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Geschichte Eisberg hart voraus! Sterne für die letzte Position der Titanic Von Bernd Loibl Durch die Nervenstärke eines Offiziers ent- hielt der kurz nach Mitternacht abgesetzte Hilferuf der Titanic die genaue Position des sinkenden Ozeanriesen. Der Kollisionsort wurde aus den abendlichen Gestirnsbeob- achtungen berechnet und bildete die Vor- aussetzung für die schon wenige Stunden später erfolgte Bergung der Schiffbrüchi- gen. Eine Sichtung der Vernehmungsproto- kolle beider anschließender Untersuchun- gen und der auf dem Tauchgang von 1996 basierende Bericht des ›Marine Forensic Panel‹ wirft ein neues Licht auf eine bisher unbekannte Seite dieses immer noch bewe- genden Ereignisses.

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Geschichte

Eisberg hart voraus!Sterne für die letztePosition der Titanic Von Bernd LoiblDurch die Nervenstärke eines Offiziers ent-

hielt der kurz nach Mitternacht abgesetzteHilferuf der Titanic die genaue Position dessinkenden Ozeanriesen. Der Kollisionsortwurde aus den abendlichen Gestirnsbeob-achtungen berechnet und bildete die Vor-aussetzung für die schon wenige Stundenspäter erfolgte Bergung der Schiffbrüchi-gen. Eine Sichtung der Vernehmungsproto-kolle beider anschließender Untersuchun-gen und der auf dem Tauchgang von 1996basierende Bericht des ›Marine ForensicPanel‹ wirft ein neues Licht auf eine bisherunbekannte Seite dieses immer noch bewe-genden Ereignisses.

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Prolog

Kaum eine andere Katastrophe hat ei-ne so intensive und lang anhaltende Fas-zination ausgeübt wie das Versinken des»Royal Mail Steamer Titanic« in den eisi-gen Fluten des Nordatlantiks vor nunschon fast 100 Jahren. Das Ereignis botStoff für mehr als 3000 Bücher, drei Dut-zend Spielfilme, Musicals und Ausstel-lungen – ausreichend Nährstoff für die Bil-dung zahlreicher Mythen und Legenden.Sie reichen vom simplen Versicherungs-betrug bis zur skrupellosen Jagd nachdem Blauen Band als Trophäe für dieschnellste Atlantiküberquerung. Dabeiwar die Titanic nur für eine maximaleGeschwindigkeit von 22 Knoten ausge-legt. Sie blieb damit bewusst deutlich un-ter den 26 Knoten, die von den DampfernLusitania und Mauretania der konkurrie-renden Cunard-Reederei erreicht wurden.

Mit den zeitgenössischen technischenMitteln war eine spürbare Steigerung derGeschwindigkeit nicht zu erreichen. Da-her beabsichtigte die White-Star-Line-Reederei (Abb. 1) mit dem Bau der Titanicund ihrer beiden Schwesterschiffe Olym-pic und Britannic ein anderes Marktseg-ment der Passagierschifffahrt auf demNordatlantik zu besetzen. Diese für kurzeZeit größten Schiffe der Welt sollten ei-nerseits ausreichenden Raum bieten fürdie damals stark angestiegene Zahl von Auswanderungswilligen, gleichzei-tig aber auch eine ausgewählte Klientelmit ungewöhnlichem Luxus bedienen.Mit dem Bau der drei Ozeanriesen fandenvorübergehend rund 15 000 MenschenArbeit auf der Werft von Harland & Wolfin Belfast (Abb. 2).

Die erste und auch letzte Fahrt derTitanic begann in Southampton am Mitt-woch, dem 10. April 1912. Nach Über-querung des Ärmelkanals wurde abendsin Cherbourg für zwei Stunden festge-macht, um weitere Passagiere aufzuneh-men. Im südirischen Queenstown, demheutigen Cork, gingen noch einmal zahl-reiche irische Auswanderungswillige anBord. Gegen 13 Uhr 30 schließlich nahmdie Titanic am Donnerstag Kurs auf NewYork und wurde bis 1985 nicht mehr ge-sehen (Abb. 3).

Die Nordatlantik-Route

Der Europa und Nordamerika verbin-dende Schifffahrtsweg war schon zuBeginn des 20. Jahrhunderts eine vielbefahrene Route, so dass die großenDampfschifffahrtsgesellschaften bereitsfrühzeitig übereinkamen, den Transat-lantikverkehr zu regulieren und auf See-

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Abb. 1: Werbepla-kat der ReedereiWhite-Starline

Abb. 2: Die Titanicauf der Werft vonHarland & Wolf inBelfast. Hier fandenvorübergehend15 000 MenschenArbeit.

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straßen zu betreiben. Das hatte u.a. denVorteil, dass sich bei einem Notfall oftmehrere Schiffe in der Nähe aufhielten.Dabei war der Seeweg nach Nordamerikaim Wesentlichen durch zwei Großkreis-bögen festgelegt. Im Fall der Titanic führ-te der erste Bogen vom Leuchtfeuer Fast-netrock an der südirischen Küste zur gut400 Seemeilen (sm) südöstlich Neufund-lands gelegenen »Corner« bei 42° N und47° W. Der zweite Bogen verband die»Corner« mit dem Nantucket-Feuerschiff.Von dort ging es dann entlang der nord-amerikanischen Küste direkt nach NewYork (Abb. 4).

Großkreisbögen sind die geometrischkürzesten Verbindungen zweier Orte aufder Erdoberfläche. Es gibt aber guteGründe, nicht den Bogen zu befahren,der Irland direkt mit New York verbindet,sondern den deutlich weiteren Weg überdie »Corner« zu wählen. Dazu gehörendie stets schlechten Wetter- und Sichtver-

hältnisse im Seegebiet der Neufundlandvorgelagerten »Grand Banks« und ganzbesonders das in der ersten Jahreshälfteauftretende starke Eisaufkommen. DerWeg über die »Corner« umgeht zwar we-der vollständig das schlechte Wetternoch den Eisgang, mindert aber erheb-lich mögliche Risiken.

Die durch Wetter und Eis bestehendenGefahren für die Schifffahrt bei den»Grand Banks« ist die Folge des Aufeinan-dertreffens zweier grundverschiedenerMeeresströmungen in diesem Gebiet.Auf den in nordöstliche Richtung zie-henden Golfstrom mit etwa 20 °C war-mem Oberflächenwasser trifft aus Nor-den fast senkrecht das etwa Null Gradkalte Wasser des Labradorstroms (Abb.4). So kühlt sich die feuchtwarme Luftüber dem Golfstrom ab, kondensiert ausund führt dadurch zu schlechten Sicht-bedingungen. Auch auf der Titanic regi-strierte man am 14. April 1912 durch

wiederholtes Messen der Luft- und Was-sertemperaturen aufmerksam die Annä-herung an die kritischen Gewässer der»Grand Banks«. Im Laufe dieses schicksal-haften Sonntags sanken die Temperatu-ren rasch auf Werte um den Gefrier-punkt. Der Temperaturrückgang warvon den wachhabenden Offizieren er-wartet worden und stellte – wie später er-fahrene Kapitäne bestätigen sollten –noch keinen Hinweis auf Eisvorkommendar.

Mit dem Labradorstrom wird reich-lich Eis in Gestalt von Bergen unter-schiedlicher Größe, aber auch in Formganzer Eisfelder, nach Süden in das Ge-biet der Schifffahrtswege transportiert.Von den bergigen und mit stattlichenTälern zerfurchten Küsten Westgrön-

lands gleiten Gletscher mit ihrem bis zu3000 Jahre alten Eis direkt ins Meer. DasAuf und Ab der Gezeiten sowie der Auf-trieb, den das Eis im Wasser erfährt, lässtkleine aber auch sehr große Eisbrockenabbrechen. Die Strömung treibt das Eisvon der Buffin-Bay durch die Davis-Straße und die Labradorsee in RichtungAtlantik. Das aber ist ein langer Weg, undvon den jährlich geschätzten 20 000Eisbergen erreichen den Atlantik bei den»Grand Banks« nur etwa 200. Nach spä-testens vier Monaten sind aber auch dieseEisberge Opfer des Golfstroms gewor-den. Es gibt allerdings auch hier einzelneAusreißer. 1925 driftete ein Eisberg biszu den Bahamas bei Breite 25° N, ein an-

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Queenstown

New YorkCorner

Labrador-strom

Golfstrom

Abb. 3: Die letzte Aufnahme der Titanic beim Verlassen der südirischenHafenstadt Queenstown.

Abb. 4: Die Nordatlantik-Route führt über die »Corner«, um dem Eis auszu-weichen, das vom Labradorstrom aus dem Norden herangeführt wird.

Abb. 5: Sieben Achtel eines Eisbergs lie-gen unterhalb der Wasseroberfläche. Sei-ne Driftrichtung wird durch Tiefenströ-mungen bestimmt.

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derer ließ sich mit dem Golfstrom bis fastzu den Azoren mitnehmen.

Der Kern des sich bei den »GrandBanks« verzweigenden Labradorstromsliegt in etwa 50 Meter Tiefe. Da sich 7/8 derMasse eines Eisbergs unterhalb der Was-seroberfläche befinden, drückt dort dasKaltwasser gegen das Eis und bestimmtdamit dessen Driftrichtung (Abb. 5). Eis-berge können daher durchaus in entge-gengesetzte Richtung zum Wind oderentgegen der durch Wind erzeugtenOberflächenströmung treiben.

Als unmittelbare Folge der Titanic-Ka-tastrophe wurde 1914 der InternationalIce Patrol Service (IIPS) ins Leben gerufen.Kanadier (Canadian Ice Service) und Ame-rikaner (US Coast Guard) teilen sich seit-dem die Aufgabe, das Gebiet der »GrandBanks« hinsichtlich des Eisvorkommensmit Schiffen und Flugzeugen zu überwa-chen. Der IIPS hat bis jetzt so erfolgreichgearbeitet, dass in dem überwachten Arealnie wieder ein Schiff durch Kollision mitEis verloren ging. Während der Eissaisonvon Januar bis Juli wird täglich im Internet(www.uscg.mil/lantarea/iip/home.html)und über Kurzwellenfax das Eisauf-kommen bei Neufundland veröffentlicht (Abb. 6).

Das Eisfeld im April 1912 beiden »Grand Banks«

Wie die Statistik der letzten hundertJahre zeigt, ist das Eisvorkommen, ge-messen an der Zahl der Eisberge, die den45. Breitengrad an der nordostamerika-nischen Küste nach Süden überschreiten,von Jahr zu Jahr recht unterschiedlich.1912 war danach ein Jahr mit nur leichtüberdurchschnittlicher Häufigkeit (Abb.7). Im April jenes Jahres aber drang ein

schmales, nur etwa 10 Seemeilen breitesund schätzungsweise 100 Seemeilen lan-ges Eisfeld weit nach Süden vor. Es be-stand aus einer teilweise geschlossenenEisfläche, Packeis, einzelnen Bergen undsogenannten »growlers«, kleinen und oftschon weitgehend abgeschmolzenenBergen, die nicht sehr weit aus dem Was-ser herausragen, aber dadurch sehr ge-fährlich sind und daher von Seefahrernzu Recht gefürchtet werden.

Im Laufe des Sonntags, des 14. April1912, gingen mehrere Funksprüche durchden Äther des Nordatlantiks, von Schif-fen ausgesandt, die jenes Eisfeld mit sei-nen Bergen gesichtet hatten. Captain

John Knapp, Hydrograph am Bureau ofNavigation, Navy Department, Washing-ton D.C., legte dem Unterausschuss desamerikanischen Senats alle diesbezügli-chen Funkmeldungen vor [1]. Sie bein-halteten die Uhrzeiten, die Schiffspositio-nen und die Beschreibungen der Sich-tungen. Trägt man diese Positionen ineine Seekarte ein, so gewinnt man eindeutliches Bild von der zu jener Zeit herr-schenden Verteilung von Eis, in die derKurs der Titanic direkt hinein führte(Abb. 8). Captain Knapp wies außerdemauf die frei zugänglichen Meldungen sei-ner Behörde über die Eissituation in denersten Aprilwochen hin. Im Tagesmemo-randum für den 11. April enthielt dieMeldung die Existenz eines den 42. Brei-tengrad nach Süden überschreitendenEisfeldes. Die Titanic sollte also gewarntsein – und das war sie auch!

Aus den vorgelegten Dokumentenging hervor, dass der Kommandant derTitanic, Captain Edward C. Smith, erst-mals am Sonntag um 9 Uhr Schiffszeitvon der Caronia über die schon zweiTage zuvor erfolgte Sichtung von Eisber-gen informiert worden war. Auch derdeutsche Dampfer Amerika meldete am14. April um 11 Uhr 45 New Yorker Zeit:Amerika passed two large icebergs in 41°27′ N, 50° 08′ W. Die Amerika, ein Schiffder Hamburg-Amerika-Linie, befandsich etwa auf der Länge 40° W. Damit warsie aber zu weit von Neufundland ent-fernt, um die dortige EmpfangsstationCape Race direkt zu erreichen, über die

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55° W 50° W 45° W 40° W

55° W 50° W 45° W40° N

60° W65° W70° W

50° N

45° N

New York

Boston

Montreal

Grenze allen bekannten EisesSeeeisgrenzeGebiet vieler EisbergeEisbergGrowlerRadarecho

International Ice Patrol Service

Abb. 6: Das Vorkommen von Eis am 14. April 1998. Auf den Tag genau vor86 Jahren kollidierte die Titanic an der durch ein Kreuz markierten Position.

1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000Jahr

2500

2000

1500

1000

500

0

Anz

ahl E

isbe

rge

Abb. 7: Die Anzahl Eisberge, die die Breite 48° N nach Süden überquerten,lag 1912 insgesamt nur wenig über dem Durchschnitt. Das Eisfeld, in dasdie Titanic fuhr, war aber außergewöhnlich und wurde nur noch im Jahre1984 übertroffen.

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in damaliger Zeit der gesamte Funkver-kehr aller Transatlantikfahrer lief. DieMeldung war für das Hydrographic Offi-ce in Washington bestimmt und erreich-te Cape Race über die als Relaisstationfungierende Titanic. Dort wurde der Funk-spruch zwar aufgefangen und pflichtge-mäß an Cape Race weitergeleitet, abermöglicherweise nicht den Offizieren aufder Brücke zur Kenntnis gegeben. VonCaptain Knapp wurde den Senatoreneine extra von der Reederei angeforderteKopie dieser Meldung vorgelegt (Abb. 9).Die Titanic kollidierte mit einem Eisberg,der nur gut 15 Seemeilen entfernt vondem Ort schwamm, an dem die Amerikadie zwei Eisberge gesichtet hatte.

Charles Herbert Lightoller, 2. Offizierder RMS Titanic und ranghöchster über-lebender Offizier (Abb. 10), berichtetevor dem britischen Untersuchungsaus-schuss ausführlich über seine Gesprächemit Captain Smith hinsichtlich der einge-gangenen Eismeldungen [2]. Er sagte aus,dass der Kommandant am Sonntag wäh-rend seiner Mittagswache auf die Brückekam und ihm die Eiswarnung der Caro-nia zeigte. Er seinerseits habe darüberden 1. Offizier Murdoch informiert, derihn um 14 Uhr ablöste und der auchwährend der Kollision Wache hatte. Kurzdarauf habe er einen Junioroffizier beauf-tragt auszurechnen, wann sie das Eisfelderreichen würden. Das Ergebnis standwenig später fest: gegen 23 Uhr (Anm.:die Kollision fand um 23 Uhr 40 statt).Auf die Fragen von Lord Mersey, ob dasEis nicht doch rechtzeitig zu entdeckengewesen wäre, antwortete Lightoller:»My Lord, ich war der Überzeugung, allesausreichend früh eindeutig identifizieren

zu können, alles Eis, das in der Lage ge-wesen wäre, das Schiff zu beschädigen.Ich war der Ansicht, einen Growler imAbstand von einer oder gar zwei Meilenzu sehen... Bitte lassen Sie mich das er-klären, wenn Sie gestatten. Bei der Mög-lichkeit auf Eis zu treffen, achten wir aufverschiedene Dinge. Zu allererst auf eineleichte Brise. Natürlich, je stärker die Bri-se weht, um so eher wird das Eis sichtbaroder die Wellen, die sich am Eisberg bre-chen. Immer wenn eine Brise geht, siehtman einen phosphoreszierenden Randum den Berg oder Growler. Die stetsleichte Dünung im Nordatlantik ruft den

gleichen Effekt der brechenden Wellen ander Basis eines Eisbergs hervor. Alle Ber-ge, alles Eis hat mehr oder weniger einekristallisierte Fläche und reflektiert einengewissen Teil des Lichtes, was als Eisblin-ken bezeichnet wird. Das Glitzern einesgroßen Eisbergs kann man häufig schonsehen, noch bevor der Eisberg über denHorizont gekommen ist.«

Über sein letztes Gespräch mit Cap-tain Smith, der noch einmal gegen 21Uhr auf die Brücke kam, gab Lightollerzu Protokoll: »– So weit ich mich erin-nern kann, bemerkte der Captain vonsich aus, dass es kalt wäre. Worauf ichantwortete: »Ja, es ist sehr kalt, Sir, in derTat, es ist nur knapp über dem Gefrier-punkt.« Im weiteren Gesprächsverlaufäußerte er sich: »Es ist nicht sehr windig,«und ich bestätigte: »Es ist tatsächlich glattund ruhig.« Ich sagte irgend etwas, dasses schade wäre, dass es keine Brise gibt,wenn wir durch das Eisgebiet fahren. Erwusste, dass ich die damit verbundenenkleinen Wellen meinte, die sich am Eis-rand brechen würden. Er nahm seineAugengläser und meinte: »Ja, es scheintganz klar zu sein.« Und ich sagte: »Ja, esist vollkommen klar.« Es war eine wun-derschöne Nacht ohne eine Wolke amHimmel. Die See war anscheinend glattund es ging kein Wind und man konntedie Sterne ganz genau auf- und unterge-hen sehen. Wir diskutierten dann die An-zeichen für das Auftauchen von Eis. Icherinnere mich, wie ich anmerkte: »Aufjeden Fall werden wir Lichtreflektionenvon den Eisbergen sehen.« Er antwortete:»Oh ja, es wird sicher reflektiertes Licht

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9

3

3 6

72

7

7 8

54

4

100 Seemeilen

58 Seemeilen

Carpathia

Californian

Titanic

2 Athinai3 Parisian4 Paula5 Trautenfels6 La Bretagne7 Mesaba8 Amerika

46° W48° W50° W52° W

43° N

42° N

41° N

40° N

Abb. 8: Alle von Schiffen per Funk gemeldeten Eissichtungen zwischen dem11. und 15. April 1912 zeigen eine starke Konzentration südlich der »GrandBanks«. Kapitän und Offiziere der Titanic wussten, dass sie ab ca. 23 Uhrmit Eisbergen zu rechnen hatten. Dennoch fand die Katastrophe um 23 Uhr40 statt.

Abb. 9: Kopie der Eiswarnung des deutschen Schiffs Amerika an das Hydro-graphic Office in Washington über Cape Race (Neufundland). Da dieAmerika zu weit weg war, um Cape Race direkt zu erreichen, wurde dieTitanic als Relaisstation benutzt. Nur 15 Seemeilen von der angegebenenStelle entfernt fand die Kollision statt.

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zu sehen sein.« Ich, oder er, sagte dann,dass selbst wenn uns ein Berg die blaueSeite zuwenden würde, uns der weißeSaum rechtzeitig in ausreichendem Ab-stand warnen würde... Wir wussten, dasswir uns in der Nähe von Eis befanden.Obwohl man jahrelang den Atlantiküberquert hat und Eis berichtet wurdeund man das Eis dann nie zu Gesichtbekam und zu anderen Zeiten, wenn eskeine Eiswarnungen gab, man es auf ein-mal dann doch sah, trifft man trotzdemalle notwendigen Vorkehrungen, um ab-solut sicher zu sein, dass die Sicht gut istund dass die Offiziere die Anzeichen vonauftauchendem Eis kennen. Das ist einenotwendige Vorsichtsmaßnahme, dieimmer getroffen wird.

Standortbestimmung und Kompasskontrolle

Die Wache für Joseph Boxhall, 4.Offizier (Abb. 10), begann um 20 Uhr amSonntag Abend, dem 14. April. Er seinun 28 und habe in den 13 Jahren, die erbisher zur See gefahren war, den Atlantikhäufig überquert, erklärte er gegenüberder britischen Untersuchungskommissi-on. Eissichtungen waren für ihn nichtsUngewöhnliches. Als Junioroffizier ob-lag ihm die Aufgabe, die Standorte derTitanic auf ihrer Reise zu ermitteln. Da-für war er bestens vorbereitet, da erzwölf Monate lang auf einer speziellenSchule eine Ausbildung in Navigationund nautischer Astronomie absolvierthatte. Seine Vernehmung vor beidenAusschüssen, zusammen mit den Aussa-gen des 3. Offiziers Herbert Pitman (Abb.10), enthalten Informationen über diePraxis der astronomischen Navigation,so wie sie damals üblich war und wie sieauch auf der Titanic Anwendung fand.

Die Kommandostruktur auf der Tita-nic war hinsichtlich der Navigation klargeregelt. Die Senior-Offiziere führten dieBeobachtungen mit den Sextanten aus,die Junioroffiziere assistierten dabei undwerteten anschließend diese Beobachtun-gen aus. Ihre Ergebnisse meldeten sie demCaptain, der den jeweiligen Standort in dieKarte eintrug und den Kurs festlegte.

Das Prinzip, den Standort bei einerTransatlantikfahrt zu bestimmen und dieÄnderungen zu verfolgen, ist ebenso ein-fach wie uralt. Bei vorgegebener Fahrt-richtung, dem sogenannten Kurs (der wiedas vollkreisige astronomische Azimutvon Nord über Ost, Süd und West von 0°bis 360° gezählt wird) und gemessenerGeschwindigkeit kann zu jedem Zeit-punkt der Standort elementar bestimmtwerden. Änderungen im Erd- und Schiffs-

magnetfeld lassen aber die am Kompassabgelesenen Kurswerte ungenau werden.Auch die Schiffsgeschwindigkeit hängtu. a. vom Seegang und Wind ab, so dassmit zunehmender Strecke auch derStandort immer ungenauer wird. Das istnun der Moment, wo die astronomischeKomponente ins Spiel kommt. Aus derBeobachtung von Gestirnshöhen mitHilfe eines Sextanten zu sekundengenau-er Weltzeit, die von einem verlässlichenChronometer abgelesen wird, kann eingeübter Navigator seinen Standort auf ca.2 Seemeilen genau bestimmen. Der sopräzisierte Schiffsstandort dient als ver-lässlicher Ausgangswert, um nun vonNeuem mit Kompass und zurückgelegterDistanz die weiteren Standortänderun-gen zu bestimmen, bis eine weitere astro-nomische Beobachtungsreihe die neu

aufgelaufenen Ungenauigkeiten beseitigt.In Landnähe ist aus gegebenen Gründeneine größere Genauigkeit als auf hoherSee anzustreben. Wie Pitman versicherte,wurde im Fall der Titanic auch nur einmalpro Tag am Mittag die momentane Po-sition in die Karte eingetragen.

Bei Annäherung an die »Grand Banks«erreichte die Titanic ein Gebiet, in demdie magnetische Nordrichtung um mehrals 20° gegenüber der geographischenNordrichtung nach Westen abweicht.Der genaue Betrag dieser Kompassmiss-weisung wurde durch Gestirnsbeobach-tungen ermittelt, die von Pitman undBoxhall ausgewertet wurden. Bei dieserastronomischen Kompasskontrolle wirdzu einem festen Zeitpunkt das Azimuteines Gestirns mit Hilfe des Kompassesbeobachtet und mit dem Azimut vergli-chen, das man mit Hilfe des nautischenDreiecks berechnen kann. Dazu müssendie Breite, die Deklination und der Orts-stundenwinkel bekannt sein.

Beim Befahren eines Großkreisesmuss der Kurs kontinuierlich geändertwerden. In der Praxis wurde daher derGroßkreisbogen durch kurze Streckenmit konstantem Kurs ersetzt. Bei durch-gehend schönem Wetter und ungewöhn-lich ruhiger See lief der Ozeanriese inden ersten drei Tagen jeweils 464 sm, 519sm und 546 sm bei durchschnittlich 21Knoten. Die Titanic erreichte die »Cor-ner« weitgehend planmäßig drei Tagenach Abfahrt am Sonntag Nachmittaggegen 17 Uhr. Captain Smith zögerteaber den vorgesehenen Kurswechsel hin-aus. Nach übereinstimmenden Aussagender überlebenden Offiziere ordnete erdiesen erst gegen 17 Uhr 50 an. NeuerKurs: 266°. Es ist anzunehmen, dass derCaptain auf die tagsüber eingegangenenEismeldungen reagierte und mit einem

südlicheren Kurs das Risiko, auf Eis zutreffen, verringern wollte (Abb. 11).

Mit neuem Kurs auf das Nantucket-Feuerschiff setzte die Titanic ihre Fahrtfort. Es war bitter kalt geworden, bei un-gewöhnlich klarem Himmel mit extremguter Durchsicht. Gegen 19 Uhr 30Schiffszeit war die Dämmerung so weitfortgeschritten, dass die ersten hellenSterne sichtbar wurden und gleichzeitignoch die Kimm, die Trennlinie zwischenHimmel und Wasser, erkennbar blieb.Lightoller, unterstützt von Pitman,»schoss« einige Sterne (Winkelmessungder Sternhöhe über der Kimm), um nachdem Kurswechsel zum ersten Mal wiedereine exakte Position zu bekommen. Un-mittelbar nach dem Beginn seiner Wachebegab sich Boxhall auf Anordnung deswachhabenden Offiziers Lightoller an dieAuswertung. »Wir hatten drei Sterne fürdie Breite und ich glaube drei oder vier fürdie Länge«, erklärte Boxhall vor dem briti-schen Untersuchungsausschuss. Welche

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Abb. 10: Überleben-de Offiziere derTitanic. Von links:Boxhall, Lowe,Pitman, Lightoller.

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Sterne »geschossen« wurden, ist nichtüberliefert, denn mit der Titanic ver-schwanden auch gleichzeitig sämtlicheProtokolle, Karten und Dokumente.

Boxhalls Angaben zufolge waren of-fensichtlich die Abendbeobachtungen sokonzipiert, dass sich daraus zunächst dieBreite und dann die Länge ermitteln lie-ßen. Mit Höhenstandlinien hat er offen-bar nicht gearbeitet, auch wenn diesesVerfahren zu damaliger Zeit durchausbekannt war.

Um die Breite zu bestimmen, wirdLightoller Sterne während ihres Meridi-andurchgangs »geschossen« haben. Dannergibt sich die gesuchte Breite unmittel-bar aus der Höhe über dem wahren Hori-zont, auf den die Sextantenablesung be-richtigt werden muss, unter Verwendungder aus dem Almanach zu entnehmendenPoldistanz. Es ist anzunehmen, dass sichunter den drei Sternen für Breite auch derNordstern befand. Durch seine große Nä-he zum Himmelsnordpol, dessen wahreHöhe mit der Breite identisch ist, ist manauf Meridiandurchgänge nicht angewie-sen. Die Beobachtung wird mit einemWert berichtigt, der vom Ortsstunden-winkel abhängt und den nautischen Jahr-büchern zu entnehmen ist.

Ist die Breite bekannt, dann verein-facht sich die Längenbestimmung. Dieseläuft auf eine Bestimmung der Ortszeithinaus, da deren Differenz zur Weltzeitdie gesuchte Länge ist. Es ist anzunehmen,dass Lightoller je zwei Sterne im Ostenund im Westen ausgewählt hatte. Dortändern die Gestirne am schnellsten ihreHöhe und geben daher die genauestenResultate. Ein Blick auf die Karte desAbendhimmels gegen 19 Uhr 45 zeigt,dass Lightoller im Gegensatz zu den Meri-

dianbeobachtungen im Osten und imWesten zahlreiche helle Sterne zurAuswahl hatte (Abb. 12). Bei der Auswer-tung konnte Boxhall die Formeln dersphärischen Trigonometrie auf das nauti-sche Dreieck anwenden. Aus der schon

ermittelten Breite, der im Almanach auf-geführten Deklination des Sterns und dergemessenen Höhe konnte er den Orts-stundenwinkel ausrechnen. Pitman hatteLightoller bei dessen Beobachtungen as-sistiert und neben dem Kimmabstand desSterns auch sekundengenau die Weltzeitvom Chronometer abgelesen. Mit dieserAngabe konnte Boxhall aus seinem nauti-schen Jahrbuch den Stundenwinkel be-züglich des Nullmeridians entnehmen.Die Differenz zum beobachteten Orts-stundenwinkel lieferte ihm schließlich diegesuchte Länge. Boxhall meldete seineErgebnisse pflichtgemäß dem Captain,der den neuen Standort nach überein-stimmenden Zeugenaussagen um 22 Uhrin die Karte eintrug.

Kollision und Notruf

Als Boxhall gegen 23 Uhr 45 dasOffiziersquartier verließ, schlug die Glo-cke im Krähennest dreimal – als Zeichen,dass etwas voraus sei. Auf dem Weg zurBrücke vernahm er die Meldung des wach-habenden 1. Offiziers Murdoch »hartbackbord« und das Klingeln des Maschi-

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Drache

Kleiner BärNördl. Krone

Cepheus

Cassiopeia

Andromeda

Giraffe Dreieck

WidderPerseusGroßer Bär

Bootes

LuchsFuhrmann

StierZwillinge

Kleiner Löwe

Jagdhunde

Haar derBerenike

Krebs

Löwe

Jungfrau

EridanusOrionKleiner Hund

Wasserschlange

HaseEinhorn

Rabe

TaubeGroßer Hund

Schiff

Schiffskompaß

Mars

Saturn

N

S

O W

Titanic

Titanic

47° W48° W49° W50° W

43° N

42° N

41° N51° W 46° W

Cornerum 17:00 Uhr

Kurswechselum 17:30 Uhr

19:30 Uhr

Wrack

Kollisionum 23:40 Uhr

Abb. 11: Rekonstruktion der Route der Titanic am 14. April 1912. Erst 50Minuten nach dem Passieren der »Corner« fand der Kurswechsel statt, mög-licherweise, um das Eis zu umfahren. Um 19:30 Uhr wurde eine letzte astro-nomische Positionsbestimmung durchgeführt.

Abb. 12: Anblick des Sternenhimmels am 14. April 1912 gegen 19:30Schiffszeit. Zu dieser Zeit war die Dämmerung so weit fortgeschritten, dass Lightoller mit dem Sextanten die Höhen einiger heller Sterne über der noch sichtbaren Kimm bestimmen konnte.

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nentelegraphen. Weiter hörte er die Frage,des auf der Brücke gerade eingetroffenenCaptains an Murdoch, »mit was wir zu-sammengestoßen sind« und dessen Ant-wort »Ein Eisberg, Sir. Ich ließ hart back-bord steuern und die Maschinen auf volleKraft zurück stellen, und ich versuchte aufder Steuerbordseite um den Eisbergherum zu kommen. Aber wir waren zudicht dran. Mehr konnte ich nicht tun. Diewasserdichten Schotts habe ich geschlos-sen.« Boxhalls Zeugenaussagen wurdenvom Quartermaster Hitchens, der im ab-gedunkelten Steuerraum der Brücke mitBlick auf den Kompass das Ruder bediente,bestätigt. Er fügte außerdem noch hinzu,dass unmittelbar nach den drei Glo-ckenschlägen die telefonische Meldungvom Ausguck einging: »Eisberg hart vor-aus«. Captain Smith und Murdoch habenbeide das Unglück nicht überlebt.

Bei seiner Entdeckung befand sich derEisberg etwa 500 Meter vor dem Bug. Bei21 Knoten Fahrt blieben gerade einmal 45Sekunden Zeit – zu wenig, um den Kursentscheidend zu ändern und die Fahrt zureduzieren. Fast ungebremst glitt das umetwa 20° nach Backbord gedrehte Schiffmit 20 Knoten am Eisberg vorbei und be-rührte diesen sechsmal. Bei jeder Berüh-rung prallte das Schiff ein wenig ab, umdann durch den noch starken Vor-wärtstrieb, die hydrodynamische Sog-wirkung und den sich vom Bug her ver-breiternden Schiffskörper erneut denBerg zu berühren. Erst nach 30 Minutenkam die Titanic vollständig zum Still-stand. Unglücklicherweise waren diedabei entstandenen Risse über sechs derdurch wasserdichte Schotts voneinandergetrennten Abteilungen des Schiffskör-pers verteilt. Bei vier volllaufenden Ab-teilungen wäre die Titanic möglicherwei-se gerade noch, zumindest für längereZeit, schwimmfähig geblieben. Das er-kannte auch Thomas Andrews, mitfah-render Hauptkonstrukteur des Schiffs,nach einem Kontrollgang mit demCaptain. Nach kurzer Überschlagsrech-nung gab er dem Schiff noch etwa zweiStunden – das waren rund 40 Minutenweniger als die Titanic dann tatsächlichnoch über Wasser blieb.

Auch Joseph Boxhall wurde zur Scha-densermittlung nach unten geschickt.Obwohl er dort zahlreiche Postsäcke imeingedrungenen Wasser schwimmen sahund die Bedrohlichkeit der Lage erkannte,bewies er ein bewundernswertes Maß anNervenstärke. Er zog sich in den Kar-tenraum zurück, überprüfte seine zuvorgemachten Auswertungen astronomi-scher Beobachtungen und ermittelte ausKurs und Distanz den momentanenStandort zu 50° 14′W und 41° 46′N (Abb.

13). In seinen Auskünften gegenüber derbritischen Untersuchungskommissionam 13. Verhandlungstag beschrieb Box-hall, dass er die von 19 Uhr 30 bis zurKollision um 23 Uhr 40 zurückgelegteDistanz aus der Schiffsgeschwindigkeitbestimmt hatte, die konstant 22 Knotenbetrug. Die Geschwindigkeit selbst hatteer den Maschinenumdrehungen proMinute entnommen.

Nach Meldung beim Captain brachteer einen Zettel mit den Koordinaten inden Funkraum, legte diesen dort auf denTisch und vergewisserte sich, dass er vonden Funkern auch bemerkt wurde. Eineverbale Kommunikation fand nach Box-halls Aussage nicht statt, da die Funkereinerseits äußerst beschäftigt waren undder Lärm entweichenden Dampfes einenWortwechsel fast unmöglich machte.Seit der Kollision war gut eine halbeStunde vergangen, bis der erste Notrufmit Standortangabe abgesetzt wurde(Abb. 13). Bedauerlicherweise hatte derFunker der Californian, die nur wenigeSeemeilen nördlich der Titanic lag undklugerweise ihre Fahrt nach Bostongegen 22 Uhr wegen starken Eisaufkom-mens für die Nacht unterbrochen hatte,kurz zuvor seinen Dienst beendet. DieFunker waren übrigens Angestellte derallmächtigen Marconi-Gesellschaft, sodass die Schiffsführung, wie sich späterder heftig angegriffene Captain Lord äu-ßerte, auf den Dienst der Funker keinenEinfluss hatte. Auch wenn man von derCalifornian aus die von der Titanic abge-schossenen Raketen gesehen hatte,konnte man Captain Lord ein Erkennender Notsituation nicht nachweisen.

Anders verhielt sich Captain Rostronvon der in Richtung Mittelmeer fahren-

den gut 58 Seemeilen entfernten Car-pathia. Er nahm sofort Kurs auf die emp-fangene Position, beauftragte seinenFunker erst danach die Meldung bestäti-gen zu lassen, und befahl maximale Kraftvoraus. Seinen Passagieren der 1. Klassedrehte er sogar das warme Wasser ab, umzusätzliche Fahrt zu machen. Auch wennCaptain Rostron den Ausguck verstärkte,war es ein riskantes Unternehmen, indunkler Nacht durch treibendes Eis zufahren, und größeres Eis weiträumig zuumfahren. Gegen 4 Uhr zwang ein grö-ßerer Berg die Carpathia zu deutlich ge-ringer Fahrt und dabei wurden auch dieersten Rettungsboote gesichtet.

Die Sterne schienen zehnmal heller

Die zwei Stunden Ungewissheit imRettungsboot schildert eindringlich derBericht des jungen HochschullehrersLawrence Beesley [3], der sich nur weni-ge Wochen nach dem Unglück seineErlebnisse von der Seele schrieb. Daringibt er auch seine Empfindungen beimAnblick eines so nie zuvor erlebten Ster-nenhimmels wieder: »Die Nacht war eineder schönsten, die ich je gesehen habe,ohne eine einzige Wolke, die das voll-kommene Strahlen der Sterne hätte trü-ben können; Sterne, die so dicht ge-drängt standen, dass man den dunklenHimmelshintergrund vor lauter blenden-den Lichtpunkten kaum noch sehenkonnte. Frei von jedem Dunst schienendie Sterne zehnmal so hell in staccatoar-tigem Funkeln und Glitzern, so als ob derHimmel nur für sie geschaffen wäre.«Nicht nur Beesley sondern auch Eliz-

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Abb. 13: Der Funknotruf der Titanic enthielt die von Boxhall errechnetenKoordinaten der Kollision, die er aus den am Abend erfolgten Gestirns-beobachtungen ableitete. Dadurch konnten die Schiffbrüchigen von derCarpathia schon zwei Stunden später gefunden werden.

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abeth Shutes in Rettungsboot Nr. 3 schil-derte ihre Empfindungen beim Anblickdes Sternenhimmels [4]: »Als wir uns vonder Titanic entfernten, glänzte der Him-mel in nie zuvor gesehener Weise, fielenso viele Sternschnuppen vom Himmel.Alles ließ die vom sinkenden Schiff auf-steigenden Notraketen so unbedeutendund nebensächlich erscheinen.« Undnoch einmal Beesley: »Das vollständigeFehlen von Dunst rief ein noch nie zuvorgesehenes Phänomen hervor: Der Rand,wo sich Himmel und Wasser trafen, warscharf wie eine Messerschneide... Luftund Wasser waren so eindeutig vonein-ander getrennt, dass ein Stern, der sichdieser Trennungslinie näherte, nicht dasGeringste von seiner Helligkeit einbüß-te.« Beesley fuhr mit einer höchst er-staunlichen Beobachtung fort: »Als durchdie Erddrehung die Kante des Wassersemporstieg und die Sterne teilweise be-deckte, schnitt sie die Sterne in zwei Hälf-ten, von denen die obere Hälfte noch solange strahlte bis sie vollkommen ver-deckt wurde und dabei einen langenLichtstrahl auf der Wasseroberfläche inunsere Richtung schickte.«

Gegen 3 Uhr bemerkt Beesley an Steu-erbord einen schwachen Lichtschimmeram Horizont, den er fälschlicherweise fürdie ersehnte Morgendämmerung hielt.»Aber«, so Beesley, »wir wurden an derNase herumgeführt: Das schwache Lichtverstärkte sich, verschwand wieder,leuchtete erneut auf und blieb dann füreinige Zeit bestehen. ›Das ist das Nord-licht‹, kam es mir in den Sinn, und so wares. Das Licht strahlte fächerförmig überden Nordhimmel mit schwachen Streifenbis zum Polarstern.« Während der fastvier Stunden anhaltenden Bergungsakti-on durch die Carpathia konnte sich Bees-ley auch der Faszination der beginnendenMorgendämmerung mit dem Auftau-chen des Planeten Venus und der Mond-sichel nicht entziehen: »Die Sterne ver-schwanden langsam, einer nach demanderen bis auf einen einzigen unmittel-

bar über dem Horizont. Und daneben,mit dem Bogen nordwärts gerichtet undmit dem Horn fast den Horizont berüh-rend ein äußerst dünner und blasserMond.« (Abb. 14).

Epilog

Als Lightoller in seiner Eigenschaft alsranghöchster überlebender Offizier vonLord Mersey nach dem wesentlichenGrund für das Unglück befragt wurde,antwortete dieser: »Sir, es war kein Mondda.« Das kann aber nicht alles gewesensein. Rezepte für große Katastrophen be-stehen fast immer aus einer Anzahl klei-ner Zutaten, die erst in ihrem Zusam-menspiel fatale Auswirkungen entfalten.Des öfteren betonte Lightoller die äu-ßerst ungewöhnlich glatte See. So habeer den Nordatlantik in seiner langjähri-

gen Berufspraxis noch nie erlebt. Selbstdie geringste Dünung verrät Eisbergedurch die sich an ihren Füßen brechen-den Wellen. War es vielleicht doch einkurz zuvor gekippter Eisberg, der mit sei-ner dunklen Seite auf das Schiff zukam,wie Lightoller mutmaßte? Allerdings er-reichte auch die Californian das Eisfeldim Dunkeln und unterbrach ihre Fahrt,und die Carpathia kurvte sogar mitten inder Nacht in fast halsbrecherischer Artum das Eis herum. Hätte man mit Fern-gläsern im Krähennest und mit einemSuchscheinwerfer am Bug, wie es für diebritische Marine schon Vorschrift war,das Eis früher entdecken können?

Captain Smith jedenfalls blieb eineralten Seemannsregel treu: so lange volleFahrt beizubehalten bis ein Hindernis ge-sichtet wurde – und er hielt an einer weite-ren Tradition fest, und ging mit seinemSchiff unter. Sicher wollte Captain Smithauf der Jungfernfahrt des weltweit größ-ten Dampfers am Ende seiner Karrierenicht mit Verspätung in New York an-kommen. Einen diesbezüglichen Druckder Reederei, oder gar eine Anweisung,konnte jedoch nie nachgewiesen werden.

Zu den eklatanten nachweislichenFehlern zählt sicherlich der mangelhafteUmgang der Mannschaft mit den Ret-tungsbooten. Diese wurden zu spät undzu langsam zu Wasser gelassen, und wa-ren durchschnittlich nur zu zwei Drittelnbesetzt. Das Fehlen weiterer Rettungs-boote (für 2200 Menschen standen nur1100 Plätze zur Verfügung) wirkte sichnicht nachteilig aus, denn schon kurz

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UntergangNew York

Queenstown

Heykjanesr

ücken

Untergang

–9219

–5445

–57

Grand Banks

Abb. 14: Der jungeHochschullehrerBeesley beobachtetdas Auftauchen derhellen Venus undder äußerst schma-len Mondsichel amOsthimmel.

Abb. 15: Das Wrack wurde 1985 am Südhang des nordamerikanischenKontinentalschelfs in 3810 Metern Tiefe gefunden. Während die Wasserder »Grand Banks« nur wenige hundert Meter tief sind, fällt der Meeres-boden zum Neufundlandbecken hin bis auf 6000 Meter Tiefe ab.

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nachdem das letzte Rettungsboot imWasser war, sank schon das Schiff. Dieweitaus meisten Menschen waren imhinteren Schiffsteil und kamen umsLeben, als unter Wasser das Heck implo-dierte.

Das Wrack der Titanic wurde 1985 inetwa 3810 Meter Tiefe am Südabhang desKontinentalschelfs der »Grand Banks«entdeckt (Abb. 15). Es besteht aus einemBug- und einem Heckteil, die in 600Meter Abstand voneinander liegen. Da-zwischen findet sich ein weit verstreutesTrümmerfeld.

In mehreren Tauchgängen wurde dasWrack eingehend untersucht und Mate-rialproben des Schiffskörpers geborgen(Abb. 16). Das Marine Forensic Panel, andem wesentlich die amerikanische Socie-ty of Naval Architects and Marine Engi-neers beteiligt war, beschreibt in ihrem1996 erschienen Report [5] ihre Resulta-te und gibt eine Rekonstruktion des Un-glücks. So zeigen Sonaraufnahmen die13 Meter tief im Schlick vergrabenensechs unterschiedlich langen Risse in derSchiffshaut. In Verbindung mit Compu-termodellen ergab sich eine Gesamtöff-nung von nur etwas mehr als einemQuadratmeter, durch die das Wasser mithohem Druck in den Schiffskörper ein-strömte. Die Risse entstanden dabei ent-lang den Nähten der Eisenplatten. Alsbeim Bau des Schiffes die für die Aufnah-me der Nieten vorgesehenen Löcher ge-bohrt wurden, sind offensichtlich Mi-krorisse entstanden, die sich durch denDruck des Eises weiteten und die Nietenherausspringen ließen.

Das im Bugbereich an Steuerbord ein-dringende Wasser verteilte sich durch

Kabel- und Lüftungsschächte in alle vor-deren Segmente des Schiffs und drückteschließlich den Bugbereich unter Wasser.Das Schiffsheck hob sich dadurch bis zueinem Winkel von maximal 17° zur Mee-resoberfläche. Darstellungen eines senk-recht ins Wasser abtauchenden Hecks,wie in dem letzten Titanic-Film [6], sindnicht korrekt. Das Gewicht des um etwa20 Meter angehobenen Hecks verursach-te ein Dehnen und Brechen insbesonderean den hinteren Dehnungsfugen. Derdabei entstehende Lärm wurde von Au-genzeugen fälschlicherweise als Polternder tonnenschweren Boiler durch denRumpf und als Auseinanderbrechen desSchiffs gedeutet. Das Schiff zerbrach erstunter Wasser in drei Teile, die mit derGeschwindigkeit eines Expressfahrstuhlsin die Tiefe rauschten. Während sich dasMittelteil vollständig in Einzelteile auflö-ste, schlugen Bug- und Heckteil kompaktauf den durch eine starke Tiefenströ-

mung harten Meeresboden auf, wodurchetwa 20 % der am Wrack festgestelltenSchäden verursacht wurden. Das Heckwurde zunächst so schnell unter Wassergezogen, dass die verbliebene Luft nichtrasch genug entweichen konnte. Wäh-rend des Sinkens auf den Meeresgrundwurde das Heck durch mehrere Implo-sionen in verschiedenen Tiefen erheblichmehr zerstört als das Bugsegment. ImHeck hielten sich die meisten Menschenauf, die aber die Gefahr nicht rechtzeitigerkennen konnten und aus dem Gänge-labyrinth nicht mehr nach oben fanden.

Mikrobiologische Studien haben ge-zeigt, dass gegenwärtig 20 % des Wracksdurch Korrosion und Einwirkung vonMikroben erodiert sind. In etwa 200Jahren wird das Wrack in sich zusam-menfallen und sich mit dem Sedimentam Meeresboden vermengen. Der My-thos um die Titanic wird aber weiterle-ben. �

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Literaturhinweise

[1] United States Senate Inquiry http:// www.titanicinquiry.org/USInq/AmInq01.htm[2] British Board of Trade Enquiry http:// www.titanicinquiry.org/BOTInq/BritInq.htm[3] Lawrence Beesley: Titanic – Augenzeuge der Katastrophe, Schifffahrts-Verlag Hansa, Ham-

burg, 1997[4] The Story of the Titanic as Told by its Survivors, Dover, New York, 1960[5] Marine Forensic Panel (SD-7): Titanic, The Anatomy of a Disaster; http://www.sname.

org/titanic25.pdf, 1996[6] William H. Garzke Jr.: Review of the Movie: Titanic; http://www.sname.org/ committees/re-

view1.html, 1998

Abb. 16: Bugteil des Wracks. Das Heck befindet sich in einem Abstand von600 m. Die sechs aufgeplatzten Nähte liegen auf der Steuerbordseite 13Meter tief im Schlick. Während die Brücke vollständig verschwunden ist,blieb die aus Bronze bestehende Steuersäule des Telemotors unzerstört.Zeichnung von Ken Marschall.