vollendet.Da >Praxis< diesen weiten Bedeutungsbereich ein-schließt, ist die wichtigste Abgrenzung, die der Begriffder Praxis bei Aristoteles erfährt, nicht die von dertheoretischen Wissenschaft, die sich als eine Art höch-ster Praxis aus dem weiten Bereich menschlicher Le-bensmöglichkeiten erhebt, als die Abgrenzung gegendas auf Wissen beruhende Herstellen, die Poiesis, diefür das Leben der Polis die Ökonomische Basis darstellt.Insbesondere, wenn es sich nicht um »niedere«, »ba-nausische« Künste handelt, sondern um solche, die einfreier Mann ohne Disqualifikation betreiben kann, ge-hört solches Wissen und Können zu seiner »Praxis«,ohne doch praktisches Wissen< im praktisch-politi-schen Sinne zu sein. So ist die praktische Philosophievon der Grenzziehung bestimmt, die zwischen dem

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praktischen Wissen des frei Wählenden und dem ge-lernten Können des Fachmanns, das Aristoteles >Tech-ne< nennt, besteht. Praktische Philosophie hat es nichtmit den erlernbaren Handwerkskünsten und Fertig-keiten als solchen zu tun, so wesentlich auch der Anteilsolchen menschlichen Könnens für das Gemeinschafts-leben der Menschen ist, sondern mit dem, was einemjeden als Bürger zukommt und was seine >Arete< aus-macht. Die praktische Philosophie muß daher die Aus-zeichnung des Menschen, Prohairesis zu haben, zumBewußtsein erheben, sei es als Ausbildung der mensch-lichen Grundhaltungen solchen Vorziehens, die denCharakter der >Arete< haben, sei es als die alles Han-deln leitende Klugheit der Besinnung und Ratfindung.Auf alle Fälle muß sie auch den Gesichtspunkt, unterdem etwas einem anderen vorzuziehen ist, also den Be-zug auf das Gute, von ihrem Wissen aus mitverantwor-ten. Da aber das Wissen, das das Handeln leitet, seinemWesen nach von der konkreten Situation gefordertwird, in der es das Tunliche zu wählen gilt, ohne daßeine erlernte und beherrschte Techne einem die eigeneÜberlegung und Entscheidung ersparen kann, so istauch die praktische Wissenschaft, die auf dieses prakti-sche Wissen gerichtet ist, weder theoretische Wissen-schaft im Stile der Mathematik, noch Fachwissen imSinne der wissenden Beherrschung von Arbeitsgängen,>Poiesis<, sondern eine Wissenschaft eigener Art. Siemuß sich aus der Praxis selbst erheben und mit all dentypischen Allgemeinheiten, die sie bewußt macht, aufdie Praxis zurückbeziehen. Das macht nun in der Tatden spezifischen Charakter der aristotelischen Ethik

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und Politik aus. Es ist nicht nur so, daß ihr Gegenstandstets wechselnde Situationen und Verhaltensweisensind, die man natürlich nur in ihrer allgemeinen Regel-haftigkeit und Durchschnittlichkeit überhaupt zur Er-kenntnis erheben kann. Den Charakter wirklicher Er-kenntnis hat solches lehrbare Wissen typischer Struktu-ren auch umgekehrt nur dadurch, daß es - wie dieTechne, die Kunstlehre stets - immer wieder in diekonkrete Situation der Praxis umgesetzt wird. Prakti-sche Philosophie ist also gewiß >Wissenschaft<, dasheißt ein Wissen im allgemeinen, das als solches lehrbarist, aber es ist doch eine unter Bedingungen stehendeWissenschaft. Sie fordert vom Lernenden den gleichenunlöslichen Praxisbezug wie vom Lehrenden. Insofernsteht sie dem Fachwissen der Techne zwar nahe, aberwas sie grundsätzlich von ihm trennt, ist, daß sie auchdie Frage nach dem Guten, zum Beispiel nach der be-sten Weise des Lebens oder nach der besten Staatsver-fassung stellt, und nicht nur, wie die Techne, ein Kön-nen beherrscht, dem seine Aufgabe von einer anderenInstanz gestellt wird: von dem Zweck, dem das Herzu-stellende zu dienen hat.Das gilt nun alles auch für die Hermeneutik. Als Theo-rie der Interpretation oder Auslegung ist sie nicht ein-fach nur eine Theorie. Ganz deutlich hat die Herme-neutik von den ältesten Zeiten an bis zum heutigen Tageden Anspruch erhoben, daß ihre Reflexion über dieMöglichkeiten, Regeln und Mittel der Auslegung fürdie Praxis unmittelbar dienlich und förderlich sei -während doch etwa eine durchgeführte Theorie derLogik einen wissenschaftlich höheren Ehrgeiz hat als

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den, das logische Denken zu fördern oder gar die Zah-lentheorie darin, das Rechnen zu fordern. Hermeneu-tik ließ sich daher in erster Annäherung in der Tat als>Kunstlehre< verstehen, wie etwa auch die Rhetorik.Hermeneutik kann, ähnlich wie Rhetorik, eine natürli-che Fähigkeit des Menschen bezeichnen und meintdann seine Fähigkeit zum verständnisvollen Umgangmit Menschen. So kann Johann Peter Hebel in einemBrief an seinen Freund Hitzig über einen Theologen sa-gen, daß er »die schönste aller Hermeneutiken hat undübt, menschliche Schwachheiten zu verstehen undmenschlich auszulegen«.So war denn auch die ältere Hermeneutik in erster Linieein praktisches Bestandstück der Tätigkeit des Verste-hens und Auslegens selbst und oft weniger ein theoreti-sches Lehrbuch - was in der Antike geradezu >Techne<hieß - als ein praktisches Hilfsbuch. Bücher mit demTitel >Hermeneutik< hatten meist einen rein pragma-tisch-okkasionellen Zug und halfen dem Verständnisschwerer Texte durch Erläuterung schwerverständli-cher Stellen. Eben auf den Gebieten aber, auf denenschwierige Texte verstanden und ausgelegt werdenmüssen, hat sich auch die Reflexion über das Wesensolchen Tuns zuerst entwickelt und damit so etwas wieeine Hermeneutik in unserem Sinne hervorgebracht. Sovor allem auf dem Gebiet der Theologie.Dort findet sich höchst Wichtiges und Grundlegendesbeispielsweise in Augustins >De doctrina christiana<.Insbesondere, wenn er seine Stellung zum Alten Testa-ment zu präzisieren sucht, sah Augustin sich zu einerReflexion genötigt, die den Sinn von >Verstehen< betraf

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und den dogmatischen Anspruch seiner Texte zu präzi-sieren zwang. Es war eine theologische Aufgabe, aus-einanderzusetzen, warum das Alte Testament nicht inseinem ganzen Inhalt unmittelbarer Spiegel oder typo-logische Präfiguration der christlichen Heilsbotschaftsein kann. Dinge, die der christlichen Sittenlehre so wi-dersprachen wie etwa die Polygamie der Patriarchen,ließen sich nicht mehr durch allegorische Auslegungretten und nötigten daher zu einer schlichten histo-rischen Interpretation, die die fernen und fremden Sit-ten des Nomadentums heranzog - eine wesentlicheDifferenzierung im Scopus der Auslegung. - Ähnlichwie das Alte Testament für das frühe Christentum,wurde im Zeitalter der Reformation die ganze HeiligeSchrift Gegenstand einer neuen hermeneutischen Be-mühung und Anlaß zu hermeneutischer Reflexion.Überall sollte ja die allegorisierende Methode dogmati-scher Schriftauslegung, die in der römischen Theologieherrschte und damit eine dogmatische Tradition überden Sinn der Schrift Herr werden ließ, zugunsten des>Wortes Gottes< überwunden werden. Nun aber erwiessich die neue Parole der >sola scriptura< ihrerseits als einschwieriges Auslegungsprinzip. Auch die protestanti-sche Exegese sah sich genötigt, so sehr sie den dogmati-schen Charakter der katholischen Bibelauslegungstra-dition bekämpfte, einen gewissen dogmatischen Kanonaufzubauen, das heißt über die dogmatischen Resultatezu reflektieren, die sich aus ihrem neuen Lesen der Hei-ligen Schrift in den Ursprachen ergaben. So wurde derneue Grundsatz: >sacra scriptura sui ipsius interpres<zum Ursprung der neuen theologischen Hermeneutik,

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aber was sich so herausbildete, war nicht einfach nureine Kunstlehre, sondern umfaßte zugleich eine Glau-benslehre.Ein anderes Gebiet, auf dem Reflexion über das Ausle-gen von Texten sich nicht nur aus den Schwierigkeitender hermeneutischen Praxis notwendig ergab, sondernauch aus der sachlichen Bedeutung dieser Texte, wardas Gebiet der Jurisprudenz. Da handelte es sich immerum zunächst ganz praktische juristische Fragen, diesich bei der Auslegung von Gesetzestexten und ihrerAnwendung auf Streitfälle ergaben. Es ist ein integralesMoment aller Rechtskunst und Rechtswissenschaft, dieAllgemeinheit des Gesetzes mit der konkreten Materiedes vor Gericht anstehenden Falles zu vermitteln. DieseSchwierigkeiten steigern sich aber insbesondere dort,wo die Gesetzestexte nicht mehr der unmittelbare Nie-derschlag von Rechtserfahrung sind, die aus der sozia-len Lebenswirklichkeit stammt, sondern eine ge-schichtliche Erbschaft darstellen, die aus einer anders-artigen gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeitübernommen wird. Stets ist eine obsolet gewordene,veraltete Ordnung der Grund von Rechtsschwierigkei-ten, die für eine sinnvolle Auslegung die Anpassung andie Wirklichkeit verlangen. Dies allgemeine hermeneu-tische Moment aller Rechtsfindung potenziert sich inFällen, in denen wir von Rezeption sprechen, so ins-besondere bei der Rezeption des Römischen Rechtsim neueren Europa. Wie immer man auch diesen Pro-zeß der Rezeption werten mag und wieviel Entmytho-logisierung romantischer Vorurteile hier am Platze ist -der Prozeß der Verwissenschaftlichung der Rechtspfle-

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ge, der mit der Aufnahme der römisch-italischenRechtskunst nördlich der Alpen einsetzte, hat unterden besonderen geschichtlichen Bedingungen der Neu-zeit auch auf diesem Felde zu hermeneutischer Übungund theoretischer Besinnung angetrieben. So war etwadie justinianische Ausnahmestellung des Kaisers (legesolutus) seit alters umstritten und bildete unter den ver-änderten Umständen der Neuzeit einen beständigenhermeneutischen Stachel. Die Idee des Rechts enthältdie Idee der Rechtsgleichheit. Wenn der Souverän demGesetz nicht selbst unterliegt, sondern frei über seineAnwendung entscheiden kann, ist offenbar die Grund-lage aller Hermeneutik zerstört. Auch hier zeigt sich,daß die rechte Auslegung der Gesetze nicht einfach eineKunstlehre ist, eine Art logischer Technik der Subsum-tion unter Paragraphen, sondern eine praktische Kon-kretisierung der Rechtsidee. Die Kunst des Juristen istzugleich Rechtspflege.Eine nicht geringe Spannung entstand aber auch noch ineiner ganz anderen Richtung, zu deren Oberwindunges der Hermeneutik bedurfte. Das war, als im neuenAufbruch des Humanismus die großen lateinischenund griechischen Klassiker als die Vorbilder aller höhe-ren menschlichen Kultur neu angeeignet werden soll-ten. Der Rückgang auf das klassische Latein, das insbe-sondere durch seine höhere Stilistik im Vergleich zudem scholastischen Latein etwas anspruchsvoll Neueswar, aber vor allem der Rückgang auf das Griechische -und im Falle des Alten Testaments auf das Hebräische -verlangte nicht nur vielerlei praktische hermeneutischeHilfe für Grammatik, Lexikon und Realienkunde, was

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sich in zahlreichen, >Hermeneutica< genannten Hilfs-büchern niederschlug. Die Klassiker beanspruchtenüberdies eine spezifische Vorbildlichkeit, die dasSelbstbewußtsein der Neuzeit in Frage stellte. So ge-hört die berühmte >querelle des anciens et des moder-nes< ihrerseits in die Vorgeschichte der Hermeneutik,indem sie eine hermeneutische Reflexion über die Idea-le des Humanismus weckte. Wenn man diese querelleneuerdings mit Recht als eine Vorbereitung des Erwa-chens des geschichtlichen Bewußtseins gewertet hat, sobedeutet das für die Hermeneutik auf der andern Seite,daß sie nicht bloß eine Fertigkeit des Verstehens pflegt,das heißt eine bloße Kunstlehre ist, sondern die Vor-bildlichkeit dessen, was sie versteht, mitverantwortenmuß.So sehr das dem eigenen Selbstverständnis der Herme-neutik als einer >Kunstlehre< widerspricht- sie ist in al-len ihren Richtungen, wie sich zeigt, mehr als einebloße Kunstlehre und gehört in die Nachbarschaft derpraktischen Philosophie. Sie hat damit an jenem Selbst-bezug teil, der für die praktische Philosophie wesent-lich ist. Wenn zum Beispiel die Ethik eine Lehre desrechten Lebens ist, setzt sie doch zugleich dessen Kon-kretion in einem lebendigen Ethos voraus. Auch dieKunst des Verstehens der Überlieferung setzt, ob essich um heilige Bücher, um Rechtstexte oder um vor-bildliche Meisterwerke handelt, nicht nur deren An-erkennung voraus, sondern bildet die Überlieferungderselben produktiv weiter. Die ältere Hermeneutikstellte freilich keinen zentralen Aspekt innerhalb derProblemkonzeption der traditionellen Philosophie dar,

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solange sie auf normative >Texte< beschränkt blieb. In-sofern ist sie von unserem heutigen philosophischen In-teresse an der Hermeneutik noch sehr weit entfernt.Doch trat das Problem der Hermeneutik stärker in dasphilosophische Problembewußtsein, als nicht nur aufeinzelnen Gebieten ein Abstand der Höhe und ein Ab-stand der Ferne zu überwinden war wie bei den religiö-sen Urkunden, Gesetzestexten oder fremdsprachli-chen Klassikern, sondern wo das Ganze der bisherigengeschichtlichen Überlieferung in solchen Abstandrückte, und das geschah durch den großen Traditions-bruch, den die Französische Revolution darstellte undin dessen Folge die europäische Zivilisation in Natio-nalkulturen aufsplitterte. Die gemeinsame Überliefe-rung der christlichen Staatenwelt Europas, die im Hin-tergrund dieser neuen Entwicklung gewiß fortwirkte,trat mit dem Schwinden ihrer selbstverständlichen Gel-tung auf eine neuartige Weise ins Bewußtsein, als ge-wähltes Vorbild, als sehnsuchtsvolles Ziel des Heim-wehs und am Ende als Gegenstand geschichtlichenWissens. Das war die Stunde einer universalen Herme-neutik, durch die das Universum der geschichtlichenWelt aufzuschließen war. Denn es war das Vergangeneals solches fremd geworden. Alle Wiederbegegnungmit alter Überlieferung ist nun nicht mehr einfache An-eignung, die ebenso selbstverständlich, wie sie das Alteaufnimmt, das Eigene hinzutut, sondern hat den Gra-ben zu überbrücken, der Gegenwart und Vergangen-heit trennt. So wurde die Romantik zum Wegbereiterdes historischen Bewußtseins. Es war die allgemeineParole, auf die originären Quellen zurückzugehen, und

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unser Geschichtsbild der Vergangenheit wurde aufdiese Weise auf einen ganz neuen Boden gestellt. Darinlag eine zutiefst hermeneutische Aufgabe. Wenn mananerkennt, daß die Eigenperspektive von den Gesichts-punkten der Autoren und dem Sinn der Texte der Ver-gangenheit ganz verschieden ist, bedarf es einer eigenenAnstrengung, damit man den Sinn alter Texte nichtmißversteht und sie doch in ihrer Überzeugungskraftwirklich versteht. Die bloße Beschreibung der innerenStruktur und Kohärenz eines gegebenen Textes und diebloße Wiedergabe dessen, was der Autor sagt, ist nochkein wirkliches Verstehen. Man muß sein Sprechen er-neuern, und dazu muß man mit den Sachen vertrautsein, von denen die Texte sprechen. Gewiß muß manauch die grammatischen Regeln, die Stilmittel, diekompositorische Kunst, die einem Text zugrundelie-gen, erfassen, wenn man das, was der Autor in seinemText hat sagen wollen, wirklich verstehen will, aber derHauptpunkt alles Verstehens betrifft doch das sachlicheVerhältnis, das zwischen der Aussage des Textes undunserem eigenen Verständnis der Sache besteht.Gleichwohl tat die nachromantische Epoche bei derEntwicklung des hermeneutischen Verfahrens diesemHauptpunkt nicht wahrhaft Genüge.Der Entfremdungserfahrung, die im geschichtlichenBewußtsein zutage trat, bot sich zunächst das aus derTradition der Kunstlehre stammende Selbstverständnisan: Erlernung des kritischen Könnens im Umgang mitTexten.Diesem Selbstverständnis kam als eine mächtige Unter-stützung das steigende logische Selbstbewußtsein der

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induktiven Wissenschaften zu Hilfe. Man suchte daherdem großen Vorbild der Naturwissenschaften zu fol-gen und sah das Ideal wie dort so auch hier darin, allesubjektiven Voraussetzungen auszuschalten. So wie fürdie Naturforschung das durch jedermann nachprüfbareExperiment eine Verifikationsgrundlage darstellt,suchte man auch bei der Auslegung von Texten über-prüfbare Verfahrensweisen anzuwenden. Das alte Ver-fahren der Exegese, die Sammlung von Parallelen insbe-sondere, fand nun eine historisch-kritische Verfeine-rung. Die hermeneutische Methodenlehre, die das ro-mantische Interesse an der Geschichte in ihre wissen-schaftliche Obhut nahm, verglich sich auf dieser Basisbeständig mit der Methodenlehre der Naturwissen-schaften. Ihre Gegenstände, die überlieferten Texte,sollten wie die Beobachtungsdaten in der Naturfor-schung behandelt werden. Daß ein solches Selbstver-ständnis der neuen kritischen Philologie, dem auchSchleiermachers Trennung einer allgemeinen Herme-neutik von der Dialektik, und im theologischen Bereichder hermeneutischen Kunstlehre von der Glaubens-lehre entsprach, dem Interesse der Historie nicht ge-nügte, blieb zwar bei den großen Historikern, etwa beiRanke oder Droysen, nicht unempfunden, da es demtheologischen Pathos, das in ihrer kritischen Forschunglebendig war, nicht entsprach. Nicht ohne Grundschlössen sie sich mehr an Fichte, Humboldt und Hegelan. Trotzdem kam es nicht mehr zu einer grundsätzli-chen Anerkennung der älteren Tradition der prakti-schen Philosophie, selbst bei Dilthey nicht, der dasErbe der romantischen Schule auf den Begriff brachte.

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Es fehlte jede Einsicht in den Zusammenhang zwischenHermeneutik und praktischer Philosophie.So war es erst, als sich unsere Kultur als ganze derAnzweiflung und der radikalen Kritik ausgesetzt sah,daß Hermeneutik eine Sache von universaler Bedeu-tung wurde. Das hatte seine überzeugende innere Lo-gik. Man braucht nur an den Radikalismus im Zweifelnzu denken, der sich insbesondere bei Friedrich Nietz-sche findet. Sein langsam wachsender Einfluß auf allenErscheinungsgebieten unserer Kultur war von einerTiefe, die man nicht genügend zu realisieren pflegt. DiePsychoanalyse zum Beispiel kann man sich gar nichtvorstellen ohne Nietzsches radikale Anzweiflung derZeugnisse des menschlichen Selbstbewußtseins: Nietz-sche stellte die Forderung auf, man müsse tiefer undgründlicher zweifeln als Descartes, der im Selbstbe-wußtsein das letzte unerschütterliche Fundament allerGewißheit gesehen hatte. Die Illusionen des Selbstbe-wußtseins, die Idole der Selbsterkenntnis waren dieneue Entdeckung Nietzsches, und die Moderne datiertvon dem alles durchdringenden Einfluß Nietzsches.Damit erlangte der Begriff der >Interpretation< eine weittiefere und allgemeinere Bedeutung. Interpretationmeint nun nicht nur die Auslegung der eigentlichenMeinung eines schwierigen Textes: Interpretation wirdein Ausdruck für das Zurückgehen hinter die offen-kundigen Phänomene und Gegebenheiten. - Nicht nurdie Geltung der Phänomene des Bewußtseins undSelbstbewußtseins (das war der Fall der Psychoanaly-se), sondern auch die rein theoretische Geltung wissen-schaftlicher Objektivität, auf die in den Wissenschaften

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Anspruch erhoben wurde, wurde von der sogenanntenIdeologiekritik hinterfragt, die den wissenschaftlichenNeutralismus bezweifelte. Der klare Anspruch desMarxismus ging dahin, daß die theoretischen Lehrender Wissenschaften mit innerer Notwendigkeit die In-teressen der herrschenden Gesellschaftsklasse und ins-besondere die Interessen der Unternehmer und des Ka-pitals widerspiegeln. Daher war es eine der Forderun-gen des Marxismus, insbesondere wenn es sich darumhandelte, die Erscheinungen des ökonomischen undgesellschaftlichen Lebens zu verstehen, hinter dieSelbstinterpretation der bürgerlichen Kultur zurück-zugehen, die sich auf die Objektivität der Wissenschaftberief. Auch sonst hat aber die philosophische Karrieredes Begriffs interprétations die in den letzten hundertJahren erfolgte, ihren philosophischen Grund in demwohlberechtigten Mißtrauen gegen die traditionelleBegrifflichkeit, deren Begriffe nicht so selbstverständ-lich und voraussetzungslos sind, wie sie sich geben. DasVorverständnis, das in ihnen impliziert ist, prägt dieProbleme der Philosophie in bestimmter Weise vor. Esschematisiert aber nicht nur den philosophischen Ge-danken. Unser ganzes kulturelles Leben zeugt von derältesten ontologischen Erbschaft unseres Denkens, vonder griechischen Philosophie.Es war das große Verdienst Heideggers, daß er dieSelbstverständlichkeit aufbrach, mit der die griechi-schen Denker den Begriff des Seins gebrauchten, undinsbesondere aufwies, wie das moderne Denken unterder Herrschaft dieses Seinsbegriffs den ganz ungeklär-ten Begriff von Bewußtsein ausbildete, der das Prinzip

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der neueren Philosophie darstellt. Sein berühmter Vor-trag >Was ist Metaphysik?< stellte die Behauptung auf,daß die traditionelle Metaphysik die Frage nach demSein gerade nicht selber gefragt habe, sondern im Ge-genteil diese Frage verdeckt hielt, indem sie vom Begriffdes Seienden aus das Gebäude der Metaphysik aufbau-te. Der wirkliche Sinn dessen, was Heideggers Frage>Was ist Metaphysik?< fragte, läßt sich in Wahrheit nurvon dem neuen Begriff von Interpretation aus verste-hen. Das wird klarer, wenn man den Titel der Vorle-sung Wort für Wort wägt und die geheime Betonungspürt, die das Wort >ist< trägt. - Der Sinn der Frage >Wasist Metaphysik?< ist, zu fragen, was Metaphysik wirk-lich ist, im Gegensatz zu dem, was Metaphysik sein willund als was sie sich selbst versteht. Was bedeutete es,daß sich die Frage der Philosophie als Metaphysik aus-bildete? Was ist die Bedeutung des Ereignisses, daß diegriechischen Denker den Kopf hoben und sich von denBindungen des mythischen und religiösen Lebens frei-machten und solche Fragen wagten wie: Warum ist es?und: Was ist es? und: Von wo aus kommt etwas insSein? Wenn man die Frage >Was ist Metaphysik?* indem Sinne versteht, daß man fragt, was sich mit demBeginn des metaphysischchen Denkens ereignete, danngewinnt erst die Heideggersche Frage die Kraft ihrerProvokation und enthüllt sich als ein Beispiel des neuenBegriffs von Interpretation.Der neue Begriff von Interpretation, und folgerichti-gerweise von Hermeneutik, der hier ins Bild tritt, über-schreitet offenkundig die Grenzen einer noch so uni-versal verstandenen hermeneutischen Theorie. In ihm

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liegt am Ende ein ganz neuer Begriff von Verständnisund Selbstverständnis. Es ist interessant genug, daß derAusdruck >Selbstverständnis< heute ein richtiger Mode-ausdruck ist und auch in den aktuellen politischen undgesellschaftlichen Diskussionen beständig gebrauchtwird, bis in die Romanliteratur hinein. Worte sind Pa-rolen. Sie drücken oft aus, was fehlt und was sein soll.Ein unsicher gewordenes Selbstverständnis bewirkt,daß jeder davon redet. Aber das erste Aufkommen desWortes prägt seine Geschichte. Der Ausdruck Selbst-verständnis ist erstmals mit einer gewissen terminologi-schen Betonung von Johann Gottlieb Fichte gebrauchtworden. Indem er sich als Anhänger Kants fühlte, be-anspruchte er zugleich, mit seiner >Wissenschaftslehre<die einzig vernünftige und authentische Interpretationder Kantischen Philosophie zu geben. Was man von ei-nem Denker verlangen müsse, sei Konsequenz. Nur inder radikalen Konsequenz der Entwicklung seiner Ge-danken könne ein Philosoph zu echtem Selbstverständ-nis gelangen. In den Augen Fichtes gibt es aber nur eineeinzige Möglichkeit, mit seinem eigenen Denken involler widerspruchsloser Übereinstimmung zu sein,und das ist, wenn man all das, was in unserem DenkenGeltung beanspruchen soll, aus der Spontaneität desSelbstbewußtseins ableitet und begründet. Wenn mannun behaupten wollte, daß Kant neben seiner Lehrevom Selbstbewußtsein und der Deduktion der Stamm-begriffe des Verstandes, der Kategorien, ein >Ding ansich< annahm, das unseren Geist durch unsere Sinnlich-keit affiziere, dann müßte man behaupten, er sei über-haupt kein Denker gewesen, sondern ein Dreiviertels-

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köpf, wie Fichte mit schnöder Ruppigkeit es ausdrückt.Denn für ihn ist es selbstverständlich, daß alles, was alswahr gelten soll, durch Tätigkeit hervorgebracht seinmuß. Natürlich meint er damit eine geistige Konstruk-tion, und das hat nichts zu tun mit dem absurden Be-griff des Solipsismus, der in den Niederungen der Phi-losophie des 19. Jahrhunderts herumspukt. Konstruk-tion, Hervorbringung, Erzeugung sind transzenden-tale Begriffe, die die innere Spontaneität des Selbstbe-wußtseins und seine Selbstentfaltung beschreiben. Nurauf diese Weise gebe es ein wirkliches Selbstverständnisdes Denkens.Heute ist genau dieser Begriff von Selbstverständnis zu-sammengebrochen. War es nicht wirklich ein hybriderEhrgeiz, mit Fichte und Hegel zu behaupten, daß dieganze Summe unseres Weltwissens, unserer > Wissen-schafts in einem vollendeten Selbstverständnis erreichtsein könnte? Der berühmte Titel von Fichtes philoso-phischem Grundwerk ist bezeichnend für diesen An-spruch. >Wissenschaftslehre< hat nichts zu tun mit dem,was man heute >philosophy of science< nennt. >Wissen-schaftslehre< meint vielmehr das allumfassende Wissen,die Universalwissenschaft, die in der Ableitung allerWeltinhalte aus dem Selbstbewußtsein besteht. Es cha-rakterisiert die neue Grundstellung der Philosophieund die neue Einsicht, die uns die Erfahrungen der letz-ten hundert Jahre gebracht haben, daß nicht nur dieserSinn von >Wissenschaft< nicht mehr erfüllbar ist, son-dern daß auch der Sinn von >Selbstverständnis< andersgefaßt werden muß. >Selbstverständnis< kann nichtmehr auf eine vollständige Selbstdurchsichtigkeit hin

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bezogen werden, das heißt auf die volle Gegenwart un-serer selbst für uns selbst. Selbstverständnis ist immernur unterwegs, das heißt auf einem Wege, den zu voll-enden eine klare Unmöglichkeit ist. Wenn es eine ganzeDimension des unerhellten Unbewußten gibt, wenn allunsere Handlungen, Wünsche, Triebe, Entscheidun-gen und Verhaltensweisen, wenn somit das Ganze un-serer menschlich-gesellschaftlichen Existenz auf diedunkle und verhüllte Dimension des unbewußtenTriebganzen unserer Animalität zurückgeht, wenn allunsere eigenen bewußten Vorstellungen Maskierungensein können, Vorwände, unter denen unsere vitaleEnergie oder unsere gesellschaftlichen Interessen inunbewußter Weise ihre Ziele verfolgen, wenn alle nochso offenkundigen und evidenten Einsichten, die wirhaben, solchem Zweifel ausgesetzt sind, dann kann>Selbstverständnis< gewiß nicht eine selbstverständlicheSelbstdurchsichtigkeit unseres Daseins bedeuten. Wirmüssen auf die Illusion verzichten, das Dunkel unsererMotivationen und unserer Tendenzen ganz aufzuklä-ren. Wir können aber dieses neue Gebiet menschlicherErfahrungen, das sich im Unbewußten auftut, nichteinfach ignorieren. Was hier zu methodischer Erfor-schung kommt, ist ja nicht nur jenes Feld des Unbe-wußten, das der Psychoanalytiker als Arzt betritt, es istebenso die Welt der herrschenden gesellschaftlichenVorurteile, die der Marxismus aufzuklären bean-sprucht. Psychoanalyse und Ideologiekritik sind For-men von Aufklärung, und beide berufen sich auf denemanzipatorischen Auftrag der Aufklärung, wie ihnKant formuliert hat als den > Ausgang aus dem selbstver-

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schuldeten Zustand der Unmündigkeit^ Indessen,wenn wir die Reichweite dieser neuen Einsichtenprüfen, müssen wir, wie mir scheint, kritisch durch-leuchten, welche ungeprüften Voraussetzungen tradi-tioneller Art in ihnen fortwirken. Es muß einem frag-lich werden, ob das Bewegungsgesetz des menschli-chen Lebens wirklich in dem Begriff des Fortschritts,des beständigen Vorankommens vom Unbekanntenzum Bekannten gedacht werden kann und ob der Wegder menschlichen Kultur der geradlinige Fortgang vonMythologie zu Aufklärung ist. Man muß eine ganz an-dere Vorstellung erwägen, nämlich ob die Bewegungdes menschlichen Daseins eine unaufhörliche innereSpannung zwischen Erhellung und Verhüllung in sichausträgt. Man muß sich die Frage stellen, ob es viel-leicht ein Vorurteil der Moderne ist, daß der Fort-schrittsbegriff, der in der Tat für das Wesen der wissen-schaftlichen Forschung konstitutiv ist, auf das Ganzedes menschlichen Lebens und der menschlichen Kulturübertragen wurde. Man muß die Frage in allem Ernstestellen, ob >Fortschritt<, wie er im Sonderbereich derwissenschaftlichen Forschung zu Hause ist, mit denBedingungen des menschlichen Daseins im ganzenüberhaupt im Einklang ist. Ist die Vorstellung einersteigenden und sich vollendenden Aufklärung am Endezweideutig?Man muß diesen philosophischen und humanen Hin-tergrund, diesen gründlichen Zweifel an der Legitimitätdes Selbstbewußtseins vor Augen haben, wenn man dieBedeutung, das heißt die Aufgabe und die Grenzen des-sen, was wir heute Hermeneutik nennen, würdigen

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will. In gewisser Weise gibt schon das Wort >Herme-neutik< und das ihm entsprechende Wort Interpreta-tion einen ersten Wink. Denn in diesen Worten steckteine scharfe Unterscheidung zwischen dem Anspruch,eine gegebene Tatsache durch ihre Ableitung von all ih-ren Bedingungen her vollständig zu erklären, sie aus derGegebenheit aller ihrer Bedingungen zu errechnen unddurch künstliche Veranstaltung herbeiführen zu lernen- das ist das wohlbekannte Ideal naturwissenschaftli-cher Erkenntnis - , und auf der anderen Seite dem Be-griff der Interpretation, bei der wir immer vorausset-zen, daß sie nur eine Annäherung, nur ein Versuch ist,plausibel und fruchtbar, aber klarerweise nie end-gültig.Eine endgültige Interpretation scheint ein Widerspruchin sich selbst zu sein. Interpretation ist immer unter-wegs. Wenn somit das Wort Interpretation auf die End-lichkeit des menschlichen Seins und die Endlichkeit desmenschlichen Wissens hinweist, dann enthält die Er-fahrung der Interpretation etwas, was im früherenSelbstverständnis nicht lag, als Hermeneutik speziellenBereichen zugeordnet wurde und als eine Technik zurÜberwindung von Schwierigkeiten in schwierigen Tex-ten zur Anwendung kam. Damals war Hermeneutik alsKunstlehre verstehbar - und ist es nicht länger.Wenn wir nämlich voraussetzen, daß es so etwas wieeinen voll durchsichtigen Text oder ein voll ausschöpf-bares Interesse im Erklären und Verstehen von Textenüberhaupt nicht gibt, dann verschieben sich alle Per-spektiven in bezug auf die Kunst und Theorie der In-terpretation. Dann wird es wichtiger, bei einer Sache

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die uns leitenden Interessen aufzuspüren, als nur denklaren Inhalt einer Aussage auszulegen. Es ist eine derfruchtbaren Einsichten der modernen Hermeneutik,daß jede Aussage als Antwort auf eine Frage angesehenwerden muß und daß der einzige Weg, eine Aussage zuverstehen, darin besteht, die Frage zu gewinnen, vonder her gesehen die Aussage eine Antwort ist. Diesevorgängige Frage hat ihre eigene Sinnrichtung und istdurchaus nicht aus einem Geflecht hintergründigerMotivationen zu gewinnen, sondern im Ausgreifen zuweiteren Sinnzusammenhängen, die von der Frage um-faßt und in der Aussage angelegt sind.Als eine erste Bestimmung, die gegenüber der traditio-nellen Hermeneutik zu treffen ist, hat daher zu gelten,daß eine philosophische Hermeneutik mehr an denFragen als an den Antworten interessiert ist. Oder bes-ser, daß sie Aussagen als Antworten auf Fragen, die eszu verstehen gilt, auslegt. Aber das ist noch nicht alles.Womit beginnt denn unsere Anstrengung zu verste-hen? Warum sind wir an dem Verständnis eines Textesoder an einer Welterfahrung interessiert, einschließlichunseres Zweifels an offen angebotenen Selbstinterpre-tationen? Haben wir dafür freie Wahl? Sind wir es, dieda die Wahl haben? Ist es überhaupt wahr, daß wir un-serer freien Entscheidung folgen, wenn wir bestimmteDinge zu erforschen oder auszulegen suchen? FreieEntscheidung? Eine unbeteiligte, ganz objektive Be-mühung? Mindestens der Theologe wird da wohl Ein-wendungen haben und sagen: »O nein! Unser Verste-hen der Heiligen Schrift kommt nicht aus unserer freienWahl. Es verlangt einen Akt der Gnade. Und die Bibel

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ist nicht ein Ganzes von Sätzen, die sich willenlos dermenschlichen Analysis zum Opfer bieten. Nein, dasEvangelium richtet sich an mich. Es beansprucht, nichteine objektive Aussage oder ein Ganzes objektiver Aus-sagen zu sein, sondern eine spezielle Anrede an michselbst zu enthalten.« Nun, ich denke, es sind nicht nurTheologen, die an der hergebrachten Vorstellung Zwei-fel haben, daß man beim Interpretieren überlieferterTexte freie Entscheidungen treffe. Es gibt vielmehr unsbestimmende Interessen dabei, sowohl bewußte alsauch unbewußte, und immer wird es so sein, daß wiruns fragen müssen, warum ein Text unser Interesse er-regt. Daß er uns eine Tatsache mitteilt, wird nie dieAntwort sein. Wir müssen im Gegenteil hinter solchevermeintlichen Tatsachen zurückgehen, um unser In-teresse für diese Tatsachen zu wecken oder uns bewußtzu machen. Tatsachen begegnen in Aussagen. AlleAussagen sind Antworten. Das ist aber noch nicht alles.Die Frage, auf die jede Aussage Antwort ist, ist ja selberwieder motiviert, und so ist in einem gewissen Sinnejede Frage selber wieder eine Antwort. Sie antwortetauf eine Herausforderung. Ohne eine innere Spannungzwischen unseren Sinnerwartungen und den allverbrei-teten Ansichten und ohne ein kritisches Interesse a.nden allgemein herrschenden Meinungen würde esüberhaupt keine Frage geben.Dieser erste Schritt hermeneutischer Anstrengung, ins-besondere die Forderung, beim Verstehen von Aussa-gen auf die motivierenden Fragen zurückzugehen, istnicht ein Verfahren von besonderer Künstlichkeit, imGegenteil, es ist unser aller allgemeine Praxis. Wenn

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wir auf eine Frage zu antworten haben und wir könnendie Frage nicht recht verstehen, das heißt wir wissennicht recht, was der andere wissen will, dann müssenwir offenkundig den Sinn der Frage besser zu verstehensuchen. Und so fragen wir zurück, warum man einendas frage. Erst wenn ich den motivierenden Sinn derFrage verstanden habe, kann ich überhaupt anfangen,nach einer Antwort zu suchen. Das ist ganz und garnichts Künstliches, über die Voraussetzungen nachzu-denken, die in unseren Fragen stecken. Es ist im Gegen-teil künstlich, nicht über diese Voraussetzungen nach-zudenken. Es ist sehr künstlich, sich vorzustellen, daßAussagen vom Himmel fallen und daß sie analytischerArbeit unterworfen werden können, ohne überhaupt inBetracht zu ziehen, warum sie gesagt werden und inwelcher Weise sie auf etwas Antworten sind. Das ist dieerste, grundlegende und in Wahrheit unendlich weitreichende Forderung, die bei jeder hermeneutischenBemühung verlangt ist. Nicht nur in der Philosophieoder in der Theologie, sondern überhaupt in jeder ech-ten Forschungsbemühung ist gefordert, daß man einBewußtsein der hermeneutischen Situation ausarbeitet.Das muß unser erstes Ziel sein, wenn wir uns einerFrage nähern. Um es in den Worten unserer Trivialer-fahrungen zu formulieren: Wir müssen verstehen, wasdahintersteckt, wenn eine Frage gestellt ist. VerborgeneVoraussetzungen bewußtmachen, meint aber nicht nurund in erster Linie, unbewußte Voraussetzungen imSinne der Psychoanalyse aufklären, sondern es meint,unklare Voraussetzungen und Implikationen bewußt-machen, die in einer sich erhebenden Frage stecken.

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Die Ausarbeitung der hermeneutischen Situation, aufdie es für methodisches Auslegen ankommt, hat dabeieiniges Eigentümliche. Die erste leitende Einsicht ist,daß man sich die Unendlichkeit dieser Aufgabe einge-steht. Es ist eine unmögliche Vorstellung, daß man überseine Antriebe oder Frage-Interessen je volle Aufklä-rung erlangte. Trotzdem bleibt es eine legitime Aufga-be, was unserem Interesse zugrunde liegt, nach Mög-lichkeit aufzuklären. Nur dann haben wir Aussicht, dieAussagen, die uns beschäftigen, zu verstehen, indemwir unsere eigenen Fragen darin wiedererkennen.Damit hängt zusammen, daß das Unbewußte und Im-plizite zu unserer bewußten menschlichen Existenznicht einfach den Gegensatz bildet. Die Aufgabe desVerstehens ist durchaus nicht nur, bis in den innerstenGrund unseres Unbewußten hinein aufzuklären, wasunser Interesse motiviert, sondern vor allem in derRichtung und in den Grenzen zu verstehen und auszu-legen, die durch unser hermeneutisches Interesse be-zeichnet sind. In den seltenen Fällen, in denen diekommunikative Intersubjektivität der >Gesprächsge-meinschaft< gründlich gestört ist, so daß man an einemgemeinten und gemeinsamen Sinn verzweifelt, kanndas eine Interessenrichtung motivieren, für die der Psy-choanalytiker kompetent ist. - Aber das ist eine herme-neutische Grenzsituation. Man kann jede hermeneuti-sche Situation bis zu dieser Grenze der Sinnverzweif-lung und Sinnhintergehung zuspitzen. Die Arbeit derPsychoanalyse würde ihre Legitimation und ihren ei-genen Sinn, wie mir scheint, falsch einschätzen, wennsie nicht ihre Aufgabe als eine Grenzaufgabe ansähe

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und nicht von der Grundeinsicht ausginge, daß sichLeben immer in einer Art Gleichgewicht befindet unddaß zu diesem Gleichgewicht auch das Gleichgewichtzwischen unseren unbewußten Trieben und unserenbewußten menschlichen Motivationen und Entschei-dungen gehört. Gewiß ist es nie eine volle Konkordanz,die zwischen den Tendenzen unseres Unbewußten undunseren bewußten Motivationen besteht, aber in allerRegel handelt es sich auch nicht um volle Verdeckungund Verstellung. Es ist ein Zeichen von Krankheit,wenn einer sich selber so verstellt hat, daß er nicht wei-ter weiß, ohne sich einem Heilkundigen anzuvertrauenund in gemeinsamer analytischer Arbeit ein paarSchritte weit den Hintergrund des eigenen Unbewuß-ten aufzuklären - mit dem Ziele, das wiederzugewin-nen, was er verloren hatte: das Gleichgewicht zwischender eigenen Naturheit und unser aller Bewußtheit undSprache.Demgegenüber ist das Unbewußte im Sinne des Impli-zierten der Normalgegenstand hermeneutischer Be-mühung. Das heißt aber, daß die Verstehensaufgabeeine begrenzte ist - begrenzt durch den Widerstand,den Aussagen oder Texte leisten, und beendet durch dieWiedergewinnung der kommunikativen Sinnhabe,ganz wie beim Gespräch die Aufklärung einer Mei-nungsverschiedenheit oder eines Mißverständnisses ge-schieht.In diesem eigentlichen Bereich hermeneutischer Erfah-rung, über dessen Bedingungen sich eine hermeneuti-sehe Philosophie Rechenschaft zu geben sucht, bestä-tigt sich die nachbarliche Verwandtschaft der Herme-

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neutik mit der praktischen Philosophie. Da ist zu-nächst, daß Verstehen genau wie Handeln immer einWagnis bleibt und niemals die einfache Anwendung ei-nes allgemeinen Regelwissens auf das Verstehen gege-bener Aussagen oder Texte gestattet. Es heißt weiter,daß Verstehen dort, wo es gelingt, ein Innewerden be-deutet, das als eine neue Erfahrung in das Ganze unse-rer eigenen geistigen Erfahrung eingeht. Verstehen istein Abenteuer und ist wie jedes Abenteuer gefährlich.Man muß durchaus zugestehen, daß das hermeneuti-sche Verfahren, gerade weil es sich nicht damit be-gnügt, nur erfassen zu wollen, was da gesagt ist oder da-steht, sondern auf unsere leitenden Interessen und Fra-gen zurückgeht, eine sehr viel weniger große Sicherheithat, als die Methoden der Naturwissenschaften er-reichen. Aber wenn man Verstehen als ein Abenteuererkennt, so liegt darin auch, daß es besondere Chancenbietet. Es vermag in besonderer Weise dazu beizutra-gen, unsere menschlichen Erfahrungen, unsere Selbst-erkenntnis und unseren Welthorizont auszuweiten.Denn alles, was das Verstehen vermittelt, ist mit unsselbst vermittelt.Ein weiterer Punkt ist der, daß die älteren hermeneuti-schen Leitbegriffe, die mens auctoris oder die Meinungdes Textes, aber auch all die psychologischen Faktorenvon Offenheit des Lesers oder Hörers für den Text, in-sofern nicht das Wesentliche an dem wirklichen Vor-gang des Verstehens treffen, als dieser Vorgang in sichein Vorgang von Kommunikation ist, ja ein Vorgangvon wachsender Vertrautheit zwischen der bestimmtenErfahrung beziehungsweise dem >Text< und uns selber.

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Es liegt in der sprachlichen Verf aßtheit all unseres Ver-stehens, daß die vagen Vorstellungen von Sinn, die unstragen, Wort für Wort zur Artikulation gebracht undeben damit kommunikativ werden. Die Gemeinsam-keit alles Verstehens, die in seiner Sprachlichkeit grün-det, scheint mir ein essentieller Punkt der hermeneuti-schen Erfahrung. Wir bilden beständig an einer ge-meinsamen Perspektive, wenn wir eine gemeinsameSprache sprechen und damit an der Gemeinsamkeit un-serer Welterfahrung tätig sind. Das bezeugt sich geradeauch an Widerstandserfahrungen, zum Beispiel an dereiner Diskussion. Sie ist fruchtbar, wenn eine gemein-same Sprache gefunden wird. Dann gehen die Teilneh-mer auseinander wie Verwandelte. Die individuellenAspekte, mit denen sie in die Diskussion eintraten, ha-ben sich gewandelt und so sind sie selber gewandelt.Das ist dann auch eine Art von Fortschritt, freilichnicht, wie der der Forschung, ein Fortschritt, hinterden man nicht zurückfallen kann, sondern der immerwieder in der Anstrengung unseres Lebens erneuertwerden muß.Das Kleinbild einer erfolgreichen Diskussion kann illu-strieren, was ich in der Theorie der Horizontver-schmelzung in >Wahrheit und Methode« entwickelthabe, und mag rechtfertigen, warum ich die Situationdes Gesprächs auch dort für ein fruchtbares Modell hal-te, wo ein stummer Text erst durch die Fragen des In-terpreten zum Reden gebracht wird.Die Hermeneutik, die ich als eine philosophische be-zeichne, stellt sich nicht als ein neues Verfahren der In-terpretation oder Auslegung vor. Sie beschreibt im

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Grunde genommen nur, was immer geschieht und ins-besondere immer dort geschieht, wo Auslegung über-zeugt und gelingt. Es handelt sich also keineswegs umeine Kunstlehre, die sagen will, wie Verstehen seinmüßte. Wir müssen anerkennen, was ist, und so kön-nen wir auch nicht ändern, daß in unserem Verstehenimmer unausgewiesene Voraussetzungen am Werksind. Vielleicht sollten wir es nicht einmal ändern wol-len, wenn wir es könnten. Verstehen ist eben mehr alsdie kunstvolle Anwendung eines Könnens. Es ist im-mer auch Gewinn eines erweiterten und vertieftenSelbstverständnisses. Das heißt aber: Hermeneutik istPhilosophie, und als Philosophie praktische Philoso-phie.Die große Tradition der praktischen Philosophie lebt ineiner Hermeneutik weiter, die sich ihrer philosophi-schen Implikationen bewußt wird. So werden wir aufdiese ältere Tradition zurückverwiesen, von der obendie Rede war. Wie dort haben wir auch in der Herme-neutik dieselbe Wechselimplikation zwischen theoreti-schem Interesse und praktischem Tun. Aristoteles hatdas in seiner Ethik mit voller Klarheit durchdacht. SeinLeben theoretischen Interessen widmen, setzt die Tu-gend der Phronesis voraus. Das schränkt aber den Vor-rang der Theorie, das heißt des Interesses des bloßenWissenwollens, in keiner Weise ein. Ihre Idee ist undbleibt, alle Interessen der Nützlichkeit auszuschalten,ob dieser Nutzen den einzelnen, eine Gruppe oder dieGesellschaft im ganzen betrifft. Auf der anderen Seiteist der Vorrang der >Praxis< unleugbar. Aristoteles wareinsichtig genug, das Wechselverhältnis zwischen

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Theorie und Praxis anzuerkennen. - So ist es Theorie,wenn ich hier über Hermeneutik spreche. Es sind keinepraktischen Situationen des Verstehens, die ich damitzu lösen suche. Es handelt sich um eine theoretischeHaltung gegenüber der Praxis der Interpretation, derInterpretation von Texten, aber auch der in ihnen undin der kommunikativ sich entfaltenden Weltorientie-rung ausgelegten Erfahrungen. Aber diese theoretischeHaltung macht nur bewußt, was in der praktischen Er-fahrung des Verstehens im Spiele ist. So scheint mir,daß die Antwort, die Aristoteles über die Möglichkeiteiner Moralphilosophie gab, auch für unser Interesse ander Hermeneutik gilt. Seine Antwort war, daß Ethikgewiß nur ein theoretisches Unternehmen ist, und daßalles, was in theoretischer Beschreibung von Formendes rechten Lebens dort gesagt wird, für die konkreteAnwendung in menschlicher Lebenserfahrung nur einegeringe Hilfe sein könne. Dennoch macht das allge-meine Wissen wollen dort nicht halt, wo konkrete prak-tische Besonnenheit das Entscheidende ist. Der Zu-sammenhang zwischen allgemeinem Wissenwollen undkonkreter praktischer Besonnenheit ist ein Wechselzu-sammenhang. So scheint mir: Theoretische Bewußtheitüber die Erfahrung des Verstehens und die Praxis desVerstehens, philosophische Hermeneutik und eigenesSelbstverständnis sind voneinander nicht zu trennen.

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Über die Naturanlage des Menschenzur Philosophie

Wir leben in einem Zeitalter, das die Philosophie zu dentheologischen Relikten einer überwundenen Vergan-genheit rechnen möchte oder gar nichts so sehr der ge-heimen und unbewußten Interessenabhängigkeit ver-dächtigt wie das Ideal der reinen Theorie und der Er-kenntnis um der Erkenntnis willen. So weckt der kanti-sche Klang, der in der Behauptung einer Naturanlagedes Menschen zur Philosophie zum Schwingen kommt,den Widerstand eines Zeitbewußtseins, das nicht ein-mal mehr der Wissenschaft und dem Geiste kritischerRationalität, der sie beseelt, zu vertrauen bereit ist. Seitdie technische Zivilisation und der fieberhafte Fort-schritt, mit dem sie den ganzen Erdball überzieht, dieMenschheit vor die atemberaubenden Probleme kriege-rischer oder friedlicher Selbstzerstörung gestellt hat,scheint vollends die philosophische Passion wie eineunverantwortliche Flucht in eine Welt verblassenderTräume. Und nun soll gar behauptet werden, die Philo-sophie gehöre ebenso wesentlich zur Naturanlage desMenschen wie sein technischer Verstand und seinepraktische Klugheit, deren gesammelter Einsatz für dieZukunftsaufgaben der Menschheit kaum auszureichenscheint. Ist noch Zeit zur Muße und zum müßigen Spe-kulieren über die unlösbaren Fragen, die die Philoso-phen einst beschäftigten und die im menschlichen Ge-müt weithin ihren Widerhall fanden?

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Ja, gibt es das überhaupt noch? Ein gebildetes Volkohne Metaphysik verglich Hegel noch im Jahre 1812mit einem Tempel ohne Allerheiligstes. Wie weitscheint das zurückzuliegen, und war es nicht damalsschon, nach Kants Zerstörung der »dogmatischen«Metaphysik und seiner kritischen Rechtfertigung dermodernen Erfahrungswissenschaft und nach dem Epo-cheneinschnitt der Französischen Revolution, demNährboden der philosophie positive, ein rechter Ana-chronismus, den Anbruch des Zeitalters der Wissen-schaft so zu verleugnen? Der rasche Zusammenbruchdes Hegeischen Imperiums des absoluten Geistes bestä-tigt nachdrücklich das Ende der Metaphysik, d. h. aberdas Aufrücken der Erfahrungswissenschaften an die er-ste Stelle im Reiche des denkenden Geistes. Sind sie im-stande, diesen Platz auszufüllen?So fragen, heißt prüfen, ob Philosophie wirklich eineNaturanlage des Menschen darstelle oder ob sie nichtbloß eine Phase der Unreife des erkennenden Geistesist, der sich zu seiner eigenen Rationalität noch nichtgenügend befreit hat. Das ist deshalb die eigenüch kriti-sche Frage an die Philosophie. Denn das, was wir Phi-losophie nennen, mit griechischem Wort eine griechi-sche Sache, meint selber »Wissenschaft«, und diese grie-chische Sache stellt sich als eine - nein als die entschei-dende Phase der Geschichte der Menschheit dar, durchdie sich das »Abendland« von der Mythologie derFrühzeit der Menschheit und der orientalischen Hie-ratik schied und den Weg des Wissenwollens einschlug.Ist dieser Weg jetzt an sein Ziel gekommen und die Phi-losophie zu Ende? Oder ist sie eine bleibende Anlage

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des Menschen, die ihn so wesenhaft kennzeichnet wiesein Wissen um seinen Tod und dies, daß er seine Totenbestattet? Und ist es dieser Gedanke eines Jenseits, derim Abendland seinen besonderen Weg einer Wissen-schaft von einem Jenseits der Natur, den Weg der Me-taphysik gegangen ist? Was war sein Beginn? Alle An-fänge liegen im Dunkel - und was mehr ist, lassen sichstets nur auf ein Späteres hin und von Späterem aus er-hellen. Worte führen weiter, zurück ins Dunkel derFrühe, mehr als jedes andere Zeugnis. Was lehrt uns dasWort Philosophie? Aus Piaton wissen wir, daß er demWorte den scharfen Akzent verlieh, demzufolge »phi-losophieren« das unablässige, wenn auch stets uner-füllte Streben nach der Wahrheit meint, während dasWissen den Göttern vorbehalten sei. Aber es ist keinZweifel, daß das die spezifisch platonische Pointierungeines allgemeineren Wortsinnes ist. Thukydides legtdem Perikles in den Mund, daß die Athener »philoso-phieren« und das Schöne lieben (philosophoumen kaiphilokaloumen). Hier meint das Wort »Interesse antheoretischen Fragen«. Denn »schön« meint den Be-reich dessen, das das Nötige und Nützliche überschrei-tet und um seiner selbst willen gesucht wird, nur weil esgefällt. Aber das Wort ist offenbar, wie eine Anekdotevon Pythagoras lehrt, eine junge Bildung für theoreti-sches Interesse überhaupt und verknüpft dies Interesseoder diese Vorliebe mit dem Wort »weise«, mit wel-chem man die Außerordentlichkeit von Männern be-zeichnete, deren Wissen oder Können alles überragt.Doch in diesem Wort »weise« vollzog sich eine Bedeu-tungsprägung, die den späteren platonischen Begriff

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philosophia vorbereitet. Heraklit gebraucht nämlichden Ausdruck »das Weise«, das über und hinter allemWißbaren und Kennbaren steht, so wie der Meister überallen Lehrlingen steht und über allem Erlernbaren.Das Weise, das eine Weise, von dem Heraklit Kundegeben will und das sich in allem als das Wahre erweisensoll, der allem gemeinsame Logos, Weltgesetz, Welt-grund, Weltsinn, Sein und Denken in eins, hebt sichebenso sehr gegen die poetisch-mythischen »Lehren«eines Homer oder Hesiod ab wie gegen die jonischeWissenschaft, deren Weltneugier und Fragelust demmythischen Denken ein Neues entgegenstellte - undvielleicht ist ja auch, was uns Hesiod als urzeitlicheGöttergeschichte und im besonderen, was uns Homerals Götterleben und Göttertaten schildern, selber schondie aus dem mythischen Frühlicht emporsteigende freieHelligkeit poetischer Imagination und theologischdenkender Systematik. In jedem Falle stellt sich dasdunkle Spruch wissen Heraklits - so gut wie das Welt-,Zahlen- und Seelenwissen eines Pythagoras oder die al-lem Sinnenschein trotzende Seinslogik des Parmenidesall solcher Vielwisserei entgegen - und das geschiehtunter dem neuen Anspruch des Logos, der alle verbin-denden, alles zur kommunikativen Klarheit erheben-den Vernunft.Es scheint, daß dies es war, was Piaton zur Umbildungdes landläufig gewordenen »Philosophia« veranlaßte.Er gab ihm einen neuen Akzent, kritisch gegen das Wis-sen seiner Zeit und zugleich zur Verklärung des Man-nes, der über sein Leben entschied und ihn zum erstenLehrer der Philosophie und zum ersten Gründer einer

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Schule der Philosophie werden ließ: Sokrates. Er schil-dert ihn als einen schlichten Bürger Athens, der sichvom Wissen der »weisen Leute«, die die Natur er-forschten, nichts versprach und statt dessen zur Be-kümmerung um die eigene »Seele« mahnte und dieFrage nach dem rechten Leben fragte. Er war wirklichPhilosoph im neuen platonischen Sinne des Wortes,kein Wissender und Weiser, sondern ausgezeichnetdurch das Wissen um seine eigene und aller anderenUnwissenheit über das, was das Wichtigste und alleinWesentliche ist, das Gute. Er holte, wie die Traditionsagte, die Philosophie vom Himmel, d. h. von der Er-forschung des Weltenbaues und des Naturgeschehens,herab unter die Menschen, in ruhelosem, unermüdli-chem Gespräch nach dem »Guten« fragend - in der Tatdas Ur- und Vorbild aller, die im Philosophen einenMann sehen, dem es um Selbsterkenntnis geht und demsein Denken dazu hilft, über die Widerfahrnisse desLebens^ Unglück, Unrecht und Leiden, ja über die Bit-terkeit des Todes erhaben zu sein. Hier schlingt sich einneuer Faden in das Gewebe, aus dem der Philosophen-mantel gewebt ist, und die Sokratesnachfolge einer vonaller Wissenschaft unabhängigen praktischen Lebens-weisheit, beginnend mit jenem Diogenes in der Tonne,der von Alexander dem Großen nichts Höheres zu er-bitten wußte, als daß er ihm aus der Sonne gehe, beglei-tet seitdem den Königsweg der abendländischen Philo-sophie. Wir werden ihr noch begegnen.Piatons Sokrates-Nachfolge dagegen war nicht dieseallein. Er eröffnete den Königsweg, auf dem die Philo-sophie im Abendland die regina scientiarum, die höch-

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ste aller Wissenschaften wurde. Was er in Fortbildungsokratischer Gesprächskunst betrieb, die »Dialektik«als höchste und letzte Rechenschafts- und Begrün-dungsforderung, richtete er nicht nur, wie Sokrates,gegen die menschliche Unwissenheit der Staatsmänner,der Redner und der Dichter, sowie gegen die, die wirk-lich ihr Handwerk verstehen und am Ende gar gegen dieWissenschaft selbst- und das war vor allem die Mathe-matik. Auch das noch tiefer begründen, was in der an-schaulichen Evidenz mathematischer Lehrsätze bewie-sen ist, Fläche und Figur auf die Zahl und diese auf ihreElemente, Einheit und Vielheit zurückführen, das gabder »Dialektik« den Rang des »eigentlichen« Wissens -denn Einheit und Vielheit in eins, das war fürPlato das letzte Geheimnis aller Ordnung, der himmli-schen wie der menschlichen Dinge, des Weltenbaueswie der Staatsverfassung, der Seelenverfassung wie dergedankenbildenden Rede.Nach Piaton ist der Anfang der »Philosophie«, d. h. derWißbegierde, das Staunen (Thaumazein). Es stellt sichimmer dort ein, wo etwas befremdet, weil es den ge-wohnten Erwartungen widerspricht, z .B . daß sich dieZahlen und Größen als relativ erweisen und nicht festeQualitäten der Dinge sind - eine Erfahrung, die zurEinsicht in das, was Zahlen und Größen sind, d. h. zurMathematik nötigt. Niemand darf hier herein, der nichtMathematik kann, stand über dem Eingangstor derAkademie in Athen, der ersten philosophischen Schuledes Abendlandes. Aber Staunen ist nicht nur Sich-Wundern, sondern auch Bewundern, d. h. beständigesHinschauen zum Vorbildlichen. Das erst, der platoni-

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sehe Aufstieg zum Guten, gibt dem Staunen seine Er-füllung im Schauen. Nicht nur die Mathematik schienPiaton der »Begründung« bedürftig, sondern all unserWissen überhaupt, das der Fachleute wie das allge-meine Wissen, auf Grund dessen wir unsere prakti-schen Entscheidungen treffen. All das bedarf des Wis-sens des Guten.In diesem Sinne kann Plato von der Idee des Guten sa-gen, daß sie der höchste Wissengegenstand überhauptsei, und wenn auch Aristoteles dies Denken auf einenletzten Ursprung hin, das er zu seiner ersten Philoso-phie ausarbeitete, nicht mehr mit der Frage nach demPraktisch-Guten im menschlichen Leben ineins setzte,so teilt er doch ganz mit Plato das Wissenideal des rei-nen Schauens, das einem als höchstes Wissen über alleWissenschaften aufgeht.Bekanntlich hat sich die moderne Erfahrungswissen-schaft nur in mühsamer kritischer Arbeit von den Fes-seln des Gesamtwissens der aristotelischen Philosophiebefreit. Sie erkauft die Gewißheit und Kontrollierbar-keit ihrer Erkenntnisse und den sicheren Weg ihresFortschreitens durch den Verzicht auf ein Gesamtwis-sen solchen Stiles. Indem sie das Beobachtbare denquantifizierenden Methoden der Mathematik unter-warf, fand sie einen neuen Begriff des Naturgesetzesund drang durch Experiment und Hypothese nach allenRichtungen zu wissenschaftlicher Erkenntnis vor.Aber was die alte, durch die Metaphysik gekrönte Wis-senschaft geboten hatte, ein Ganzes der Weltorientie-rung, das die natürliche Welterfahrung und ihre sprach-lich vermittelte Weltauslegung zu einem einheitlichen

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Abschluß brachte, das konnte die neuzeitliche Wissen-schaft nicht bieten. Wie der Mensch sich nicht mehr imZentrum des Weltalls weiß, so ist auch seine Wissen-schaft nicht mehr die natürliche Ausbreitung seinerWelterfahrung, sondern eine eigene Veranstaltung, jaein Angriff auf die Natur, der sie einer neuartigen, aberauch nur teilhaften Beherrschung unterwirft. Mag auchdas noch Jahrhunderte währende Fortspinnen der Phi-losophie an den alten Fragen der Metaphysik seit Humeund Kant mehr und mehr vergangen sein - konnten dieneuen Erfahrungswissenschaften, die kein solches Ge-samtwissen bieten, sondern ein nie endender Prozeßder Erforschung der Natur sind, je ihre Stelle einneh-men? Könnten sie auch nur die Fragen sich stellen, dieunser Wissenwollen unablässig bewegen, Fragen, diewahrlich aus dem Staunen entspringen? Ist Staunennicht noch mehr als jenes Sich wundern und BewundernPiatos? Kommt es einem nicht vor allem vor demFremden und Fremdartigen? Und ist das nicht alles»fremd«: Anfang von allem, Dauer und Ende? Gibt esdie Zeit überhaupt, oder ist sie nur »in uns« ? Warum istüberhaupt etwas und nicht nichts? Und was ist das Be-wußtsein und Selbstbewußtsein, in dem alles noch ein-mal ist? Wie soll man verstehen, daß diese in sich schei-nende Helligkeit, die wir Bewußtsein nennen, einmalzu Ende sein soll? Wie soll ein jeder von uns, der dasdenkt, das verstehen? Oder gar, daß die Freiheit, die erin sich selbst zu besitzen meint und die ihm über Räumeund Zeiten und Ewigkeiten hin zu denken gestattet, einbloßer Schein und Traum ist, den ein anderes be-herrscht, ein Bündel von Trieben und unbewußter

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Drang? Das alles weht uns fremd an, noch in ganz ande-rem Grade als die rätselhafte Tatsache, die Piatons»Theätet« schwindeln machte, daß dasselbe zugleichgroß und klein ist.Es ist bezeichnend, daß das Durchdringen der Wissen-schaft als des bestimmenden Charakters des Zeitalterszwar der klassischen Funktion der Philosophie einEnde machte, aber ihr Fortleben in veränderter Gestaltnicht verhindert hat. Das 19. Jahrhundert wurde das Zeit-alter der Weltanschauungen, ein Wort, das bis in seinenursprünglichen Bedeutungsinhalt hinein das Verspre-chen einer Deutung des Ganzen, das die Wissenschaftnicht mehr einlösen konnte, erneuerte. Es ist nur in derAbwehr dieses weltanschaulichen Denkens, daß diePhilosophie, indem sie ihre Aufgabe festhielt, wissen-schaftliche Philosophie zu bleiben, mehr und mehr zueiner Philosophie der Wissenschaft, ihrer logischen underkenntnistheoretischen Grundlagen wurde.Dagegen trat an die Seite des Weltanschauungsdenkensdie Kunst. Mit dem Ende der Metaphysik flammte deruralte Wettstreit zwischen Philosophie und Dichtungaufs Neue auf. Hatte Piaton angesichts der Forderungrationaler Rechenschaft, die er in Sokrates verkörpertsah, seine eigenen Dichtungen verbrannt und die gro-ßen Dichter der Griechen, Homer und die Tragiker,aus seinem Staate der Bildung verbannt, so trat jetzt dereigene Wahrheitsanspruch der Kunst in mannigfachenFormen hervor. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn mandie große Romandichtung des 19. und 20. Jahrhun-derts, und die Aussage der Kunst insgesamt, in dieserEpoche der bürgerlichen Bildung den alten Aufgaben

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der Philosophie näher findet und in ihnen die Verwalte-rin ihres großen Erbes erblickt. Dem entspricht nunauch die Entwicklung und Funktion der sogenanntenGeisteswissenschaften, die ihrerseits das Erbe der Me-taphysik weitertragen. Im französischen Kulturgebietgehören sie zu den Lettres - so sehr wird ihre Nähe zurDichtung empfunden, daß ein einziges Wort sie zu-sammenschließt. Im angelsächsischen Sprachraumüberträgt man den alten humanistischen Begriff derhumaniora in den eigenen Sprachkontext unter dem Ti-tel »humanities« und bekundet damit, daß in diesenWissenschaften nicht die gegenständliche Welt zumForschungsgegenstand erhoben wird, sondern dasWissen des Menschen von sich selbst und die Welt sei-ner Schöpfungen, in denen er dies Wissen niedergelegthat.Am Ende solcher Wissenschaft steht nicht nur Er-kenntnis, sondern lebendige Fortbildung des Wissensdes Menschen von sich selbst. Vom Standpunkt derWissenschaftstheorie aus muß das aber alles - der An-spruch der Kunst auf Wahrheit so gut wie ein solcherAnspruch der Geisteswissenschaften, dem Selbstver-ständnis des Menschen zu diesen - als hybrid bezeich-net werden, d. h. als eine unzulässige Verschmelzungvon Imagination mit der Strenge der reinen Wissen-schaft.In der Tat ist heute, im Zeitalter eines neuen, radikali-sierten Wissenschaftsglaubens, die Rolle der Kunst inder Gesellschaft ebenso umstritten wie das von denGeisteswissenschaften gepflegte Interesse für die ge-schichtliche Überlieferung der menschlichen Kultur.

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Es ist ein neuer Ton der Erwartung, mit dem sich dasöffentliche Bewußtsein an die Wissenschaft wendet.Zwar betrifft die steigende Beherrschung der Natur-prozesse noch immer nur einen kleinen Bereich der Na-tur, so lebenentscheidend auch insbesondere die Be-herrschung der Energieprobleme im Haushalt desMenschen auf der Erde sind. Schon das Wetter bleibteine stets nachbarliche Erscheinung von Unberechen-barkeit, gar nicht zu reden von dem mit der industriel-len Revolution heraufziehenden furchtbaren Problem-komplex der Selbstgefährdung des Lebens auf diesemPlaneten, der uns oft wie die Todeslinie der Mensch-heitsgeschichte vorkommen will. Aber gerade hierausentspringt die sich steigernde Erwartung, die Wissen-schaft möchte am Ende alle Unberechenbarkeiten ausdem eigensten Leben der Gesellschaft verbannen, in-dem sie alle Lebensbereiche der wissenschaftlichen Be-herrschung unterwirft. Da ist etwa die Beherrschungder Probleme, die durch die Pflege des Erbgutes und dieZüchtung gegeben sind, sowie die Probleme derKrankheitsverhütung und der Krankheitsbekämpfung,die freilich die Fremdheit des Todes nie aufheben kön-nen. Aber auch die naturhaften Grundlagen desMenschseins, die in seinem Triebleben liegen, sollender wissenschaftlichen Beherrschung unterworfenwerden und ein Einklang zwischen den unbewußtenAntrieben und den bewußten Motiven durch Wissen-schaft herbeigeführt werden. Das ist der universelleAnspruch heutiger Psychoanalyse. Da sind die wissen-schaftlichen Probleme, die Wirtschaft und Wohlstandstellen, und deren Bewältigung man von der Ökonomie

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erwartet. Da ist das Problem der sprachlichen Verstän-digung der Menschen miteinander: nicht nur die Viel-heit der Sprachen, die die Menschen sprechen, sondernauch die Ungenauigkeit im Gebrauch einer jeden Spra-che und damit alle Probleme von Verstehen und Miß-verstehen sollen durch eine neue wissenschaftliche Be-herrschung von Sprache überhaupt, durch ihre ratio-nale Konstruktion und Organisation aufgelöst werden.Da sind die Prozesse der Politik, des gesellschaftlichenLebens, der Informationsbildung, der Formung der öf-fentlichen Meinung, der Krieg- und Friedensführung,die durch Wissenschaft aus der emotionalen Sphäre derZufälligkeit befreit werden sollen. Da ist am Ende derAnspruch, auch den objektiven Geschichtsgang zu er-kennen, und das heißt beherrschbar zu machen, unddas wiederum führt zu dem Anspruch, wissenschaftlichzu planen und eine Wissenschaft von der Zukunft zuerwerben.Nun bleiben gewiß die Erfolge der Wissenschaft hintersolchen Erwartungen und Hoffnungen auf all solchenGebieten weit zurück. Meist stellen sie nicht viel mehrals Rahmenvorstellungen dar, deren Ausfüllung undderen Anpassung an die wechselnden Situationen mitden Mitteln der Wissenschaft einfach nicht möglichscheint. Sie geben damit einen gewissen Anhalt. Aberwas sie so beliebt macht, ist etwas anderes. Die Autori-tät der Wissenschaft und der Experten bedeutet Entla-stung von der Verantwortung, die der Handelnde trägt- auch wenn die Wissenschaft oft nicht wirkliche Si-cherheit geben kann. Es ist keine Frage, daß dabei au-ßerrationale Faktoren hineinspielen und wirksam sind,

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die jenem älteren Bedürfnis des Wissenwollens näherstehen, das die Philosophie ehedem in sich zusammen-faßte, Erwartungshorizonte und Konventionen, Glau-bensvorstellungen, traditionsbestimmte Normbegriffeund all das, was die praktischen Entscheidungen derMenschen seit alters trägt und bestimmt. Indessen, daßes tatsächlich so ist, das entscheidet noch nicht über dieLegitimität des Zieles, alle Entscheidungen der Ver-antwortung der Wissenschaft zu unterstellen. Um dieseFrage entscheidbar zu machen, muß man sich eine zurPerfektion gesteigerte Beherrschung all dieser Lebens-sphären vor Augen stellen und sich fragen: Könnte einesolche unser Wissenwollen - und das ist nicht zuletztein Wissenwollen dessen, was wir zu tun haben - be-friedigen? Läßt sich für das Leben des einzelnen wie fürdas Leben der Gesellschaft eine so vollständige Verwis-senschaftlichung denken und wollen, daß eine jede per-sönliche und politische Entscheidung »objektiv«, d. h.nicht durch uns, sondern durch die Wissenschaft ent-schieden wird? Oder ist unser Wissenwollen stets vonder Art, daß es sich noch aus anderen Quellen ernährenmuß als aus denen der immer weiter fortschreitendenForschung? Gehört es am Ende zum Wissen des Men-schen von sich selbst, daß er — wie Sokrates — weiß, waser nicht weiß? Und nie wissen wird? Sind die Fragenabzuweisen, auf die die Wissenschaft keine Antwortweiß und die dennoch das menschliche Gemüt beschäf-tigen und die die ungeheuren Antworten der Religionen,der Mytologien, von Kunstschöpfungen wie den Tra-gödien, von Denkwerken wie den Platonischen Dialo-gen hervorgerufen haben?

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Niemand wird meinen, daß angesichts dieser alten Fra-gen und jenes neuen Aufbruchs der Wissenschaft diePhilosophie noch einmal ihre alte Gesamtfunktionübernehme und all unser Wissen in einem einheitlichenWeltbild vereinigen könnte. Aber die Naturanlage desMenschen zur Philosophie, d. h. zum Wissenwollen,setzt sich durch. Besteht nicht die Aufgabe fort, dasWissen der Wissenschaft, begrenzt und vorläufig, gesi-chert und wirkungsmächtig, wie es ist, und all das Wis-sen vom Menschen, das uns aus der großen geschichtli-chen Überlieferung der menschlichen Kultur zuströmt,in unser praktisches Bewußtsein umzusetzen? Hiersehe ich die Aufgabe einer echten Integration: Wissen-schaft und das Wissen des Menschen von sich selbst ineines zu binden, um eine neue Selbstverständigung derMenschheit mit sich selber heraufzuführen. Wir bedür-fen ihrer. Denn wir leben in einer beständig steigendenSelbstentfremdung, die längst nicht mehr auf den Be-sonderheiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnungallein beruht, sondern auf der Abhängigkeit derMenschheit von dem, was wir als unsere Zivilisationum uns errichtet haben. So stellt sich die Aufgabe, denMenschen wieder zum Verständnis seiner selbst zubringen, mit steigender Dringlichkeit. Dem dient seitalters die Philosophie, auch in der Gestalt derselben,die ich Hermeneutik nenne (als Theorie und auch alsPraxis der Kunst, zu verstehen und das Fremde,Fremdartige, Fremdgewordene zum Sprechen zu brin-gen). Das mag dazu helfen, gegenüber all dem, das unsfraglos einnimmt, und so auch gegenüber dem eigenenKönnen Freiheit zu gewinnen. Am Ende behält Piaton

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recht. Nur durch die Entmythologisierung der Wissen-schaft, die zwar das Ihre beherrscht, aber nicht wissenkann, wem sie dient, kann die Herrschaft des Wissensund Könnens zur Selbstbeherrschung werden. Die del-phische Forderung: »Erkenne dich selbst« meinte:»Erkenne, daß du ein Mensch bist und kein Gott«. Siegilt auch für den Menschen im Zeitalter der Wissen-schaften, denn sie warnt vor allen Illusionen von Herr-schaft und Beherrschung. Selbsterkenntnis allein ver-mag die Freiheit zu retten, die nicht nur durch die je-weils Herrschenden bedroht ist, sondern mehr nochdurch die Herrschaft und Abhängigkeit, die von alldem ausgeht, das wir zu beherrschen meinen.

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Philosophie oder Wissenschaftstheorie?

Das mir vorgeschlagene Thema klingt etwas sonderbar.Als ob Wissenschaftstheorie nicht auch Philosophiewäre. Der Sinn der gestellten Frage muß also sein : Kannes überhaupt noch in irgendeinem Sinne Philosophiegeben außer in dem der Wissenschaftstheorie? Ist dasZeitalter der Philosophie in dem Sinne vorüber, in demmit Hegels Tod (1831) das Zeitalter der Metaphysik zuEnde war? Ist nicht wirklich in dem Zeitalter der Wis-senschaft, in dem wir stehen, der einzig legitime Sinnvon Philosophie der der Theorie der Wissenschaft? Wares nicht gerade das Verhängnis der Entwicklung derPhilosophie in unserem Jahrhundert, d. h. in der Zeitdes Zerfalls des Neukantianismus1, daß sie sich unterdem Stichwort >Existenzphilosophie< getrennt von derWissenschaft einen eigenen Anspruch gab?In der Tat war es ehedem der wissenschaftliche An-spruch der Philosophie gewesen, das Surrogat derWeltanschauungen von sich zu weisen. Philosophiesollte selber strenge Wissenschaft sein. Im Zeichen derWiederentdeckung Kants in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts war das eine Selbstverständlichkeit. Incharakteristischer Verengung der eigenen Blickrich-tung berief man sich dafür auf Kant selber und insbe-sondere auf die eingängige Form, die Kant seiner kriti-schen Philosophie in den sogenannten >Prolegomena<gegeben hatte2. Wer heute diese Schrift Kants liest, die

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zwar nur eine faßlichere Darstellung der Grundgedan-ken der >Kritik der reinen Vernunft* bieten wollte, aberin Wahrheit den eigentlichen Durchbruch und erstaun-lich raschen Sieg der Idee der kritischen Philosophie inden 80er Jahren des 18. Jahrhunderts gebracht hat, ent-deckt mit einer gewissen Überraschung, daß die er-kenntnistheoretische Kant-Deutung, die das spätere19. Jahrhundert mit seiner Rückkehr zu Kant vollzog,sich mit einem gewissen Recht auf den Kant der >Prole-gomena< berufen konnte. Hier klingt es wirklich beinahso, als sei das Faktum der Wissenschaft vorauszusetzenund als habe die Kantische Kritik nur die rechtferti-gende Begründung für dieses Faktum erbringen wol-len. Das war in Wahrheit die Perspektive gewesen, un-ter der im 19. Jahrhundert die Erkenntnistheorie zurGrunddisziplin der Philosophie aufstieg und das Ver-ständnis der >Kritik der reinen Vernunft* ganz unter diePerspektive der Erkenntnistheorie rückte. Das drücktsich etwa darin aus, daß das französische und englischeÄquivalent für den in der Mitte des 19. Jahrunderts ent-standenen Begriff der Erkenntnistheorie >Epistemolo-gie< oder >Epistemology< hieß. Diese Wörter lassen dengriechischen Ausdruck für Wissenschaft und damit dieGleichsetzung aller Erkenntnis mit wissenschaftlicherErkenntnis anklingen. Der Gegenstand der Erkennt-nis, das berühmte >Ding an sich< Kants, ist, wie es in derMarburger neukantianischen Formulierung heißt,nichts als die »unendliche Aufgabe« - und das meint:für die wissenschaftliche Forschung.Es konnte freilich nicht ausbleiben, daß die Denkformder transzendentalen Reflexion, welche die Bedingun-

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gen der Möglichkeit der Erfahrung als die Begründungder Erfahrungswissenschaften verstand, auf den ganzenGeltungsbereich der Kultur ausgedehnt wurde. So tratim Neukantianismus selber und insbesondere in seinersüdwestdeutschen Form neben die Kategorien, die denGegenstand der Erkenntnis konstituieren, das Substi-tut der Werte, deren Geltung es in transzendentaler Re-flexion ebenso zu begründen galt, wie die theoretischenGrundbegriffe der Erkenntnis in der sogenannten Er-kenntnistheorie begründet wurden. Die Geisteswissen-schaften fanden auf diese Weise eine der erkenntnis-theoretischen Rechtfertigung der Naturwissenschaftenanaloge transzendentale Begründung. Es war derWertbezug, der etwa den Begriff der historischen Tat-sache definierte.Nun war die Rückkehr zu Kant, d. h. der Neukantia-nismus in der Varietät seiner Spielarten, nur die eine derherrschenden Strömungen des Zeitalters - die anderewar die durch die englische induktive Logik, insbeson-dere durch John Stuart Mill3 auch im deutschen Sprach-raum überaus einflußreiche Orientierung an dem soge-nannten Empirismus, d. h. an der Ableitung der Gel-tung unserer Begriffe aus dem Rückbezug auf die pri-mären Inhalte der Erfahrung, die in der sinnlichenWahrnehmung zur Gegebenheit gelangen. Hier war dieErfahrungswissenschaft nicht nur das der Begründungbedürftige Faktum - die Begründung der Wissenschaftund ihrer Allgemeinbegriffe wurde selber als ein Wegund ein Werk der Erfahrung verstanden. Aber obtranszendentaler Apriorismus oder logischer Empiris-mus - beide Positionen verstanden sich von der Auflö-

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sung der dogmatischen Metaphysik her, ob dieselbenun auf Kant oder auf Hume zurückging, und entspra-chen durchaus der Charakteristik des Zeitalters, dieAuguste Comtes geschichtsphilosophische Konstruk-tion gegenüber dem Zeitalter der Metaphysik als dasZeitalter der positiven Wissenschaft bezeichnet hatte4.Das Wort >positiv< ist freilich vage genug. Es kenn-zeichnet geradezu die Lage der Philosophie im Anfangunseres Jahrhunderts, daß sie sich selber als ein Streitum den wahren Positivismus und somit in letzter In-stanz als eine Rechtfertigung der positiven Wissen-schaften verstehen konnte. Der Begriff des Positiven,d. h. des Gegebenen, war eben in sich unbestimmt undmehrdeutig. Gegebenheit ist Gegebenheit für . . . Dasmeint offenkundig Bewußtseinsgegebenheit. Heißt dasaber auch, wie der frühe Positivismus behauptet hatte,daß die einzigen Bewußtseinsgegebenheiten, auf diesich alle Erkenntnis der Außenwelt zurückführen läßt,die sinnlichen Gegebenheiten, d. h. die sogenanntenEmpfindungsdaten sind? So daß am Ende eine Mecha-nik der Sinnesempfindungen dem Aufbau unserer Er-fahrungswelt zugrunde liegt? Da setzt die Kritik an:Gibt es überhaupt die Empfindung als eine wirklicheGegebenheit im Bewußtsein? Oder hängt es am Endevon dem, was das Bewußtsein selber meint und weiß,wenn es etwas als gegeben erfährt, ab, wieweit Sinnes-empfindungen als Bausteine der Erfahrung Geltung be-anspruchen können? Aber was sind Bewußtseinsgege-benheiten? Läßt sich die Gültigkeit unserer Begriffe,und sei es auch nur im Felde der Logik, aufgrund derpsychologischen Erforschung unseres Bewußtseins

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verstehen? Es war die durchschlagende Kritik an denVerzerrungen, die die sensualistische Psychologie ins-besondere den logischen Gebilden gegenüber angerich-tet hatte, was eine neue, tiefere Begründung des Aprio-rismus in der Philosophie heraufführte: die Phänome-nologie Edmund Husserls5. Die siegreiche Zurückwei-sung des Psychologismus im ersten Band der l o g i -schen Untersuchungen* war jedoch nur der erste Schritteiner neuen philosophischen Grundlegung. Die trans-zendentale Reflexionsrichtung des Neukantianismusöffnete sich und weitete sich zu einem immensen Feldephänomenologischer Forschung, welche die Zuord-nung differenzierter Bewußtseinsweisen, sogenannterIntentionalitäten, zu den ihnen korrelativen intentiona-len Gegenständen studieren sollte. Im Begriff der In-tentionalität war der dogmatische Zwiespalt zwischender Immanenz des Selbstbewußtseins und der Trans-zendenz der Welterkenntnis, der dem Begriff der Er-kenntnistheorie und ihren theoretischen Konstruktio-nen zugrunde lag, grundsätzlich überwunden. Die Er-kenntnistheorie wandelte sich in Phänomenologie derErkenntnis und Philosophie in Phänomenologie, soferndiese in den intentionalen Leistungen des Bewußtseinsdie Konstitution aller objektiven Geltung begründete.Aber auch die altere sensualistische Begründung derErkenntnis, die sich ihrerseits >Positivismus< nannte,hielt nicht länger an dem dogmatischen Begriff derEmpfindungsgegebenheit fest, sondern untersuchte dieFrage nach dem Fundament der Erkenntnis - in Abse-hung von allen physiologisch-psychologischen Voran-nahmen - so wie es in der reinen Immanenz des Wahr-

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heitsanspruches von Sätzen seine Rechtfertigung findenkonnte. Ihre theoretische Arbeit galt der Problematikder Protokollsätze, d. h. derjenigen Sätze, an derenWahrheit kein möglicher Zweifel bestehen kann, weildas Aussprechen des Satzes mit der unmittelbaren Er-fahrung des beobachteten Sachverhaltes zusammen-fällt. Von da sollte der logische Aufbau der Welt gelin-gen6.So erheben beide Wege, der des philosophischenApriorismus wie der des logischen Empirismus, dengleichen universellen Anspruch, das Ganze aller mögli-chen Erkenntnis zu begründen - und das hieß, den An-spruch der Wissenschaft zu rechtfertigen. - Aberebenso lag darin, daß solche wissenschaftliche Philoso-phie nicht alles, was die philosophischen Wissenschaf-ten in der klassischen Tradition des Abendlandes gewe-sen waren, in sich zu umfassen und als wissenschaftlichbegründet zu rechtfertigen vermochte. Erinnern wiruns, was das für ein Wissen war. Jedermann kennt dieTradition unter dem Namen der >Metaphysik< undweiß wohl auch, daß dieser Name bei dem Begründerder Tradition, bei Aristoteles, nicht vorkommt, son-dern daß es stattdessen >erste Philosophie<, >prima phi-losophia< heißt. Was man aber im allgemeinen nichtrealisiert, das ist, was in dieser Bezeichnung impliziertist, nämlich daß erste Philosophie nur eine sinnvolleBezeichnung für die Frage nach dem Ersten, dem Prin-zip, sein konnte, solange Philosophie noch den Ge-samttitel für alle Art theoretischen Wissens und Wis-senschaft darstellte. Die erste Philosophie war nicht nurdie erste unter den philosophischen Wissenschaften,

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sondern die erste unter allen Wissenschaften über-haupt, die in der Summe der griechisch-christlichenTradition zusammengefaßt sind. >Philosophie< meintWissenschaft.Wenn man das problematische Verhältnis zwischenPhilosophie und Wissenschaft, wie es unsere gegenwär-tige Zeit beherrscht, wirklich verstehen will, muß manals erstes die tiefe und einschneidende Bedeutung des17. Jahrhunderts erkennen. Damals nahm eine neueIdee von Wissenschaft ihren Anfang und fand ihre erstetheoretische Begründung. Mit der Galileischen Mecha-nik und der Ausbreitung ihres Verfahrens auf das ganzeFeld der Erfahrung trat eine Idee von Wissenschaft insLeben, die von der Grundlage der ersten Philosophie,der Lehre von der Substanz als dem wahrhaft Seienden,grundsätzlich geschieden war. Das kühne Unterneh-men einer mathematischen Beschreibung und Analyseder Phänomene, das die Evidenz des Augenscheins hin-ter sich ließ und Galilei zu der Aufstellung der Gesetzeder Mechanik führte, war erklärtermaßen mit dem Ver-zicht auf die Erkenntnis der Substanzen erkauft. Galileiunterwarf die Natur einer mathematischen Konstruk-tion und gewann so einen neuen Begriff des Naturge-setzes. Die Erforschung der Naturgesetze auf der Basismathematischer Abstraktion und ihre Verifikation mitden Mitteln des Messens, Zählens und Wagens steht ander Wiege der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Sieermöglichte erst die volle Anwendung von Wissen-schaft auf die technische Umarbeitung der Natur fürmenschliche Zwecke, die unsere Zivilisation von heuteim planetarischen Ausmaß geprägt hat. Es war insbe-

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sondere die Idee der Methode, d. h. der Sicherung desErkenntnisweges durch das leitende Ideal der Gewiß-heit, das einen neuen Einheitssinn von Wissen und Er-kenntnis zur Geltung brachte, der mit der Traditionunserer älteren Welterkenntnis nicht mehr in selbstver-ständlichem Zusammenhang stand. Das ist die ersteVoraussetzung, die der gestellten Frage zugrunde liegt.Diese neue Konzeption von Wissenschaft begründeteerstmals den engeren Begriff von Philosophie, den wirseither mit dem Wort >Philosophie< verbinden.Freilich handelte es sich nicht um ein Verhältnis derAusschließung, sondern um Auseinandersetzung, jaVereinigung der älteren mit der neueren Wissen-schaftsidee. Das war von nun an die >eigentliche< Auf-gabe der >Philosophie<. Das erste sprechende Exempelfür diesen Sinn der philosophischen Wissenschaften<,der bis Kant und Hegel das neuzeitliche Denken be-herrscht hat, spiegelt sich aufs deutlichste im WerkeDescartes'7. Sein >Discours de la Méthode< und mehrnoch die konsequente Ausarbeitung seines Methoden-ideals in den sogenannten >Regulae<, die erst lang nachseinem Tode, erstmals 1700 ans Licht traten, mochtennoch so sehr ein neues Wissensideal entwickeln. Es galtzugleich, sich gegenüber dem Wissensanspruch derTradition zu verantworten. Das berühmteste WerkDescartes' drückt schon im Titel diese Aufgabe derSelbstverantwortung aus: Die >Meditationen über dieerste Philosophie* meinen nicht so sehr, wie die deut-sche Übersetzung suggeriert, daß hier neue Grundla-gen der Philosophie an die Stelle der alten gerückt wer-den, sondern im Gegenteil, daß das neue Erkenntnis-

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und Methodenideal seine Begründung und Rechtferti-gung in den >alten< Wahrheiten zu suchen hatte. Zwarwar es etwas Ungeheures, daß Descartes in seiner radi-kalen Zweifelsbetrachtung das Ganze unserer verständ-lichen Welt in seiner Legitimität in Frage stellte und le-diglich in der Unerschütterlichkeit des jeweiligenSelbstbewußtseins eine letzte Gewißheit entdeckte -und das alles nicht, wie die antike Skepsis, in antidog-matischer Absicht, sondern um einen neuen, methodi-schen Weg der Erkenntnis zu begründen und zu recht-fertigen. So war es für ihn ganz evident, daß man nichtin der Unzweifelhaftigkeit des Selbstbewußtseins al-lein, sondern in der Gottesidee, die in ihm ihre evidenteAusweisung hatte, den Garanten für die Anwendungder Vernunftwahrheiten auf die Erfahrungswelt findenkann. Eben das schien dem Neukantianismus und - inanderer Wendung - selbst Husserl nichts als Unklarheitund Inkonsequenz - so sehr war die Aufgabe der Meta-physik inzwischen verblaßt. In Wahrheit lag für Des-cartes die ganze Pointe seines neuen Nachdenkens überdie Wahrheiten der Metaphysik darin, daß nur auf demHintergrunde dieses alten Wahrheitsbegriffs und seinesgöttlichen Garanten die neue Wissenschaft begründetwerden konnte. So steht Descartes am Anfang des Zeit-alters der großen philosophischen Systeme, die allesamtdarin ihre Aufgabe und ihre Auszeichnung hatten, daßsie das Unvereinbare zu vereinigen, das sich in die Par-tikularität wissenschaftlicher Forschung Vereinzelndein das Ganze unserer Welterfahrung einzuordnen such-ten. Das ist der Sinn von >System< der Philosophie, derdamals aufkam und bis heute einen unkritischen Zu-

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gang zu den >Sachen< der Philosophie verrät. Das großeVorbild der Leibnizschen Synthese von Universalma-thematik und Individualmetaphysik definiert den Sinnder Philosophie geradezu in dem Sinne, daß sie die neueWissenschaftsidee mit der Tradition der Metaphysik zuvermitteln hat. Sieht man Kants eigene kritische Lei-stung im Zusammenhang dieser Generalaufgabe derneueren Philosophie, so nimmt sie sich freilich sehr an-ders aus, als die neukantische Rechtfertigung des Fak-tums der Wissenschaften durch tranzendentalc Refle-xion suggerierte. So sehr Kant die Leibnizsche Syntheseund das Ideal einer Erkenntnis aus Begriffen als »dog-matische Metaphysik< verwirft und durch seine Kritikwiderlegt, so gewiß versteht er sich doch selber noch imFragehorizont der Metaphysik. Nicht nur daß seineMoralphilosophie die wesentlichen Inhalte der tradi-tionellen Metaphysik auf der Basis des Vernunftfak-tums der Freiheit neu in Geltung setzt - auch der Be-griff einer Metaphysik der Natur, d. h. einer reinenVernunftwissenschaft, die die Grundbegriffe der Naturzu entwickeln hat, behält für ihn Sinn. Vollends aberhaben die kühnen Versuche der Nachfolger Kants8, dasAposteriori der Erfahrung und das Apriori der Ver-nunft zu einer vollendeten Identität zu steigern, denGedanken der Metaphysik festgehalten und zum letz-ten Male die Einheit der philosophischen Wissenschaf-ten als die Einheit allen Wissens abzuleiten unternom-men. Gewiß war es ein zum Scheitern verurteilter Ver-such, die Physik wieder zur spekulativen Physik zumachen, d. h. den allseitigen Fortschritt der Naturer-kenntnis in einer Begriffsnotwendigkeit beanspru-

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chenden Naturphilosophie zusammenzufassen undebenso das unendliche Feld der geschichtlichen Erfah-rung der Notwendigkeit des sich selbst begreifendenGeistes unterzuordnen. Aber die Aufgabe bleibt derphilosophischen Vernunft gestellt, alles Wissen in einGanzes zurückzubinden. Muß das nicht heißen, in Na-tur und Geist und Geschichte die Verwirklichungen dereinen und selben >Vernunft< zu erkennen? Es ist nichtZufall, daß Hegel aus dem griechischen Begriff des Lo-gos die Basisdisziplin der philosophischen Wissen-schaften, die transzendentale Logik entwickelt9. Er, derErneuerer der platonischen Dialektik, bekennt sichdamit zu den griechischen Anfängen einer philosophi-schen und wissenschaftlichen Tradition, die selbst imZeitalter der Wissenschaft in seinen Augen ihre uner-schöpfte Lebenskraft beweisen. Es ist die Wendung indie kommunikativ verstandene und verständliche Welt,die der platonische Sokrates als die zweitbeste Fahrt,die Flucht in die Logoi, bezeichnet hat10, der auch He-gel noch folgt. Die Welt verstehen, wie einer sein eige-nes Verhalten versteht, wenn er etwas als >gut< erkannthat: in dieser denkwürdigen Selbstrechtfertigung, diePlato dem seiner Hinrichtung entgegenwartenden So-krates in den Mund legt, hat sich ein Weltverständnisphilosophisch legitimiert, das zwar unserm Begriff vonWissenschaft nicht mehr entspricht, das aber aus unse-rer eigenen Welterfahrung nicht wegzudenken ist. DasZeitalter der Wissenschaft, das nach dem Zusammen-bruch und Ende der Hegeischen Synthese von Philoso-phie und Wissenschaft seinen Lauf begonnen hat, ver-mochte das Erbe dieser Tradition nicht mehr voll in sich

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einzubehalten. Das ist es, was der Frage >Philosophieoder Wissenschaftstheorie?< zugrunde liegt: Ist daüberhaupt noch ein Weg, im Zeitalter der Wissenschaftdas große Menschheitserbe von Wissen und Weisheitzu bewahren und zu bewahrheiten?Daß es mit bloßer Restauration nicht getan ist, zeigtesich vor allem in dem Verlust an öffentlicher Bedeu-tung, den die Philosophie als ganze im Laufe des 19.Jahrhunderts erfuhr. Es waren die großen Außenseiterwie Schopenhauer und Nietzsche, und nicht HermannLotze oder Eduard Zeller, der Erfinder des Wortes >Er-kenntnistheorie<, die das 19. Jahrhundert bestimm-ten11. Damals entwickelte sich das Wort >Weltanschau-ung< zum Modewort, ein wahres plurale tantum, dasschon als Wort die Relativität der Weltanschauungenzum Ausdruck bringt, die sich zwar auf Wissenschaftberiefen, aber gerade keine volle wissenschaftlicheAusweisung erlaubten. Der Abwanderung in das Welt-anschauungsdenken und seine unauflösbare Pluralitätentsprach die Entfaltung des historischen Bewußtseins.Wilhelm Dilthey12, der philosophische Repräsentantder historischen Schule, sah die philosophische Auf-gabe eben darin, die Vielheit der Weltanschauungen inder »gedankenbildenden Arbeit des Lebens« zu be-gründen. Das bedeutete aber für das Ganze der Welt-deutung, die sie darstellten, daß Philosophie in ihremErkenntnisanspruch überhaupt nicht mehr ernst ge-nommen wurde, sondern wie andere Kulturschöpfun-gen der Menschheit (Kunst, Recht, Religion usw.) alsAusdruck des Lebens galt, der als solcher zwar Gegen-stand wissenschaftlicher Erkenntnis zu werden ver-

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mag, aber als Ausdrucksphänomen nicht selbst Wissenist. Die Denkform dieser wissenschaftlichen Behand-lung der Weltanschauungen wurde die Typologie. Da-hinter verbarg sich aber in Wahrheit der grundsätzlicheEinwand des historischen Relativismus, den keine Ar-gumentationskunst aufzulösen imstande war und dersich gegen jeden Anspruch der Philosophie, Erkenntnisaus Begriffen zu sein, richtete.Damit ist die Situation erreicht, aus der sich die Ent-fremdung zwischen Philosophie und Wissenschaft im20. Jahrhundert herleitet. Gewiß konnte man es als eineAufgabe der Philosophie bezeichnen und in Anspruchnehmen, das Auseinanderfallen des menschlichenDenkens in Typen der Weltanschauung seinerseits zubegreifen. Das war im besonderen die Leistung der Exi-stenzphilosophie, daß sie aus der Erfahrung der Grenz-situationen, in denen das Wissen der Wissenschaftkeine Weltorientierung mehr zu leisten vermag, eineneigenen Begriff von Existenz entwickelte, d. h. die Ver-nünftigkeit der Existenz zur Geltung brachte. Aberdamit wurden in Wahrheit die Wissenschaften in ihrerzwingenden Richtigkeit für sich stehen gelassen unddem Begründungsanspruch der Philosophie entzogen,die auf dem Grunde der Bewegtheit der Existenz dieChiffren der Transzendenz - als Metaphysik, als Reli-gion, als Kunst zu lesen unternahm und damit die Phi-losophie in das Lampenlicht des Privaten drängte.Es ist nicht die allgemeine Bedeutung der Wissenschaftfür die menschliche Zivilisation, die einer solchen Pri-vatisierung der Philosophie widersteht - das könnte ihrSchicksal sein, sich nur im Rückzug ins Private zu er-

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halten. Indessen, die gesellschaftliche Funktion derWissenschaft und ihre Ermöglichung der Technik istnicht ein Äußeres, demgegenüber Philosophie dasReich der Innerlichkeit und der vernünftigen Freiheit inungestörtem Besitz behalten könnte. Es ist insbeson-dere die steigende Bedeutung der Wissenschaft für dieTechnik der Meinungsbildung und Urteilsbildung in-nerhalb der menschlichen Gesellschaft, die es verbietet,sich an den Grenzen der wissenschaftlichen Weltorien-tierung auf die Vernunft der Existenz zu berufen. Dasnicht länger zu dürfen, ist die Signatur unserer Zeit.Auch wenn Philosophie darauf verzichten muß, in dieArbeit der Wissenschaften selber richtungweisend odergar berichtigend einzugreifen, muß sie ihre alte Auf-gabe der Rechenschaftsgabe nunmehr erst recht demdurch Wissenschaft gestalteten Leben selbst zuwenden.Die Unabhängigkeit der Wissenschaft von der Philoso-phie bedeutet ja zugleich ihre Verantwortungslosigkeit- natürlich nicht im moralischen Sinne des Wortes,sondern im Sinne ihrer Unfähigkeit und Unbedürftig-keit, über das Rechenschaft zu geben, was sie selber imGanzen des menschlichen Daseins, d. h. vor allem inihrer Anwendung auf Natur und Gesellschaft bedeutet.Das ist nun freilich nicht das, was die sogenannte Wis-senschaftstheorie als ihre philosophische Aufgabe an-sieht. Aber muß sie nicht über die Aufgabe einer imma-nenten Rechtfertigung des Tuns der Wissenschaft hin-ausgehen, wenn sie wirklich Rechenschaftsgabe seinwill? Muß ihre Rechenschaftsgabe nicht selber dasGanze des Wissens meinen und Wissenschaft im Gan-zen unseres Wissens, und stößt sie dann nicht auf eben

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die Fragen, die Philosophie von jeher gefragt hat undnicht aufgeben kann, weder nach Kants »alles zermal-mender« Kritik noch nach der Diskreditierung der>Spekulation< im 19. Jahrhundert noch selbst nach demVerdikt, das das Ideal der »unity of science« gegen alle>Metaphysik< geschleudert hat? Ich möchte zeigen,daß nicht nur der universale Apriorismus hinter die Wis-senschaft zurücktragen mußte, sondern daß aller Wis-senschaftstheorie selber der Gedanke der Selbst-recbtfertigung zugrunde liegt, der sie über sich hin-ausnötigt. So war es das Besondere der Phänomenolo-gie gegenüber den übrigen Formen des Neukantianis-mus, daß sie die natürliche Welterfahrung, die noch al-ler wissenschaftlichen Methodik vorausliegt, und ihrekonstitutiven Begriffe aufzuklären unternahm. Diespäte Wortprägung von >Lebenswelt<, die im Zusam-menhang philosophischer Rechenschaftsgabe im spätenHusserl13 eine bedeutende Rolle spielte, gibt dem deut-lichen Ausdruck. Aber gerade hier stieß die Phänome-nologie auf eine Grenze ihres Ideals der >Letztbegrün-dung<. Es waren die Aporien der Selbstbezüglichkeitder Phänomenologie als der Wissenschaft vom reinenBewußtsein und insbesondere die Aporien der Selbst-konstitution der Zeitlichkeit, in denen das transzen-dentale Selbstbewußtsein des Ego sich verwickelt, wasden ganzen Entwurf einer transzendentalen Phänome-nologie zum Einsturz brachte. Den entscheidendenDurchbruch bedeutete dabei Heideggers14 Kritik amBegriff des Bewußtseins und die Aufdeckung seiner on-tologischen Vorgreiflichkeit. Das war die eigentlichePointe der >Einführung< in die Seinsfrage, die >Sein und

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Zeit< darstellt. Wenn Heidegger die Frage nach demSein neu zu stellen unternahm, war es nur konsequent,daß am Ende die Zeitlichkeit des Daseins, d. h. seineEndlichkeit und Geschichtlichkeit, die den Horizontder Seinsfrage öffnete, nicht einfach an die Stelle destranszendentalen Bewußtseins trat, sondern daß die ge-samte Denkform einer transzendentalen Begründungder Umbildung verfiel. Zwar war es bereits in sich einebedeutende Einsicht, daß sich der Objektivitätsbegriffder Wissenschaft ontologisch als ein derivierter Modusdes menschlichen Daseins und seiner Weltangewiesen-heit verstehen läßt. Nur Narren können in solcher on-tologischer Derivation eine Minderung der Bedeutungoder der Rechtmäßigkeit der Wissenschaft sehen. Aberes konnte noch scheinen, als ob die radikale Fragestel-lung der Philosophie dem rechtmäßigen Geschäft derWissenschaft gleichsam von sich aus seinen Platz an-wiese. In Wahrheit war es gerade die Pointe der ontolo-gischen Einsicht, die das Denken Heideggers vermittel-te, daß die Wissenschaft einem Seinsverständnis ent-springt, das sie nötigt, von sich aus jeden Platz in An-spruch zu nehmen und keinen Platz außerhalb ihrerüberhaupt unbesetzt zu lassen. Das aber heißt, daßheute nicht die Metaphysik, sondern die Wissenschaft>dogmatisch< mißbraucht wird.Eine ähnliche Kritik an dogmatischen Voraussetzungenvollzog sich aber auf dem Felde des logischen Empiris-mus selber. War durch die Heideggersche Kritik an derPhänomenologie die apodiktische Evidenz des Selbst-bewußtseins als ein ontologisches Vorurteil enthülltworden, so hatte auch die Konzeption des logischen

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Empirismus ein dogmatisches Element, das insbeson-dere in dem Fundament aller Erkenntnis, der Unmit-telbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung bzw. Beob-achtung lag. Es war im Grunde schon in den Anfängendes Wiener Kreises umstritten, ob die sogenannten Ba-sissätze einer wissenschaftlichen Theorie eine Gewiß-heitsauszeichnung besitzen, und jedenfalls hatte sichder Begriff des Protokollsatzes bald als unzulänglicherwiesen, eine solche Auszeichnung zu begründen.Eine solche kann am Ende nur von der Funktion vonSätzen im Ganzen einer Theorie aus geleistet werden.Das aber ist am Ende ein hermeneutischer Grundsatz,daß sich das Einzelne ebensosehr aus dem Ganzen be-stimmt wie das Ganze aus den vielen Einzelnen. Sokonnte auch die logische Form der Induktion einerschärferen Kritik nicht standhalten. Es war das Ver-dienst der Selbstkritik des Wiener Kreises, die Recht-fertigung von Erkenntnis im Sinne einer allem Zweifelentrückten Gewißheit als eine unmögliche Aufgabe er-kannt zu haben. Gewiß haben wissenschaftlicheTheorien ihren Sinn und ihre Geltung am Ende nurdurch die Bestätigung, die die Erfahrung ihnen zuteilwerden läßt. Aber Erkenntnisgewißheit wird nochlange nicht durch eine anwachsende Reihe von Bestäti-gungen erbracht, weit eher durch das Ausbleiben vonGegeninstanzen, die Falsifikation bedeuten würden. Eswar eine konsequente Zuspitzung der Logik der Bestä-tigung, wenn Karl Popper15 statt die Verifizierbarkeitdie Falsifizierbarkeit zur logischen Bedingung wissen-schaftlicher Aussagen erhob. In Wahrheit beschränktsich freilich das wirkliche Verfahren der Forschung

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auch nicht auf diese Selbstvergewisserung e contrario.Aber es definiert, wie mir scheint, auf angemesseneWeise die Fruchtbarkeit einer wissenschaftlichen Frage-stellung, daß ihre Beantwortung >offen< ist - d. h. daßErfahrung die erwartete Bestätigung verweigern kann.Es scheint mir daher auch gar nicht im Widerspruch zurLogik der Forschung, wenn Thomas Kuhn16 die Be-deutung des Paradigmas für den Fortgang der For-schung herausarbeitete. Seine Theorie der >Revolution<in der Wissenschaft kritisiert mit Recht die falsche Stili-sierung auf Gradlinigkeit, die mit dem Fortschritt derWissenschaft verknüpft sei, und zeigt die Diskontinui-tät, die durch die jeweilige Herrschaft paradigmatischerGrundentwürfe bewirkt wird. Der ganze Problembe-reich der >Relevanz< von Fragen hängt daran - und dasist eine hermeneutische Dimension.In ähnlicher Weise war auch der Weg des Aufbaus einereindeutigen Wissenschaftssprache, die imstande wäre,den logischen Aufbau der Welt zu rekonstruieren, inSchwierigkeiten geraten, uind am Ende hat erst dieÜberwindung des nominalistischen Korrespondenz-ideals zwischen sprachlichen Zeichen und Bedeutungden Gedanken der Letztbegründung auch in dieserFragerichtung zu Fall gebracht. Es war insbesonderedie Selbstkritik Wittgensteins'7 und seine Konzeptionder Sprachspiele, die eine ganz andersartige Zugangs-weise eröffnete. Der ursprüngliche Praxisbezug allesSprechens trat an die Stelle einer eindeutigen Wissen-schaftssprache, und damit wandelte sich die logischeAufgabe der Begründung der Erkenntnis in die der so-genannten sprachanalytischen Philosophie, die sich der

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logischen Analyse der verschiedensten Sprechweisenund Sprachspiele zuwandte. Damit war wenigstens imPrinzip der Vorrang des theoretischen Sprechens in>statements< eingeschränkt. Auch das ist am Ende einhermeneutischer Grundsatz, daß es von dem jeweiligenScopus einer Äußerung, einer Rede, eines Textes ab-hängt, wie er verstanden werden muß, bzw. eines Ver-stehens dieses Scopus, wenn richtig verstanden werdensoll.Endlich ist festzustellen, daß auch die von Popperentwickelte Theorie von trial and error sich durchausnicht auf die Logik der Forschung beschränkt und beialler Verkürzung und Stilisierung, die in diesemSchema liegt, einen Begriff logischer Rationalität zurDarstellung bringt, der sich über das Feld wissenschaft-licher Forschung weit hinaus erstreckt und die Grund-struktur aller Rationalität, auch der der >praktischenVernunft< beschreibt. Allerdings ist die Rationalität derpraktischen Vernunft nicht nur als die Rationalität derMittel zu vorgegebenen Zwecken zu verstehen. Geradedie Vorgegebenheit unserer Zwecke, die Ausbildunggemeinsamer Zweckrichtungen unseres gesellschaftli-chen Daseins, unterliegt praktischer Rationalität, diesich in der kritischen Aneignung der uns bestimmendenNormen gesellschaftlichen Verhaltens bestätigt. Aufdiese Weise hat sich auch noch die von der Wissenschafterarbeitete Verfügungsmöglichkeit über die Mittelweltpraktischer Rationalität zu fügen.Allerdings hat man sich hier zu fragen, ob nicht allediese Bewegungen in Richtung auf Entdogmatisierung,indem sie vom logischen Empirismus selber als Wissen-

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schaftstheorie oder als bloße Ausweitung der Verfah-rensweise der Wissenschaft verstanden werden, sichnicht am Ende einem instrumenteilen Wissensideal ein-ordnen. Ich meine damit, ob nicht die Sprachanalyseoder auch die Beschreibung der logischen Rationalitätsich ihrerseits dem Ideal der Wissenschaft unterwerfen,deren Analyse sie beschreiben, und das hieße: sich sel-ber als Mittel und instrumenteile Zurüstung für denFortschritt der Erkenntnis einstufen. Das wäre freilicheine Grenze ihres Selbstverständnisses und ihrerSelbstrechtfertigung, und die wissenschaftliche For-schung selber wäre die erste, ihnen die Gefolgschaft zuversagen. Wenn sie die Aufgabe philosophischerRechtfertigung, die sie betreiben, ernst nehmen, wer-den sie über diese Grenze hinausgehen müssen. Es wareine große Einsicht, als Wittgenstein feststellte, daß dieSprache immer in Ordnung ist. Aber es würde ein tech-nologisches Selbstmißverständnis implizieren, wenndiese Einsicht sich auf die Aufgabe einschränkte,Sprachspiele richtig auseinanderzuhalten und auf dieseWeise Scheinprobleme aufzulösen. In Wahrheit ist dasIn-Ordnung-Sein der Sprache weit mehr. Dort, wo siedas Ihre tut, d. h. ihre kommunikative Leistung voll-bringt, fungiert sie nicht als eine Technik oder Organikdes Sichverständigens, sondern ist diese Verständigungselbst - bis hin zum Aufbau einer gemeinsamen Welt, inder wir miteinander eine verständliche - nein: dieselbeSprache sprechen. Das ist die sprachliche Verfassungunseres menschlichen Lebens, die durch keine Infor-mationstechnik ersetzt oder verdrängt werden kann.So sehen wir in den Wissenschaften selbst die herme-

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neutische Dimension sich als die eigentlich tragendeund begründende erweisen - in den Naturwissenschaf-ten als die Dimension der Paradigmen und der Relevanzder Fragestellungen. In den Sozialwissenschaften ließesich ähnliches als die Selbstaufhebung des Sozial-Inge-nieurs in den gesellschaftlichen Partner beschreiben. Inden geschichtlichen Wissenschaften endlich ist sie alsdie beständige Vermittlung von Einst und Jetzt undMorgen am Werk.Denn in den geschichtlichen Wissenschaften hebt sichvollends das scheinbare Gegenüber des erkennendenSubjekts und seiner Gegenstände auf. Es ist nicht nureine Einschränkung, die dort die Anonymisierung derErkenntnis, die wir Objektivität nennen, erleidet, son-dern es ist eine Auszeichnung, die sie erfährt, sofern diegeschichtliche Erkenntnis der Vergangenheit uns vordas Ganze unserer menschheitlichen Möglichkeiten stelltund uns damit mit unserer Zukunft vermittelt. Das istes, was wir alle von dem gewaltigen DenkversuchHeideggers, Sein als Zeit zu denken und die Herme-neutik der Faktizität< dem Idealismus des bloßen Ver-stehens von Sinntraditionen entgegenzusetzen, gelernthaben sollten, daß die Überlieferungen, in denen wirstehen - und alle Überlieferung, die wir stiftend oderaneignend weitergeben - , nicht so sehr ein Gegen-standsfeld wissenschaftlicher Sachbeherrschung dar-stellen, Ausdehnung unserer Wissens-Herrschaft überUnbekanntes, als eine Vermittlung unseres Selbst mitunseren wirklichen, uns überkommenen Möglichkei-ten - mit dem, was sein kann und was geschehen undaus uns werden mag.

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So ist Wissenschaft nicht weniger Wissenschaft, wo siesich in den Humaniora ihrer integrativen Funktion be-wußt is t - so wenig wie die Wissenschaftlichkeit, die inden Natur- oder Sozialwissenschaften erreichbar ist,dadurch verliert, daß Wissenschaftstheorie sie ihrerGrenzen bewußt werden läßt. Ist das dann >Wissen-schaftstheorie< oder ist es Philosophie?

Anmerkungen des Herausgebers

1 »Neukantianismus* ist eine Sammelbezeichnung für philosophi-sche Strömungen, die mit dem Rückgang auf Kant eine Renais-sance der Philosophie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts her-beiführten. Als seine beiden wichtigsten Richtungen bildeten sichdie >Marburger Schule* (Hauptvertrcter: H. Cohen, P. Natorp,E. Cassirer) und die >Südwestdeutsche Schule< (Hauptvertreter:W. Windelband, H. Rickert, E. Lask, ß. Bauch) heraus; die er-stere orientierte Philosophie primär an der Erforschung der Er-kenntnisbedingungen und Grundsätze der Naturwissenschaften,die letztere richtete ihr Hauptaugenmerk auf das Wertproblemund über dieses auf die philosophische Begründung der Geistes-wissenschaften (»Kulturwissenschaften*). Die Blüte beider Schu-len fiel in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

2 Immanuel Kants (1724-1804) grundlegendes Werk, die >Kritik derreinen Vernunft* erschien 1781 (in 2., veränderter Auflage 1787);es folgten 1 783 die >Prolegomena zu einer jeden künftigen Meta-physik, die als Wissenschaft wird auftreten können* und als Über-gang zu einer eigentlichen Metaphysik der Natur 1 786 >Metaphy-sische Anfangsgründe der Naturwissenschaft*. Die wichtigstenethischen Werke Kants sind: >Grundlegung zur Metaphysik derSitten* (1785), >Kritik der praktischen Vernunft* (1788) und >DieMetaphysik der Sitten in zwei Teilen* ( 1797), Als drittes kritischesHauptwerk erschien 179C die >Kritik der Urteilskraft*.

3 John Stuart Mill (1806-1873) legte in seinem Werk >A System ofLogic, ratiocinative and induetive« (1843) eine Theorie der induk-tiven Methode vor; er ging davon aus, daß alle Allgemeinbegriffenur Abstraktionen aus sinnlicher Erfahrung sind. Die deutsche

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Übersetzung von J. Schiel (Braunschweig 1849) war überaus ein-flußreich und führte den Terminus »Geisteswissenschaften* (fürengl. >moral sciences«) ein.

4 Auguste Comte ( 1798-1857) teilte die Geschichte der Menschheitin drei Stadien ein: ein theologisches, ein metaphysisches und einpositives, in welch letzterem Metaphysik durch Wissenschaft ab-gelöst ist (Hauptwerk: Cours de philosophie positive. 6 Bde.1830-42). - Metaphysikkritisch verhielt sich sowohl der »logischeApriorismus« der Marburger Neukantianer wie der »logischeEmpirismus«, der in den Schriften des schottischen PhilosophenDavid Hume (1711-1776) vorbereitet war.

5 Edmund Husserl (1859-1938): Logische Untersuchungen. l.Bd.:Prolegomena zur reinen Logik (1900); 2. Bd.: Untersuchungenzur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (1901). - Die>transzendentale< Phänomenologie wird entfaltet in: Ideen zu ei-ner reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-phie (1913). - Gesammelte Werke (Husserliana), bisher 16 Bde.(Den Haag 1950ff.)

6 Rudolf Carnap (1891-1970) veröffentlichte 1928 ein Buch unterdem Titel >Der logische Aufbau der Welt* (2. Auflage Hamburg1961). Carnap gehörte zu den Begründern des >Wiener Kreises<,der 1929 mit der Programmschrift »Wissenschaftliche Weltauffas-sung - Der Wiener Kreis< hervortrat; die Zeitschrift >Erkenntnis<folgte diesem Programm. Andere Repräsentanten der hier vertre-tenen >neopositivistischen< Philosophie waren M. Schlick, L.Wittgenstein, O. Neurath und H. Reichenbach. Sie knüpfte anden älteren Positivismus, insbesondere den >Empiriokritizismus<von R. Avenarius (1843-1896) und E. Mach (1838-1916) an.

7 René Descartes ( 1596-1650): Regulae ad directionem ingenii (Re-geln zur Leitung des Geistes, in den 20er Jahren geschrieben, 1701veröffentlicht); Discours de la méthode (Abhandlung über dieMethode, 1637); Meditationes de prima philosophia (Meditatio-nen über die erste Philosophie, 1641 ); Principia philosophiae (DiePrinzipien der Philosophie, 1644).

8 J.G. Fichte (1762-1814), F.W.J. Schclling (1 775-1854), G.W.F.Hegel (1770-1831).

9 Hegels Hauptwerke: Die Phänomenologie des Geistes (1807);Wissenschaft der Logik (1812/16); Grundlinien der Philosophiedes Rechts (1821); Enzyklopädie der philosophischen Wissen-schaften im Grundrisse (3. Ausgabe 1830).

10 Piaton: Phaidon 99 c/d.

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11 Hermann Lotzc (1817-1881), Mediziner und Philosoph, war ei-ner der einflußreichsten Autoren und Philosophielehrer des 19.Jahrhunderts (einer frühen >Metaphysik< 1841 und >Logik< 1843,die im >System der Philosophie* 1874 und 1879 neubearbeitet er-schienen, folgte der >Mikrokosmos< 1836ff., um nur einige derwichtigsten Werke zu nennen); Eduard Zeller (1814-1908) wurdevor allem durch sein großes Werk >Die Philosophie der Griechen*( 1844ff.) bekannt; mit seinem Vortrag >Uber Bedeutung und Auf-gabe der Erkenntnistheorie* (1862), abgedruckt mit Zusätzen in:E. Zeller: Vorträge und Abhandlungen. 2. Sammlung (Leipzig1877) 479-526, verschaffte er dem Wort >Erkenntnistheorie< alsneuer Bezeichnung für die grundlegende philosophische Diszi-plin Eingang in die akademische Welt (vgl. A. Diemer: (Art.) Er-kenntnistheorie, Erkenntnislehre, ErkenntniskritikI, in: J.Ritter(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2 (Ba-sel/Stuttgart 1972) Sp. 683.-Den Universitätsphilosophen stehengegenüber der ob seiner Verbitterung gegen die Professorenzunftbekannte Arthur Schopenhauer (1788-1860) (Hauptwerk: DieWelt als Wille und Vorstellung, 1819) und Friedrich Nietzsche(1844-1900), dessen Gedanken erst im 20. Jahrhundert zu eigent-licher Wirksamkeit gelangten.

12 Wilhelm Dilthey (1833-1911): Einleitung in die Geisteswissen-schaften (1883); Ideen über eine beschreibende und zergliederndePsychologie (1894); Die Typen der Weltanschauung und ihreAusbildung in den metaphysischen Systemen (1911) nebst zahl-reichen geistesgeschichtlichen Arbeiten. Zur »historischen Schule<und Diltheys Philosophie vgl. H.-G. Gadamer: Wahrheit undMethode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik ( 1960,3. Auflage Tübingen 1972) 185ff.

13 E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und dietranszendentale Phänomenologie. HusserlianaBd. VI (Den Haag1962). Vgl. H.-G. Gadamer: Diephänomenologische Bewegung.Philosophische Rundschau 11 (1963) 1-45, abgedruckt in: H.-G.Gadamer: Kleine Schriften III: Idee und Sprache (Tübingen 1972)150-189; ders.: Die Wissenschaft von der Lebenswelt a.a.O.190-201.

14 Martin Heidegger (geb. 1889): Sein und Zeit (1927, 10. Aufl. Tü-bingen 1963).

15 Karl R.Popper (geb. 1902): Logik der Forschung (1934, 3. dtsch.Auflage Tübingen 1969); vgl. E. Ströker: Aspekte gegenwärtigerWissenschaftstheorie, in: H. Holzhey (Hg.): Wissenschaft/Wis-

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senschaften. Philosophie aktuell Bd. 3 (Basel/Stuttgart 1974).16 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen

(1962, 2. dtsch. Auflage Frankfurt a. M. 1973).17 Ludwig Wittgenstein (1889-1951) vollzog diese Selbstkritik an

den in seinem >Tractatus logico-philosophicus< (1921) geäußertenAuffassungen in »Philosophische Untersuchungen« (dtsch./engl.Ausgabe 1953). Von Wittgensteins >Schriften< liegen bisher 6Bände vor (Prankfurt a. M. 1960ff.).

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Quellenangaben

Über das Philosophische in den Wissenschaften und die Wissenschaft-lichkeit der Philosophie: Unveröffentlichter Vortrag, gehalten wah-rend des Hegel-Kongresses im Mai 1975 in Stuttgart.Hegels Philosophie und ihre Nachwirkungen bis heute: akademikerinformation, Heft 3/1972, S. 15-21.Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft: Univcr-sitas, Heft 11, 1974, S. 1143-1158.Hermeneutik als praktische Philosophie: aus: Rehabilitierung derpraktischen Philosophie, Band 1, hrsg. von Manfred Riedel, S. 325bis 344.Über die NaturanUge des Menschen zur Philosophie: Vortrag bei derEntgegennahme des Reuchlinprcises der Stadt Pforzheim 1971 am20. November 1971.Philosophie oder Wissenschaftstheorie?: aus: interdisziplinär, Inter-disziplinäre Arbeit und Wissenschaftstheorie, hrsg. von HelmutHolzhey, Basel/Stuttgart 1974, S. 89-104.

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Inhalt

Über das Philosophische in den Wissenschaftenund die Wissenschaftlichkeit der Philosophie

7

Hegels Philosophieund ihre Nachwirkungen bis heute

32

Was ist Praxis?Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft

54

Hermeneutik als praktische Philosophie78

Über die Naturanlage des Menschen zur Philosophie110

Philosophie oder Wissenschaftstheorie?125

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Bibliothek SuhrkampVerzeichnis der letzten Nummern

926 Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras/Das Treibhaus/Der Tod in Rom927 Thomas Bernhard, Holzfällen928 Danilo Kis, Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch929 Janet Frame, Auf dem Maniototo930 Peter Handke, Gedicht an die Dauer931 Alain Robbe-Grillet, Der Augenzeuge934 Leonid Leonow, Evgenia Ivanovna935 Marguerite Duras, Liebe936 Hans Erich Nossack, Das Mal und andere Erzählungen937 Raymond Queneau, Die Haut der Träume - »Fern von Rueil«938 Juan Carlos Onetti, Leichensammler939 Franz Hessel, Alter Mann940 Bernard Shaw, Candida941 Marina Zwetajewa, Mutter und die Musik942 Jürg Federspiel, Die Ballade von der Typhoid Mary943 August Strindberg, Der romantische Küster auf Ranö944 Alberto Savinio, Maupassant und der andere945 Hans Mayer, Versuche über Schiller946 Martin Walser, Meßmers Gedanken947 Ödön von Horväth, Jugend ohne Gott948 E. M. Cioran, Der zersplitterte Fluch949 Alain, Das Glück ist hochherzig950 Thomas Pynchon, Die Versteigerung von N0.49951 Raymond Queneau, Heiliger Bimbam952 Hermann Ungar, Die Verstümmelten953 Marina Zwetajewa, Auf eigenen Wegen954 Maurice Blanchot, Thomas der Dunkle955 Thomas Bernhard, Watten956 Eça de Queiroz, Der Mandarin957 Norman Malcolm, Erinnerungen an Wittgenstein958 André Gide, Aufzeichnungen über Chopin959 Wolfgang Hoffmann-Zampis, Erzählung aus den Türkenkriegen961 August Scholtis, Jas der Flieger962 Giorgos Seferis, Poesie963 Andrzej Kusniewicz, Lektion in einer toten Sprache964 Thomas Bernhard, Elisabeth IL965 Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß966 Walter Benjamin, Berliner Kindheit, Neue Fassung967 Marguerite Duras, Der Liebhaber968 Ernst Barlach, Der gestohlene Mond969 Tschingis Aitmatow, Der weiße Dampfer970 Christine Lavant, Gedichte971 Catherine Colomb, Tagundnachtgleiche972 Robert Walser, Der Räuber973 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung

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974 Jan Jozef Szczepanski, Ikarus975 Melchior Vischer, Sekunde durch Hirn/Der Hase976 Juan Carlos Onetti, Grab einer Namenlosen977 Vincenzo Consolo, Die Wunde im April978 Jürgen Becker, Felder979 E. M. Cioran, Von Tränen und von Heiligen980 Olof Lagercrantz, Die Kunst des Lesens und des Schreibens981 Hermann Hesse, Unterm Rad982 T. S. Eliot, Über Dichtung und Dichter983 Anna Achmatowa, Gedichte984 Hans Mayer, Ansichten von Deutschland985 Marguerite Yourcenar, Orientalische Erzählungen986 Robert Walser, Poetenleben987 René Crevel, Der schwierige Tod988 Scholem-Alejchem, Eine Hochzeit ohne Musikanten989 Erica Pedretti, Valerie990 Samuel Joseph Agnon, Der Verstoßene991 Janet Frame, Wenn Eulen schrein992 Paul Valéry, Gedichte993 Viktor Sklovskij, Dritte Fabrik994 Yakup Kadri, Der Fremdling995 Patrick Modiano, Eine Jugend997 Thomas Bernhard, Heldenplatz998 Hans Blumenberg, Matthäuspassion999 Julio Cortâzar, Der Verfolger

1000 Samuel Beckett, Mehr Prügel als Flügel1001 Peter Handke, Die Wiederholung1002 Else-Lasker-Schüler, Arthur Aronymus1003 Heimito von Doderer, Die erleuchteten Fenster1004 Hans-Georg Gadamer, Das Erbe Europas1005 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung1006 Marguerite Duras, Aurelia Steiner1007 Juan Carlos Onetti, Der Schacht1008 Ε. Μ. Cioran, Auf den Gipfeln der Verzweiflung1009 Marina Zwetajewa, Ein gefangener Geist1010 Christine Lavant, Das Kindi o n Alexandros Papadiamantis, Die Mörderin1012 Hermann Broch, Die Schuldlosen1013 Benito Pérez Galdos, Tristana1014 Conrad Aiken, Fremder Mond1015 Max Frisch, Tagebuch 1966-19711016 Catherine Colomb, Zeit der Engel1017 Georges Dumézil, Der schwarze Mönch in Varennes1018 Peter Huchel, Gedichte1019 Gesualdo Bufalino, Das Pesthaus1020 Konstantinos Kavafis, Um zu bleiben1021 André du Bouchet, Vakante Glut / Dans la chaleur vacante1022 Rainer Maria Rilke, Briefe an einen jungen Dichter1023 René Char, Lob einer Verdächtigen / Eloge d'une Soupçonnée1024 Cees Nooteboom, Ein Lied von Schein und Sein

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1025 Gerhart Hauptmann, Das Meerwunder1026 Juan Benet, Ein Grabmal / Numa1027 Samuel Beckett, Der Verwaiser / Le dépeupleur / The Lost Ones1028 Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W.1029 Bernhard Shaw, Die Abenteuer des schwarzen Mädchens auf der

Suche nach Gott1030 Francis Ponge, Texte zur Kunst1031 Tankred Dorst, Klaras Mutter1032 Robert Graves, Das kühle Netz / The Cool Web1033 Alain Robbe-Grillet, Die Radiergummis1034 Robert Musil, Vereinigungen1035 Virgilio Pinera, Kleine Manöver1036 Kazimierz Brandys, Die Art zu leben1037 Karl Krolow, Meine Gedichte1038 Leonid Andrejew, Die sieben Gehenkten1039 Volker Braun, Der Stoff zum Leben 1-31040 Samuel Beckett, Warten auf Godot1041 Alejo Carpentier, Die Hetzjagd1042 Nicolas Born, Gedichte1043 Maurice Blanchot, Das Todesurteil1044 D. H. Lawrence, Der Mann, der Inseln liebte1045 Jurek Becker, Der Boxer1046 F.. M. Cioran, Das Buch der Täuschungen1047 Federico Garcia Lorca, Diwan des Tamarit / Divan1048 Friederike Mayröcker, Das Herzzerreißende der Dinge1049 Pedro Salinas, Gedichte / Poemas1050 Jürg Federspiel, Museum des Hasses1052 Alexander Blök, Gedichte1053 Raymond Queneau, Stilübungen1054 Dolf Sternberger, Figuren der Fabel1055 Gertrude Stein, Q . E. D.1057 Marina Zwetajewa, Phoenix1058 Thomas Bernhard, In der Höhe, Rettungsversuch, Unsinn1059 Jorge Ibargüengoitia, Die toten Frauen1060 Henry de Montherlant, Moustique1061 Carlo Emilio Gadda, An einen brüderlichen Freund1062 Karl Kraus, Pro domo et mundo1063 Sandor Weöres, Der von Ungern1064 Ernst Penzoldt, Der arme Chatterton1065 Giorgos Seferis, Alles voller Götter1066 Horst Krüger, Das zerbrochene Haus1067 Alain, Die Kunst sich und andere zu erkennen1068 Rainer Maria Rilke, Bücher Theater Kunst1069 Claude Ollier, Bildstörung1070 Jörg Steiner, Schnee bis in die Niederungen1071 Norbert Elias, Mozart1072 Louis Aragon, Libertinage1073 Gabriele d'Annunzio, Der Kamerad mit den Wimpernlosen Augen1075 Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter1076 Willy Kyrklund, Vom Guten

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Bibliothek SuhrkampAlphabetisches Verzeichnis

Achmatowa: Gedichte 983Adorno: Minima Moralia 236- Noten zur Literatur I 47- Noten zur Literatur II 71- Noten zur Literatur III 146- Noten zur Literatur IV 395

- Über Walter Benjamin 260Agnon: Der Verstoßene 990Aiken: Fremder Mond 1014Aitmatow: Der weiße Dampfer 969- Dshamilja 315Alain: Das Glück ist hochherzig 949- Die Kunst sich und andere zu

erkennen 1067- Die Pflicht glücklich zu sein 470Alain-Fournier: Der große Meaulnes

142

-Jugendbildnis 23Alberti: Zu Lande zu Wasser 60Alexis: Der verzauberte Leutnant 830Amado: Die Abenteuer des Kapitäns

Vasco Moscoso 850- Die drei Tode des Jochen

Wasserbrüller 853Anderson: Winesburg, Ohio 44Anderson/Stein: Briefwechsel 874Andrejew: Die sieben Gehenkten 1038Andrzejewski: Appellation 325-Jetz t kommt über dich das Ende 524D'Annunzio: Der Kamerad 1073Apollinaire: Bestiarium 607Aragon: Libertinage 1072Artmann: Fleiß und Industrie 691- Gedichte über die Liebe 473Asturias: Der Böse Schacher 741- Der Spiegel der Lida Sal 720Bajin: Shading 725Bachmann: Der Fall Franza 794- Malina 534Ball: Flametti 442- Zur Kritik der deutschen

Intelligenz 690Bang: Das weiße Haus 586- Das graue Haus 587- Exzentrische Existenzen 606

Baranskaja: Ein Kleid für FrauPuschkin 756

Barlach: Der gestohlene Mond 968Barnes: Antiphon 241- Nachtgewächs 293Baroja:ShantiAnda, der Ruhelose 326Barthelme: Der Tote Vater 511- Komm wieder Dr. Caligari 628Barthes: Am Nullpunkt der Literatur

762- Die Lust am Text 378Becher: Gedichte 453Becker, Jürgen: Erzählen bis Ostende

842- Felder 978Becker, Jurek: Der Boxer 1045-Jakob der Lügner 510Beckett: Bruchstücke 657- Damals 494- Der Verwaiser 1027- Drei Gelegenheitsstücke 807- Erste Liebe 277- Erzählungen undTexte um Nichts 82- Gesellschaft 800- Glückliche Tage 98- Mehr Prügel als Flügel 1000- Um abermals zu enden 582- Warten auf Godot 1040-Wie es ist 118Benêt: Ein Grabmal/Numa 1026Benjamin: Berliner Chronik 251- Berliner Kindheit 966- Einbahnstraße 27- Sonette 876Bernhard: Amras 489- Am Ziel γβγ- Ave Vergil 769- Beton 857- DerlgnorantundderWahnsinnige 317- Der Schein trügt 818- Der Stimmenimitator 770- Der Theatermacher 870- Der Untergeher 899- Die Jagdgesellschaft 376- Die Macht der Gewohnheit 415

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- Einfach kompliziert 910- Elisabeth II. 964- Heldenplatz 997- Holzfällen 927- In der Höhe, Rettungsversuch,

Unsinn 1058- ja 600- Midland in Stilfs 272- Ritter, Dene, Voss 888- Über allen Gipfeln ist Ruh 728- Verstörung 229-Watten 955- Wittgensteins Neffe 788Bioy-Casares: Morels Erfindung 443Blanchot: Das Todesurteil 1043- Warten Vergessen 139-Thomas der Dunkle 954Blixen: Ehrengard 917- Moderne Ehe 886Bloch: Erbschaft dieser Zeit 388- Spuren. Erweiterte Ausgabe 54- Thomas Münzer 77- Verfremdungen 2 120Blök: Gedichte 1052Blumenberg: Die Sorge geht über den

Fluß 965- Matthäuspassion 998Bonnefoy: Rue Traversière 694Borchers: Gedichte 509Born: Gedichte 1042Du Boucher. Vakante Glut 1021Bove: Armand 792- Bécon-les-Bruyères 872- Meine Freunde 744Brandys: Die Art zu Leben 1036Braun Volker: Der Stoff zum

Leben 1-3 1039- Unvollendete Geschichte 648Brecht: Die Bibel 256- Dialoge aus dem Messingkauf 140- Flüchtlingsgespräche 63- Gedichte und Lieder 33- Geschichten 81- Hauspostille 4- Politische Schriften 242- Schriften zum Theater 41- Svendborger Gedichte 335- Über Klassiker 287Brentano: Die ewigen Gefühle 821Breton: CAmour fou 435

- Nadja 406Broch: Demeter 199- Die Erzählung der Magd Zerline 204- Die Schuldlosen 1012- Esch oder die Anarchie 157- Gedanken zur Politik 245- Hofmannsthal und seine Zeit 385- Huguenau oder die Sachlichkeit 187- James Joyce und die Gegenwart 306- Menschenrecht und Demokratie 588- Pasenow oder die Romantik 92Brudzinski: Die rote Katz 266Bufalino: Das Pesthaus 1019Bunin: Mitjas Liebe 841Butor: Bildnis des Künstlers 912- Fenster auf die Innere Passage 518Cabrai de Melo Neto: Erziehung

durch den Stein 713Camus: Die Pest 771- Ziel eines Lebens 373Canetti: Der Überlebende 449Capote: Die Grasharfe 62Cardenal: Gedichte 705Carossa: Ein Tag im Spätsommer 1947

649- Gedichte 596- Führung und Geleit 688- Rumänisches Tagebuch 573Carpentier: Barockkonzert 508- Das Reich von dieser Welt 422- Die Hetzjagd 1041Carrington: Das Hörrohr 901- Unten 737Castellanos: Die neun Wächter 816Celan: Gedichte I 412- Gedichte II 413- Der Meridian 485Ceronetti: Das Schweigen des Körpers

810Char: Lob einer Verdächtigen 1023Cioran: Auf den Gipfeln 1008- Das Buch der Täuschungen 1046- Der zersplitterte Fluch 948- Gevierteilt 799- Über das reaktionäre Denken 643- Von Tränen und von Heiligen 979- Widersprüchliche Konturen 898Colette: Diese Freuden 717Colomb: Das Spiel der Erinnerung 915- Tagundnachtgleiche 971

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-Zei t der Engel 1016Conrad: Jugend 386Consolo: Wunde im April 977Cortäzar: Der Verfolger 999- Geschichten der Cronopien und

Famen 503Crevel: Der schwierige Tod 987Dagerman: Deutscher Herbst 924-Gebranntes Kind 795Daumal: Der Analog 802Ding Ling: Tagebuch der Sophia 670Doderer:Die erleuchteten Fenster 1003Döblin: Berlin Alexanderplatz 451Dorst: Klaras Mutter 1031Drummond de Andrade: Gedichte

765Dürrenmatt: Monstervortrag über

Gerechtigkeit und Recht 803Dumézil: Der schwarze Mönch in

Varennes 1017Duras: Aurelia Steiner 1006- Der Liebhaber 967- Der Nachmittag des Herrn

Andesmas 109- Ganze Tage in den Bäumen 669- Liebe 935Ehrenburg: Julio Jurenito 455Ehrenstein: Briefe an Gott 642Eich: Aus dem Chinesischen 525- Gedichte 368- In anderen Sprachen 135- Katharina 421- Marionettenspiele 496- Maulwürfe 312-Träume 16Eliade: Das Mädchen Maitreyi 429- Dayan / Im Schatten einer Lilie

836- Die drei Grazien 577- Der Hundertjährige 597- Fräulein Christine 665- Nächte in Serampore 883- Neunzehn Rosen 676- Die Pelerine 522- Die Sehnsucht n. d. Ursprung 408Elias: Mozart 1071- Über die Einsamkeit der Sterbenden

in unseren Tagen 772Eliot: Gedichte 130- Old Possums Katzenbuch 10

- Über Dichtung und Dichter 982- Das wüste Land 425Elytis: Ausgewählte Gedichte 696- Lieder der Liebe 745- Maria Nepheli 721- Neue Gedichte 843Enzensberger: Mausoleum 602- Der Menschenfreund 871- Verteidigung der Wölfe 711Faulkner: Wilde Palmen 80Federspiel: Die Ballade von der

Typhoid Mary 942- Museum des Hasses 1050Fitzgerald: Der letzte Taikun 91Fleißer: Ein Pfund Orangen 37cFrame: Auf dem Maniototo 929- Wenn Eulen schrein 991Frank: Politische Novelle 759Frey: Solneman der Unsichtbare

855Frisch: Andorra 101- Biedermann und die Brandstifter

1075-Bin 8- Biografie: Ein Spiel 225- Biografie: Ein Spiel,

Neue Fassung 1984 873- Blaubart 882- Homo faber 87- Montauk 581- Tagebuch 1946-49 261-Tagebuch 1966-1971 1015- Traum des Apothekers von Locarno

604- Triptychon 722Gadamer: Das Erbe Europas 1004- Lob der Theorie 828- Wer bin Ich und wer bist Du?

Gadda: An einen brüderlichen Freund1061

Gaiczynski: Die Grüne Gans 204Garcia Lorca: Diwan des Tamarit

1047- Gedichte 544Gebser: Lorca oder das Reich der

Mütter 592- Rilke und Spanien 560Gellen: Budapest 237Generation von 27: Gedichte 796

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Gide: Chopin 958- Die Aufzeichnungen und Gedichte

des André Walter 613- Die Rückkehr des verlorenen

Sohnes 591Ginzburg: Die Stimmen des Abends

782Giraudoux: Elpenor 708-Juliette im Lande der Männer 308-Siegfried 753Gracq: Die engen Wasser 904Graves: Das kühle Netz 1032Grenier: Die Inseln 887Gründgens: Wirklichkeit des Theaters

526Guillén, Jorge: Gedichte 411Guillén, Nicolas: Gedichte 786Guimaräes Rosa: Doralda, die weiße

Lilie 775Gullar: Schmutziges Gedicht 893Guttmann: Das alte Ohr 614Handke: Die Angst des Tormanns

beim Elfmeter 612- Die Stunde der wahren Empfindung

773- Die Wiederholung 1001- Gedicht an die Dauer 930- Wunschloses Unglück 834Hasek: Die Partei 283Hauptmann: Das Meerwunder 1025Hemingway: Der alte Mann und das

Meer 214Herbert: Ein Barbar in einem Garten

536- Herr Cogito 416- Im Vaterland der Mythen 3*0- Inschrift 384Hermlin: Der Leutnant Yorck von

Wartenburg 381Hernändez: Die Hortensien 858Hesse: Demian 95- Glück 344- Iris 369-Josef Knechts Lebensläufe 541- Klingsors letzter Sommer 608- Knulp 75- Krisis 747- Legenden 472- Magie des Buches $42- Mein Glaube 300

- Morgenlandfahrt 1- Musik 483- Narziß und Goldmund 65- Politische Betrachtungen 244- Siddhartha 227- Sinclairs Notizbuch 839- Steppenwolf 869- Stufen 342- Unterm Rad 981- Der vierte Lebenslauf J. Knechts 181- Wanderung 444- /Mann: Briefwechsel 441Hessel: Alter Mann 939- Der Kramladen des Glücks 822- Heimliches Berlin 758- Pariser Romanze 877Hildesheimer: Biosphärenklänge 533- Exerzitien mit Papst Johannes 647- Lieblose Legenden 84-Tynset 365- Vergebliche Aufzeichnungen 516- Zeiten in Cornwall 281Hoffmann-Zampis: Erzählung aus den

Türkenkriegen 959Hofmannsthal: Buch der Freunde 626- Gedichte und kleine Dramen 174- Lucidor 879Hohl: Bergfahrt 624- Daß fast alles anders ist 849- Nächtlicher Weg 292- Nuancen und Details 438-Varia 557- Vom Erreichbaren und vom

Unerreichbaren 323- Das Wort faßt nicht jeden 675Horkheimer: Die gesellschaftliche

Funktion der Philosophie 391Horvâth: Glaube Liebe Hoffnung 361- Italienische Nacht 410- Jugend ohne Gott 947- Kasimir und Karoline 316- Mord in der Mohrengasse 768- Geschichten aus dem

Wiener Wald 247- Sechsunddreißig Stunden 630Hrabal: Bambini di Praga 793- D i e Schur 558- Harlekins Millionen 827- Moritaten und Legenden 360- Sanfte Barbaren 916

Page 159: Hans-Georg Gadamer Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze.  1991

- Schneeglöckchenfeste 715- Schöntrauer 817- Tanzstunden für Erwachsene und

Fortgeschrittene 548Hrabals Lesebuch 726Huch: Der letzte Sommer 545- Lebenslauf des heiligen Wonnebald

Pück 806Huchel: Gedichte 1018- Die neunte Stunde 891- Margarethe Minde 868Hughes: Hurrikan im Karibischen

Meer 32Humm: Die Inseln 680Huxley : Das LächelnderGioconda63 5Ibargüengoitia: Die toten

Frauen 1059Inglin: Werner Amberg. Die

Geschichte seiner Kindheit 632Inoue: Das Tempeldach 709- Eroberungszüge 639- Das Jagdgewehr 137- Der Stierkampf 273Iwaszkiewicz: Drei Erzählungen 736Jabès: Es nimmt seinen Lauf 766- Das Buch der Fragen 848Jacob: Höllenvisionen 889- Der Würfelbecher 220James: Die Tortur 321Janus: Gedichte 820Johnson: Skizze eines Verunglückten

785- Mutmassungen über Jakob 723Jonas: Das Prinzip Verantwortung 1005Jouve: Paulina 1880 271Jovine: Die Äcker des Herrn 905Joyce: Anna Livia Plurabelle 253- Briefe an Nora 280- Dubliner 418- Giacomo Joyce 240- Kritische Schriften 313- Porträt des Künstlers 350- Stephen der Held 338- Die Toten/The Dead 512- Verbannte 217Kadri: Der Fremdling 994Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge

476- Zeltbuch von Tumilat 382Kästner, Erich: Gedichte 6γγ

Kafka: Der Heizer 464- Die Verwandlung 351- Er 97Kasack: DieStadthinterdemStrom 296Kaschnitz: Beschreibung eines Dorfes

645-Elissa 852- Ferngespräche 743- Gedichte 436- Liebe beginnt 824- Menschen und Dinge 1945 909- Orte 486-Vogel Rock 231Kassner: Zahl und Gesicht 564Kateb Yacine: Nedschma 116Kavafis: Um zu bleiben 1020Kawerin: Unbekannter Meister 74Kellermann: Der Tunnel 674Kessel: DieSchwesterdesDonQuijote

894Keyserling: Harmonie 784Kim: Der Lotos 922Kis: Ein Grabmal für Boris

Dawidowitsch 928- Garten, Asche 878Kluge: Lebensläufe 911Koeppen: Tauben im Gras/Treibhaus/

Tod in Rom 926- Das Treibhaus 659- Der Tod in Rom 914-Jugend 500-Tauben im Gras 393Kolmar: Gedichte 815Kommerell: Der Lampenschirm 656Kracauer: Über die Freundschaft 302- Georg $67Kraus: Nestroy und die Nachwelt 387- Pro domo et mundo 1062- Sprüche und Widersprüche 141- Über die Sprache 571Krolow: Alltägliche Gedichte 219- Fremde Körper 52- Gedichte 672- Im Gehen 863- Nichts weiter als Leben 262- Meine Gedichte 1037Krüger: Das zerbrochene Haus 1066Kusniewicz: Lektion in einer toten

Sprache 963Kyrklund: Vom Guten 1076

Page 160: Hans-Georg Gadamer Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze.  1991

Laforgue: Hamlet 733Lagercrantz: Die Kunst des Lesens 980Landsberg: Erfahrung des Todes 371Larbaud: Fermina Marquez 654- Glückliche Liebende 568Lasker-Schüler: Mein Herz 520- Arthur Aronymus 1002Lavant: Gedichte 970- Das Kind 1010Lawrence: Auferstehungsgeschichte

589- Der Mann, der Inseln liebte 1044le Fort: Die Tochter Farinatas 865Leiris: Lichte Nächte 716- Mannesalter 427Lem: Der futurologische Kongreß 477- Drei geschichtenerzählende

Maschinen 867- Golem XIV 603- Provokation 740- Robotermärchen 366Lenz: Dame und Scharfrichter 499- Das doppelte Gesicht 625- Der Letzte 851- Spiegelhütte 543Leonow: Evgenia Ivanovna 934Lernet-Holenia: Die Auferstehung des

Maltravers 618Lersch: Hammerschläge 718Levin: James Joyce 459Lispector: Der Apfel im Dunkel 826- Die Nachahmung der Rose 781- Die Sternstunde 884- Nahe dem wilden Herzen 847Loerke: Gedichte 114- Anton Bruckner 39Loti: Aziyadeh 798Lucebert: Die Silbenuhr 742Lu Xun: Die wahre Geschichte des

Ah Q 777Maass: Die unwiederbringliche Zeit

866MachadodeAssis: Dom Casmurro 699- Quincas Borba 764Majakowski: Politische Poesie 182Malcolm: Erinnerungen an

Wittgenstein 957Malerba: Geschienten vom Ufer des

Tibers 683- Tagebuch eines Träumers 840

Mandelstam: Die Reise nachArmenien 801

- Die ägyptische Briefmarke 94- Schwarzerde 835Mann, Heinrich: Geist und Tat 732- Professor Unrat 724Mann, Thomas: Schriften zur Politik

- /Hesse: Briefwechsel 441Mansfield: Meistererzählungen 811MaoTse-tung: Gedichte 583Marcuse: Triebstruktur und

Gesellschaft 158Mayer: Ansichten von Deutschland

984- Goethe 367- Versuche über Schiller 945Mayoux: Joyce 205Mayröcker: Das Herzzerreißende der

Dinge 1048- Reise durch die Nacht 923Mell: Barbara Naderer 755Menuhin: Kunst und Wissenschaft als

verwandte Begriffe 671Michaux: Ein gewisser Plume 902Miller: Das Lächeln am Fuße der

Leiter 198Mishima: Nach dem Bankett 488Mitscherlich: Idee des Friedens 233- Versuch, die Welt besser zu bestehen

246Modiano: Eine Jugend 995Montherlant: Die Junggesellen 805- Die kleine Infantin 638- Moustique 1060Mori: Vita Sexualis 813- Die Wildgans 862Morselli: Rom ohne Papst 750Muschg: Dreizehn Briefe Mijnheers

920- Leib und Leben 880- Liebesgeschichten 727Musil: Vereinigungen 1034Nabokov: Lushins Verteidigung 627Neruda: Gedichte 99- Die Raserei und die Qual 908Niebelschütz: Über Dichtung 637- Über Barock und Rokoko 729Nijhoff: Die Stunde X 859Nizan: Das Leben des Antoine B. 402

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Nizon: Das Jahr der Liebe 845- Stolz 617Nooteboom: Ein Lied von Schein und

Sein 1024Nossack: Das Mal 936- Das Testamentdes Lucius Eurinus 739- Der Neugierige 663- Der Untergang- Spätestens im November 331- Unmögliche Beweisaufnahme 49- Vier Etüden 621Nowaczynski: Schwarzer Kauz 310O'Brien: Aus Dalkeys Archiven

623- Das harte Leben 653- Der dritte Polizist 446Olescha: Neid 127Ollier: Bildstörung 1069Onetti: Die Werft 457- Grab einer Nameniosen 976- Leichensammler 938- Der Schacht 1007- So traurig wie sie 808Palinurus: Das Grab ohne Frieden 11Papadiamantis: Die Mörderin 1011Pasternak: Die Geschichte einer

Kontra-Oktave 456- Initialen der Leidenschaft 299Paustowskij: Erzählungen vom Leben

563Pavese: Junger Mond mPaz:Das Labyrinth der Einsamkeit 404- Der sprachgelehrte Affe 530- Gedichte 551Pedretti: Valerie oder Das unerzogene

Auge 989Penzoldt: Der arme Chatterton 1064- Der dankbare Patient 25- Die Leute aus der Mohren-

apotheke 779- Prosa einer Liebenden 78- Squirrel 46- Zugänge 706Pérez Galdos: Miau 814-Tristana 1013Percy: Der Kinogeher 903Perec: W oder die Kindheits-

erinnerung 780Pieyre de Mandiargues: Schwelende

Glut 507

Pilnjak: Das nackte Jahr 746Pinera: Kleine Manöver 1035Plath: Ariel 380- Glasglocke 208Platonov: Dshan 686Plenzdorf : Die neuen Leiden des

jungen W 1028Ponge: Das Notizbuch vom

Kiefernwald / La Mounine 774- Texte zur Kunst 1030Pound: ABC des Lesens 40- Wort und Weise 279Prevelakis: Chronik einer Stadt 748Prischwin: Shen-Schen 730Proust: Briefwechsel mitder Mutter 239- Der Gleichgültige 601- Eine Liebe von Swann 267- Tage der Freuden 164- Tage des Lesens 400Pynchon : Die Versteigerung von

N0.49950Queiroz: Der Mandarin 956Queneau: Die Haut der Traume 937- Heiliger Bimbam 951- Mein Freund Pierrot 895- Stilübungen 1053- Zazie in der Metro 431Quiroga: Geschichten von Liebe,

Irrsinn und Tod 881Radiguet: Der Ball 13- Den Teufel im Leib 147Rilke: Ausgewählte Gedichte 184- Briefe an einen jungen Dichter 1022- Bücher Theater Kunst 1068- Das Florenzer Tagebuch 791- Das Testament 414- Der Brief des jungen Arbeiters 372- Die Sonette an Orpheus 634- Duineser Elegien 468- Ewald Tragy 537- Gedichte an die Nacht 519- Malte Laurids Brigge 343- /Hofmannsthal: Briefwechsel 469Ritter: Subjektivität 379Roa Bastos: Menschensohn 506Robakidse: Kaukasische Novellen 661Robbe-Grillet: Der Augenzeuge 931- Djinn 787- Die Radiergummis 1033Roditi: Dialog über Kunst 357

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Rodoreda: Der Fluß und das Boot 919- Reise ins Land der verlorenen

Mädchen 707Rojas: Der Sohn des Diebes 829Romanowiczowa: Der Zug durchs

Rote Meer 760Rose aus Asche 734Rosenzweig: Der Stern der

Erlösung 973Roth: Beichte 79Roussel: Locus Solus 559Sachs: Gedichte 549Saint-John Perse: Winde 122Salinas: Gedichte 1049Sanchez Ferlosio: Abenteuer und

Wanderungen des Alfanhui 875Sana: Der Tag des Gerichts 823Savinio : Maupassant und der andere 944- Unsere Seele / Signor Münster

804Schneider: Die Silberne Ampel 754Scholem: Judaica 1 106- Judaica 2 263-Judaica 3 333-Judaica 4 831- Walter Benjamin 467Scholem-Alejchem: Eine Hochzeit

ohne Musikanten 988- Schir-ha-Schirim 892-Tewje, der Milchmann 210Scholtis: Jas der Flieger 961Schröder: Der Wanderer 3- Ausgewählte Gedichte 572Seh wob : Roman der 22 Lebensläufe 521Seferis: Alles voller Götter 1065- Poesie 962Segalen: Rene Leys 783Seghers: Aufstand der Fischer 20DeSena: Der wundertätige Physicus 921Sert: Pariser Erinnerungen 681Shaw: Candida 940- Die Abenteuer des schwarzen

Mädchens 1029- Die heilige Johanna 295- Frau Warrens Beruf 918- Handbuch des Revolutionärs 309- Haus Herzenstod 108- Helden 42- Mensch und Übermensch 129- Pygmalion 66

- Sechzehn selbstbiographischeSkizzen 86

- Wagner-Brevier 337Shen Congwen: Die Grenzstadt 861Simon, Claude: Das Seil 134Simon, Ernst: Entscheidung zum

Judentum 641$klovskij: Dritte Fabrik 993- Kindheit und Jugend 218- Sentimentale Reise 390- Zoo oder Briefe nicht über die Liebe

693Solschenizyn: Matrjonas Hof 324Spitteler: Imago 658Stein: Erzählen 278- I d a 695- Jedermanns Autobiographie 907- Kriege die ich gesehen habe 595- Paris Frankreich 452- Q . E . D . 1055- Zarte Knöpfe 579- /Anderson: Briefwechsel 874Steinbeck: Die Perle 825Steiner: Schnee bis in die Niederungen

1070Sternberger: Figuren der Fabel

1054Strindberg: Der romantische Küster

auf Ranö 943- Der Todestanz 738- Fräulein Julie 513- Schwarze Fahnen 896Suhrkamp: Briefe an die Autoren 100- Der Leser 5 5- Munderloh 37Szaniawski: Der weiße Rabe 437Szczepariski: Ikarus 974- Die Insel 615Szondi: Celan-Studien 330Tardieu: Mein imaginäres Museum 619Tendrjakow: Die Abrechnung 701Thoor: Gedichte 424Trakl: Gedichte 420Trifonow: Zeit und Ort 860Ulimann: Erzählungen 651Ungar: Die Verstümmelten 952Ungaretti: Gedichte 70Valéry: Die fixe Idee 155- Die junge Parze 757- Gedichte 992

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- Herr Teste 162- Zur Theorie der Dichtkunst 474Vallejo: Gedichte 110Vallotton: Das mörderische Leben 846Vargas Llosa: Die kleinen Hunde 439Verga: Die Malavoglia 761Vischer: Sekunde durch Hirn/Der

Hase 975Vittorini: Erica und ihre Geschwister

832- Die rote Nelke 136Walser, Martin: Ehen in Philippsburg

5*7- Ein fliehendes Pferd 819- Gesammelte Geschichten 900- Meßmers Gedanken 946Walser, Robert: An die Heimat 719- Der Gehülfe 490- Der Räuber 972- Der Spaziergang 593- Die Gedichte 844- D i e Rose 538- Geschichten 655- Geschwister Tanner 450-Jakob von Gunten 515- Kleine Dichtungen 684- Kleine Prosa 751- Poetenleben 986

- Prosa 57-Seeland 838Weiner: Spiel im Ernst 906Weiß, Ernst: Der Aristokrat 702- Die Galeere 763- Franziska 660Weiß, Konrad: Die Löwin 885Weiss, Peter: Abschied v. d. Eltern 700- Der Schatten des Körpers 585- Fluchtpunkt 797- Hölderlin 297Weöres: Der von Ungern 1063Wilcock: Das Buch der Monster 712Wilde: Bildnis des Dorian Gray 314- Die romantische Renaissance 399Williams: Die Worte, die Worte 76Wilson: Späte Entdeckungen 837Wittgenstein: Über Gewißheit 250- Vermischte Bemerkungen 5 3 5Woolf: Die Wellen 128Yourcenar: Orientalische Erzählungen

Zweig: Die Monotonisierung der Welt493

Zwetajewa: Auf eigenen Wegen 953- Ein gefangener Geist 1009- Mutter und die Musik 941- Phoenix 1057