ganzer Artikel - Maja Storch

15
DIE BEDEUTUNG NEUROWISSENSCHAFTLICHER FORSCHUNGSANSÄTZE FÜR DIE PSYCHOTHERAPEUTISCHE PRAXIS TEIL I: THEORIE THE MEANING OF NEUROSCIENTIFIC RESEARCH FOR PSYCHOTHERAPY Maja Storch aus: Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

Transcript of ganzer Artikel - Maja Storch

Page 1: ganzer Artikel - Maja Storch

DIE BEDEUTUNG NEUROWISSENSCHAFTLICHER

FORSCHUNGSANSÄTZE FÜR DIE

PSYCHOTHERAPEUTISCHE PRAXIS

TEIL I: THEORIE

THE MEANING OF NEUROSCIENTIFIC

RESEARCH FOR PSYCHOTHERAPY

Maja Storch

aus: Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

Page 2: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 281

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

DIE BEDEUTUNG NEUROWISSENSCHAFTLICHER FORSCHUNGSANSÄTZE

FÜR DIE PSYCHOTHERAPEUTISCHE PRAXIS

TEIL I: THEORIE

THE MEANING OF NEUROSCIENTIFIC RESEARCH FOR PSYCHOTHERAPY

Maja Storch

Fundament stellen. Der folgende Text gibt einen Überblicküber die zentralen aktuellen Bezüge von Neurowissenschaftenund psychotherapeutischer Praxis. Im folgenden Text befas-sen wir uns mit dem

• Zusammenhang von psychischen Prozessen undGedächtnisinhalten

• Zusammenhang von psychischer Entwicklung undLernen

• Zusammenhang von Selbstregulation und unbewusstenVorgängen

In den Neurowissenschaften wird das Gehirn als selbst-organisierender Erfahrungsspeicher betrachtet, die alte Vor-stellung von einem obersten Steuerungszentrum im Gehirngilt mittlerweile als unzutreffend. Das menschliche Gehirnist ein Überlebensorgan, das besonders darauf spezialisiertist, flexibel auf sich verändernde Umwelten zur reagieren.Es ermöglicht “die Initiierung und Aufrechterhaltung despostnatalen Lebens als interaktionales Geschehen, das heisst

Als ich in den 70er Jahren während meines Psychologie-Stu-diums unter dem Stichwort “Physiologische Psychologie“ mitneurowissenschaftlichen Themen in Kontakt kam, hinterliessdiese Disziplin keine angenehmen Eindrücke bei mir. Ich habeErinnerungen an bemitleidenswerte Katzen, die mit einemStecker im Schädel in einem weissgekachelten Labor vor sichhinvegetierten, an merkwürdige Wahrnehmungsexperimente,die mich, die ich Psychotherapeutin werden wollte, nicht in-teressierten, weil sich kein Bezug zur Psychotherapie her-stellen liess, an ödes Auswendiglernen von Bezeichnungenfür Gehirnareale in schlecht gelüfteten Räumen und an de-primierende Noten in den entsprechenden Klausuren.

Heute hat sich dieser Eindruck Grund legend gewandelt. DieNeurowissenschaften haben in den letzten 10 Jahren Ergeb-nisse hervorgebracht, die für die Psychotherapie von höchstemInteresse sind (Sulz, 2002). Neurowissenschaftliche For-schung hat das Potential als integrierende Basis zwischen denzerstrittenen psychotherapeutischen Schulen zu fungieren. Siemacht Aussagen, die Gewinn bringend auf die Praxis derPsychotherapie übertragen werden können und sie kann ei-nige psychologische Begriffe auf ein naturwissenschaftliches

SummaryThe article provides an overview of the connection betweenthe results of neuroscience and their consequences forPsychotherapy. An attempt has been made to develop a neu-ro-scientifically based model of psychic functions. What isparticularly interesting is the concept of the Psyche as aknowledge system which is based of learning and memoryprocesses. Furthermore, we discuss how self-congruent goalsand intrinsic motivation can be operationalised on the basis ofneuro-scientific theory formation. In addition, we discuss theconsequences of such a perspective for Psychotherapy inpractice.

KeywordsNeuroscience – Neurobiology – Memory – Learning – SomaticMarkers – Self-congruence – Self-system – Motivation – Goals– Psychotherapy – Resources

ZusammenfassungDer Artikel gibt einen Überblick über die Zusammenhängevon den Ergebnissen der Neurowissenschaften und derenKonsequenzen für die Psychotherapie. Es wird versucht, einneurowissenschaftlich fundiertes Modell von psychischemFunktionieren zu entwickeln. Von besonderem Interesse isthierbei die Konzeption von Psyche als einem Wissenssystem,das auf Lern- und Gedächtnisprozessen aufgebaut ist. Desweiteren wird diskutiert, wie selbstkongruente Ziele und in-trinsische Motivation auf der Basis neurowissenschaftlicherTheoriebildung operationalisiert werden können. Die Kon-sequenzen einer solchen Sichtweise für die Praxis der Psy-chotherapie werden diskutiert.

SchlüsselwörterNeurowissenschaft – Neurobiologie – Gedächtnis – Lernen– somatische Marker – Selbstkongruenz – Selbstsystem –Motivation – Ziele – Psychotherapie – Ressourcen

Page 3: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 282 Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

das ständige Aufnehmen, Bewerten und Beantworten der pau-senlos ankommenden Informationen“ (Koukkou & Lehmann,1998a, S. 328). Diese Fähigkeit basiert auf der Tatsache, dassdas Gehirn aufgrund der Erfahrungen, die der Organismusim Laufe des Lebens macht, seine Struktur ändern kann, sodass es letztendlich “sich selbst und sein Verhalten auf derBasis seiner eigenen Biografie organisiert“ (Koukkou &Lehmann, 1998b, S. 169).

Die Aufgabe des Gehirns ist es, für das “psychobiologischeWohlbefinden“, so der Begriff von Koukkou und Lehmann,des Organismus zu sorgen, in dem es seinen Sitz hat. Grund-sätzlich, so die Autoren, kann man postulieren, “dass das men-schliche Gehirn das Potential zu psychobiologischer Gesund-heit besitzt“ (1998a, S. 381). Für eine salutogenetisch orien-tierte Psychotherapie ist diese Sichtweise faszinierend. Wenngrundsätzlich jedes menschliche Gehirn das Potential zur Ge-sundheit besitzt, ist dies ein neurowissenschaftliches Argumentfür eine ressourcenaktivierende psychotherapeutische Arbeits-weise. Ressourcenaktivierung gilt nach Grawe (1998) als ei-ner der wesentlichen Wirkfaktoren erfolgreicher Psychothe-rapie. Ressourcenorientierte Psychotherapie bestünde danndarin, das Gesundheitspotential der Gehirne von Patienten undKlientinnen optimal anzuregen. Um genauer zu erfahren, wiesolch eine neurowissenschaftlich fundierte Ressourcen-aktivierung aussehen könnte, muss zunächst geklärt werden,wie der Begriff der “Psyche“ sich in den Modellen voninformationsverarbeitenden Hirnprozessen abbilden lässt.

“Psyche“ aus neurowissenschaftlicher Sicht

Das Gehirn erfüllt seine Aufgabe, das psychobiologischeWohlbefinden zu sichern, indem es alles, was dem Organis-mus, zu dem es gehört, im Laufe seines Lebens widerfährt,abspeichert. Auf der Basis dieses gespeicherten Wissens wirddann das jeweils als adäquat befundene Verhalten ausgewähltund ausgeführt. In Computersprache formuliert kann mansagen, dass das Gehirn sich in einem permanenten Prozessdes Up-Dating befindet. Das Up-Dating erfolgt jedoch nichteinmal im Jahr, wie bei der Computersoftware, wenn eineneue Version von WORD auf den Markt kommt, sondern un-unterbrochen, solange, bis das Gehirn am Ende des Lebensseine Aktivität einstellt.

Was ein Organismus tut, beruht auf dem Wissen, das sein Ge-hirn gespeichert hat. Ein Teil dieses Wissens ist vererbt, einanderer Teil dieses Wissens ist gelernt. Damit dieses Wissenauch zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden kann, musses wieder auffindbar untergebracht sein. Die wieder auffindbareUnterbringung von Wissen ist das, was das Gedächtnis leistet.In der Alltagssprache verbindet man mit dem Begriff “Ge-dächtnis“ meistens nur ganz bestimmte Behaltensleistungen,wie das wieder Erinnern von Telefonnummern, Kochrezeptenoder von Französischvokabeln. Die Gedächtnisforschung fasstden Gedächtnisbegriff allerdings deutlich weiter:

“In der Tat, wir wären nichts ohne Gedächtnis und Erinne-rung; wir wüssten nicht, wer und wo wir sind, welcher Tagheute ist und in welchem Monat und Jahr wir uns befinden,

wer die anderen um uns herum sind, warum wir gerade hiersind und nicht anderswo, was man von uns erwartet, welcheBedeutung die Dinge und Geschehnisse um uns herum haben.Wir würden uns einerseits vor vielen Dingen grundlos ängsti-gen und andererseits viele Gefahren übersehen. Wir würdenkeinen Satz verstehen oder sprechen können, keine Gestik,keine Mimik. Schon bei etwas komplexeren Bewegungen kä-men wir in Schwierigkeiten, weil die meisten Bewegungeneingeübt sind und damit von Lernen und Gedächtnis abhän-gen. Kurzum, wir wären alle verloren“ (Roth, 2001, S. 150).

Wenn im folgenden von gespeichertem Wissen und damit vonGedächtnis die Rede ist, beziehen wir uns immer auf diesensehr weiten Gedächtnisbegriff. Aus neurowissenschaftlicherSicht ist dies zulässig, denn auf der Ebene der Nervenzellengeschehen vergleichbare Prozesse, egal, ob ein Mensch imKommunionsunterricht die 10 Gebote lernt, auf der Eisbahneinen dreifachen Rittberger trainiert oder an geheimen Ortenerotische Erfahrungen sammelt.

Weil Gedächtnisprozesse die Grundlage dafür sind, dass dasGehirn seine Aufgabe, für Überleben, Gesundheit und Wohl-befinden zu sorgen erfüllen kann, stellt das im Gedächtnisangesammelte Wissen aus neurowissenschaftlicher Perspek-tive folgerichtig auch die Basis des psychischen Funktionierensdar. “Die Interaktion des wachsenden Individuums mit deneigenen externen und internen Realitäten produziert eigenesWissen (das Gedächtnis, die Biografie) oder, in der Spracheder Psychoanalyse, den psychischen Apparat“ (Koukkou &Lehmann, 1998b, S. 175). Eine solche Sichtweise, die psychi-sches Geschehen gedächtnistheoretisch fasst, hat weit reichen-de Konsequenzen für die Psychotherapie. Zum einen führt siezu einer konsequent konstruktivistischen Grundhaltung, zumanderen kann sie psychodiagnostisch dabei helfen, unnötigeLabeling-Prozesse zu vermeiden.

Die konstruktivistische Grundhaltung ergibt sich aus einerneurowissenschaftlich abgesicherten Tatsache, die von Roth(1996) folgendermassen beschrieben wird: “Die Wirklichkeit,in der ich lebe, ist ein Konstrukt des Gehirns“ (S. 21). Ausneurowissenschaftlicher Sicht gibt es keine eindeutige Be-ziehung zwischen Umweltreizen und gehirninternen Prozes-sen. Wir müssen “streng zwischen Signalen, zum Beispiel denvon den Sinnesorganen erzeugten Erregungszuständen undihren Bedeutungen unterscheiden. Bedeutung wird den neu-ronalen Erregungen erst innerhalb eines kognitiven Systemszugewiesen, und zwar in Abhängigkeit vom Kontext, in demdie Erregungen auftreten“ (Roth, 1996, S. 108).

Das konstruktivistische Prinzip gilt auch für das Gedächtnis:“Im Gehirn werden nicht Polaroidaufnahmen von Menschen,Gegenständen und Landschaften oder Tonbänder von Musikund Rede abgelegt. Genauso wenig hält es Spickzettel undTeleprompter-Texte der Art bereit, die Politikern helfen, ihrtäglich Brot zu verdienen. Mit einem Wort, es scheint keineSpeicherung von konkreten Abbildern in irgendeiner Formzu geben, weder miniaturisiert noch auf Mikrofilm noch alsHardcopy. Angesichts der gewaltigen Wissensmenge, die wir

Page 4: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 283

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

im Laufe unseres Lebens erwerben, würde uns wohl jede Formder Faksimile-Speicherung vor unüberwindliche Probleme derSpeicherkapazität stellen. Wäre das Gehirn wie eine herkömm-liche Bibliothek, wären unsere Regale bald so voll, wie es indiesen Einrichtungen der Fall ist. Ausserdem ergäben sichdurch die Faksimile-Speicherung auch beim Wiederauffindenschwierige Probleme. Wir alle können uns unmittelbar davonüberzeugen, dass wir, wenn wir uns einen bestimmten Ge-genstand, ein Gesicht oder ein Ereignis ins Gedächtnis rufen,nicht eine exakte Reproduktion, sondern eine Interpretation,eine Rekonstruktion des Originals erhalten“ (Damasio, 1994,S. 145).

Und weil Gedächtnisprozesse die Grundlage psychischenGeschehens sind, gilt das konstruktivistische Prinzip auch fürdie Psyche: “Diejenigen Aspekte der menschlichen Existenz,die psychische genannt werden, sind “Kreationen“ der dyna-misch, adaptiv und synthetisch arbeitenden Milliarden vonNeuronen des menschlichen Gehirns“ (Koukkou & Lehman,1998b, S. 169). Der Inhalt des psychischen Apparates ist ausneurowissenschaftlicher Sicht individuell konstruiertes Wis-sen. Ein Teil unseres Wissens ist vererbt, einen anderen Teillernen wir im Laufe des Aufwachsens. Von entscheidenderBedeutung sind bei diesem Lernprozess die frühen Jahre. “Wiealle lernfähigen Gehirne ist auch das menschliche Gehirn amtiefsten und nachhaltigsten während der Phase der Hirn-entwicklung programmierbar“ (Hüther, 2001, S. 23). Das Ge-hirn eines kleinen Organismus, der z.B. in der Kindheit vielAngst und Stress erlebt, speichert von Anfang an die Erfah-rungen im Umgang mit diesen Zuständen und nutzt diese Er-fahrungen bis auf weiteres, um das Wohlbefinden zu sichern,so gut es geht. “Je früher sich diese prägenden Erfahrungenim Umgang mit der Angst in das Gehirn eingraben können, jeverformbarer die Verschaltungen des Gehirns also zu demZeitpunkt sind, zu dem diese Erfahrungen gemacht werden,desto besser sitzen sie für den Rest des Lebens. Sie sehen dannaus wie angeborene Instinkte, lassen sich auslösen wie ange-borene Instinkte, sind aber keine angeborenen Instinkte, son-dern in das Gehirn eingegrabene, während der frühen Kind-heit gemachte Erfahrungen bei der Bewältigung von Angstund Stress“ (Hüther, 2001, S. 51). Genauso bleibend könnennatürlich auch positive Erfahrungen im Gehirn gespeichertwerden. Dieser Umstand zeigt interessante Parallelen zu dempsychoanalytischen Konzept des “Urvertrauens“.

Aus dieser neurowissenschaftlichen Sicht, die den psychischenApparat als einen Wissensspeicher von Erfahrungen begreift,ergibt sich auch eine präzise Vorstellung davon, was psychi-sche Krankheit und was psychische Gesundheit ausmacht.Wenn der psychische Apparat aus Wissen besteht, das zurVerhaltenssteuerung des Individuums eingesetzt wird, umdessen Wohlbefinden zu sichern, dann beruht neurotischesVerhalten letztendlich auf einer Wissensstruktur, die demGehirn für diese Aufgabe keine optimalen Grundlagen lie-fert. Koukkou und Lehmann sehen diese neurowissen-schaftliche Sichtweise als Alternative zum psychoanalytischenKonfliktmodell. “Die Pathogenese der Neurose wird nichtdurch Konflikte zwischen “Trieben“ und Sozialisation erklärt,

sondern durch die Qualität des Wissens, welches das Indivi-duum aus seinen Interaktionen mit alterswichtigen sozialenRealitäten erwirbt und kreiert, das heisst durch die allgemei-ne Adaptabilität der Hirnmechanismen“ (1998a, S. 287).

Die neurowissenschaftliche Sichtweise ist für die Psychothe-rapie deswegen von grossem Interesse, weil sie neurotischesVerhalten sehr pragmatisch erklärt. Nach dieser Auffassungmuss nicht länger nach geheimnisvollen inneren Instanzengeforscht werden, über deren Vorhandensein und genaue Be-schaffenheit nur ExpertInnen Bescheid wissen und über dieverschiedene psychotherapeutische Schulen sich zerstreitenmüssen. Wenn ein Mensch sich auf eine Art und Weise ver-hält, die seinem psychobiologischen Wohlbefinden abträglichist, dann hat er ungeeignetes Wissen darüber, wie man diesenerwünschten Zustand herstellen kann. “Psychische Störun-gen ... sind “Produkte“ (Gedanken und/oder Emotionen und/oder Handlungen und/oder Phantasien, Träume, Entscheidun-gen, Funktionszustände verschiedener Organe) der wissens-und kontextgesteuerten informationsverarbeitenden Hirn-prozesse, denen maladaptives Wissen zu Verfügung steht“(ebd., S.176). Tress (2002) hat ein Verfahren entwickelt, umdas Auftauchen maladaptiver Muster in interaktionellen Kon-texten zu erfassen.

Mit dem Begriff “maladaptives Wissen“ werden im Rahmeneiner neurowissenschaftlich orientierten psychotherapeuti-schen Theoriebildung Erfahrungen bezeichnet, die für dieSicherung des psychobiologischen Wohlbefindens eines In-dividuums nicht nützlich sind. In dieser Sichtweise gibt eskein “krank“ und kein “gesund“, es gibt nur unnützes (mal-adaptives) und nützliches (wohladaptives) Wissen. DieBrauchbarkeit der Erfahrungen, die ein Individuum gesam-melt hat, wird in diesen Konzepten ausschliesslich daran ge-messen, ob dieses Wissen in einer aktuellen Situation zumErhalt des psychobiologischen Wohlbefindens eines Indivi-duums beitragen kann, oder nicht. Neben ihrer integrativentheoretischen Potenz kann eine solche Sichtweise zusätzlichdabei helfen, PatientInnen vom Stigma der psychischenKrankheit zu entlasten. Denn mit diesem Stigma müssen siesich bei der Sprachregelung, die im Moment in der klinischenPsychologie verwendet wird, zusätzlich zum Leiden an ihrenSymptomen auch noch auseinandersetzen.

Ein Psychotherapeut hätte demnach eine wesentliche Funkti-on zu erfüllen: Er hätte die Funktion eines Lehrers, der demKlienten dabei hilft, wohladaptives Wissen zu erwerben. Umzu klären, wie dieser Lernvorgang geschehen kann, müssenwir mehr darüber wissen, wie Lernprozesse auf der Ebeneder Nervenzellen aussehen.

Lernen auf der Ebene der Nervenzellen

Nachdem der zentrale Stellenwert von Gedächtnisprozessenfür psychisches Funktionieren geklärt ist, erhebt sich die Fra-ge nach dem neuronalen Aufbau von Gedächtnis. Wie wer-den Informationen gespeichert und, für die Psychotherapievon besonderem Interesse: wie werden neue Informationen

Page 5: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 284 Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

dazugelernt? Ein heute allgemein anerkanntes neurowissen-schaftliches Modell für Lernen ist das Modell der “HebbschenPlastizität“. Hebbs (1949) Idee ist einfach und elegant.Hebbsche Plastizität entsteht, wenn zwei oder mehr Nerven-zellen gleichzeitig feuern. Als Standardregel kann man sichden Merksatz einprägen: “cells that fire together, wire to-gether.“ Die Übersetzung könnte lauten: Zellen, die gleich-zeitig feuern, verdrahten sich. Hebb entwickelte das Konzeptder plastischen Synapsen, die ihre Übertragungsbereitschaftdesto mehr verstärken, je öfter sie benutzt werden. Eine Syn-apse ist der Punkt, an dem zwei Nervenzellen durch chemi-sche Botenstoffe, die Transmitter, in Verbindung treten undSignale austauschen können (siehe Abbild 1). Durch jede ge-meinsame Erregung wird die synaptische Verbindung zwi-schen Nervenzellen verstärkt, und damit wird dieInformationsübertragung verbessert. Man kann sich die Vor-gänge im Gehirn vorstellen wie die Vorgänge in der Musku-latur, wenn bestimmte Muskeln im Fitness-Studio trainiertwerden. Der Aufbau von einem Waschbrettbauch funktioniertnach einem ähnlichen Prinzip. Wenn Muskeln oft beanspruchtwerden, erhöhen sie ihre Leistung. Umgekehrt gilt: Muskel-gruppen, die selten beansprucht werden, verringern ihre Leis-tungsfähigkeit. Im Fall der Nervenzellen zeigt sich die erhöh-te bzw. verminderte Leistungsfähigkeit in der leichteren bzw.schlechteren Aktivierbarkeit.

Wenn die synaptische Verbindung zwischen Nervenzellendurch häufige Benutzung verstärkt wurde, spricht man in denNeurowissenschaften von “Bahnung“. Hüther (1997) verwen-det für den Vorgang der Bahnung das Bild eines Weges, derdurch unwegsames Gelände gebahnt wird. Der Weg wird destobreiter, je häufiger er benutzt wird. Nach vielen Jahren derBenutzung findet man dann eine breite, gut begehbare Stras-se vor. Wege, die selten oder gar nicht mehr benutzt werden,verschwinden wieder von der Erdoberfläche. Sie verwildernund wachsen zu. In Hüthers Bild kann man sich im Gehirndie gut gebahnten Verbindungen zwischen einzelnen Nerven-

zellen als gut ausgebaute breite Wege vorstellen. Verbindun-gen zwischen Nervenzellen, die nicht benutzt werden, ver-schwinden wieder aus der Gehirnlandschaft, indem sich ihreleichte Aktivierbarkeit und ihre verbesserte Übertragungs-leistung zurückbildet. Damit ist die Antwort auf die eingangsgestellte Frage nach der neuronalen Grundlage von Gedächt-nis geklärt.

Auf neuronaler Ebene findet der Lernvorgang durch dieHebbschen plastischen Veränderungen statt, so dass der Neuro-wissenschaftler LeDoux (2001) schreiben kann: “Lernen be-steht in der Verstärkung synaptischer Verbindungen zwischenNeuronen“ (S. 229). Jeder Lernvorgang, den ein Mensch tä-tigt, beruht auf diesem Mechanismus, gleichgültig, ob es sichdarum handelt, Französischvokabeln zu büffeln, Schwarz-wälderkirschtorte zu backen oder Salsa zu tanzen. Ein guterÜberblicksartikel zum Thema “Psychobiologie der Plastizi-tät“ findet sich bei Rosenzweig und Bennett (1995), zum The-ma “Molekulare Grundlagen des Lernens“ schrieben Kandelund Hawkins (1994) eine verständliche Einführung, bei Toniet al. (1999) sind eindrückliche Bilder vom Entstehen neuersynaptischer Kontakte zu sehen. Unter www.fmi.ch/members/andrew.matus/video.htm kann man Videoclips von solchenWachstumsprozessen betrachten.

Abbildung 2 veranschaulicht die Vorstellungen, die momen-tan darüber bestehen, auf welche Art und Weise Nervenzellensich verändern, wenn etwas gelernt wird. Zur Erinnerung:Lernen in neurowissenschaftlichen Sinn bedeutet “häufige ge-meinsame Benutzung von Nervenzellen“. Auf der linken Sei-te der Grafik ist der Zustand einer Synapse vor dem Lernenabgebildet, auf der rechten Seite die Veränderungsmöglich-keiten, die sich durch Lernvorgänge ergeben können. BeispielA zeigt, dass die Übertragungseffizienz der neuronalen Ver-bindung sich durch eine erhöhte Ausschüttung der Trans-mitterstoffe steigert. Beispiel B und E zeigen, dass sogar ganzneue Kontakte wachsen können. Beispiel C zeigt eine Synap-se, bei der nach der häufigen Benutzung zwar die Transmitter-menge gleich bleibt, dadurch, dass aber die postsynaptischeRezeptoroberfläche sensibler wird, reagiert sie schneller alsfrüher auf dasselbe chemische Signal. Beispiel D ist ein schö-nes Beispiel für den eingangs erwähnten Vergleich mit demMuskeltraining. Die Synapse nach dem Lernen wirkt wie einBizeps, der durch das Training prall und dick wurde. BeispielF ist besonders interessant für die Psychologie: Oft geht es beimenschlichem Verhalten ja nicht nur darum, etwas Neues zulernen, gleichzeitig muss auch etwas Altes verlernt werden.Ein Klient möchte z.B. gerne in Streitsituationen etwas gelas-sener sein und nicht immer so schnell ausrasten. In diesemFall muss parallel zum Erwerb des neuen ein altes Verhaltens-muster verlernt werden. Dies kann erreicht werden, indem mandas alte neuronale Netz so wenig wie möglich benutzt. Bei-spiel F zeigt, was mit einer Nervenverbindung passiert, dienicht mehr benutzt wird: Sie bildet sich zurück, neue neuro-nale Verbindungen übernehmen ihren Platz. In der Psycholo-gie würde man dann von einem gelungenen Schritt im Sinneder psychischen Entwicklung sprechen.

Abb. 1: Synapse mit pr�synaptischer Axonendigung und postsynaptischem Dendrit

(Nach Bear, Connors & Paradiso, 1996)

Pr�synaptischeAxonendigung

Synapse

Rezeptoren

Synaptischer Spalt

Postsynaptischer

Dendrit

Page 6: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 285

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

Gedächtnis beruht auf neuronalen Netzen

Bisher haben wir immer nur zwei Nervenzellen angeschaut,um das Prinzip der Hebbschen Plastizität zu verstehen. Durchplastische Veränderungen im Gehirn werden jedoch nicht nurzwei Nervenzellen miteinander verbunden, sondern auch gan-ze Gruppen. Gedächtnis ist nicht einem einzelnen Ort imGehirn zuzuordnen, sondern ist “aus vielen Komponenten umein weitreichende Nervennetz herum“ aufgebaut (Goldman-Rakic, 1994, S. 68). “Gedächtnisprozesse finden in weit-verteilten, vielgliedrigen Netzwerken statt“ (Markowitsch,1998, S. 104). Man schätzt die Zahl der Nervenzellen immenschlichen Gehirn auf ca. 100 Milliarden. Die einzelnenNervenzellen sind via Synapsen und Dendriten untereinan-

der verbunden, Abbildung 3 gibt hiervon eine Vorstellung.Auf der Ebene der Nervenzellen kann man sich das Wissen,das unsere Gedächtnisinhalte ausmacht, als Bereitschaften zurAktivierung ganz bestimmter neuronaler Erregungsmuster indiesem riesigen neuronalen Netzwerk vorstellen. Diese Er-regungsmuster sind in so genannten “neuronalen Netzen“ or-ganisiert, der englischer Begriff dafür heisst “cell assemblies“.Sie sind die Bausteine unseres Gedächtnisvermögens. Ohne“cell assemblies“ würden wir in einem Meer von Sinnesdatenuntergehen; wir wären nicht in der Lage, die ungeheure Men-ge von Informationen, die jede Sekunde auf uns einströmt,sinnvoll zu ordnen und abzurufen.

Vor Lernen Nach Lernen

A

B

C

D

E

F

Axonendigung

dendritischer Fortsatz

synaptischer Spalt

Abb. 2: Synaptische Ver�nderungen, die eine Grundlage f�r Speicherung sein k�nnen.A Nach einer Trainingsprozedur f�hrt jeder neue Impuls im betroffenen neuronalen Systemzu einer verst�rkten Aussch�ttung von Transmittermolek�len (symbolisiert durch Punkte).B Ein Interneuron moduliert die Polarisation der Axonendigung und l�st die Aussch�ttungvermehrter Transmittermolek�le pro nervalen Impuls aus. C Modifikation der postsynapti-schen Rezeptormembran f�hrt zu einer verst�rkten Reaktion auf dasselbe Ausma§ vonTransmittersubstanz. D Die Fl�che des synaptischen Kontakts erh�ht sich mit Training.E Ein Erregungskreis, der �fters ben�tzt wird, erh�ht die Anzahl der synaptischen Kontak-te. F Eine h�ufig benutzte neuronale Verbindung '�bernimmt' vorher weniger ben�tzteSynapsen.(Nach Birbaumer & Schmidt, 1996)

Page 7: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 286 Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Neuronale Netze entstehen dadurch, dass als Reaktion aufeinen Reiz bestimmte Muster gemeinsam ausgelöst werden.Geschieht dies wiederholt, stärkt sich dieser gesamte Nerven-komplex und wird in Zukunft immer leichter aktivierbar.Edelman (1987) hat diesen Vorgang in seinem Konzept des“reentrant mapping“ beschrieben. Ratey (2001) veranschau-licht den Vorgang des“reentrant mapping“ am Beispiel derEntstehung des neuronalen Netzes zum Thema “Grossmutter“.Edelmans Theorie zufolge “beruht die Wahrnehmung einesStuhls oder der eigenen Grossmutter auf wiedereintretendenSignalen, die die Tätigkeit mehrerer Karten von Hirnregionenkombinieren. ... Jede Hirnregion trägt zum Wiedererkenneneines Stuhls oder der Grossmutter bei, und das erklärt, war-um Wiedererkennen durch eine Vielzahl unterschiedlicherSinneseindrücke ausgelöst werden kann: durch den Geruchvon Mottenkugeln, den Geschmack von Paprika, eine grau-

haarige Frau, eine häkelnd im Schaukelstuhl sitzende Gestalt,eine alternde weibliche Stimme“ (S. 173f). In der Fachspra-che sagt man, wenn man darüber sprechen will, dass in einemneuronalen Netz Informationen aus den verschiedensten Hirn-regionen zu Einheiten verbunden sind: Neuronale Netze sindmulticodiert. Koukkou und Lehmann (1998a) schreiben: “Diemnemonischen Repräsentationen (= neuronale Netze; M.S.)sind in den individuell erworbenen Symbolen der Sprache,den anderen nicht-verbalen Repräsentationen wie Formen,Farben etc. sowie in dem individuell erworbenen emotiona-len Wissen kodiert“ (S. 352).

Es gibt zum Thema “Multicodierung“ jedoch noch weitereinteressante Standpunkte. Ratey und Koukkou & Lehmannverweisen in ihren Definitionen der Multicodierung auf Sin-neseindrücke (sensorische Signale), sprachlich-kognitive As-

Abb. 3: Neuronale Netzwerke (Nach Rosenzweig, Leiman & Breedlove, 1996)

dendritischer

Dorn

Synapse

Dendriten

Zellkern

Zellk�rper

Axon

Page 8: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 287

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

pekte und emotionale Aspekte. Damasio fügt den Aufzählun-gen von Ratey und Koukkou & Lehmann noch einen weite-ren Aspekt hinzu, der zur Multicodierung eines neuronalenNetzes beiträgt. Er weist nachdrücklich auf den körperlichenAspekt hin, den neuronale Netze ausser sensorischer, kogni-tiver und emotionaler Information beinhalten. Damasioschreibt: “Zu diesen ... Erinnerungen an ein Objekt, das einmalreal wahrgenommen wurde, gehören nicht nur Aufzeichnun-gen der sensorischen Aspekte wie Farbe, Form oder Klang,sondern auch Aufzeichnungen der (körperlichen, M.S.) An-passungsreaktion, welche die Sammlung der sensorischenSignale notwendig begleiten. Ferner enthalten die Erinnerun-gen auch Aufzeichnungen der unvermeidlichen emotionalenReaktionen auf das Objekt. Wenn wir uns nun an ein Objekterinnern ... , dann rufen wir also nicht nur sensorische Datenab, sondern auch die begleitenden motorischen und emotio-nalen Daten. Wenn wir uns an ein Objekt erinnern, rufen wirnicht nur die sensorischen Besonderheiten eines realen Ob-jekts ab, sondern auch die früheren Reaktionen des Organis-mus auf das Objekt“ (2001, S. 195). Neuronale Netze kodie-ren also auch Informationen auf Körperebene. Am Beispielvon Rateys Grossmutter würde dies bedeuten, dass sich beider Erinnerung an die Oma auf emotionaler Ebene z.B. einGeborgenheitsgefühl einstellt und sich auf körperlicher Ebe-ne z.B. auch eine wohlige Empfindung im Bauch breit macht.

Auch für Gruppen von Nervenzellen gilt die Hebbsche Plas-tizität. Ist ein bestimmtes Erregungsmuster durch häufigeWiederholung gut gebahnt worden und damit zu einer “cellassembly“ verbunden, wird diese Gruppe von Nervenzellenimmer leichter aktivierbar. Für die Psychologie interessantist hierbei eine bestimmte Eigenschaft des Gehirns: die Fä-higkeit zur Komplettierung, die auch schon von der Gestalt-psychologie unter dem Stichwort “Musterergänzung“ be-schrieben wurde (Tschacher, 1997). Mit fortschreitenderBahnung des neuronalen Netzes kann das Erregungsmusterimmer einfacher von ganz verschiedenen Stellen aus und mitimmer weniger Anhaltspunkten aktiviert werden. Aus demAlltag ist uns allen dieser Vorgang in seiner freudvollen Aus-prägung bekannt, wenn man das Lied wieder hört, zu demman den ersten Kuss erlebt hat und alle zu dieser Situationgehörigen schönen Gefühle und Erinnerungen schlagartigauftauchen. In seiner unangenehmen Ausprägung kennt manein Beispiel für dieses Phänomen wenn man den “typischenKrankenhausgeruch“ riecht und bei sich selbst sofort einegrosse Anzahl unangenehmer Assoziationen beobachten kann.Roth (1996) schreibt: “Es genügen zum Teil nur Bruchstückevon aktuellen Sinnesdaten, um in uns ein vollständigesWahrnehmungsbild zu erzeugen, das dann gar nicht von denSinnesorganen, sondern aus dem Gedächtnis stammt“ (S. 267).Bei Grawe (1998) liest sich das so: “Der einzelne Gedächtnis-inhalt ist durch ein bestimmtes neuronales Erregungsmusterrepräsentiert, für das aufgrund vorangegangener Bahnung eineerhöhte Bereitschaft in Form synaptischer Verbindungs-gewichte vorliegt, so wie Hebb es in seinem Konzept der cellassemblies beschrieben hat. Wenn wir uns an etwas erinnern,wird ein früherer neuronaler Erregungszustand unter demEinfluss aktueller Kontextbedingungen reinstantiiert“ (S. 230).

Neuronale Netze gestalten psychischesGeschehen

Bis jetzt haben wir uns damit befasst, wie Lernen geschiehtund wie auf neuronaler Ebene die Bausteine des Gedächtnis-ses miteinander verschaltet sind. Nun wird es Zeit, die Ver-bindung zur Psychologie herzustellen. Erinnern wir uns: Ausneurowissenschaftlicher Sicht entstehen “alle Aspekte despsychischen normalen wie auch des neurotischen Verhaltens... aus den normal funktionierenden mnemonischen (gedächt-nisbezogenen, M.S.) Funktionen des menschlichen Gehirns“(Koukkou & Lehmann, 1998a, S. 294). Ausserdem gilt: “Der... Organisator der Genese, Koordination und Kontrolle derQualität aller Dimensionen des menschlichen Verhaltens, inallen Alters- und Bewusstseinslagen, ist die Menge und dieQualität des im Gehirn des Individuums erworbenen und kre-ierten Wissens“ (ebd., S.301). Dem Gedächtnis und dem daringespeicherten Wissen kommt eine entscheidende Bedeutungzu, sowohl was die menschliche Psyche betrifft als auch wasdie Verhaltenssteuerung angeht.

In der Psychologie gibt es einen Begriff, der das “Verbund-phänomen“ beschreibt, das gemeinsame Auftreten vieler Kom-ponenten in einer Einheit, das in neurowissenschaftlicherTerminologie mit dem Begriff der neuronalen Netze erfasstwird: Dies ist der Begriff “Schema“. Grawe (1998) schreibt:“Die cell assemblies von Hebb, die neuronalen Gruppen imSinn von Edelman, d.h. vorgebahnte neuronale Erregungsbe-reitschaften, wären das, was von Piaget (1976), Bartlett (1932)oder Neisser (1974, 1976) als Schema bezeichnet wurde“ (S.213).

Den Einfluss, den ein Schema auf die Wahrnehmung nimmt,kann man sich so vorstellen: “Die Wahrnehmung wirdaufgrund des als Gedächtnisinhalt bereitliegenden Erregungs-musters “konstruiert“, wobei die tatsächlichen Umgebungs-bedingungen gemeinsam mit den vorgebahnten Erregungs-mustern auf die tatsächlich entstehende Wahrnehmung Ein-fluss nehmen“ (Grawe, 1998, S. 213). Zur Verdeutlichungdieser Konzeption wenden wir das Wissen über die schema-gesteuerte Konstruktion von Wahrnehmung auf RateysGrossmutter an. Rateys Grossmutter roch offenbar nachMottenkugeln, kochte irgendein Paprikagericht, das auf denkleinen Ratey einen nachhaltigen Eindruck hinterliess (ob eres besonders gerne gemocht hat oder damit immer wiedertyrannisiert wurde, können wir nicht wissen, weil Ratey unsdie emotionale Bewertung seiner Erinnerung nicht mitgeteilthat). Sie sass häkelnd im Schaukelstuhl und hatte die Stimmeeiner alten Frau. Ferner ist sie auf kognitiver Ebene sprach-lich vercodet als “Grossmutter“, ausserdem hat Ratey aufemotionaler Ebene diverse Gefühle gespeichert, z.B. die schonerwähnte Gemütlichkeit und auf somatischer Ebene diverseKörpersensationen, die zum Thema “Grossmutter“ gehören(die wohlige Empfindung im Bauch). Weil der kleine Rateyseine Grossmutter oft gesehen hat, wurden alle diese verschie-denen Sinneseindrücke, die in unterschiedlichen Hirnregionenwahrgenommen werden, durch “reentrant mapping“ zu einemneuronalen Grossmutternetz verbunden. In der Sprache der

Page 9: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 288 Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychologie würden wir von einem Grossmutterschema spre-chen, das kognitiv-emotional-somatisch multicodiert ist.

Koukkou und Lehmann (1998a) stellen im Rahmen einer sol-chen wahrnehmungstheoretischen Konzeption den aus derPsychoanalyse stammenden Begriff der Übertragung auf eineneurowissenschaftliche Grundlage (S. 362f). Das Gehirn hat,so haben wir gesehen, die Fähigkeit zur Komplettierung. Nurein Element eines neuronalen Netzes kann, wenn das Netzgut gebahnt ist, ausreichen, um das gesamte Netz zu aktivie-ren. Wenn nun z.B. Herr Ratey in Analyse kommt und einoder zwei Elemente bei seiner Analytikerin zu verzeichnensind, die sein neuronales Grossmutternetz aktivieren (z.B. dieStimme einer alten Frau oder die grauen Haare), wird seineWahrnehmung durch die “Grossmutterbrille“ bestimmt. In derpsychoanalytischen Terminologie würde man in dieser Situa-tion dann von einer “Grossmutterübertragung“ sprechen.

Gelernt werden aber nicht nur die Merkmale einer Person,sondern auch die Erfahrungen, die in der Interaktion mit ei-ner Person gemacht wurden. “Mit zunehmender Entwicklungbilden sich beim Kind Erwartungen, wie der Beziehungs-partner auf die eigenen Intentionen und Handlungen reagie-ren wird, und Überlegungen darüber, aus welchen Motivenund Absichten das Gegenüber handelt“ (Mertens, 1998, S.72). Im Laufe des Lernprozesses entsteht zum Thema “Gross-mutter“ ein neuronales Netz, welches zusätzlich zur schema-gesteuerten Wahrnehmung auch noch entsprechende Hand-lungsbereitschaften, passende emotionale Bereitschaften, so-wie motivationale Bereitschaften aktiviert. Gleiches gilt na-türlich auch für Lernprozesse in Bezug auf Tiere, auf Gegen-stände oder auf komplette Sets von Situationen.

Bei Mertens (1998) findet sich ein ausführlicher und sorgfäl-tiger Überblick über verschiedene psychologische Konzepte,die gut mit dem neurowissenschaftlichen Modell der Ge-dächtnisbildung auf der Basis von neuronalen Netzen in Ver-bindung gebracht werden können. Hierzu gehören aus der Sichtder genetischen Epistemologie die sensomotorischen Schematanach Piaget (1952), aus der Sicht der Körpertherapie die affekt-motorischen Schemata nach Downing (1996), aus psychoa-nalytischer Sicht die “Wahrnehmungs-Affekt-Handlungs-muster“, die bei Dornes (1993) beschrieben sind und aus derSicht der Kleinkindforschung die RIGs (representations ofinteraction generalized; dt. generalisierte Interaktionsre-präsentanzen), ein Konzept von Stern (1985).

Bleibt man in diesem neurowissenschaftlich fundierten Mo-dell von Psyche, so kann man psychische Entwicklung alsErweiterung von Gedächtnisinhalten und damit als Lernenbeschreiben. Folgerichtig schlägt Grawe (1998) vor, Psycho-therapie “als das Verändern von Gedächtnisinhalten“ (S, 269)zu betrachten. An anderer Stelle schreibt er: “Jede Psycho-therapie richtet sich zu einem wesentlichen Teil auf die dau-erhafte Veränderung willkürlich steuerbaren Verhaltens aus.Solche Veränderungen müssen als ein komplexer Lernpro-zess betrachtet werden. Deshalb brauchen wir in der Psycho-therapie Modelle, die diesem komplexen ... Lernprozess ge-

recht werden“ (S. 276). Nach Grawe ist das Ziel von Psycho-therapie, willkürlich steuerbares Verhalten zu beeinflussen.Dies führt zu der Frage, wie psychisches Geschehen aus neuro-wissenschaftlicher Sicht reguliert wird.

Wie wird psychisches Geschehen reguliert?

Nachdem nun klar geworden ist, wie psychisches Geschehenneurowissenschaftlich modelliert werden kann, erhebt sich alsnächstes die Frage, wie man sich die Regulationsprozessevorzustellen hat, die das psychobiologische Wohlbefinden desOrganismus sichern. Zunächst ist festzuhalten, dass wir unsvon der Vorstellung verabschieden müssen, dass “das, waswir als unser Ich erleben, das zentrale Steuerungsorgan unse-res Lebens und unseres Seelenlebens ist. ... Unser Ich-Erle-ben ist eine emergente Qualität aus der Gesamtheit der neu-ronalen Prozesse, die in uns ablaufen. Unser Ich ist nicht derÜberwacher und Herrscher über diese Prozesse, sondern ihrProdukt“ (Grawe, 1998, S. 331).

Dem Bewusstsein, an das die Vorstellung von der Tätigkeitdes Ich in psychologischen Theorien gekoppelt ist, kommtaus der Sicht der Neurowissenschaften keineswegs die zen-trale Stellung zu, die ihm in der akademischen Psychologielange Zeit gegeben wurde. Dies liegt daran, dass der über-wiegende Teil der Gehirnaktivität über unbewusste Prozesseverläuft. Nach Roth (2001, S. 218f) sind nur diejenigen Vor-gänge bewusst, die mit einer Aktivität des assoziativen Cor-tex verbunden sind. Entsprechend sind für uns alle Vorgängeunbewusst, die im Gehirn stattfinden, während und solangeder assoziative Cortex nicht aktiv ist. Abbildung 4 zeigt die-jenigen corticalen Areale, deren Aktivität nach Roth bewusst-seinsfähig ist.

Der Unterscheidung zwischen bewussten und unbewusstenProzessen im Gehirn korrespondiert die Unterscheidung inexplizite und implizite Prozesse aus der Gedächtnispsycho-logie (Schacter, 1987). Ein ausführlicher Überblick hierzu fin-det sich bei Grawe (1998, S. 376f). Grawe schreibt ausserdem:“Die Existenz eines unbewussten Funktionsmodus ist nichtnur eine psychoanalytische Annahme. Sie ist ein empirischgesichertes Phänomen“ (ebd., S. 434). Die Funktionsweisedes bewussten und des unbewussten Modus ist verschieden,sie beruht auch hirnanatomisch auf verschiedenen Struktu-ren. Explizite Prozesse benötigen Zeit und Aufmerksamkeit,

Abb. 4: Bewu§tseinsf�hige assoziative Cortexareale

frontalerAssoziationscortex

parietalerAssoziationscortex

temporalerAssoziationscortex

Page 10: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 289

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

implizite Prozesse können automatisiert in Sekundenschnelleabgerufen werden. Explizite Prozesse sind störungsanfällig,implizite Prozesse laufen, wenn sie einmal ausgelöst wurden,mit hoher Zuverlässigkeit ab. Da explizite Prozesse energe-tisch-stoffwechselphysiologisch sehr viel “teurer“ sind alsimplizite Prozesse, bezeichnet Roth (2001) sie als ein “beson-deres Werkzeug des Gehirns“ (S. 231). Bewusstsein ist ausder Sicht des Organismus ein Zustand, “der tunlichst zu ver-meiden und nur im Notfall einzusetzen ist“ (Roth, 2001, S.231). Explizite, mit Bewusstsein verbundene Prozesse wer-den vom Gehirn nur dann aufgerufen, wenn in einem unter-halb der Bewusstseinsschwelle verlaufenden Prozess, der inden Neurowissenschaften “präattentive Wahrnehmung“ ge-nannt wird, ein Objekt oder eine Situation als “neu“ und/oderals “wichtig“ eingestuft wurde. Wenn die präattentive Wahr-nehmung einen Sachverhalt als “bekannt“ und/oder “unwich-tig“ einstuft, wird der implizite Verarbeitungsmodus einge-schaltet. Das Gehirn ist darauf aus, auch Inhalte, für derenBearbeitung zunächst viel Aufmerksamkeit und “teure“ Be-wusstheit nötig war, so bald als möglich ins implizite Gedächt-nis zu überführen. Dies geschieht durch Wiederholung undÜbung.

In dem Masse, in dem Leistungen wiederholt werden, sicheinüben und schliesslich mehr oder weniger automatisiert unddamit müheloser werden, schwindet auch der Aufwand anBewusstheit und Aufmerksamkeit, bis am Ende – wennüberhaupt – nur ein begleitendes Bewusstsein übrig bleibt.Wenn man an den Unterschied von der ersten Fahrstunde zuder Art und Weise, wie man heute Auto fährt, denkt, wird derUnterschied zwischen expliziten und impliziten Prozessen

ohne weiteres deutlich. Grundsätzlich ist die Fähigkeit desGehirns, viele Dinge im impliziten Modus automatisiert ab-zuwickeln, meistens von Vorteil. Für psychologische Prozes-se allerdings kann diese Fähigkeit manchmal zum Problemwerden. Dies ist dann der Fall, wenn maladaptive neuronaleNetze die Steuerungsfunktion übernehmen und im MenschenWahrnehmungsbereitschaften, motivationale Bereitschaftenund Handlungsbereitschaften hervorrufen, die dem psycho-biologischen Wohlbefinden abträglich sind.

Für die Psychotherapie ist ein Teil des impliziten Gedächtnis-systems besonders interessant, den Roth das emotionaleErfahrungsgedächtnis nennt. Nach Roth läuft emotionalesLernen in seinen wesentlichen Teilen subkortikal-implizit ab,selbst wenn es bewusst erfahren oder gar induziert wird (2001,S. 320 f). Nach Roth ist eine bewusste Kontrolle “top down“über das emotionale Erfahrungsgedächtnis nur schwer mög-lich. Auch aus der psychologischen Forschung wird dieseAnsicht unterstützt: “Auf emotionale Reaktionsbereitschaften,die im impliziten emotionalen Gedächtnis gespeichert sind,kann man allein durch Gespräche überhaupt keinen Einflussnehmen“ (Grawe, 1998, S. 288). Roth erläutert diesen Um-stand an einem einleuchtenden Beispiel: “Ein konstitutionelloder aufgrund frühkindlicher Konditionierung ängstlicherMensch kann sich nur wenig damit beruhigen, dass er sichsagt, von der anstehenden Prüfung hänge “eigentlich“ garnichts ab; angstfrei wird er durch diese Erkenntnis bestimmtnicht“ (2001, S. 320). Die folgende Abbildung zeigt das Zu-sammenspiel von kortikaler und subkortikaler Ebene nachRoth. Durch dicke und dünne Pfeile ist jeweils die Stärke derEinflussnahme gekennzeichnet.

SCHNELLES,

EXPLIZITES

LERNEN UND

UMLERNEN

DETAILLIERT

LANGSAMES,

IMPLIZITES,

NACHHALTIGES

LERNEN UND

UMLERNEN

DIFFUS

EmotionalesErfahrungsged�chtnis

Angeborene Affektzust�nde

Autonomes NS, Hypothalamus, retikul�reFormation, PAG, mesolimbisches System,

zentrale Amygdala

Basolaterale Amygdala,mesolimbisches System,

limbische thalamische Kerne, Insel

Bewusste kognitive, emotionaleund exekutive Zust�nde

Dorsolateraler, orbitofrontaler PFC,cingul�rer, parietalerund temporaler Cortex

Episodisch Ð autobiografischesGed�chtnis, nicht emotional

Cortex Ð Hippocampus

kortikaleEbene

subkortikaleEbene

Abb. 5: Das Zusammenspiel von kortikaler und subkortikaler Ebene (Nach Roth, 2001)

Page 11: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 290 Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Bleiben wir beim Beispiel des Menschen mit Prüfungsangst,dem die Psychotherapie gerne helfen will. Seine Prüfungs-angst ist im impliziten Gedächtnissystem gespeichert. Diesist aus der Sicht des Gehirns auch gut so, denn, wie Rothschreibt: “unsere konditionierten Gefühle sind ja nichts an-deres als konzentrierte Lebenserfahrung“ (S. 321). Der Orga-nismus tut darum gut daran, diese konzentrierte Lebenserfah-rung in dem schnell abrufbaren und mit höchster Zuverläs-sigkeit arbeitenden impliziten Modus zur Verfügung zu stel-len. In die Quere kommt uns dieser an sich sinnvolle Vorgangnur dann, wenn im impliziten Modus etwas gespeichert ist,das automatisch und damit sehr schnell und zuverlässig ab-läuft, das aber nicht zum psychobiologischen Wohlbefindendes Organismus beiträgt. In diesen Fällen muss die Psycho-therapie daran arbeiten, den unwillkommenen Automatismusdurch einen neuen, im Sinne des psychobiologischen Wohl-befindens nützlicheren Automatismus zu ersetzen. Wie siehtdieser Vorgang auf neuronaler Ebene aus?

Die Gedächtnisinhalte sind, das haben wir schon gesehen, aufneuronaler Ebene in Form von neuronalen Netzen und ent-sprechenden Erregungsmustern gespeichert. Diese Tatsachegilt für das explizite und für das implizite Gedächtnis gleicher-massen. Auch psychisches Geschehen kann in dieser Termi-nologie gefasst werden. Grawe (1998) geht davon aus, dass “allen Eigenarten des psychischen Geschehens bestimmte neu-ronale Erregungsmuster (S. 265)“ zugrunde liegen. “Die Be-reitschaften zu diesen Erregungsmustern sind in verschie-denen Gedächtnisarten gespeichert“ (ebd). Ausserdem wis-sen wir, dass bei Erregungsmustern, die stark gebahnt sind,die Aktivierung eines Teils “wegen der starken Vorbahnungzur Aktivierung des ganzen Zellverbandes“ (ebd.) führt. Einebeabsichtigte Reaktions- oder Verhaltensänderung wäre indiesem Sinne ein neues neuronales Netz, das so stark gebahntwerden muss, dass es als neuer Automatismus den alten, un-erwünschten Automatismus ersetzt. Das erwünschte neuro-nale Erregungsmuster muss aus dem expliziten Modus in denimpliziten Modus überführt werden, wo es zuverlässig undstörungsfrei ablaufen kann.

Dies ist vom Prinzip her einfach und elegant zu beschreiben,darum ist die neurowissenschaftliche Sichtweise in diesemPunkt als Orientierungshilfe für die Psychologie sehr hilfreich.Hüther schreibt: “Der Einzelne muss die neuronalen Verschal-tungen in seinem Gehirn reorganisieren“ (2001, S. 137). Vonder Umsetzung her ist das Erlernen und Automatisieren einesneuen neuronalen Erregungsmusters natürlich mit all denSchwierigkeiten und Mühen verbunden, die für Lernen allge-mein gelten: Zeit, Geduld und Ausdauer werden benötigt. Auto-fahren lernt man schliesslich auch nicht an einem Tag. Graweschreibt hierzu: “Solange solche neu entstandenen Erregungs-muster noch nicht eingespielt sind, benötigen sie bewussteVerarbeitungskapazität. Durch häufige Wiederholungen wer-den die neu entstandenen Verbindungen aber immer bessergebahnt. Sie sind immer leichter aktivierbar und gewinnen soimmer leichter Einfluss auf die psychische Aktivität, ohne dassdies mit Bewusstsein verbunden ist“ (1998, S. 266).

Psychotherapie kann auf der Basis neurowissenschaftlicherBegriffsbildung definiert werden als das Erlernen von wohl-adaptiven neuronalen Erregungsmustern, die durch Übung undTraining soweit automatisiert werden, dass sie immer öfteranstelle der alten, maladaptiven Erregungsmuster Regulations-funktion übernehmen können. Diese Konzeption von Psycho-therapie ist anschlussfähig an das von Grawe (1998) immerwieder betonte Ergebnis der Psychotherapieerfolgsforschung,dass erfolgreiche Psychotherapie mit Ressourcenaktivierungverbunden ist. Nach Grawe erlaubt die neurowissenschaftlicheKonzeption von Psychotherapie eine Definition dessen, wasim psychotherapeutischen Prozess als Ressource angesehenwerden kann. Als Ressource bezeichnet er ein “positiv zubewertendes neuronales Erregungsmuster“ (1998, S. 445).Während der Begriff “Ressource“ in psychotherapeutischenKontexten oftmals unscharf verwendet wird (Storch & Krau-se, 2002; Schiepek & Cremers, 2002) und es darum nichtimmer einfach ist, denselben konkret zu operationalisieren,kann “Ressource“, konzipiert als wohladaptives neuronalesErregungsmuster, sehr viel besser als Basis psychotherapeu-tischen Handelns dienen. Im folgenden Abschnitt wird auf-gezeigt, wie wohladaptive – und damit als Ressource zu be-zeichnende – neuronale Netze diagnostiziert werden können.

Die Diagnostik von wohladaptivenneuronalen Netzen

Wenn Grawe unter Ressource ein positiv zu bewertendes neu-ronales Erregungsmuster versteht, hat er damit den Vorgangdes Bewertens angesprochen. Woher kann ein psychothera-peutisch tätiger Mensch wissen, wann neuronale Erregungs-muster als positiv zu bewerten sind? Diese Fragestellung hatin der Psychotherapie eine lange Tradition und gilt als schwie-rig. Viel Forschung hierzu kommt aus dem Themenkreis dergoal-psychology, dem Zweig der Psychologie, die sich mitpersönlichen Zielen befasst. Eine Zusammenfassung hierzufindet sich bei Storch und Krause (2002). Aus dieserForschungstradition ist bekannt, dass “Menschen, die ihreZiele mit einem hohen Grad an subjektiv eingeschätzter Selbst-bestimmung, Selbstverpflichtung oder intrinsischer Motiva-tion verfolgen“ (Kuhl, 2001, S. 223) ein deutlich höheresAussmass an Lebenszufriedenheit und subjektivem Wohlbe-finden angeben als Menschen mit fremdkontrollierten Zie-len. Die Schwierigkeit für die Psychotherapie liegt in der kor-rekten Identifikation der subjektiv positiv bedeutsamen Zieleder PatientInnen. “Das Ausmass, in dem eine Handlung oderein Ziel selbst- oder fremdbestimmt ist, scheint sich auf denersten Blick einer objektiven Messung prinzipiell zu entzie-hen“ (Kuhl, 2001, S. 223). Kanfer et al. (1990) weisen darumzurecht auf mögliche Fehlerquellen bei diesem Prozess hin:“Wenn wir lediglich aufgrund unserer eigenen Ideen gewisseSchlussfolgerungen über Ziele und Pläne von Klienten zie-hen, besteht immer die Gefahr, dass wir glauben, deren Plänezu kennen, während wir genau genommen nur unsere eige-nen Phantasien von den Plänen der Klienten formulieren“(S.265).

Page 12: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 291

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

Wohladaptive Ziele - und damit zu aktivierende Ressourcen -wären demnach Ziele, die ein Patient als in hohem Masseselbst bestimmt erlebt und die ihn zur Realisierung motivie-ren. Die Neurowissenschaften bieten der Psychotherapie einehilfreiche Konzeption an, wie in diesem Sinne wohladaptiveZiele zuverlässig diagnostiziert werden können. Diese Kon-zeption ist die Theorie der somatischen Marker von Damasio(1994). Als somatische Marker bezeichnet Damasio ein bio-logisches Bewertungssystem, das durch Erfahrung entstehtund über Körpersignale und/oder emotionale Signale verläuft.Somatische Marker steuern das Appetenz- und das Ver-meidungsverhalten. Jedes Objekt oder jede Situation, mit de-nen ein Organismus Erfahrungen gesammelt hat, hinterlas-sen einen somatischen Marker, der eine Bewertung dieserBegegnung speichert. Die Bewertung findet statt nach demdualen System “Gut gewesen, wieder aufsuchen“ oder“Schlecht gewesen, das nächste Mal lieber meiden“. Wennder Organismus sich später wieder in einer entsprechendenSituation befindet, oder sich in einem vorausschauendenPlanungsprozess darüber Gedanken machen muss, wie er miteiner bestimmten Situation umgehen soll, erfährt er über so-matische Marker blitzschnell, was zu dieser Thematik bisheran Erfahrungen gesammelt wurde. Natürlich ist die Vernunftbei einem Entscheidungsprozess immer auch beteiligt, abersie kommt erst zum Einsatz, nachdem die somatischen Mar-ker schon lange tätig waren. Lassen wir Damasio (1994) sel-ber sprechen, um eine genauere Vorstellung davon zu bekom-men, wie das System der somatischen Marker arbeitet.

In einer Entscheidungssituation “reagiert das Gehirn einesnormalen, intelligenten und gebildeten Erwachsenen, indemes rasch Szenarien denkbarer Reaktionsmöglichkeiten und derentsprechenden Ergebnisse heraufbeschwört. Für unser Be-wusstsein bestehen die Szenarien aus vielfältigen Vorstellungs-szenen, die keinen zusammenhängenden Film bilden, sondernnur Schlüsselbilder dieser Szenen aufblitzen lassen, jäheSchnitte, die in raschem Nebeneinander von einem Bild zumanderen springen“ (S. 234). ... “Die Schlüsselelemente entfal-ten sich in unserer Vorstellung sofort, in grossen Umrissenund praktisch gleichzeitig, viel zu schnell, um die Einzelhei-ten klar herauszuarbeiten. ... Bevor Sie die Prämissen einerKosten-Nutzen-Analyse unterziehen und bevor Sie logischeÜberlegungen zur Lösung des Problems anstellen, geschiehtetwas sehr Wichtiges: Wenn das unerwünschte Ergebnis, dasmit einer gegebenen Reaktionsmöglichkeit verknüpft ist, inIhrer Vorstellung auftaucht, haben Sie, und wenn auch nur ganzkurz, eine unangenehme Empfindung im Bauch. ... da dieEmpfindung den Körper betrifft, habe ich dem Phänomen denTerminus somatischer Zustand gegeben (soma ist das griechi-sche Wort für Körper); und da sie ein Vorstellungsbild kenn-zeichnet oder “markiert“, bezeichne ich sie als Marker. ...Wasbewirkt der somatische Marker? Er lenkt die Aufmerksamkeitauf das negative Ergebnis, das eine bestimmte Handlungswei-se nach sich ziehen kann“ (S. 237). ... “Das automatische Sig-nal schützt Sie ohne weitere Umstände vor künftigen Verlus-ten und gestattet Ihnen dann, unter weniger Alternativen zuwählen. Sie haben immer noch Gelegenheit, eine Kosten-Nut-zen-Analyse durchzuführen und saubere Schlussfolgerungen

zu ziehen, aber erst nachdem der automatische Schritt die Zahlder Wahlmöglichkeiten erheblich vermindert hat“ (S.238).

Damasios Beispiel bezieht sich auf den Fall, dass Verhaltens-weisen, die aufgrund der Erfahrungen, die ein Organismusgesammelt hat, unerwünschte Ergebnisse nach sich ziehenwürden, mit Hilfe von negativen somatischen Markern aus derPalette der Wahlmöglichkeiten ausgeschieden werden. Fürressourcenaktivierende Psychotherapie sind aber auch die po-sitiven somatischen Marker von Interesse. In den mit positi-ven somatischen Markern verbundenen emotionalen Reaktio-nen plus den begleitenden Körperreaktionen (der guten Emp-findung im Bauch) vermutet man die neurobiologische Basisdes Motivationssystems. Aus der Motivationspsychologie wis-sen wir empirisch vielfach belegt, dass die Intentionsbildungan das Auftauchen von positiven Emotionen gekoppelt ist(Gollwitzer, 1991, 1993). Auch in Kuhls persönlichkeits-psychologischer Vorstellung von der Funktionsweise des psy-chischen Systems bilden positive Gefühle und Motivation eineEinheit: “Die Fähigkeit zur selbstregulierten Rekrutierungpositiven Affekts betrachte ich als die entscheidende Voraus-setzung für Selbstbestimmung und intrinsische Motivation“(Kuhl, 2001, S. 177). Der Neurowissenschaftler Roth siehtdiesen Zusammenhang ebenfalls: “Emotionen greifen in dieVerhaltensplanung und –steuerung ein, indem sie bei derHandlungsauswahl mitwirken und bestimmte Verhaltenswei-sen befördern. Als Wille “energetisieren“ sie die Handlungenbei ihrer Ausführung und unterdrücken als Furcht oder Abnei-gung andere“ (Roth, 2001, S. 7).

Somatische Marker müssen nicht bewusst wahrgenommenwerden, um zu wirken. In einem Experiment mit Spielkartenhat Damasio dies belegt (1994, S. 285f). Die Spielkarten wa-ren in mehren Stapeln verschieden gemischt, einmal zugunstender Probanden, einmal zuungunsten der Probanden. Nach ei-niger Zeit, in denen sie Erfahrungen mit den Kartenstapelnsammelten, entschieden die Probanden “mit dem Bauch“, mitwelchen Karten sie spielten. Noch lange bevor ihnen ihreEntscheidung für oder gegen einen bestimmten Kartenstapelbewusst wurde, hatten ihre somatischen Marker ihnen mitge-teilt, was “gut“ und was “schlecht“ für sie war. Die körperli-chen Begleiterscheinungen der somatischen Marker wurdenvon Damasio mittels eines physiologischen Masses, des Haut-widerstandes, ermittelt. Alle Menschen verfügen über diesesSystem der somatischen Marker, und würden in DamasiosExperiment Veränderungen des Hautwiderstandes zeigen, abernicht alle verfügen über eine Körperwahrnehmung, die genü-gend trainiert ist, um die körperlichen Signale auch bewusstwahrzunehmen. Auch diese Tatsache hat Konsequenzen fürdie Psychotherapie.

Kuhl (1998, 2001) hat in seiner Konzeption von psychischerSelbstregulation ausführlich erläutert, wie die mangelndeUnterscheidungsfähigkeit von selbst- und fremdbestimmtenZielen mit psychopathalogischen Symptomen in Zusammen-hang steht. Aus der psychologischen Forschung sind zahlrei-che Hinweise darauf bekannt, dass Ziele, die mit einem ho-hen Aussmass an Selbstkongruenz einhergehen, häufiger zum

Page 13: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 292 Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Erfolg führen als Ziele mit geringer Selbstkongruenz (Sheldon& Kasser, 1995, 1998). Kuhl weist darauf hin, dass die Selbst-kongruenz von Zielen von einem Gedächtnissystem überprüftwird, das im impliziten Modus arbeitet und in enger Verbin-dung zu körperlichen Reaktionen steht. Es liegt nahe, dasSignalsystem der somatischen Marker als das neurowissen-schaftliche Modell für die spezifischen Fähigkeiten einesselbstkongruenten Menschen zu konzipieren, der in der Lageist, seine eigenen Reaktionen gut wahrzunehmen und seineLebensgestaltung danach auszurichten, von der Kuhl spricht.Kuhl definiert in dieser Hinsicht “Selbstregulation“ als dieFähigkeit, “selbstkompatible, durch positive Emotionen un-terstützte Ziele zu bilden und zu verfolgen“ (1998, S. 66).Psychotherapie hätte demnach die Aufgabe, bei Menschen,die nicht in der Lage sind, ihre somatischen Marker wahrzu-nehmen, die Propriozeption (Eigenwahrnehmung) zu trainie-ren, um dadurch langfristig die Bildung von selbstkongruentenZielen zu fördern. Zu Hilfe kommt hierbei der Umstand, dasdas System der somatischen Marker nach Damasio immeraktiv ist; was unterentwickelt oder verlernt sein kann istlediglich die Fähigkeit zur Propriozeption.

Wesentlich für die Psychologie ist auch ein weiteres Faktumzum Thema “somatische Marker“: Somatische Marker kön-nen nicht nur in real stattfindenden Situationen, wie inDamasios Kartenexperiment, ausgelöst werden, sondern auchdurch Vorstellungen, wie sie bei Menschen in Phasen des be-wussten Abwägens und Planens stattfinden. Damasio nenntdiesen Vorgang die “Als-ob-Schleife“ (1994, S. 238). “In be-stimmten Situationen ist es möglich, sich vorzustellen, wieeine körperliche Rückmeldung sich anfühlen würde, wennsie einträte“ (LeDoux, 2001, S. 318). Dies ist natürlich nurmöglich, wenn das Gehirn schon etliche reale Rückmeldun-gen erlebt hat, so dass die Art und Weise, wie eine Rückmel-dung sich anfühlt, imaginiert werden kann, weil das Gehirnauf entsprechendes Wissen zurückgreifen kann. Die “Als-ob-Schleife“ ist für die Psychotherapie und die Arbeit mitKlientInnen besonders interessant. Aufgrund dieses Phäno-mens kann in der Psychotherapie auch dann, wenn mitKlientInnen im virtuellen Erfahrungsraum des psychologi-schen Gesprächs Verhaltensalternativen gegeneinander abge-wogen werden, damit gerechnet werden, dass das System dersomatischen Marker aktiviert wird.

Somatische Marker sind hochindividuell angelegt, denn sieentstehen durch Erfahrung. Damasio schreibt: “Die entschei-denden prägenden Reize für die somatische Paarung werdenzweifellos in Kindheit und Jugend erworben. Doch die Akku-mulation der somatisch markierten Reize endet erst mit demEnde des Lebens, und deshalb darf man diesen Zuwachs wohlals einen Prozess des fortwährenden Lernens beschreiben“(1994, S. 246). Somatische Marker alleine reichen natürlichfür die meisten menschlichen Entscheidungsprozesse nicht aus.Im Anschluss an die Vorauswahl, welche von diesem “biolo-gischen Bewertungssystem“ getroffen wird, finden in vielen,wenn auch nicht in allen Fällen noch logische Denkprozesseund eine abschliessende Selektion statt. Es gelang Damasiojedoch nachzuweisen, dass Patienten mit Läsionen im prä-

frontalen Cortex, dem Verarbeitungsort der somatischen Mar-ker, nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Sie blei-ben in einem nicht endenden Prozess im rationalen Abwägenvon “Für und Wider“ stecken und kommen zu keinem Ent-schluss. Damasio hat mit seinen Untersuchungen gezeigt, dassEmotionen und die entsprechenden körperlichen Begleiter-scheinungen ein integraler Anteil von Entscheidungsprozessenund damit unentbehrlich für rationales Verhalten sind.

Die Erkenntnis, dass Körperempfindungen und Emotion rati-onale Entscheidungen nicht nur unterstützen, sondern diesel-ben erst ermöglichen, ist schon spannend genug. Die Ergeb-nisse von Damasio haben jedoch noch weitere Konsequen-zen, die für die Psychotherapie von höchstem Interesse sind.Denn Damasios Überlegungen passen auffallend gut zu denFunktionen, die das Selbstsystem aus persönlichkeitspsycho-logischer Sicht innehat. Der Motivations- und Persönlich-keitspsychologe Kuhl verweist darum bei seinen Überlegun-gen zur Funktionsweise des Selbstsystems ebenfalls aufDamasios Konzepte. Nach Kuhl (2001) soll das Selbstsystem“die persönliche Relevanz von Handlungsfolgen (z.B. ihrBedürfnisbefriedigungspotential) registrieren und bei zukünf-tigen Gelegenheiten in die Handlungssteuerung einspeisen.Dazu müssen nicht nur die bei früheren Gelegenheiten aus-geführten Handlungen und ihre Ergebnisse, sondern auch dieemotionalen Begleiterscheinungen der Handlungsergebnissein integrierter Form repräsentiert werden. Ohne diese emoti-onalen Begleiterscheinungen muss es schwer sein, sich beieiner Wiederkehr ähnlicher Situationen für eine der verschie-denen Reaktionen, die man bei früheren Gelegenheiten schoneinmal ausprobiert hat, zu entscheiden“ (S.153). Hierbei ge-hören Körperempfindungen “offensichtlich zu den Signalen,die dem Selbstsystem dabei helfen, sich zwischen den vielenfrüher schon einmal ausprobierten Handlungsoptionen zuentscheiden“ (ebd, S. 153).

In der Sprache der Psychologie formuliert kann man davonausgehen, dass das emotionale Erfahrungsgedächtnis, über dasSignalsystem der somatischen Marker, nicht nur generell eineUnterstützung bei Entscheidungsprozessen bietet, dass es nichtnur dabei hilft, durch positive somatische Marker Motivations-prozesse auszulösen, sondern dass es auch direkte Spiegelungdessen ist, was tiefstes Selbsterleben ausmacht. Das heisst alsKonsequenz: Das Auftauchen von positiven somatischen Mar-kern ist ein direkter Wegweiser zu den Themen, Inhalten, Ab-sichten und Plänen, die von dem Selbstsystem eines Klientenunterstützt werden. Somatische Marker können in diesemZusammenhang also als diagnostisches Leitsystem für Selbst-kongruenz eingesetzt werden. Sie zeigen an, wann ein Menscheine Entscheidung gefällt hat, die er als zu sich selbst passenderlebt. Der grosse Vorteil für die Psychotherapie, wenn sie mitsomatischen Markern als diagnostischem Leitsystem arbeitet,ist der, dass somatische Marker auf Körperzuständen beru-hen. Das heisst, sie sind relativ einfach beobachtbar, messbarund damit objektivierbar. Der schwer operationalisierbareBegriff des “Selbst“ könnte durch das Leitsystem der somati-schen Marker wissenschaftlicher Forschung und therapeuti-scher Praxis besser zugänglich werden.

Page 14: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 293

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

Schlussbetrachtung

Neurowissenschaftliche Perspektiven sind für die Psycholo-gie und die Psychotherapie in zweierlei Hinsicht relevant. Zumeinen können die Neurowissenschaften einen Beitrag dazuleisten, psychologische Begriffsbildung auf empirische Grund-lagen zu stellen. Dies wurde gezeigt am Beispiel der Begriffe“Psyche“, “Übertragung“, “Ressourcenaktivierung“, “Moti-vation“ und “Selbstkongruenz“ bzw. “Selbstsystem“. AlsWissenschaftlerin und Psychotherapeutin, die sich seit vielenJahren mit der Thematik von Persönlichkeitstheorien, Identi-tätstheorien und Selbstkonzeptforschung befasst (Storch,1999), kann ich versichern, dass dieses Themengebiet voneiner einheitlichen Begriffsbildung ausserordentlich profitie-ren würde und dass viele geplagte Studierende sehr viel schnel-ler einen Überblick über die zentralen Variablen dieser The-matik gewinnen könnten, als dies im Moment der Fall ist.

Zum zweiten besitzt die neurowissenschaftliche Perspektiveein grosse integrative Potenz bezüglich einer vernünftigenVerständigung zwischen den verschiedenen Psychotherapie-schulen, die ich als die Aufgabe all derjenigen psychologi-schen PraktikerInnen und TheoretikerInnen ansehe, die zu-kunftsorientiert arbeiten wollen. In den neurowissenschaft-lichen Modellen von psychischen Regulationssystemen fin-den sich alle derzeit allgemein anerkannten psychotherapeu-tischen Richtungen in ihren wesentlichen Aspekten abgebil-det. Die Verhaltenstherapie bezüglich des Lernaspektes unddie Psychoanalyse bezüglich des Aspektes des Unbewussten.Dem Menschenbild der humanistischen Psychotherapiefor-men entspricht das neurowissenschaftliche Postulat, dass demmenschliche Gehirn das Potential innewohnt, für psycho-biologisches Wohlbefinden und Gesundheit zu sorgen, unddass dieser Vorgang unter einer konstruktivistischen Perspek-tive als hochindividuelles Geschehen respektvoll begleitetwerden muss. Alle Therapieformen, die im weitesten Sinnemit körperlichen Aspekten arbeiten, finden in den neuro-wissenschaftlichen Überlegungen Damasios (1994, 2001) eineweitere empirische Basis für ihre Herangehensweise. Lösungs-orientierte Verfahren werden durch die Ideen zur Automati-sierung von ressourcenaktivierenden neuronalen Netzen un-terstützt. Wir selbst haben, aufbauend auf diesem integrativenPotential der Neurowissenschaften, ein schulenübergreifendarbeitendes Selbstmanagementtraining entwickelt (Storch &Krause, 2002), das im nächsten Heft vorgestellt wird.

In diesem Sinne kann die Neurowissenschaft psychothera-peutische Theoriebildung sicher nicht ersetzen, denn sie be-arbeitet nur einen Teil des psychischen Systems, denjenigennämlich, der sich auf biologischer Ebene fassen und beschrei-ben lässt. Psychisches Erleben lässt sich letztendlich abersicherlich nicht als blosses Neuronengewitter beschreiben oderauf ein paar biochemische Veränderungen im Hirnstoffwechselreduzieren. Diese Absicht ist in den Neurowissenschaften aberauch gar nicht vorhanden. Damasio (1994) schreibt bezüg-lich der Konsequenzen von neurowissenschaftlicher For-schung für den Stellenwert psychischen Geschehens: “Folgtdaraus, dass Liebe, Grosszügigkeit, Freundlichkeit, Mitleid,

Ehrlichkeit und andere löbliche Eigenschaften des Menschenlediglich das Ergebnis ... neurobiologischer Regulations-prozesse sind? ... Das ist ganz gewiss nicht der Fall. Liebe istwahr, Freundschaft ehrlich und Mitleid echt, wenn ich in Be-zug auf meine Gefühle nicht lüge, das heisst, wenn ich wirk-lich liebevoll, freundschaftlich und mitfühlend empfinde. ...Die Erkenntnis, dass es hinter den erhabensten menschlichenHandlungen biologische Mechanismen gibt, bedeutet nicht,dass man sie vereinfachend auf neurobiologische Grundvor-gänge zurückführen kann“ (S. 176).

In diesem Sinne sollten die Psychologie und die Psychothe-rapie die neurowissenschaftliche Perspektive als integrieren-de Ressource nutzen, ohne dabei jedoch in biologistischenReduktionismus zu verfallen. Denn die Psychologie hat auchVerbindungen zu den Geisteswissenschaften, die genausowichtig für das Verständnis des menschlichen Wesens sindwie naturwissenschaftliche Ergebnisse.

Literatur

Bartlett, F.C. (1932). Remembering: A Study in Experimental andSocial Psychology. Cambridge University Press: Cambridge.

Bear, M.F., Connors, B.W., & Paradiso, M.A. (1996). Neuroscience:Exploring the Brain. Willimas & Wilkins: Baltimore, ML.

Birbaumer, N. & Schmidt, R.F. (1996). Biologische Psychologie.Springer: Heidelberg.

Damasio, A. (1994). Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und dasmenschliche Gehirn. List: München.

Damasio, A. (2001). Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung desBewusstseins. List: München.

Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling. Die präverbale Ent-wicklung des Menschen. Fischer: Frankfurt am Main.

Downing, G. (1996). Körper und Wort in der Psychotherapie. Leitli-nien für die Praxis. Kösel: München.

Edelman, G.M. (1987). Neural Darwinism. The Theory of NeuronalGroup Selection. Basic Books: New York.

Goldman-Rakic, P.S. (1994). Das Arbeitsgedächtnis. In Gehirn undBewusstsein, 68-77. Spektrum Akademischer Verlag: Heidelberg

Gollwitzer, P.M. (1991). Abwägen und Planen. Hogrefe: Göttingen.Gollwitzer, P.M. (1993). Goal achievement: The role of intentions.

In W. Stroebe & M. Hewstone (Eds.), European Review of SocialPsychology (Vol.4, 141-185). Wiley: Chichester.

Grawe, K. (1998). Psychologische Psychotherapie. Hogrefe: Göttin-gen.

Hebb, D. (1949). The Organisation of Behavior. Wiley: New York.Hüther, G. (1997). Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle wer-

den. Vandenhoeck & Ruprecht:Göttingen.Hüther, G. (2001). Bedienungsanleitung für ein menschliches Ge-

hirn. Vandenhoeck & Ruprecht:Göttingen.Kandel, E.R. & Hawkins, R.D. (1994). Molekulare Grundlagen des

Lernens. In Gehirn und Bewusstsein, 114-125. Spektrum Aka-demischer Verlag: Heidelberg

Kanfer, F.H., Reinecker, H. & Schmelzer, D. (1990). Selbst-management-Therapie. Springer: Berlin.

Koukkou, M. & Lehmann, D. (1998a). Ein systemtheoretisch orien-tiertes Modell der Funktionen des menschlichen Gehirns unddie Ontogenese des Verhaltens. In M. Koukkou, M. Leuzinger-Bohleber und W. Mertens (Hrsg.). Erinnerung von Wirklichkei-ten. Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog, Band1 (S. 287-415). Verlag Internationale Psychoanalyse: Stuttgart.

Page 15: ganzer Artikel - Maja Storch

Seite 294 Psychotherapie 7. Jahrg. 2002, Bd. 7, Heft 2 © CIP-Medien, München

M. Storch: Die Bedeutung neurowissenschaftlicher Forschung für die psychotherapeutische Praxis (S. 281-294)

Koukkou, M. & Lehmann, D. (1998b). Die Pathogenese der Neuro-se und der Wirkungsweg der psychoanalytischen Behandlungaus der Sicht des “Zustandswechsel-Modells“ der Hirn-funktionen. In M. Leuzinger-Bohleber, W. Mertens und M.Koukkou (Hrsg.), Erinnerungen von Wirklichkeiten. Psychoa-nalyse und Neurowissenschaften im Dialog, Band 2, (162-195).Verlag Internationale Psychoanalyse: Stuttgart.

Kuhl, J. (1998). Wille und Persönlichkeit: Funktionsanalyse derSelbststeuerung. Psychologische Rundschau, 49, 61-77.

Kuhl, J. (2001). Motivation und Persönlichkeit. Interaktionen psy-chischer Systeme. Hogrefe: Göttingen.

LeDoux, J. (2001). Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entste-hen. Deutscher Taschenbuch Verlag: München.

Markowitsch, H.J. (1998). Neuropsychologie des menschlichenGedächtnisses. In Biopsychologie, 104-113. Spektrum Akade-mischer Verlag: Heidelberg.

Mertens, W. (1998). Aspekte der psychoanalytischen Gedächtnis-theorie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart – mit einem Aus-blick auf einige Konzepte der Kognitionspsychologen. In M.Koukkou, M. Leuzinger-Bohleber und W. Mertens (Hrsg.). Er-innerung von Wirklichkeiten. Psychoanalyse und Neuro-wissenschaften im Dialog, Band 1 (48-130). Verlag Internatio-nale Psychoanalyse: Stuttgart.

Neisser, U. (1974). Kognitive Psychologie. Klett: Stuttgart.Neisser, U. (1976). Cognition and Reality. Principles and Implications

of Cognitive Psychology. Freeman: San Francisco.Piaget, J. (1952). Das Erwachen der Intelligenz im Kinde. Klett:

Stuttgart.Piaget, J. (1976). Die Äquilibration der kognitiven Strukturen. Klett:

Stuttgart.Ratey, J.J. (2001). Das menschliche Gehirn. Eine Gebrauchsanwei-

sung. Walter: Düsseldorf.Rosenzweig, M.R. & Bennett, E.L. (1995). Psychobiology of

Plasticity: Effects of Training and Experience on Brain andBehavior. Behavioural Brain research, 78, 57-65.

Rosenzweig, M.R., Leiman, A.L. & Breedlove, S.M. (1996).Biological Psychology. Sinauer Associates: Suderland, MA.

Roth, G. (2001). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unserVerhalten steuert. Suhrkamp: Frankfurt am Main.

Roth, G. (1996). Das Gehirn und seine Wirklichkeit. KognitiveNeurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen.Suhrkamp: Frankfurt am Main.

Schacter, D.L. (1987). Critical Review: Implicit Memory; Historyand Current Status. Journal of Experimental Psychology:Learning, Memory, and Cognition, 13, 501-518.

Schiepek, G. & Cremers, S. (2002). Ressourcenorientierung undRessourcendiagnostik in der Psychotherapie. In H. Schemmel& J. Schaller (Hrsg.), Ressourcen. Ein Hand- und Lesebuch.Dgvt: Tübingen.

Sheldon, K.M. & Kasser, T. (1995). Coherence and congruence: Twoaspects of personality integration. Journal of Personality andSocial Psychology, 68, 531-543.

Sheldon, K.M. & Kasser, T. (1998). Pursuing personal goals: Skillsenable progress, but not all progress is beneficial. Personalityand Social Psychology Bulletin, 24, 1319-1331.

Stern, D.N. (1985). Die Lebenserfahrung desSäuglings. Klett-Cotta:Stuttgart

Storch, M. (1999). Identität in der Postmoderne – mögliche Fragenund mögliche Antworten. In H. Dohrenbusch & J. Blickenstorfer(Hrsg.), Allgemeine Heilpädagogik. Eine interdisziplinäre Ein-führung, Band II (70-84). Edition SZH: Luzern.

Storch, M. & Krause, F. (2002). Selbstmanagement – ressourcen-orientiert. Die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell ZRM.Huber: Bern.

Sulz, S. (2002). Neuropsychologie und Hirnforschung als Heraus-forderung für die Psychotherapie. Psychotherapie, 7 (1), 18-33.

Tress, W. (2002). SASB – Strukturale Analyse Sozialen Verhaltens.Ein Arbeitsbuch zur Anwendung des SASB in Praxis, Klinikund Forschung. CIP-Medien: München.

Tschacher, W. (1997). Prozessgestalten. Hogrefe: Göttingen.Toni, N.; Buchs, P.-A.; Nikonenko, I.; Bron, C.R. & Muller, D. (1999).

LTP Promotes Formation of Multiple Spine Synapses between aSingle Axon Terminal and a Dendrite. Nature, 402, 421-425.

Dr. phil. Maja StorchPsychologische Psychotherapeutin

Universität Zürich, Pädagogische PsychologieScheuchzerstr. 21CH-8006 Zürich

e-mail: [email protected]