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Gesellschaft im Wandel Politik und Gesellschaft www.poleninderschule.de Seite 1 von 11 Gesellschaft im Wandel Kurzbeschreibung des Moduls Seit dem Fall des kommunistischen Regimes in Polen 1989 hat sich das Land nicht nur äußerlich verändert, auch die Gesellschaft hat einen Wandel durchlebt. In manchen Familien leben bis heute Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, zusammen mit ihren Enkeln und Urenkeln, die den Kommunismus nur aus Erzählungen kennen. Unterschiedliche Wertvorstellungen prallen aufeinander, die nicht nur in den Familien ausgetragen werden, sondern immer wieder auch zu Diskussionen in der Politik, im Kulturleben und in den Medien führen. Das Modul vermittelt in seinem Einführungstext einen Überblick über die wichtigsten Veränderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in Polen seit 1989 (Werte, Religion, Wirtschaft, Familie u.a.). Mit Hilfe von Arbeitsblättern soll den SchülerInnen das in Polen häufig noch sichtbare Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart, von alten und neuen Werten und Lebenswelten anhand von Beispielen aufgezeigt werden. Das Modul enthält eine didaktische Einführung zum Thema Hinweise zu Referatsthemen, weiterführender Literatur sowie Links Arbeitsblatt 1: Ein Land verändert sich Arbeitsblatt 2: Der Wandel von Werten Arbeitsblatt 3: Alt und Neu im polnischen Alltag Arbeitsblatt 4: Die Lebenswelt der polnischen Jugend im Wandel Arbeitsblatt 5: Zwischen Kirche und Kaufhaus

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Gesellschaft im Wandel

Kurzbeschreibung des Moduls

Seit dem Fall des kommunistischen Regimes in Polen 1989 hat sich das Land nicht nur äußerlich verändert, auch die Gesellschaft hat einen Wandel durchlebt. In manchen Familien leben bis heute Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, zusammen mit ihren Enkeln und Urenkeln, die den Kommunismus nur aus Erzählungen kennen. Unterschiedliche Wertvorstellungen prallen aufeinander, die nicht nur in den Familien ausgetragen werden, sondern immer wieder auch zu Diskussionen in der Politik, im Kulturleben und in den Medien führen. Das Modul vermittelt in seinem Einführungstext einen Überblick über die wichtigsten Veränderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in Polen seit 1989 (Werte, Religion, Wirtschaft, Familie u.a.). Mit Hilfe von Arbeitsblättern soll den SchülerInnen das in Polen häufig noch sichtbare Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart, von alten und neuen Werten und Lebenswelten anhand von Beispielen aufgezeigt werden. Das Modul enthält

– eine didaktische Einführung zum Thema – Hinweise zu Referatsthemen, weiterführender Literatur sowie Links – Arbeitsblatt 1: Ein Land verändert sich – Arbeitsblatt 2: Der Wandel von Werten – Arbeitsblatt 3: Alt und Neu im polnischen Alltag – Arbeitsblatt 4: Die Lebenswelt der polnischen Jugend im Wandel – Arbeitsblatt 5: Zwischen Kirche und Kaufhaus

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Didaktische Einführung zum Thema Gesellschaft im Wandel

Hinweise zum Einsatz im Unterricht

Das Thema „Gesellschaft im Wandel“ lässt sich behandeln – Im Gesellschaftskundeunterricht beim Thema „Familie“ – Im Religionsunterricht beim Thema „Werte im Wandel“ – im Kontexte von Klassenfahrten und Schüleraustauschprogrammen, die die

Jugendkultur in Deutschland und Polen thematisieren und vergleichen Einführungstext

Der Einführungstext vermittelt einen Überblick über die wichtigsten Veränderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in Polen seit 1989 (Werte, Religion, Wirtschaft, Familie u.a.). Themen der Arbeitsblätter

– Arbeitsblatt 1: Ein Land verändert sich – Arbeitsblatt 2: Der Wandel von Werten – Arbeitsblatt 3: Alt und Neu im polnischen Alltag – Arbeitsblatt 4: Die Lebenswelt der polnischen Jugend im Wandel – Arbeitsblatt 5: Zwischen Kirche und Kaufhaus

Themen, Links und Literatur

Themen für Referate und Hausarbeiten

Die Themenvorschläge für Referate oder Hausarbeiten sollen Möglichkeiten aufzeigen, das Thema über den Unterricht hinaus zu bearbeiten. Entsprechende Hinweise zur Sekundärliteratur erleichtern die Recherche und geben erste Anhaltspunkte für den Arbeitseinstieg. Der gesellschaftliche Wandel in Polen 25 Jahre nach dem Fall des Kommunismus.

Gesellschaftliche Wertedebatten in Polen an ausgewählten Beispielen (z.B. Kirche, Familie, Sexualität u.a.) Film

„Ein Halleluja auf die Liebe“ (8.07 Min.) https://www.youtube.com/watch?v=8hxKMvHorTU Ein SRF-Beitrag zum Thema „Sex und Liebe“ in Polen. Radio

„Notizen aus Polen: Hoffen auf bessere Zeiten“ (22:28 Min.) http://www.deutschlandradiokultur.de/homosexuelle-in-polen-hoffen-auf-bessere-zeiten.979.de.html?dram:article_id=317618 BR-Reportage über die polnische Schwulen- und Lesbenszene.

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Das Thema im Internet Aktuelle CBOS-Umfragedaten 2013/2014 zu Religiosität und Moralvorstellungen auf Deutsch in: Polen-Analysen, 140 (2014), S. 7-14 (im Original nur auf Polnisch zugänglich, CBOS Nr. 15/2014): http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen140.pdf Umfrage unter Jugendlichen zum Thema Heirat, Sex und Scheidung http://www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/p-religion-00-gesamt.pdf (Umfrage auf S. 11) „Aufstand der Ungläubigen: Erste ‚Tage des polnischen Atheismus‘ in Warschau“ (5.22 Min.), Beitrag vom 31.3.2014 in Deutschlandradio Kultur http://www.deutschlandradiokultur.de/strassenfestival-aufstand-der-unglaeubigen.1013.de.html?dram:article_id=281619 Etwa zehn Prozent der Polen glauben nicht an einen Gott. Diese Minderheit fühlt sich zunehmend bedrängt, von der Politik und der katholischen Kirche. Mit Straßentheater, Filmen und Diskussionen haben sie in Warschau auf sich aufmerksam gemacht. Weiterführende Literatur

Chołuj, Bożena: Die Frauenfrage in der polnischen Politik. Frauen, Frauenbild und „Frauenfrage“. In: Polen-Analysen, 34 (2008), S. 2-5. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen34.pdf Chołuj, Bożena: Frauen, Frauenbild und „Frauenfrage“. In: Bingen, Dieter; Ruchniewicz, Krzysztof (Hrsg.): Länderbericht Polen. Bonn: bpb 2009, S. 445-457. (Überarbeitete Fassung). Jäger-Dabek, Brigitte: Polen. Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche. Berlin: Ch. Links 2006. Jäger-Dabek, Brigitte: So lebt Jan Kowalski. http://www.bpb.de/themen/0NT991,0,Alltag_in_Polen%3A_So_lebt_Jan_Kowalski.html Wie und wo lebt der Durchschnittspole? Brigitte Jäger-Dabek beschreibt Lebensgewohnheiten und Lebensbedingungen des polnischen Otto Normalverbrauchers. Sie gibt damit einen Einblick in den polnischen Alltag. Deutsches Polen-Institut (Hrsg.): Jahrbuch Polen 2006 Frauen. Wiesbaden: Harrassowitz 2006. http://www.deutsches-polen-institut.de/Publikationen/Jahrbuch-Ansichten/Jahrbuch_Polen_2006.php Deutsches Polen-Institut (Hrsg.): Jahrbuch Polen 2007 Stadt. Wiesbaden. 2007. http://www.deutsches-polen-institut.de/Publikationen/Jahrbuch-jahrbuch18_2007.php Deutsches Polen-Institut (Hrsg.): Jahrbuch Polen 2008 Jugend. Wiesbaden: Harrassowitz. 2008. http://www.deutsches-polen-institut.de/publikationen/jahrbuch-polen/jahrbuch-polen-2008/ Fuszara, Małgorzata: Der Streit um „Gender“ und seine polnische Spezifik. In: Polen-Analysen, 142 (2014), S. 2-7. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen142.pdf

Jugend und Wertewandel in Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. v. Deutschen Jugendinstitut. 2012.

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Kneip, Matthias, Mack, Manfred: „Gesellschaft im Wandel“. In: Dies.: Polnische Gesellschaft. Darstellungen und Materialien für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 2012, S. 69-82.

Łukowski, Wojciech: Was ist mit unserer Arbeit los. http://www.portalpoint.info/de,rubryki,10,2964,2.html (Polityka auf Deutsch vom 15. 7. 2011) Mechtenberg, Theo: Polens Kirche im Zeichen des neuen Papstes. In: Polen-Analysen, 140 (2014), S. 2-6. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen140.pdf Mechtenberg, Theo: Atheistische Bewegung im katholischen Polen. In: Polen-Analysen, 157 (2015), S. 2-6. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen157.pdf Mende, Rainer: Kultur und Lebensgefühl junger Polen im 21. Jahrhundert zwischen JP2, Nic, Nike und HWDP. In: Polen-Analysen, 27 (2008), S. 2-7. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen27.pdf Napiontek, Olga: 25 Jahre Freiheit. Die neue Generation der Bürger. In: Polen-Analysen, 152 (2014), S. 2-6. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen152.pdf Piotrowska, Maria: Die soziale Lage. In: Bingen, Dieter; Ruchniewicz, Krzysztof (Hrsg.): Länderbericht Polen. Bonn: bpb 2009, S. 282–293. POLENPLUS, 4 (2007) – MännerMachtSpiele. Berlin: Valerius 2007. Puhl, Jan: Recht auf Erfolg. [Frauen revolutionieren die erzkatholische Gesellschaft in Polen]. Der Spiegel, 7 (2010). http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-69065825.html Raben, Mia: „Familien in Polen: Ein Leben wie ein Kartenhaus.“ http://www.spiegel.de/politik/ausland/familien-in-polen-ein-leben-wie-ein-kartenhaus-a-416959.html Obwohl der Artikel aus dem Spiegel aus dem Jahr 2006 stammt, hat er nicht an Aktualität verloren. „Religion“, Modul des Deutschen Polen-Instituts für den Schulunterricht, abrufbar unter: http://www.poleninderschule.de/arbeitsblaetter/gesellschaft/religion/ Szafraniec, Krystyna: „Jugend 2011“ – der Regierungsbericht über die junge Generation der Polen. In: Polen-Analysen, 105 (2012), S. 2-6. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen105.pdf

Walderdorff, Dorothee von: Familien in Europa. Polen: Kinder, Kirche und Karriere. http://www.eltern.de/familie-und-urlaub/familienleben/familie-in-polen.html

Warkocki, Błażej: Die drei Emanzipationswellen der Schwulen in Polen. In: Polen-Analysen, 139 (2014), S. 2-6. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen139.pdf Zagórski, Krzysztof: Regionale und gesellschaftliche Differenzierungen der Zufriedenheit mit dem Leben und der psychischen Verfassung. In: Polen-Analysen, 44 (2009), S. 2-6. http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/Polenanalysen44.pdf

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Einführung

Die Überwindung der realsozialistischen Zwänge in Polen nach dem Juni 1989, die Einführung der Demokratie und der Marktwirtschaft sowie die Grenzöffnungen schufen viele neue Möglichkeiten für die Menschen, brachten aber auch neue Schwierigkeiten und unerwartete Entwicklungen mit sich. Für den „normalen“ Bürger hat eine solche Transformation Sonnen- und Schattenseiten. Für die einen führt sie zu Angst um den Arbeitsplatz und zu fehlender sozialer Sicherheit, für andere bedeutet sie berufliche Karriere, Reisemöglichkeiten und einen angemessenen Lebensstandard. Ein wichtiger, zumeist unterbewerteter Faktor der politischen Veränderungen besteht auch in den „ganz normalen“ alltäglichen Veränderungen des Lebens, z. B. darin, dass viele Menschen unter extremen Zeitdruck geraten, man plötzlich durch die Einkaufszentren bummeln kann, dass Privatschulen existieren, Mandarinen nun nicht mehr nur zu Weihnachten im Angebot sind, dass man mit dem Auto zur Arbeit fahren kann oder dass man im Ausland Arbeit sucht und findet. Seit dem Beginn der 1990er-Jahre vollzogen sich tief greifende Veränderungen in der Struktur des beruflichen Lebens. Die Zahl der Arbeitsplätze für sogenannte „Geistesarbeiter“ stieg, während Arbeitsplätze in Industrie und Landwirtschaft abnahmen. Zugenommen hat die Zahl der Privatunternehmer. Wie in anderen Transformationsgesellschaften traten auch in Polen Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Pathologien auf, die zwar bereits vor 1989 existierten, aber nun erst stärker sichtbar wurden und durch die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen verstärkt wurden. Als Verlierer der Transformation wird Anfang des Jahrtausends unter anderem die „Generation Nichts“ oder auch die „Plastik-Generation“ bezeichnet. Gemeint waren die Geburtsjahrgänge zwischen 1975 und 1985. Man warf ihnen vor, dass sie sich auf Konsum und Hedonismus konzentrieren, dass für sie Bequemlichkeit das Wichtigste sei und sie sich fernhielten von politischem oder gesellschaftlichem Engagement. Mit dem 2. April 2005, dem Tod von Papst Johannes Paul II., änderte sich die Bezeichnung. Die „Generation Nichts“ wurde plötzlich als „Generation JP2“ (Generation Johannes Paul II.) bezeichnet. Damit meinte man diejenigen, die in die Zeit des Pontifikats von Johannes Paul II. hineingeboren worden waren, für die sein Pontifikat eine Selbstverständlichkeit war und für die der Papst immer eine Persönlichkeit und Leitfigur dargestellt hatte. Gleichzeitig ist in der Jugend eine deutliche Abkehr von der tradierten Religiosität hin zu einer selektiven, individuell ausgerichteten Religiosität zu beobachten. Die Kirche hat bei den jungen Menschen auch deshalb an Bedeutung verloren, weil der enge gesellschaftliche Zusammenhalt, den die Kirche symbolisierte und der gegen das totalitäre System gerichtet war, nun nicht mehr gebraucht wurde. Nach den politischen Umbrüchen verlor die Kirche ihre Stellung als Anwalt des Volkes und musste ihre Rolle in der freiheitlichen Gesellschaft und der pluralistischen Demokratie neu definieren. Auf die von außen einströmenden Wandlungsprozesse findet die Kirche bisher nur wenig zukunftsweisende Antworten. Die Bedeutung der Kirche geht in der polnischen Gesellschaft sehr langsam zurück, Polen hat dennoch mit einem Wert von 6,57 auf einer Skala von null bis zehn den höchsten Wert hinsichtlich der Religiosität der Bevölkerung unter den größten Staaten der EU (gefolgt von Italien 5,98, Irland 5,91, Spanien 4,67 und Deutschland-West 4,66). Mit der politischen und gesellschaftlichen Wende änderte sich auch der Umgang mit der Sexualität. Wesentlich selbstverständlicher sind im 21. Jahrhundert partnerschaftliche Bezie-hungen ohne (kirchlichen) Trauschein, Sex ohne Verpflichtungen. Auch Homosexualität, die vor 1989 tabuisiert war, ist zu einem öffentlichen, aber äußerst stittigen Thema geworden. Gleichzeitig hat im Zuge der Transformation die Familie neue Formen angenommen. Die Zahl der Patchwork-Familien wächst, zudem entscheiden sich Frauen und Paare öfter, kinderlos zu bleiben. Auch das Recht auf erfüllte Sexualität kommt mehr und mehr zur Sprache. Ein wichtiges Thema ist der Feminismus geworden, der allerdings andere Schwerpunkte als beispielsweise in Deutschland hat. So kämpfen Frauen in Polen vor allem um ihr Recht auf Selbstbestimmung, nachdem seit 1993 mit dem Inkrafttreten des neuen Abtreibungsgesetzes Schwangerschaftsabbrüche mit der Begründung „schwierige Lebensbedingungen der schwangeren Frau“ nicht mehr möglich sind. Diese Gesetzesänderung bedeutet, dass in

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Polen Schwangerschaftsabbrüche fast gänzlich verboten sind, was einen „Abtreibungstourismus“ in Nachbarländer zur Folge hat. Viele junge Menschen haben nach der Transformation ihren Kinderwunsch lange Zeit verschoben, die Geburtenrate sank drastisch. Dazu trugen auch die Doppelbelastung der Frau bei, ökonomische Unsicherheiten, fehlende Grundabsicherung staatlicherseits und das Gefühl, sich zwischen beruflicher Karriere und Kind bzw. Familie entscheiden zu müssen. Denn der ökonomische Wandel betrifft auch die Mütter auf dem Arbeitsmarkt, die sich Fragen nach der Familienplanung bei Bewerbungsgesprächen stellen müssen und Probleme haben bei der Arbeitsfindung wegen möglicher Unflexibilität. Alleinstehende Mütter haben mit fehlenden staatlichen Beihilfen, der Schließung von Krippen und Kindergärten, mit niedrigen Prozenten beim Einholen längst fälliger Alimente von den Vätern und der Abschaffung des Alimente-Fonds zu kämpfen. Daraus folgt, dass die Familie wichtigster Stützfaktor des gesellschaftlichen Lebens bleibt. Mittlerweile jedoch ist in Polen wieder ein Anstieg der Geburtenrate zu verzeichnen: 1,2 Kinder bekommt jede Polin im Schnitt, die Geburtenrate lag 2013 bei 9,77/1000 Einwohner (zum Vergleich in Deutschland: bei 8,42/1000 Einwohner, europäischer Durchschnitt: 10,4/1000). Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich auf Polen weniger drastisch ausgewirkt als auf viele andere europäische Länder. Polen geriet als einziges EU-Land auch im Krisenjahr 2009 nicht in eine Rezession und das BIP wuchs im Jahr 2014 um über drei Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Arbeitslosenquote lag im Jahr 2014 bei 10,2% Prozent – und entspricht damit in etwa dem EU-Durchschnitt von 10,0 Prozent. Polen zählt innerhalb der EU, vor allem im Vergleich mit Westeuropa, nach wie vor zu den Ländern mit relativ niedrigen Löhnen. Dennoch kann man Polen nicht mehr generell als Billiglohnland bezeichnen. 2013 stiegen die Bruttolöhne im Schnitt nominal um 2,7%. Das Baugewerbe hat die Vergütungen noch deutlicher erhöht, um für neue Arbeitskräfte attraktiv zu sein. Das gesetzliche Mindesteinkommen wurde für 2014 auf 1680 Złoty (420 €) brutto festgesetzt, das durchschnittliche Bruttoeinkommen lag 2014 bei 3783 Złoty (945 €). Regionale Einkommensunterschiede sind in Polen stark ausgeprägt; vor allem in Warschau liegen die Gehälter deutlich höher als in vielen anderen Regionen des Landes. So wurden beispielsweise in der Industrie 2014 landesweit im Schnitt 870 € brutto pro Monat gezahlt, in der Region Masowien 979 €, in der Region Ermland-Masuren mit 797 € am wenigsten. Noch immer ein Problem in Polen ist die Korruption, ebenso zahlreiche politische Affären und der zunehmende Einfluss der Boulevardpresse. Positiv beurteilen die meisten Polen, dass nach der politischen Transformation die Freiheit des Wortes und die Lebensqualität zugenommen haben. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass nach einem deutlichen Anstieg der Bedeutung von Geld für ein glückliches Leben in den 1990er-Jahren, diese im neuen Jahrtausend wieder sinkt, zugunsten von Arbeit, Freundschaft und Optimismus. Eines der drei grundlegenden Ziele der Transformation in Polen nach 1989 war neben der Einführung der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie und der Marktwirtschaft die Entwicklung einer starken Zivilgesellschaft. Gesellschaftliches Engagement hat in Polen zwar Tradition, bürgerschaftliches Engagement ist jedoch schwach ausgebildet und gesellschaftliches Misstrauen umso stärker. Die junge Demokratie scheint zudem an einer „Kinderkrankheit“ zu leiden: Das Bildungssystem ist von der Kinderkrippe bis zu den Hoch-schulen auf individuellen Erfolg ausgerichtet. Vernachlässigt werden dadurch die Förderung der Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zu Netzwerkbildung und das Engagement für das Gemeinwohl. Ein wichtiges Thema in der polnischen Gesellschaft ist die Verarbeitung des gesellschaftlichen Traumas, das durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ausgelöst wurde. Hierbei gibt es den Versuch eines Teils der politischen Elite, die Opferrolle Polens in der Geschichte als wichtigen Teil der Identität Polens aufzubauen, was in der Gesellschaft zum Teil auf fruchtbaren Boden fällt, teilweise aber auch heftige Kritik ausgelöst hat, sodass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt von einer ideologisch-politischen Spaltung Polens in zwei Lager sprechen kann, die sich von den Parteien PiS (Recht und Gerechtigkeit, national-konservative Partei) und PO (Bürgerplattform, liberal-konservative Partei) vertreten fühlen.

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Arbeitsblatt 1: Ein Land verändert sich Der gesellschaftliche Wandel in Polen ist auch optisch sichtbar. Beschreiben Sie in kurzen Sätzen das Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart auf den folgenden Fotomotiven. (alle Fotos © M. Kneip)

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Arbeitsblatt 2: Der Wandel von Werten

In Polen wurden in den vergangenen Jahren viele gesellschaftliche Veränderungen auch in den Medien diskutiert. Ordnen sie die nachfolgenden Überschriften dem jeweiligen Titelbild der polnischen Zeitschrift „Polityka“ zu. Erstellen Sie in kleinen Gruppen eine Liste von Stichpunkten, Fragestellungen und Argumenten (z.B. Pro und Contra), die im Zusammenhang mit dem jeweiligen Thema relevant sind.

Warum heiraten? Leben auf Kredit Woran glaubt die Jugend? Die Renten reichen nicht Sollen Homosexuelle Kinder haben?

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Arbeitsblatt 3: Alt und Neu im polnischen Alltag

Matthias Kneip: Weil Vergangenheit und Zukunft nebeneinander existieren Das erste Mal habe ich Polen Mitte der 1980er-Jahre mit meinen Eltern besucht. Polen lag damals für mich sehr weit weg, tief im Osten, irgendwo hinter der DDR, die für mich auch schon ziemlich fern war. Vom Eisernen Vorhang besaß ich damals so keine rechte Vorstellung; erst als wir in die eiskalten Gesichter der Zollbeamten an der DDR-Grenze blickten, glaubte ich zu wissen, was darunter zu verstehen war. […] In Polen selbst begegnete ich einer Welt, die sich doch sehr von der unterschied, die ich von zu Hause her kannte. Nicht nur das andere Geld oder die zischelnde Sprache erschienen mir fremd, auch die Tatsache, dass es gute Schokolade nur für sogenannte „Devisen“ in bestimmten Läden gab und manch andere alltägliche Dinge schwer aufzutreiben waren. Die Straßen waren schlecht, Autobahnen gab es kaum, viele Häuser schienen alt und verfallen, und das Telefonieren von öffentlichen Telefonzellen war Glückssache. Heute, über 25 Jahre nach dem Fall des Kommunismus in Polen und der Einführung der Demokratie und freien Marktwirtschaft, ist aus der in meinen Augen einst hässlichen Raupe ein wunderschöner Schmetterling geworden. Allerdings, und das macht diesen Schmetterling so interessant, trägt er am Ende noch ein Stück Raupe mit sich. Er ist quasi noch nicht ganz fertig. Vielleicht ist „lieben“ nicht immer das richtige Wort für das, was mich an Polen begeistert. Manchmal trifft es das Wort „faszinieren“ besser. Diese Besonderheit des Schmetterlings gehört auf jeden Fall dazu. Wenn ich heute durch Polen reise, erkenne ich an vielen Orten Schmetterling und Raupe gleichzeitig. Fast scheint es, als wäre die Zukunft so schnell über das Land gekommen, dass der Vergangenheit nicht genug Zeit blieb zu verschwinden. Damit erklärt sich das häufig sichtbare Nebeneinander von Gegensätzen in Polen. Alt steht neben Neu, Tradition neben Moderne, Reich neben Arm, Hightech neben Handwerk. Nicht nur einmal ist es mir auf einer polnischen Landstraße passiert, dass ich erst einem Fuhrwerk mit Pferden hinterhergeschlichen bin, um meine gemütliche Reise dann hinter einem extra breiten Hightech-Mähdrescher fortsetzen zu müssen. Neuen Autobahnen schließen sich manchmal ziemlich holprige Landstraßen an, schnelle Porsches überholen kleine polnische Fiats, kleine Kioske stehen neben großen Kaufhäusern, und teure Restaurants befinden sich neben traditionellen polnischen Milchbars. Auf dem Marktplatz mancher polnischer Städte kann jeder Tourist kostenlos über WLAN ins Internet, in kleineren Orten dagegen behilft man sich mit klassischen Internetcafés. Auch in der Architektur vieler Städte sind die Gegensätze gut sichtbar. Allein die Warschauer Skyline mit zahlreichen Wolkenkratzern offenbart eindrucksvoll den Modernitätsschub des Landes, auch wenn manch ein Wohnblock in der Vorstadt dem Verfall preisgegeben ist. Viele Gebäude in den Stadtzentren wurden renoviert, Plattenbauten in den Vororten aber warten noch darauf, saniert zu werden. Dabei offenbart sich dieser Prozess des Wandels nicht nur im Materiellen. Auch die Werte der Menschen sind davon betroffen. Die einen fasten noch im Advent und stellen das Tanzen ein, andere bekommen gar nicht mehr mit, dass Weihnachten vor der Tür steht. Manch junges Mädchen will mit dem ersten Sex auf die Hochzeitsnacht warten (freilich immer weniger!), andere hingegen wollen zwar Sex, denken aber gar nicht ans Heiraten. Dieses Nebeneinander von Vergangenheit und Zukunft fasziniert mich an Polen. Es führt mir den Fortschritt vor Augen, indem es mir die Tradition noch danebenhält. Und nicht immer begeistert mich das Neue. Manchmal trauere ich auch ein bisschen, bedaure das Verschwinden des Alten, weil das Neue mich nicht überzeugt. Im nächsten Moment staune ich aber wieder über das unfassbar Moderne, das ich in dieser oder jener Form so nicht einmal von Deutschland her kenne. Die Polen leben diesen Gegensatz, der sich über die verschiedenen Generationen hin erstreckt. Über vieles fluchen die Alten und freuen sich die Jungen. Manchmal ist es umgekehrt. Genau das ist typisch für das heutige Polen. Und faszinierend. Aus: Matthias Kneip: 111 Gründe, Polen zu lieben. Schwarzkopf und Schwarzkopf Verlag 2015.

Stellen Sie die konkreten und abstrakten Gegensätze, die der Schriftsteller Matthias Kneip in seinem Text beschreibt, in einer Liste gegenüber. Kennen Sie auch aus dem deutschen Alltag „Relikte“ aus vergangenen Zeiten?

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Arbeitsblatt 4: Die Lebenswelt der polnischen Jugend im Wandel

Christiane Thoms: Wie steht es um die Jugend in Polen? […] In Polen haben die politischen Umbrüche einen fundamentalen Wertewandel mit sich gebracht. Die freie Marktwirtschaft lässt die Sehnsucht nach neuen Grundwerten erwachen. Heißt das neue Sinnangebot nun Patriotismus? „Der polnische Nationalstolz, wie man ihn von den Eltern kennt, passt nicht mehr zu einem Polen, das EU- und NATO-Mitglied ist. Wenn heute Pop-Kultur-Helden der Volksrepublik Polen wie Lolek und Bolek, Hans Kloss oder Tytus, Romek und A'Tomek wieder in Comics oder auf T-Shirts auftauchen, zeugt das nicht von der Sehnsucht nach den Zeiten der Planwirtschaft, es sind vielmehr Ikonen einer fernen Kindheit, die in der Rückschau zur abstrakten Idylle geworden sind“, so Rainer Mende. Das mentale Erbe der Volksrepublik wirkt in Polen stärker nach als es auf den ersten Blick scheinen mag. Für die polnische Jugend ist die Marktwirtschaft längst zur Selbstverständlichkeit geworden, und doch entkommen sie nur schwer den im Sozialismus geprägten Gewohnheiten ihrer Vorfahren. Auch sie idealisieren mitunter den goldenen Westen und legen großen Wert auf familiäre und private Beziehungen. Sogar in der HipHop-Szene finden sich diese Muster als soziales Fangnetz wieder. Die polnische Jugend wächst nun in eine gesellschaftliche Wirklichkeit hinein, die sich von der der Elterngeneration sehr unterscheidet. Die Jugendlichen hören die Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern über das Schlange-Stehen vor den Läden und über leere Regale als historische Erinnerungen. Die polnische Welt von heute ist voller Möglichkeiten, sowohl im Bereich des Konsums und der Dienstleistungen, als auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation und der gedanklichen Freiheit. Sie nehmen den offenen geografischen Raum eines demokratischen europäischen Staates mit seiner kapitalistischen Wirtschaft mit allen Vor- und Nachteilen als gegeben hin. […] Der Jugendsoziologe Jacek Kurzępa beobachtet, dass die Welt der heutigen Jugend eine andere Art von Prägungen und Bedrohungen bietet, als es noch vor fünfzehn Jahren der Fall war. Seine Untersuchungen zeigen eine Jugend, die enorme Schwierigkeiten hat, mit problematischen Situationen umzugehen. Für polnische Teenager heißt der heutige Alltag „Konkurrenzkampf“: Kampf um bessere Schulnoten und bessere Positionen auf den Immatrikulationslisten der Universitäten. Je größer die Kluft zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Milieus ist, desto schwieriger wird der Kampf empfunden. Kinder und Jugendliche aktivieren durchaus riskante Verteidigungsmechanismen, sobald sie merken, dass sie anders oder schlechter sind. Die Folge sind oft psychische Angststörungen mit depressivem Hintergrund.

Gekürzt und bearbeitet aus: Christiane Thoms: Wie steht es um die Jugend in Polen? In: http://www.polen-news.de/puw/puw87-09.html (2008).

Aufgaben 1. Christiane Thoms beschreibt in ihrem Text die Nachwirkungen der Volksrepublik Polen auf den heutigen Lebensalltag polnischer Jugendlicher. Erstellen Sie eine Liste der im Text genannten Gegensätze und Unterschiede. 2. Mit welchen Problemen hat die polnische Jugend heute zu kämpfen?

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Arbeitsblatt 5: Zwischen Kirche und Kaufhaus Matthias Kneip: Zwischen Kirche und Kaufhaus. Jeden Sonntag um 10 Uhr vollzieht sich vor der Adalbertkirche in Breslau ein eigenartiges Ritual. Kaum hat der Pfarrer den Schlusssegen gesprochen, strömen die Menschen durch den Nebeneingang der Kirche nach draußen. Durch den Nebeneingang deshalb, weil sich ihm gegenüber das dreistöckige, hochmoderne Einkaufszentrum Galeria Dominikańska befindet, das ausgerechnet um 10 Uhr am Sonntag seine Pforten öffnet. Die ganze Gemeinde zieht also um. Männer, Frauen, Kinder, ganze Großfamilien strömen von der Kirche zur Ampel über die Słowacki-Allee hinüber zu dem Kaufhaus. Auf der kleinen Fußgängerinsel in der Mitte der Straße sitzt meistens ein Bettler mit einer Krücke und dem Schild: Obdachloser mit Behinderung bittet um Ihre Hilfe. Manchmal werfen ihm die Leute ein paar Groschen in den Becher, und ich frage mich, ob sie das schlechte Gewissen plagt, weil es sie unmittelbar nach der Heiligen Messe in den Konsumtempel zu McDonald’s und Kentucky Fried Chicken zieht. Als ich diese Prozession zwischen Kirche, Bettler und Kaufhaus zum ersten Mal erlebte, bin ich regelrecht erschrocken. Zu direkt schien mir der Weg zwischen diesen beiden Orten, zu unmittelbar die Abfolge von Gebet und Konsum. Eigentlich passte diese Prozession gar nicht in mein Bild von einer typischen polnischen Familie, das bislang geprägt war vom gemeinsamen sonntäglichen Kirchgang und dem anschließenden obligatorischen Mittagessen im familiären Kreis. Selbst im katholischen Bayern würde mich diese Kombination schon erstaunen. Aber hier in Polen? Die Zeiten haben sich verändert. Und mit ihnen die Gepflogenheiten. Offene Geschäfte am Sonntag sind in Polen keine Seltenheit mehr, und die attraktiven Einkaufsgalerien verführen geradezu zum Bruch mit der sonntäglichen Besinnlichkeit. Als hätte der Teufel erkannt, dass die Zeit reif ist, dem lieben Gott sein Volk abspenstig zu machen, in Konkurrenz zu treten mit den faden Oblaten der Kommunion. Und die Menschenmassen in der Breslauer Galeria Dominikańska geben ihm Recht. Aus allen Kirchen der Stadt strömen die Kunden am Sonntag hier zusammen, um sich in den Eisdielen, Modegeschäften oder Restaurants zu vergnügen. Die Galeria gehört zu den schönsten ihrer Art in Polen. Sie wurde im Jahr 2001 eröffnet und umfasst über 100 Geschäfte, die sich über drei Stockwerke verteilen. Markenfirmen befinden sich neben Drogerieketten, Fastfood-Restaurants neben Spezialitätenläden, klassische Spielzeuggeschäfte neben Mediengiganten. Jedem wird etwas geboten. Den Kindern genügt schon das Glitzern und Leuchten der vielen Reklameschilder, um sich hier wohl zu fühlen. Dabei verhält es sich keineswegs so, dass die Polen der Galeria etwa den Vorzug vor dem Kirchenbesuch geben würden. Die Kirchen in Breslau sind immer noch gut gefüllt. Doch man empfindet keinen Widerspruch mehr zwischen dem Kirchenbesuch und einem anschließenden Kaufhausbummel. Man hat sich arrangiert, reicht Gott die rechte, dem Teufel die linke Hand. Schließlich will man das Leben ja genießen. Nur der Bettler draußen auf der kleinen Insel mitten im Verkehr ist zwischen die Mühlsteine geraten. Ihm hilft weder die Kirche noch die Galeria. Er bettelt im Transit, in der Hoffnung, dass die Heilige Messe das Herz der Spender rührt, bevor sie ihr Geld im großen Stil in den Geschäften lassen. Der Platz ist günstig. Aber irgendwie unheimlich. Aus: Matthias Kneip: Polenreise. Orte, die ein Land erzählen. Paderborn: House of the Poets 2007, S. 135-137.

Aufgaben

1. Der Schriftsteller Matthias Kneip beschreibt in diesem Text den Wertewandel in Polen bzw. den Umgang der Polen mit Werten, die eigentlich im Gegensatz zueinander stehen. Welche Widersprüche nehmen Sie wahr? Welche Veränderung führt Kneip in seinem Text an? Wie gehen Polen mit sich widersprechenden Werten um? 2. Worauf könnte dieser lockere Umgang mit Kirche und Konsum zurückzuführen sein? 3. Gibt es Ihrer Meinung nach ähnliche Wertekonflikte zwischen den Generationen in Deutschland?