Geometrische Algebra in der Ebene

14
Math Semesterber DOI 10.1007/s00591-013-0128-7 MATHEMATIK IN DER LEHRE Geometrische Algebra in der Ebene Zeiger und komplexe Zahlen Rudolf Repges Eingegangen: 20. März 2013 / Angenommen: 22. September 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 Zusammenfassung Im Mathematikunterricht der Oberstufe könnte die zweidimen- sionale Vektorrechnung zu einer geometrischen Algebra in der Ebene erweitert wer- den, indem ein ‚richtiges‘ Produkt zweier Vektoren eingeführt wird, das auch die Division und die Bildung von Wurzeln erlaubt. Dazu wird mit geometrischen Ele- menten gearbeitet, die aus Vektorpfeilen mit jeweils angehängten eigenen Einheiten bestehen und hier kurz Zeiger genannt werden. Zusammen mit der Vektoraddition und der Drehstreckung als Multiplikation bilden sie einen Körper, dem der Körper der komplexen Zahlen zugeordnet werden kann. Es werden einige Beispiele geome- trischer Probleme gezeigt, die sich unmittelbar algebraisch erfassen und leicht lösen lassen. Die algebraische Lösung stellt sowohl eine Konstruktions- als auch eine Be- rechnungsvorschrift dar. Schlüsselwörter Vektorrechnung in der Ebene · Geometrische Algebra in der Ebene · Geometrische Elemente der komplexen Zahlen 1 Einleitung Während der Behandlung der Vektorrechnung in der Oberstufe wird im Unterricht hin und wieder die Frage gestellt, wieso man nicht durch einen Vektor dividieren oder seine Wurzel ziehen kann. Mit ähnlichen Fragen beschäftigte sich schon vor mehr als 200 Jahren der dänische Landvermesser Caspar Wessel (1745–1818), der sich aus praktischen Gründen zum Ziel gesetzt hatte, mit gerichteten Strecken geometrisch so rechnen zu können wie mit Zahlen. Seine einzige wissenschaftliche Arbeit [12] blieb R. Repges (B ) Mies-van-der-Rohe Schule Aachen, Aachen, Deutschland e-mail: [email protected]

Transcript of Geometrische Algebra in der Ebene

Page 1: Geometrische Algebra in der Ebene

Math SemesterberDOI 10.1007/s00591-013-0128-7

M AT H E M AT I K I N D E R L E H R E

Geometrische Algebra in der EbeneZeiger und komplexe Zahlen

Rudolf Repges

Eingegangen: 20. März 2013 / Angenommen: 22. September 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Zusammenfassung Im Mathematikunterricht der Oberstufe könnte die zweidimen-sionale Vektorrechnung zu einer geometrischen Algebra in der Ebene erweitert wer-den, indem ein ‚richtiges‘ Produkt zweier Vektoren eingeführt wird, das auch dieDivision und die Bildung von Wurzeln erlaubt. Dazu wird mit geometrischen Ele-menten gearbeitet, die aus Vektorpfeilen mit jeweils angehängten eigenen Einheitenbestehen und hier kurz Zeiger genannt werden. Zusammen mit der Vektoradditionund der Drehstreckung als Multiplikation bilden sie einen Körper, dem der Körperder komplexen Zahlen zugeordnet werden kann. Es werden einige Beispiele geome-trischer Probleme gezeigt, die sich unmittelbar algebraisch erfassen und leicht lösenlassen. Die algebraische Lösung stellt sowohl eine Konstruktions- als auch eine Be-rechnungsvorschrift dar.

Schlüsselwörter Vektorrechnung in der Ebene · Geometrische Algebra in derEbene · Geometrische Elemente der komplexen Zahlen

1 Einleitung

Während der Behandlung der Vektorrechnung in der Oberstufe wird im Unterrichthin und wieder die Frage gestellt, wieso man nicht durch einen Vektor dividieren oderseine Wurzel ziehen kann. Mit ähnlichen Fragen beschäftigte sich schon vor mehr als200 Jahren der dänische Landvermesser Caspar Wessel (1745–1818), der sich auspraktischen Gründen zum Ziel gesetzt hatte, mit gerichteten Strecken geometrisch sorechnen zu können wie mit Zahlen. Seine einzige wissenschaftliche Arbeit [12] blieb

R. Repges (B)Mies-van-der-Rohe Schule Aachen, Aachen, Deutschlande-mail: [email protected]

Page 2: Geometrische Algebra in der Ebene

R. Repges

jedoch nach ihrer Veröffentlichung weitgehend unbeachtet.1 Leider wird dieser Frageim Unterricht auch heute keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet und damit dieChance verpasst, ausgehend von geometrischen Überlegungen die Definition einesProdukts zweier Vektoren zu erarbeiten, das diese Operationen ermöglicht und dieVektorrechnung zu einer geometrischen Algebra werden lässt. Ihre Elemente sindwahlweise geometrische Gebilde oder komplexe Zahlen.

Die geometrische Algebra ermöglicht es den Schülern, geometrische Problemstel-lungen unmittelbar in algebraische Gleichungen umzuformulieren und dadurch mitoder ohne Zahlen zu lösen. Dazu werden als Beispiele einige Figuren gezeigt, de-ren geometrische Beziehungen sich in linearen und quadratischen Gleichungen aus-drücken lassen. Die gesamten Betrachtungen beziehen sich hier nur auf die Ebene.

Kenntnisse in der geometrischen Algebra legen für die Schüler auch eine Basis,auf der ein anschauliches Verständnis weiterer mathematischer Teilgebiete wie bei-spielsweise das der Funktionentheorie oder das der Quaternionen, Oktonionen oderClifford Zahlen aufbaut [4]. Außerdem wird zur Zeit die geometrische Algebra alseine effektive Methode diskutiert, die Quantenmechanik und das Quantencomputing[7] zu vermitteln und verschiedene Teilgebiete der Physik einheitlich zu beschreiben[1, 5]. Es gibt mittlerweile auch eine Reihe von Anwendungen in der Robotik undComputergraphik [2, 11] und Ansätze, sie in Rechnerarchitekturen [6] zu integrieren.

2 Problemstellung

Kommt im Unterricht die Frage auf, warum man nicht durch Vektoren dividierenkann, ist das eine Gelegenheit, die Operationen zu wiederholen, die für das Rechnenmit Zahlen definiert sind, um sie mit denen zu vergleichen, die für Vektoren definiertsind. Man stellt fest, dass zwar die Addition der Vektoren eine Analogie zu der Addi-tion der Zahlen hat, d.h. sie ist kommutativ, assoziativ, und es gibt ein neutrales undein inverses Element, doch gilt das nicht für die Multiplikation. Sowohl dem Skalar-produkt wie auch dem Vektorprodukt fehlt ein neutrales und damit auch ein inversesElement, sodass es keine Division gibt. Abgesehen davon führt das Skalarproduktnicht zu einem Vektor und das Vektorprodukt ist im Zweidimensionalen nicht defi-niert. An dieser Stelle kann in der Klasse der Wunsch aufkommen, diesen Mangel zubeheben, und ein ‚richtiges‘ Produkt zweier Vektoren zu entwickeln, das die vermiss-ten Eigenschaften hat. Dazu wird im Folgenden wie bei Wessel das Produkt zunächstals eine geometrische Operation eingeführt.

3 Zeiger als Vektoren mit angehängten Einheiten

Im Koordinatensystem wird das geordnete Zahlenpaar eines Vektors üblicherweiseals ein Pfeil dargestellt, der eine Verschiebung von Punkt zu Punkt symbolisiert. Vek-toren lassen sich aber auch zu geometrischen Elementen ergänzen, die unabhängig

1Wessels geometrische Interpretation der komplexen Zahlen wurde später unabhängig voneinander 1806von Argand und 1831 von Gauss nochmals entdeckt. Erst 1899 wurde seine in Dänisch abgefasste Arbeit‚Om Directionens analytiske betegning‘ (C. Wessel, 1799) ins Französche und weitere hundert Jahre späterins Englische übersetzt.

Page 3: Geometrische Algebra in der Ebene

Geometrische Algebra in der Ebene

Abb. 1 Zeiger bzw. Punktetripletts

von einem äußeren Koordinatensystem sind, indem jedem Pfeil sein eigenes Koor-dinatensystem angehängt wird. Jedes beliebige Streckenpaar, das einen Winkel ein-schließt, repräsentiert damit ein solches Element, wenn die eine Strecke als Pfeil unddie andere als Einheit betrachtet wird. Das Gebilde aus Pfeil und Einheit wird hierder Einfachheit halber Zeiger genannt, obwohl es eigentlich wie in Abb. 1 links ge-zeigt ein Doppelzeiger ist. Alternativ könnte man das Element auch als Punktetriplettbezeichnen, da es durch die relative Lage dreier Punkte bestimmt ist, des schwarzenEinheitspunkts E, des weißen Pfeilanfangs S und der grauen Pfeilspitze P.

Verschiebt, dreht oder streckt man das Gebilde, repräsentiert es dasselbe geome-trische Element, da es nur durch einen bestimmten Winkel und ein bestimmtes Län-genverhältnis zwischen Pfeil und Einheit bzw. in seinem eigenen Koordinatensystemdurch bestimmte kartesische Koordinaten festgelegt ist. Anders ausgedrückt ist einZeiger eine Äquivalenzklasse aus Paaren gerichteter Strecken, die einen bestimmtenWinkel einschließen und ein bestimmtes Längenverhältnis zueinander haben. Für denSonderfall, dass Pfeil und Einheit auf einer Geraden liegen, entspricht dem Zeiger nureine einzige reelle Zahl. Abbildung 1 zeigt dazu rechts zwei Beispiele.

4 Rechnen mit Zeigern

4.1 Geometrische Addition

Die geometrische Addition zweier Zeiger wird in Abb. 2 gezeigt. Dazu werden dieZeiger zunächst so verschoben, dass ihre weißen Ursprungspunkte identisch und ihreEinheiten parallel sind. Ein Zeiger wird dann durch das Ziehen einer Parallelen sogestreckt (in Abb. 2 wird rechts der erste Zeiger gestreckt), dass auch die schwarzenEinheitspunkte beider Zeiger identisch sind. Danach wird wie in der Vektorrechnungüblich der Anfang des einen (nun gestreckten) Pfeils an die Spitze des anderen Pfeilsparallel verschoben. Dabei addieren sich die kartesischen Koordinaten der Pfeilspit-zen zu den Koordinaten der Pfeilspitze des Summenzeigers.

In der Vektorrechnung ist die geometrische Addition der Vektoren dadurch verein-facht, dass die Zeiger in ein gemeinsames Koordinatensystem eingezeichnet werdenund ihre Einheiten alle gleichlang und parallel zur Einheit der x-Achse ausgerichtetund dann weggelassen werden. Es verbleibt dann nur der letzte Schritt, den Anfangdes einen Pfeils an die Spitze des anderen parallel zu verschieben. Der umständli-che Weg, dass zunächst einmal die vollständigen bzw. koordinatensystemunabhän-gigen geometrischen Elemente bzw. Zeiger dargestellt werden, zu denen die Vekto-ren ergänzt werden können, hat aber den Vorteil, dass die Multiplikation vorbereitetwird.

Page 4: Geometrische Algebra in der Ebene

R. Repges

Abb. 2 Geometrische Addition zweier Zeiger

Abb. 3 Geometrische Multiplikation zweier Zeiger

4.2 Geometrische Multiplikation

Die Operation ist in Abb. 3 gezeigt. Sie ist einfacher auszuführen als die Zeigerad-dition und kann von den Schülern wahrscheinlich von alleine gefunden werden. AlsHinweis könnte die Frage gestellt werden, ob sich nicht statt mit Verschiebungen auchetwas mit Drehungen machen lässt. Das Ergebnis der Überlegungen müsste sein, dassdie Zeiger zunächst wie bei der Addition so zueinander geschoben werden, dass sieden weißen Pfeilanfang gemeinsam haben, doch dann wird die Einheit des einenZeigers nicht auf die Einheit, sondern auf den Pfeil des anderen Zeigers gedreht. An-schließend wird der eine Zeiger durch das Ziehen einer Parallelen so gestreckt, dassseine Einheit gleichlang wie der Pfeil ist, auf dem sie liegt. Als Produktzeiger wirdder Pfeil des gestreckten einen Zeigers bezogen auf die Einheit des anderen Zeigersdefiniert. Die Konstruktion bewirkt eine Drehstreckung des einen Zeigers mit Hilfedes anderen, bei der die Winkel addiert und die Streckenverhältnisse der Pfeile zurEinheit multipliziert werden.

Bemerkenswert ist das Quadrat des 90◦-Einheitszeigers, der mit ‚i‘ abgekürztwird. Es ergibt wie in Abb. 4 gezeight den 180◦-Einheitszeiger bzw. −1. Damit ist

Page 5: Geometrische Algebra in der Ebene

Geometrische Algebra in der Ebene

Abb. 4 Das Quadrat zweier rechtwinkliger Einheitszeiger ergibt die negative Einheit

Abb. 5 Das Einselement der Multiplikation

Abb. 6 Der Kehrwert

der 90◦-Einheitszeiger eine Wurzel aus dem 180◦-Einheitszeiger. Die zweite Wurzelist der negative 90◦-Einheitszeiger, denn auch dessen Quadrat führt zu dem 180◦-Einheitszeiger. Allgemein gibt es zu einer n-ten Wurzel aus jedem beliebigen Zei-ger (ungleich dem Nullzeiger) immer n Zeiger als Lösungen, deren Pfeilspitzen dieEcken eines n-Ecks aufspannen, doch sollen diese Betrachtungen hier nicht weiterfortgeführt werden, da sie auch anderswo zu finden sind.2

4.3 Der Körper der Zeiger

Nachdem das Produkt definiert worden ist, kann überprüft werden, ob es auch dieEigenschaften hat, die das Produkt zwischen Zahlen (rationalen oder reellen) hat,sodass es als ‚richtiges‘ Produkt angesehen werden kann.

Das Einselement der Zeiger ist wie in Abb. 5 gezeigt der 0◦-Einheitszeiger. DerKehrwert eines Zeigers entsteht durch Vertauschung der Pfeilspitze mit dem Einheits-punkt, denn das Produkt des Kehrwertzeigers mit dem Zeiger ergibt wie in Abb. 6gezeigt das Einselement. Mit der Konstruktion des Kehrwerts ist die geometrischeDivision durch einen Zeiger ausführbar.

Die Gültigkeit des Kommutativ- und Assoziativgesetzes für die geometrische Ad-dition und Multiplikation der Zeiger ergibt sich unmittelbar aus der Konstruktion, und

2Siehe beispielsweise im Unterrichtswerk ‚Komplexe Zahlen‘ (C. Niederdrenk Felgner 2004 [8]) S.44.Auf S.46–S.53 wird sogar der Fundamentalsatz der Algebra bewiesen.

Page 6: Geometrische Algebra in der Ebene

R. Repges

Abb. 7 Distributivgesetz der geometrischen Operationen

Abb. 8 Zeiger und zugeordnete komplexe Zahl

die Gültigkeit des Distributivgesetzes lässt sich daraus ableiten, dass wie in Abb. 7gezeigt ein Dreieck durch eine Drehstreckung der einzelnen Seiten in ein ähnlichesDreieck überführt wird [9]. Die Menge der Zeiger zusammen mit den Operationenbildet damit einen Körper.

4.4 Der Körper der komplexen Zahlen

Da die Zeiger einen Körper bilden, gilt das folglich auch für die eindeutig zugeord-neten Zahlenpaare, wobei die geometrischen Operationen in Rechenregeln überge-hen. Der Körper der Zahlenpaare ist als der Körper der komplexen Zahlen bekannt.Um an die Konventionen für das Rechnen mit komplexen Zahlen anzuknüpfen, wer-den wie in Abb. 8 gezeigt dem x-Einheitsvektor eine Eins und dem y-Einheitsvektorwie schon in Abb. 4 angedeutet die sogenannte imaginäre Einheit i zugeordnet, unddie reelle x-Koordinate a1 wird Real- und die reelle y-Koordinate a2 Imaginärteilder komplexen Zahl z genannt. Der Sonderfall des Quadrats der y-Einheitsvektorenstellt sich als i2 = −1 dar, und für das Produkt zweier beliebiger Zahlenpaare folgtmit Hilfe des Distributivgesetzes

(1a1 + ia2)(1b1 + ib2) = 1(a1b1 − a2b2) + i(a1b2 + a2b1) (1)

oder(

a1a2

)(b1b2

)=

(a1b1 − a2b2a1b2 + a2b1

). (2)

Page 7: Geometrische Algebra in der Ebene

Geometrische Algebra in der Ebene

Das Rechnen mit komplexen Zahlen kann nun mit den Schülern eingeübt werden.Dazu gibt es einige gute Bücher und Lehrbücher.3,4,5

5 Geometrische Algebra in der Praxis

Bevor einige Beispiele dazu gezeigt werden, wie sich die geometrische Algebra zurLösung geometrischer Probleme anwenden lässt, wird eine Vereinbarung zur Kenn-zeichnung der Zeiger in einer geometrischen Figur getroffen, die in dieser Form nichtüblich ist, aber die Zuordnung der algebraischen zu den geometrischen Beziehungenerleichtert: Werden Pfeile in die Figur eingezeichnet, stellen sie Pfeile von Zeigerndar, die sich alle auf eine gleichlange und parallele Einheit beziehen, die der Über-sicht halber nicht jeweils eingezeichnet wird (in Abb. 9 beispielsweise die Zeiger a

und b). Wird dagegen in einen Winkel eines Dreiecks der Figur ein gerichteter Win-kelbogen eingetragen, markiert er einen Zeiger (in Abb. 9 den Zeiger z), der seineindividuelle Einheit explizit mit sich führt: Die Strecke, von der der Bogen ausgeht,ist seine Einheit, und die Strecke, zu der der Bogen hinführt, sein Pfeil. Alle Zeigerwerden mit kleinen lateinischen Buchstaben symbolisiert, die entweder neben denPfeil oder in den Winkelbogen platziert werden.

Nachdem die Zeiger in der geometrischen Figur gekennzeichnet sind, können diegeometrischen Beziehungen durch algebraische Gleichungen ausgedrückt werden.Die Äquivalenzumformungen der Algebra sind dann ein effektives Mittel, einen un-bekannten Zeiger zu ermitteln. Denn die algebraische Lösung ist gleichermaßen ei-ne Anleitung, den unbekannten Zeiger aus bekannten Zeigern zu konstruieren, oder,wenn die Figur zuvor in ein Koordinatensystem eingezeichnet und den Punkten undZeigern komplexe Zahlen zugeordnet worden sind, die Koordinaten eines unbekann-ten Punktes aus den Koordinaten der bekannten Punkte zu berechnen.

5.1 Lineare Gleichung mit zwei deckungsgleichen Dreiecken

In einem ersten Beispiel sind wie in Abb. 9 links gezeigt drei Punkte A, O und Bgegeben. Die Strecken OA und OB haben die gleiche Länge, und ein dritter Punkt Cist so gesucht, dass er mit den Punkten A und O bzw. O und B jeweils ein deckungs-gleiches Dreieck bildet.

3In dem Themenheft ‚Komplexe Zahlen‘ (C. Niederdrenk Felgner, 2004 [8]) werden komplexe Zahlenauch als Zeiger repräsentiert, doch wird nicht mit einem Körper geometrischer Elemente gearbeitet. DasRechnen wird ausführlich geübt. Als geometrische Anwendung stehen lineare Abbildungen im Vorder-grund.4In dem Buch ‚Komplexe Zahlen und ebene Geometrie‘ (J. Engel, 2009 [3]) werden die komplexen Zahlenals Punkte auf der Gaußschen Zahlenebene veranschaulicht. Ein Körper geometrischer Elemente wirdnicht thematisiert. Ausführlich wird unter anderem auf Funktionen komplexer Zahlen und Abbildungeneingegangen.5In dem Buch ‚Die komplexen Zahlen‘ (H. Pieper, 1988 [10]) wird ausführlich auf die Geschichte kom-plexer Zahlen eingegangen, und es werden ihre Anwendungen von den verschiedensten Standpunkten ausbeleuchtet. Auf S. 84 geht Pieper auch auf einen Körper aus Vektoren ein, der nach der Einführung ei-nes entsprechenden Produkts zu dem Körper der komplexen Zahlen isomorph ist. Die Vektoren bleibenbei ihm jedoch von ihrer Richtung her auf die Achse eines gemeinsamen Koordinatensystems bezogen,sodass Drehstreckungen innerhalb einer Figur nicht als gleichwertige ‚Vektoren‘ thematisiert werden.

Page 8: Geometrische Algebra in der Ebene

R. Repges

Abb. 9 Links: Figur mit zwei deckungsgleichen Dreiecken. Rechts: Konstruktion gemäß algebraischerLösung

Um die geometrische Algebra anzuwenden, werden den Strecken vom UrsprungO zu den Punkten A, B, und C die Pfeile der Zeiger a, b und c zugeordnet, dieaus der Vektorrechnung als Ortsvektoren bekannt sind. Die Deckungsgleichheit derDreiecke CAO und COB hat zur Folge, dass ihnen derselbe Zeiger z zugeordnetwerden kann. Die geometrische Algebra liefert nun zwei Gleichungen, in denen dieunbekannten Zeiger c und z in Beziehung zu den bekannten a und b gesetzt werden.Die Gleichungen lassen sich nach c auflösen.

Die Konstruktion des Zeigers c = ab/(a + b) und damit auch des Punktes C ist inAbb. 9 rechts gezeigt. Der Pfeil des Zeigers b wird dazu als gemeinsame Einheit derZeiger der Figur gewählt, die als Pfeile markiert sind. Die Summe a + b wird ent-sprechend der üblichen Methode der geometrischen Vektoraddition konstruiert undführt zu Punkt P. Der Kehrwert 1/(a + b) entsteht durch Vertauschen des Pfeils mitder Einheit des Zeigers a + b. Zur Multiplikation des Kehrwerts mit ab = a1 = a

wird gemäß der Operationsvorschrift zunächst die Einheit des Zeigers 1/(a + b) aufden Pfeil des Zeigers a geschoben, d.h. das Dreieck OBP wird auf den Pfeil von a

gekippt, sodass das Dreieck OB′P′ entsteht. Dann wird der Zeiger 1/(a + b) so ge-streckt, dass seine Einheit so lang ist wie der Pfeil des Zeigers a, d.h. das gekippteDreieck durch das Ziehen einer Parallelen zu dem Dreieck OAC gestreckt. Damitist C konstruiert worden. Alternativ lässt sich die Figur in ein Koordinatensystemeinzeichnen, in dem die komplexen Zahlen der Zeiger a und b den Koordinaten derPunkte A und B entsprechen. Die Koordinaten des Punkts C lassen sich dann aus deralgebraischen Lösung berechnen.

Der Punkt C lässt sich allerdings auch ohne die Hilfe der geometrischen Algebraals Schnittpunkt der Mittelsenkrechten auf den beiden Seiten OE und OA leicht kon-struieren. Analog dazu lassen sich die Koordinaten des Punktes C dadurch berechnen,dass in einem Koordinatensystem die Gleichungen der Mittelsenkrechten aufgestellt

Page 9: Geometrische Algebra in der Ebene

Geometrische Algebra in der Ebene

Abb. 10 Figur mit zwei einander ähnlichen Dreiecken

Abb. 11 Konstruktion gemäß algebraischer Lösung

und deren Schnittpunkt ermittelt wird. Für diesen Fall bietet die geometrische Alge-bra also keine Vereinfachungen.

5.2 Lineare Gleichung mit zwei einander ähnlichen Dreiecken

Das Problem erscheint komplizierter, wenn die gegebenen Strecken OA und OB wiein Abb. 10 gezeigt nicht mehr gleich lang sind, und C so gesucht ist, dass die beidenDreiecke CAO und COB zwar nicht mehr deckungsgleich, aber weiterhin ähnlichsein sollen. Die geometrische Algebra liefert hier für den Punkt C exakt dieselbeKonstruktions- und Berechnungsvorschrift wie im letzten Beispiel. Die Konstruktionist in Abb. 11 gezeigt.

Will man den Punkt C nun aber ohne die Hilfe der geometrischen Algebra kon-struieren, ist man zunächst wahrscheinlich erst einmal ratlos. Die Lösung bleibt hieroffen. Zur Berechnung der Koordinaten des Punkts mit Hilfe der Koordinatengeome-trie kann man von der Gleichheit der Streckenverhältnisse in den ähnlichen Dreieckenausgehen

AC

OA= OC

OBund

AC

OC= OC

BC, (3)

die Koordinaten der Punkte A und B einsetzen und quadrieren

Page 10: Geometrische Algebra in der Ebene

R. Repges

(ax − cx)2 + (ay − cy)

2

a2x + a2

y

= c2x + c2

y

b2x + b2

y

, (4)

(ax − cx)2 + (ay − cy)

2

c2x + c2

y

= c2x + c2

y

(bx − cx)2) + (by − cy)2. (5)

Die Auflösung des Gleichungssystems nach den beiden unbekannten Koordinatendes Punktes C führt zu einer Gleichung vierten Grades, deren Lösung offensichtlichziemlich aufwändig wird.

Alternativ können die Koordinaten des Punktes C mit Hilfe der Vektorrechnungbestimmt werden. Dazu wird das Produkt zweier komplexer Zahlen als Produkt einerDrehstreckmatrix mit einem Vektor geschrieben. Das algebraische Gleichungssystemtransformiert sich damit zu

Za = a − cZb = c

mit Z = λ

(cosφ − sinφ

sinφ − cosφ

)(6)

Die Matrix und die Vektoren sind nicht mehr Elemente derselben Menge, sodass dieUmformungen vergleichsweise umständlich werden. So kann die Matrix Z nicht ein-fach isoliert werden, um zu einer einzelnen Gleichung für einen Vektor zu gelangen.Schreibt man die Gleichungen stattdessen komponentenweise

λa1 cosφ − λa2 sinφ = a1 − c1

λa1 sinφ + λa2 cosφ = a2 − c2(7)

und

λb1 cosφ − λb2 sinφ = c1,

λb1 sinφ + λb2 cosφ = c2,(8)

wird die Berechnung der Koordinaten von C im Vergleich zu der Berechnung nachder Formel der geometrischen Algebra offensichtlich sehr mühselig.

5.3 Lineares Gleichungssystem mit zwei unbekannten Zeigern

Zur Formulierung der folgenden interessanten Aufgabe werden zwei Strecken, die ei-ne Ecke bilden und einen bestimmten Winkel einschließen, Streckenwinkel genannt.Es wird nun angenommen, dass wie in Abb. 12 gezeigt zwei verschiedene Strecken-winkel (a, b) und (c, d) gegeben sind, von denen der erste (a, b) in der Ebene fixiertist. Für den zweiten Streckenwinkel (c, d) wird eine solche Lage gesucht, dass diebeiden Dreiecke, die seine beiden Strecken mit den beiden Endpunkten A und B desfixierten Streckenwinkels bilden, zueinander ähnlich sind.

Die geometrische Algebra stellt das Problem in Form eines einfachen linearenGleichungssystems mit zwei unbekannten Zeigern x und y dar. Der Pfeil eines Zei-gers x markiert die Position X der Ecke des Streckenwinkels (c, d), und ein Zeigery wird jeweils den beiden ähnlichen Dreiecken zugeordnet. Das Gleichungssystemhat die Lösung x = (ad − bc)/(d − c), die ähnlich wie in der Aufgabe zuvor gezeigtkonstruiert oder berechnet werden kann.

Page 11: Geometrische Algebra in der Ebene

Geometrische Algebra in der Ebene

Abb. 12 Aus einer bestimmten relativen Lage zweier Streckenwinkel ergeben sich zwei einander ähnlicheDreiecke

Abb. 13 Zwei Figuren mit jeweils zwei einander ähnlichen Dreiecken

5.4 Quadratische Gleichung mit zwei einander ähnlichen Dreiecken

Die vorletzte Aufgabe wird dahingehend abgewandelt, dass wie in Abb. 13 gezeigtbei drei gegebenen Punkten A, O und B ein Punkt C so gefunden werden soll, dassdie Dreiecke COA und COB ähnlich sind. Die geometrische Algebra liefert dazuzwei Gleichungen mit zwei unbekannten Zeigern z und c, aus der die quadratischeGleichung c2 − bc + ca = 0 folgt. Sie hat die Lösung

c1/2 = b

√b2

4− ab. (9)

Die Konstruktion der Lösung ist in Abb. 14 gezeigt. Es wird dazu wieder der Pfeil desZeigers b als Einheit gewählt. Von dem geviertelten Einheitspfeil b2/4 = 1/4 wirdnach dem üblichen Verfahren der Vektorrechnung der Pfeil des Zeigers ab = a1 = a

abgezogen. Aus dem Differenzpfeil werden die beiden Wurzeln konstruiert und demhalbierten Einheitspfeil addiert. Damit sind aus a und b die beiden verschiedenenPunkte für C konstruiert worden, die zur Darstellung der Figuren in Abb. 13 benutztwurden. Alternativ lassen sich wie in den vorigen Beispielen die Koordinaten der bei-den verschiedenen Punkte für C mit Hilfe der algebraischen Lösung auch ausrechnen.

Page 12: Geometrische Algebra in der Ebene

R. Repges

Abb. 14 Konstruktion gemäß algebraischer Lösung

Abb. 15 Figuren zu einer allgemeinen quadratischen Gleichung

5.5 Geometrische Figur einer allgemeinen quadratischen Gleichung

In einem letzten Beispiel wird die allgemeine quadratische Gleichung

az2 + bz + c = 0 (10)

geometrisch repräsentiert. Eine damit zusammenhängende Aufgabe könnte man soformulieren, dass die Pfeile a, b und c gegeben sind, und der Zeiger z bzw. die Dreh-streckung gesucht ist, sodass der zweimal drehgestreckte Pfeil a addiert mit einemeinmal drehgestreckten Pfeil b den Pfeil −c ergibt. Die Drehstreckung lässt sich ge-mäß der allgemeinen Lösung

z1/2 = − b

2a±

√b2

4a2− c

a(11)

ähnlich wie in dem letzten Beispiel konstruieren und berechnen. Die beiden Lösun-gen sind in Abb. 15 gezeigt. Auf eine analoge Weise können auch Gleichungen drittenund höheren Grades geometrisch repräsentiert werden.

Weitere neue Aufgaben zu entwickeln, zu deren Lösung sich die geometrischeAlgebra anbietet, ist eine spannende Herausforderung. Dazu kommen vor allem Auf-gaben mit Figuren in Frage, in denen mehrfach Dreiecke auftreten, die zueinanderähnlich sind.

Page 13: Geometrische Algebra in der Ebene

Geometrische Algebra in der Ebene

6 Diskussion

In dem Beitrag wird dafür geworben, im Oberstufenunterricht der Schule die zweidi-mensionale Vektorrechnung durch die Einführung eines ‚richtigen‘ Produkts zweierVektoren zu erweitern. Von der geometrischen Interpretation der Vektorrechnung hergesehen besteht die Erweiterung darin, dass in einer Figur neben den Vektorpfeilen,die von Punkt zu Punkt führen, auch Drehstreckungen, die eine Strecke in eine dazuangewinkelte Strecke abbilden, als Elemente einer Menge betrachtet werden, die hierdie Menge der Zeiger genannt wird und zusammen mit den geometrischen Operatio-nen einen Körper bildet. Von den rechnerischen Operationen her gesehen besteht dieErweiterung darin, dass die Zahlenpaare der Vektoren als komplexe Zahlen identifi-ziert werden.

Die Erweiterung der Vektorrechnung mit dem ‚richtigen‘ Produkt ermöglicht denSchülern verschiedene neue Einsichten in die Zusammenhänge zwischen Geometrie,Algebra und Arithmetik. Auf der einen Seite entsteht eine direkte Beziehung zwi-schen Geometrie und Algebra, da die Variablen Platzhalter geometrischer Elementesind. Geometrische Probleme lassen sich auf diese Weise unmittelbar in Form alge-braischer Gleichungen ausdrücken und mit Hilfe der bekannten Äquivalenzumfor-mungen lösen. Die algebraische Lösung ist dann die Anleitung, einen unbekanntenZeiger der Figur aus bekannten Zeigern zu konstruieren.

Auf der anderen Seite stellen sich durch die Zuordnung von Zahlen zu Zeigern diereellen Zahlen als ein Spezialfall dar, der sich auf Zeiger mit nur zwei verschiedenenRichtungen bezieht. Die komplexen Zahlen erscheinen auf diese Weise nicht ‚imagi-när‘ bzw. unwirklich oder ‚komplex‘ bzw. kompliziert, sondern als die allgemeinenZahlen, die Zeiger mit beliebigen Richtungen repräsentieren. Mit ihnen kann im Un-terschied zu den reellen Zahlen sogar jede beliebige algebraische Gleichung erfülltwerden.

Es sind einige Beispiele dafür gezeigt worden, wie sich durch den Gebrauch derZeiger und komplexen Zahlen Vorteile bei der Lösung geometrischer Probleme er-geben. Dabei handelt es sich insbesondere um Figuren, in denen mehrfach zueinan-der ähnliche Dreiecke auftreten. Weitere Bespiele wären Figuren, die lineare Glei-chungssysteme mit mehr als zwei Unbekannten oder Gleichungen höheren Gradesveranschaulichen. Es wird gehofft, dass die dargestellten Beispiele die Entwicklungweiterer interessanter Aufgaben motivieren, mit denen ein zunehmendes Verständnisder geometrischen Bedeutung der Algebra gefördert wird.

Die Gleichungen der geometrischen Algebra lassen sich zwar auch durch Glei-chungen aus der linearen Algebra der Vektorrechnung ersetzen, indem das Produktzweier komplexer Zahlen durch das Produkt einer Drehstreckmatrix mit einem Vektorersetzt wird, doch treten dann in den Gleichungen Elemente verschiedener Mengenauf, und die Umformungsmöglichkeiten sind gegenüber denen der geometrischenAlgebra eingeschränkt. Hinzu kommt, dass die Matrizen in ihrer Funktion als Ab-bildungen keine unmittelbare geometrische Bedeutung wie die Vektoren haben. DerUmstand, dass in den Gleichungen der geometrischen Algebra nur Elemente dersel-ben Menge auftreten, die alle eine geometrische Bedeutung haben, ist angesichts dergenannten Komplikationen, die bei der Anwendung der linearen Algebra auf geome-trische Probleme auftreten, eine wertvolle didaktische Vereinfachung.

Page 14: Geometrische Algebra in der Ebene

R. Repges

Es verbleibt nun als nächster Schritt, ein analoges Konzept zu entwickeln, das inder Schule eine geometrische Algebra räumlicher Elemente vermittelt, denen sich alsZahlen die Quaternionen zuordnen lassen.

Literatur

1. Doran, C., Lasenby, A.: Geometric Algebra for Physicists. Cambridge University Press, Cambridge(2003)

2. Dorst, L., Fontijne, D., Mann, S.: Geometric Algebra for Computer Science: An Object-OrientedApproach to Geometry, 2. Aufl. Morgan Kaufmann, San Mateo (2009)

3. Engel, J.: Komplexe Zahlen und ebene Geometrie. Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, San Ma-teo (2009)

4. Gürlebeck, K., Habetha, K., Sprößig, W.: Funktionentheorie in der Ebene und im Raum. Birkhäuser,Basel (2006)

5. Hestenes, D.: New Foundations for Classical Mechanics: Fundamental Theories of Physics, 2. Aufl.Springer, Berlin (1999)

6. Hildenbrand, D.: Rechnen im Raum mit Geometrischer Algebra. Ernst Schröder Kolloquium (2010).Darmstadt

7. Horn, M., Drechsel, P., Hildenbrand, D.: Quanten-Computing und Geometrische Algebra. Didaktikder Physik (2012). Frühjahrstagung-Mainz

8. Niederdrenk-Felgner, C.: Lambacher Schweizer Themenheft Komplexe Zahlen. Ernst Klett Verlag,Stuttgart (2004)

9. Nikulin, V.V., Shafarevich, I.R.: Geometries and Groups. Springer, Berlin (1994)10. Pieper, H.: Die komplexen Zahlen – Theorie, Praxis, Geschichte (1988). VEB Deutscher Verlag der

Wissenschaften11. Rockwood, A., Hildenbrand, D.: Engineering graphics in geometric algebra. In: Scheuermann, G.,

Bayrocorrochano, E. (Hrsg.) Geometric Algebra Computing for Engineering and Computer ScienceSpringer, Cambridge (2010)

12. Wessel, C.: On Directions analytiske betegning (Über die analytische Repräsentation der Richtung)(1799). Königliche Dänische Akademie der Wissenschaften