GESELLSCHAFTS 1 FORSCHUNG 2015 - MPIfGtet – so viel höher besteuert werden kann, als Erbschaften,...

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3 Standpunkt Anleihenkaufprogramm der EZB: Macht und Ohnmacht der Milliarden Benjamin Braun 5 Presseschau Wissenschaſtler des MPIfG in den Medien 8 Schwerpunkt Wie fiktionale Erwartungen wirtschaſtliche Dynamik vorantreiben Jens Beckert 12 Thema Unternehmen Staat: Von der Utopie zur Ötopie Nicole Ruchlak 16 Forscherportrait Einer, der anders denkt: Der französische Regulationstheoretiker Robert Boyer 19 Nachrichten Cornelia Woll in den Vor- stand der Sciences Po berufen 22 Neuerscheinungen Bücher, Journal Articles, Discussion Papers 24 Veranstaltungen Berichte und Vorschau 2015 2 Impressum Schwerpunkt Fiktionale Erwartungen und wirtschaftliche Dynamik GESELLSCHAFTS FORSCHUNG 1 2015 Aktuelle Themen und Nachrichten

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3 Standpunkt Anleihenkaufprogramm der EZB: Macht und Ohnmacht der MilliardenBenjamin Braun

5 Presseschau Wissenschaftler des MPIfG in den Medien

8 SchwerpunktWie fiktionale Erwartungen wirtschaftliche Dynamikvorantreiben Jens Beckert

12 ThemaUnternehmen Staat: Von der Utopie zur ÖtopieNicole Ruchlak

16 ForscherportraitEiner, der anders denkt:Der französische Regulationstheoretiker Robert Boyer

19 NachrichtenCornelia Woll in den Vor­stand der Sciences Po berufen

22 NeuerscheinungenBücher, Journal Articles, Discussion Papers

24 VeranstaltungenBerichte und Vorschau 2015

2 Impressum

SchwerpunktFiktionale Erwartungen und wirtschaftliche Dynamik

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG

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Aktuelle Themen und Nachrichten

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Mit „Gesellschaftsforschung“ informiert das MPIfG zweimal im Jahr mit anschaulichen Artikeln und Berichten über seine Forschungsprojekte und -ergebnisse, Publikationen und Ver-anstaltungen. Ein Schwerpunktthema liefert Hintergrundin-formationen aus der Forschung zu Themen der aktuellen öf-fentlichen Diskussion. Sie erhalten den Newsletter in einer PDF-Fassung per E-Mail oder als Printausgabe. Abonnement und weitere Ausgaben unter www.mpifg.de/newsletter

© Max-Planck-Institut für GesellschaftsforschungKöln, Juni 2015In Absprache mit der Redaktion frei zum Nachdruck.Abdruck nur mit Quellenangabe.

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RedaktionHelen Callaghan, Silvia Oster, Christel Schommertz (verantw.)

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Autorin oder des Autors wieder und sind nicht als offizielle Stellungnahme des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsfor-schung zu verstehen.

Bildnachweisimago/Hoffmann (Titel); MPIfG/Astrid Dünkelmann 3, 15, 16, 17, 19, 20, 21, 24, 25, 26, 27; MPIfG/Hardy Welsch 7; MPIfG/Mathias Jung 8; dpa/Rainer Jensen 9; dpa/Isabel Munoz 13; TED/James Duncan Davidson 14.

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Mehr Themen und Standpunkte aus der Forschung des MPIfGAuf seiner Website stellt das MPIfG weitere aktuelle For-schungsprojekte vor und liefert Hintergrundinformationen zu Themen, die zurzeit öffentlich diskutiert werden. Mit ihren „Standpunkten“ kommentieren Forscherinnen und Forscher des MPIfG Entwicklungen in Politik und Wirtschaft. Durch die „Forscherportraits“ lernen Sie die Wissenschaftlerinnern und Wissenschaftler, Kooperationspartner und Alumni des MPIfG näher kennen. In der Rubrik „Interviews“ sprechen sie über die Bedingungen ihrer Arbeit, neue Methoden und den Wandel der Forschungskommunikation. www.mpifg.de/aktuelles/forschung

Das MPIfGDas Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist eines der rund achtzig Institute der Max-Planck-Gesellschaft e.V., die von Bund und Ländern finanziert wird. Als eine Einrich-tung der Spitzenforschung in den Sozialwissenschaften betreibt es anwendungsoffene Grundlagenforschung mit dem Ziel einer empirisch fundierten Theorie der sozialen und politischen Grundlagen moderner Wirtschaftsordnungen. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen ökono-mischem, sozialem und politischem Handeln. Das Institut schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Politik und leistet ei-nen Beitrag zur politischen Diskussion über zentrale Fragen moderner Gesellschaften. Es ist bei der Auswahl und Verwirk-lichung seiner Forschungsvorhaben frei und unabhängig.

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An die Tage zwischen dem 9. und 18. März 2015 wird man sich in Frankfurt noch lange erinnern. Die Europäische Zentralbank begann mit der Umsetzung ihres gigantischen Anleihen-Ankaufpro-gramms, in dessen Rahmen sie bis Sep-tember 2016 jeden Monat Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Wert von 60 Milliarden Euro erwerben wird. Da dem von Wolfgang Streeck beschriebenen eu-ropäischen Konsolidierungsstaat jegli-cher fiskalpolitische Handlungswille ab-handen gekommen ist, stellt das geld-politische „Quantitative Easing“ der EZB einen willkommenen Beitrag zur wirt-schaftlichen Erholung in der Eurozone dar. Dennoch schwappte wenige Tage nach dem Start des Programms eine Pro-testwelle von ungekannter Aggressivität durch die Stadt und gegen das neue Hauptquartier der EZB, das ihre neue Macht so anschaulich verkörpert. Der Deutsche Aktienindex erreichte unter-dessen ein Rekordhoch von 12.000 Punkten – während die Medien nicht müde wurden, der EZB die Schuld für ei-nen vermeintlichen „Anlagenotstand“ in die Schuhe zu schieben. Wie passt das al-les zusammen?

Was ist Quantitative Easing? Ähnlich wie bei früheren, kleineren An-kaufprogrammen erwirbt das Eurosys-tem festverzinsliche Wertpapiere zum Marktpreis und hält diese bis zur Rück-zahlung des Nennwerts durch den Emit-tenten. Das Eurosystem, das sind die

EZB und die nationalen Zentralbanken. Die Gegenparteien sind die Banken der Eurozone, aber auch Versicherer und In-vestmentfonds. Die Wertpapiere sind private Pfandbriefe und Asset-Backed Se-curities (unter anderem verbriefte Unter-nehmens- und Immobilienkredite), vor allem jedoch die Staatsanleihen der Eu-ro-Mitgliedsländer. Um den Marktpreis der Wertpapiere zu bezahlen, überweist das Eurosystem seinen Gegenparteien frisch geschaffenes Zentralbankgeld. Quantitative Easing bezeichnet also eine durch die Erhöhung der Zentralbank-geldmenge erwirkte geldpolitische Lo-ckerung. Entscheidend für deren Wirk-samkeit ist jedoch gar nicht so sehr die Erhöhung der Geldmenge, als vielmehr die dadurch erreichte Verringerung der im Umlauf befindlichen Qualitätsanlei-hen.

Wie soll Quantitative Easing wirken? Diese gesteigerte Knappheit treibt den Preis von Staatsanleihen und drückt ihre Rendite, die den Leitwert für das lang-fristige Zinsniveau in der Volkswirt-schaft darstellt. So soll Quantitative Eas-ing die Finanzierungsbedingungen in der Volkswirtschaft in einer Situation lo-ckern, in welcher der kurzfristige Zins-satz bereits bei Null steht. Die Maßnah-me zielt darauf ab, die Nachfrage aus In-vestitionen, Konsum und aus dem Aus-land (niedrigere Zinsen schwächen den Wechselkurs des Euro) zu stimulieren

und so die Preissteigerungsrate in Rich-tung des Inflationsziels von knapp unter zwei Prozent anzuheben. Darüber hin-aus soll das Absinken der Renditen risi-koarmer Anleihen Banken und Investo-ren dazu bewegen, ihre Portfolios in Richtung weniger liquider (Kredite, Im-mobilien) oder risikoreicherer (Aktien) Anlageformen umzuschichten, mit ten-denziell positiven Auswirkungen auf die Nachfrage der Haushalte und Unterneh-

StandpunktMacht und Ohnmacht der MilliardenZur politischen Ökonomie des Anleihen-Ankaufprogramms der Europäischen Zentralbank

Benjamin Braunist seit 2014 wissenschaftlicher Mitar-beiter am MPIfG. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und Volkswirt-schaftslehre in München und Paris promovierte er 2014 in Warwick und Brüssel zu den Voraussetzungen geld-politischer Steuerung in der Eurozone.

Forschungsschwerpunkte: internatio-nale politische Ökonomie; Zentralban-ken und Geldpolitik; Erwartungsma-nagement; Finanzialisierung.

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men. Die Gefahr der Blasenbildung in diesen Anlageklassen ist real und stellt ein kalkuliertes Risiko dar, das Zentral-banken mit dieser Politik eingehen.

Wer profitiert? So er denn eintritt, ist der Konjunktur-effekt von Quantitative Easing die Folge einer gezielt herbeigeführten Ver mö-gens preisinflation. In einer „Bilanzrezes-sion“, wie sie in weiten Teilen der Euro-zone immer noch spürbar ist, macht dies durchaus Sinn: Höhere Vermögenspreise stärken die Bilanzen der Besitzer von Finanz- und Immobilienvermögen, die in der Folge, so die Theorie, ihre Inves-titions- beziehungsweise Konsumaus-gaben erhöhen.

Die Besitzer von Vermögen profitieren also überproportional von den Anlei-

henkäufen der EZB? Wie lässt sich das vereinbaren mit der deutschen Hysterie über den angeblich von der EZB verur-sachten „Anlagenotstand“? Hierzu zwei Anmerkungen. Zunächst zu der Frage, wer die „Schuld“ trägt am niedrigen Zinsniveau. „Die Notenbanken warn’s“, fasst die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 21. März 2015 den Konsensus in der deutschen Presse zusammen. „Weltwei-ter Pessimismus“, hält der Ökonom Ro-bert Shiller in derselben Ausgabe dage-gen – Zentralbanken seien überschätzt. Volkswirte wie Larry Summers oder Carl Christian von Weizsäcker sehen in Stag-nation und Nullzinsen sogar einen Dau-erzustand in alternden Gesellschaften mit chronisch schwacher Nachfrage. Man mag damit hadern, dass Zentral-banken mit Hilfe von Quantitative Eas-ing die Zinsen um einen weiteren halben Prozentpunkt nach unten drücken – das Zinsniveau in der aktuellen Situation dauerhaft anzuheben, liegt dennoch nicht in ihrer Macht. So lange Unterneh-

men nicht in produktives Kapital inves-tieren, woher sollten die Renditen kom-men, die höhere Sparbuchzinsen finan-zieren würden?

Die zweite Anmerkung richtet sich auf die Frage, wie das Finanzvermögen der Reichen wachsen kann, während die Mittelschicht das Schrumpfen ihrer Er-sparnisse beklagt. Die Gründe sind in erster Linie im unterschiedlichen Anla-geverhalten der beiden Gruppen zu su-chen. Erstere legen ihr Vermögen in Ak-tien, Rentenpapieren und Immobilien an, letztere beschränken sich weitgehend auf das „Banksparen“ und „Versiche-rungssparen“. Um zwei wenig hilfreiche, in der öffentlichen Debatte aber geläufige Begriffe zu verwenden: Die „Sparer“ lei-den unter den niedrigen Sparbuch- und Le bensversicherungszinsen, welche nichts

anderes sind als die Kehrseite des Anstei-gens der Wertpapierpreise durch Quantita-tive Easing, das unmittelbar die Nettover-mögensposition von „Investoren“ ver-bessert.

Dabei ist die konservative Haltung deut-scher Sparer letztlich aber nicht mehr als ein verschärfender Faktor für ein tiefer liegendes Problem: Ein über den Vermö-genseffekt wirkendes Konjunkturpro-gramm begünstigt in erster Linie die Vermögenden. Selbstverständlich profi-tieren in dem Maße, in dem Quantitative Easing die Konjunkturlage und die Be-schäftigung verbessert, auch und vor al-lem einkommensschwächere Schichten. Dennoch liegt hier ein entscheidender Unterschied zwischen fiskalischen Aus-gabe- und monetären Ankaufprogram-men: Erstere sind Einkommenspolitik für Lohnempfänger, letztere, überspitzt formuliert, Einkommenspolitik für Ren-tiers. Im nach wie vor prekären wirt-schaftlichen Umfeld der Eurozone wäre

es unverantwortlich, den Strohhalm, den Quantitative Easing bietet, nicht zu er-greifen. In Zeiten dramatisch anwach-sender Ungleichheit tun Sparer, Wähle-rinnen und Aktivisten dennoch gut dar-an, sich einer dauerhaften Aufnahme dieser Maßnahme in den Werkzeugkas-ten makroökonomischer Stabilisierungs-politik zu widersetzen.

Ein über den Vermögenseffekt wirkendes Konjunkturprogramm begünstigt in erster Linie die Vermögenden.

Zum Weiterlesen

Bernanke, B.: Why Are Interest Rates So Low? Ben Bernanke’s Blog, 30.03.2015.www.brookings.edu/blogs/ben-bernankeposts/2015/03/30-why-interest-rates-so-low

Braun, B.: Preparedness, Crisis Management and Policy Change: The Euro Area at the Critical Juncture of 2008–2013. The British Journal of Politics & International Relations, 17(3), 419-441 doi: 10.1111/1467-856X.12026

Claeys, G. & Darvas, Z.: The Financial Stability Risks of Ultra-Loose Monetary Policy. Bruegel Policy Contribution 03 (2015).

Demary, M. & Hüther, M.: Gefährden die unkonventionellen Maßnahmen der EZB den Ausstieg aus dem Niedrigzinsumfeld?IW Policy Paper 7/2015. Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln 2015.

Deutsches Aktieninstitut: Aktionärszahlen des Deutschen Aktieninstituts 2014. Frankfurt 2014.

Streeck, W.: The Rise of the European Consolidation State. MPIfG Discussion Paper 15/1. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2015.

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Jens BeckertSchweres ErbeStuttgarter Nachrichten, Sonntag aktuell | 22.03.2015„Das Leistungsprinzip legitimiert soziale Ungleichheit. Mühelos erhaltene Erb-schaften stehen quer zu dieser Rechtfer-tigung“, so MPIfG-Direktor Jens Beckert im Interview mit den Stuttgarter Nach-richten. Die Konzentration von Vermö-gen könne Neid oder Eskalation erzeu-gen, sodass es gefährlich werde, wenn sich soziale Privilegien immer stärker durch Erbschaften und nicht mehr durch Leistung erreichen lassen.

Jens BeckertErbschaften werden fast als etwas Sakrales behandeltvdi nachrichten | 06.03.2015Die Bevorzugung von Familienunter-nehmen bei Erbschaften hält Jens Be-ckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, für gerecht-fertigt, wenn überprüfbare Gründe vor-gelegt werden. Er kritisiert im Interview mit den vdi nachrichten, dass die gesell-schaftspolitische Seite von Erbschaften kaum zur Sprache komme.tinyurl.com/beckert-mpifg

Jens BeckertOma ihr klein Häuschen: Ist es gerecht, dass manche mit einem Erbe ins Leben starten und andere mit nichts?Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung | 08.02.2015Wer etwas leistet, soll es in unserer Ge-sellschaft zu mehr bringen als diejenigen, die weniger leisten. Doch Erbschaften widersprechen einer solchen Gesell-schaft. Dies gilt für Herkunftsunterschie-de ganz allgemein, insbesondere aber für vererbtes ökonomisches Vermögen. Im Sammelband „(Un-)Gerechte (Un-)Gleich heiten“ widerspricht MPIfG-Dir-ketor Jens Beckert der Forderung des ehemaligen Direktors des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, Thomas Straub-haar, „Hände weg vom Erbe!“ und ver-langt stattdessen: „Besteuert die Erben!“tinyurl.com/beckert-fasz

Jens BeckertErbe und Arbeit gleich besteuernDer Standard | 13.12.2014„Mir ist unverständlich, wie sich in einer Gesellschaft, die sich als Leistungsgesell-schaft versteht, Arbeit – die ja ganz of-fensichtlich Leistungserbringung bedeu-tet – so viel höher besteuert werden kann, als Erbschaften, die leistungsfrei erlangt werden“, gibt MPIfG-Direktor Jens Beckert im Gespräch mit dem öster-reichischen Standard zu bedenken. „Mir geht es darum, zwischen den Einkom-mensarten umzuverteilen und Arbeit tendenziell zu entlasten, um Anreize für Arbeit zu stärken.“ Allerdings ließe sich dieser Vorschlag politisch nicht durch-setzen.tinyurl.com/beckert-standard

Wolfgang StreeckEin Mann stellt sich gegen das ImperiumHandelsblatt | 24.02.2015Umfangreiches Porträt über Wolfgang Streeck, Direktor emeritus am MPIfG, in der Handelsblatt-Serie „Die größten Den-ker“. Streeck sei unbequem und für man-che ein „nerviger Schwarzseher“, aber er sei einer von maximal einer Handvoll deutscher Geisteswissenschaftler von in-ternationalem Format.tinyurl.com/streeck-handelsblatt

Wolfgang StreeckThe Strikes Sweeping Germany Are Here to StayGuardian | 22.05.2015German strikes once seemed like Ger-man jokes: a contradiction in terms. How ever, as pay gaps widen and condi-tions deteriorate, German public sector and service workers are turning to once-unthinkable industrial action argues Wolfgang Streeck, director emer-itus at the MPIfG in Cologne.tinyurl.com/streeck-guardian

Wolfgang StreeckSparen um jeden PreisSüddeutsche Zeitung | 24.02.2015Wolfgang Streeck, Direktor emeritus am MPIfG, rezensiert in der Rubrik „Das Politische Buch“ in der Süddeutschen Zeitung Mark Blyths „Wie Europa sich kaputtspart: Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik“. Besonders spannend falle Blyths faktenreiche und zugleich amüsant-polemische Diskussion jener Länder aus, in denen Austerität zu Wachstum geführt haben soll.

Wissenschaftler des MPIfG in den Medien

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Presseschau GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

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Wolfgang StreeckDie Wunder Italiens und die Krise EuropasSüddeutsche Zeitung | 17.05.2015, Thomas SteinfeldBeim „Salone del Libro“ in Turin war Deutschland zu Gast. Wolfgang Streeck, Direktor emeritus am MPIfG, debattierte mit der Volkswirtin Lucrezia Reichlin, dem Germanisten Luigi Reitani und an-deren über die aktuelle Finanzkrise.

Wolfgang StreeckEs ist so weitDie ZEIT | 05.02.2015Mit der neuen griechischen Regierung sei der Augenblick der Wahrheit für eine aus dem Ruder gelaufene, wirtschaftlich, politisch und territorial überzogene, fi-nanzkapitalgetriebene europäische Inte-grationspolitik gekommen, so der Direk-tor emeritus Wolfgang Streeck in seinem Gastbeitrag in der ZEIT. Um Europa zu retten, müsse das Monstrum Währungs-union abgewickelt werden: „Die Ab-wicklung muss sozial verträglich erfol-gen, bevor die Atmosphäre dafür zu ver-giftet ist.“tinyurl.com/zeit-streeck

Wolfgang StreeckGermany Can’t Solve This AloneLe Monde diplomatique | 01.05.2015, Nr. 191Northern and southern European coun-tries have constructed their economies around incompatible systems, and adop-tion of the euro has only worsened the division. Could Germany now consider returning to a more flexible monetary system? Wolfgang Streeck, emeritus di-rector of the MPIfG, tries to answer this question.tinyurl.com/zeit-streeck

Martin Höpner„Der Euro überfordert die Lohnpolitik systematisch.“AmosInternational 9/1 | 10.01.2015Mit der Einführung des Euro wurde die Geldpolitik zentralisiert, die innereuro-päischen Wechselkurse wurden unwi-derruflich fixiert. Lohnaushandlungen finden aber weiterhin auf nationaler Ebene statt, die Gewerkschaften und Ar-beitgeberverbände sind in allen Teilneh-merländern ganz unterschiedlich orga-nisiert, und eine transnationale Koordi-nation der Lohnpolitik findet bisher nicht statt. Kann der Euro ohne Loh n-koordination funktionieren? Warum gibt es in Deutschland seit Einführung des Euro eine zurückhaltende Lohnpoli-tik? Tragen die deutschen So zial partner eine Mitschuld an der Eurokrise? Und könnte die Tarifpolitik helfen, die Euro-krise zu beenden?tinyurl.com/hoepner-amos

Colin Crouch„Wir brauchen einen neuen Sozialvertrag“Handelsblatt | 30.04.2015Mensch und Maschine arbeiten längst zusammen: Die neuen Technologien be-drohen vor allem Arbeitnehmer mit ge-ringer Qualifikation. Diese Entwicklung könnte sich als Bumerang für ganze Ge-sellschaften entpuppen.tinyurl.com/crouch-handelsblatt

Timur ErgenIn der Solarbranche kämpfte jeder für sichvdi nachrichten | 10.04.2015Die deutschen Photovoltaik-Hersteller könnten international in der ersten Liga spielen. Sie haben aber versäumt, ihre technischen Kompetenzen zu bündeln, stellt MPIfG-Wissenschaftler Timur Ergen fest.tinyurl.com/ergen-mpifg

Mark LutterKarriere: Nur bestimmte Netzwerke nutzen Frauen etwasWirtschaftswoche Online | 13.03.2015Nicht jedes Netzwerk sichert Frauen den beruflichen Erfolg. Je diverser die Ar-beitsteams, desto besser für die Karriere von Schauspielerinnen – so lautet das Er-gebnis einer Studie, die MPIfG-Wissen-schaftler Mark Lutter in der international führenden Fachzeitschrift American So-ciological Review veröffentlicht hat. „Die erfolgreiche Karriere von Frauen hält länger an, wenn sie überwiegend in Teams arbeiten, deren Mitglieder einan-der möglichst unähnlich sind“, stellt der Sozialwissenschaftler fest.tinyurl.com/lutter-wiwo

Mark LutterWie man zu einer Soziologie-Professur kommtFrankfurter Allgemeine Zeitung | 28.01.2015Eine Studie von Mark Lutter hat die Kar-rierewege aller derzeit an Universitäten beschäftigten deutschen Soziologen un-tersucht. Im Gegensatz zu anderen Stu-dien bezog Lutter auch soziale und sym-bolische Faktoren ein. Sein Ergebnis: Pu-blikationen bleiben zwar die wichtigste Variable, aber es schadet auch nicht, eine Frau zu sein – im Gegenteil.tinyurl.com/lutter-faz

Simone Schiller-MerkensTextilindustrie: Holpriger Start eines globalen BündnissesDeutschlandradio Kultur | 20.01.2015MPIfG-Wissenschaftlerin Simone Schil-ler-Merkens äußert sich skeptisch hin-sichtlich der Pläne von Politik, Wirt-schaft und Zivilgesellschaft, eine faire Bezahlung in der globalen Textilindus-trie einzuführen.tinyurl.com/schiller-dlf

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Frank WehingerDie Lust auf die FälschungFrankfurter Allgemeine Sonntagszeitung | 28.12.2014Ob Sonnenbrille, Parfüm oder Handta-sche: Viele Menschen kaufen Billigkopi-en von Luxusware. Warum? Entschei-dend ist nicht nur der Preis. „Kopien sind vorweggenommener Konsum der Originale und können den Wunsch nach ihnen sogar verstärken“, schreibt Frank Wehinger in seinem Aufsatz „Falsche Werte: Nachfrage nach Modeplagiaten“ (MPIfG Discussion Paper 14/20).tinyurl.com/wehinger-faz

Krise des Kapitalismus

Wolfgang Streeck„Alles kommt einmal zum Ende“Deutschlandfunk | 12.04.2015Die aktuelle Krise des Kapitalismus reicht tiefer als die normalen Konjunktur-einbrüche: Das Wachstum stagniert, die Verschuldung wächst, die Ungleichheit nimmt zu. Staatliche Regulierungsfähig-keit und gewerkschaftliche Gegenmacht haben dramatisch an Kraft verloren – es waren aber diese Institutionen, die ein Jahrhundert lang den heiß laufenden ka-pitalistischen Motor immer wieder gezü-gelt, gebremst und gelenkt, und damit nach jeder Krise seine Weiterexistenz ge-sichert haben. Wolfgang Streeck, Direk-tor emeritus am MPIfG, im Gespräch mit Mathias Greffrath.tinyurl.com/DLF-Ende

Wolfgang StreeckWie wird der Kapitalismus enden?Blätter für deutsche und internationale Politik | 22.03.2015 und 01.04.2015Gegenwärtig ist das Gefühl weit verbrei-tet, dass sich der Kapitalismus in einem kritischen Zustand befindet, kritischer als irgendwann sonst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Crash des Jah-res 2008 war lediglich die jüngste einer langen Abfolge politischer und wirt-schaftlicher Funktionsstörungen, die mit dem Ende der Nachkriegsprosperität Mitte der 1970er-Jahre einsetzten. Von Krise zu Krise nahm deren Schwere zu, Tempo und Ausmaß ihrer Ausbreitung wuchsen in einer immer stärker ver-flochtenen Weltwirtschaft rapide an. Könnte es tatsächlich sein, dass der sieg-reiche Kapitalismus sich selbst zum schlimmsten Feind geworden ist? Diese Frage stellt der Direktor emeritus am MPIfG Wolfgang Streeck in seinem Bei-trag in den Blättern für deutsche und in-ternationale Politik.tinyurl.com/streeck-blaetter1tinyurl.com/streeck-blaetter2

Wolfgang StreeckInstitutionell dummSüddeutsche Zeitung | 19.03.2015In seinem Artikel für die Süddeutsche Zeitung setzt sich Autor Andreas Zielcke mit Wolfgang Streecks Thesen aus den Blättern für deutsche und internationale Politik auseinander. Man müsse sich kei-ner doktrinären Weltsicht verschreiben, um die kapitalismuskritische Diagnose des emeritierten MPIfG-Direktors ernst zu nehmen.

Wolfgang StreeckDas kann nicht gutgehen mit dem KapitalismusWirtschaftswoche | 08.01.2015Kein Wachstum, dafür gigantische Schulden. Keine soziale Ordnung, statt-dessen Zynismus und Rette-sich-wer-kann. „Ich mache keine Vorhersagen“, so Wolfgang Streeck, Direktor emeritus am MPIfG, im Interview mit der Wirt-schaftswoche, „ich weise nur auf die ra-pide zunehmenden gesellschaftlichen Brüche hin und wünsche mir, dass wir beim Nachdenken über die Zukunft die Möglichkeit einer Reduzierung des ge-sellschaftlichen Lebens auf die Gesetze des Marktes nicht ignorieren.“tinyurl.com/streeck-wirtschaftswoche

Wolfgang StreeckFeind seiner selbst seinFrankfurter Allgemeine Zeitung | 25.03.2015Für Wolfgang Streeck, Direktor emeritus am MPIfG, sei mit dem Scheitern des Bündnisses für Arbeit, an dem er selbst mitgewirkt hatte, in Deutschland das „Jahrhundert des Korporatismus“ geen-det, also der Versuch, die Marktwirt-schaft unter Beteiligung organisierter In-teressen einzuhegen. In seinem Beitrag „Feind seiner selbst sein“ für die FAZ be-spricht Autor Jürgen Kaube wesentliche Thesen aus Streecks Artikel „Wie wird der Kapitalismus enden?“ (Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2015). Der Kapitalismus leide daran, keine Gegner mehr zu haben.

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Diese und weitere aktuelle Beiträge unter www.mpifg.de/aktuelles/mpifg_medien_de.asp.

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SchwerpunktImaginierte Zukunft:Wie fiktionale Erwartungen wirtschaftliche Dynamik vorantreiben

Im Herbst 2008 erreichte die Finanzkrise ihren Höhepunkt: Der Markt für verbriefte Wertpapiere US-amerikani-scher Hypothekendarlehen implodierte. Anleger, die in die vermeintlich sicheren Papiere investiert hatten, sahen sich plötzlich mit riesigen Verlusten konfrontiert. Die notwendigen Wertberichtigungen und fällige Zahlungen aus Kreditversicherungen brachten das Finanzsystem in kürzester Zeit an den Rand des Kollapses. Warum hatten In-vestoren und Ökonomen die Vorzeichen der dann einsetzenden weltweiten Finanzkrise nicht erkannt? Märkte sind nicht effizient. Die Rationalitätsannahmen der ökonomischen Theorie scheitern an der komplexen Wirklichkeit der Wirtschaft. Erwartungen lassen sich nicht als rational verstehen, sondern sind kontingente Imaginationen der Zu-kunft. Solche „fiktionalen“ Erwartungen spielen eine zentrale Rolle für Entscheidungen und für die wirtschaftliche Dynamik, behauptet Jens Beckert.

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Seit dem Herbst 2008 ist die Analyse der Ursachen und Konsequenzen der Finanz-krise ein wichtiges Thema in den Sozial-wissenschaften. Jenseits der Frage nach regulatorischen Reformen hat die Finanz-krise für die sozialwissenschaftliche For-schung eine weitere Diskussion eröffnet, die sich in einer einfachen Frage zusam-menfassen lässt: Wie lassen sich Erwar-tungen in der Wirtschaft verstehen?

Investoren hatten sich Anfang der 2000er-Jahre für den Kauf von Hypothe-kenanleihen in der Erwartung einer risi-koarmen Verzinsung ihres Kapitals ent-schieden. Grundlage dieser Erwartun-gen waren das Rating der Finanzinstru-mente und optimistische Einschätzungen der Entwicklung des US-amerikanischen Im mobilienmarktes. Im Jahr 2008 dann veränderten sich die Erwartungen schlagartig vor dem Hintergrund sin-kender Immobilienpreise in den USA.

Keiner der Akteure glaubte noch an die Sicherheit der Derivate, alle wollten gleichzeitig verkaufen.

Die Zukunft ist nicht kalkulierbarIn beiden Situationen – beim Kauf und beim Verkauf – beruhten die Entschei-dungen der Investoren auf ihren Annah-men über eine zukünftige Entwicklung. Klar ist: Solche Erwartungen sind von wesentlicher Bedeutung für die Ent-scheidungen von Wirtschaftsakteuren und damit für die Wirtschaftsentwick-lung, sowohl für Wachstum als auch für Krisen. Doch worauf beruhen sie, und wie verändern sie sich?

Die zentrale Antwort der Wirtschafts-wissenschaften lautet: Erwartungen ba-sieren auf der Analyse aller vorhandenen Informationen, einschließlich der Vor-aussagen bezüglich der Entwicklung der wichtigen Indikatoren der Wirtschafts-

Aus der Forschung GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

Jens Beckertist seit 2005 Direktor am MPIfG und Professor für Soziologie an der Wirt-schafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Fachgebiete: soziale Einbettung der Wirtschaft, insbesondere anhand der Untersuchung von Märkten; Orga-nisationssoziologie; Soziologie der Erbschaft; soziologische Theorie.

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entwicklung, und sie sind im Aggregat zutreffend. Auch wenn es individuelle Fehler gibt, die Wirtschaft konvergiert bei dem korrekten Modell der Zukunft. Der Marktpreis ist somit immer der effi-ziente Preis. Wenn dem so ist: Wie ka-men die Investoren zu den Überzeugun-gen, auf deren Grundlage sie die verbrief-ten Hypothekenanleihen kauften, deren Wert später ins Bodenlose sank? Es scheint, dass die vermeintlich sichere In-vestition auf einer Fiktion beruhte, die durch rhetorische Mittel und institutio-nelle Signale glaubhaft gemacht wurde.

Soziologen und Verhaltensökonomen zweifeln die Rationalitätsannahmen der ökonomischen Theorie seit Langem an. Akteure beziehen längst nicht alle ver-fügbaren Informationen in ihre Überle-gungen ein, sie sind in ihren Entschei-dungen durch den sozialen, kulturellen und institutionellen Kontext beeinflusst und sie machen Entscheidungsfehler, die sich auf starre Denkschemata zurück-führen lassen. In einer dynamischen Ökonomie sind zukünftige Entwicklun-

gen zudem prinzipiell nicht vorauszube-rechnen. Erwartungen lassen sich somit nicht einfach als rational verstehen, Ent-scheidungen nicht als ausschließlich auf determinierten Kalkulationen beruhend.

Dies gilt umso mehr für die turbulen-ten Umwelten moderner kapitalistischer Öko nomien, in denen zukünftige wirt-schaftliche Entwicklungen in hohem Maße offen und damit ungewiss sind. Unsere Gegenwart liefert überzeugende Beispiele hierfür: Wer hätte noch vor wenigen Jahren mit einer solch heraus-ragenden Bedeutung von Smartphones für die Entwicklung der gesamten Öko-nomie gerechnet? Wer weiß, ob es in drei Jahren den Euro als gemeinschaftliche Währung noch geben wird? Wer kann

sagen, wie sich der Aktienmarkt in zwölf Monaten entwickelt? Antworten auf diese Fragen lassen sich nicht eindeutig aus ökonomischen Modellen herleiten. Doch trotz der Offenheit und Unkalku-lierbarkeit der Zukunft müssen Wirt-schaftsakteure Entscheidungen treffen. Und diese Entscheidungen hängen von den Zukunftsprojektionen ab, mit denen die Wahl einer Alternative gerechtfertigt wird.

Handeln als obErwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit lassen sich als fiktional be-zeichnen. Fiktional meint hier nicht, dass die Vorstellungen per se falsch wä-ren; sie lassen sich nur nicht empirisch verifizieren, zumindest solange die Zu-kunft noch nicht zur Gegenwart gewor-den ist. Die gegenwärtigen Vorstellungen von Akteuren hinsichtlich zukünftiger Zustände der Welt sind in dem Sinn fik-tional, dass sie eine neue, eigene Realität schaffen. Entscheidungen unter Bedin-gungen von Ungewissheit beruhen auf Imaginationen und Projektionen, von

deren Richtigkeit die Akteure überzeugt sind. Solche fiktionalen Erwartungen sind von enormer Bedeutung, denn sie geben Orien tierung in Entscheidungspro-zessen – und zwar trotz der Unmöglich-keit, zukünftige Entwicklungen tatsäch-lich vor auszusehen. Akteure handeln, als ob sich die Zukunft in der angenomme-nen Weise entfalten würde. Erwartungen sind somit Platzhalter im Entscheidungs-prozess, mit deren Hilfe sich über die im Augenblick der Entscheidung herrschen-de Unkenntnis der tatsächlichen Ent-wicklung hinwegsehen lässt.

Der Begriff der fiktionalen Erwartung schließt an die Analyse von fiktionalen Texten in den Literaturwissenschaften an. Denn fiktionale Texte sind – wenn-

gleich mit erheblichen Unterschieden – ebenfalls dadurch charakterisiert, dass die Autorin oder der Autor eine erdachte Wirklichkeit beschreibt. In Form von Geschichten, als Stories, werden fiktio-nale Erwartungen auch in der Wirtschaft kommuniziert und entfalten dort ihre Wirkung.

Ein Beispiel: Im Herbst 2011 strahlte der US-amerikanische Fernsehsender CNBC ein Interview mit dem einflussreichen Rohstoffinvestor Jim Rogers zur Frage der weiteren Goldpreisentwicklung aus. Ro-gers prognostizierte in dem Interview, dass der Goldpreis, der damals bei etwa 1.700 US-Dollar pro Unze stand, zunächst auf 2.000 US-Dollar steigen, dann aber im Verlauf des noch Jahre anhaltenden Bul-lenmarktes 2.400 US-Dollar erreichen würde. Gold sollte also ein lukratives In-vestment sein. Solche Aussagen wieder-holen sich täglich in der Finanzpresse, sie sind Teil unseres Alltags. Immer sind sol-che Prognosen mit Geschichten verbun-den, die die erwartete Zukunft als glaub-

Im Herbst 2008 versicherten Bundeskanzlerin

Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück

den Deutschen in einer Pressekonferenz, dass der

Staat für ihre Depoteinlagen garantieren würde.

Erzeugt wurde – erfolgreich – die Erwartung, dass

die Spareinlagen bei den Banken weiterhin sicher

seien. Verhindert wurde ein Bank Run. Ein Beispiel

für die Politik der Erwartungen.

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15 Aus der Forschung

Soziologen und Verhaltensökonomen zweifeln die Rationalitätsannahmen der ökonomischen Theorie seit Langem an.

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Aus der Forschung GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

würdige Entwicklung erscheinen lassen. Beim Goldpreis ist dies häufig die Ge-schichte vom Gold als Krisenwährung.

Trotz der Alltäglichkeit lohnt es sich, ein solches Interview genauer zu betrachten.

Rogers stellt eine Behauptung über einen zukünftigen Zustand der Welt auf, von dessen Eintreffen er (vermutlich) über-zeugt ist. Rogers kann aber so wenig wie irgendjemand anderes in die Zukunft se-hen. Die Aussage eines steigenden Gold-

preises ist empirisch nicht validierbar, sondern die Vorspiegelung eines mögli-chen Ereignisses, die dazu motivieren soll, so zu handeln als ob der Goldpreis auf 2.000 US-Dollar steigen würde. In diesem Sinn ist die Aussage fiktional.

Abbildung 1 zeigt, dass Rogers mit seiner Erwartung völlig falsch lag. Anstelle zu steigen, fiel der Goldpreis seit seiner Prog-nose langfristig dramatisch. Doch geht es nicht darum, rechthaberisch auf die nur post festum erkennbare Fehleinschätzung hin zuweisen, sondern systematisch die Rolle solcher imaginierten Zukünfte für wirtschaftliche Entscheidungsprozesse und die Wirtschaftsentwicklung insge-samt zu erfassen. Durch fiktionale Erwar-tungen werden Begründungen für Ent-scheidungen unter Bedingungen von Ungewissheit geschaffen. Solche Begrün-dungen sind notwendig, damit Entschei-dungen nicht beliebig erscheinen, um Entscheidungen zu koordinieren und um Innovationen voranzutreiben. Fiktionale Erwartungen motivieren wirtschaftliches Handeln, dessen Richtigkeit sich erst spä-ter herausstellt, und tragen dadurch zur Dynamik der Wirtschaft bei.

Erwartungen als Motor der ZukunftEntscheidungen sind demnach nicht durch ökonomische Kalkulation deter-miniert, sondern sie beruhen auf kontin-genten, also auf immer auch anders möglichen Erwartungen. Die Erzählung über eine bestimmte erwartete zukünf-tige wirtschaftliche Entwicklung könnte immer auch eine andere sein. Daraus er-geben sich zwei für die sozialwissen-schaftliche Forschung wichtige Konse-quenzen.

Zum einen muss man mit einer „Politik der Erwartungen“ rechnen. Das heißt, die im Feld der Wirtschaft geäußerten Erwartungen sind nicht interessenunab-hängig geäußerte richtige Einschätzun-gen, sondern sind selbst Mittel, mit de-nen sich wirtschaftliche Interessen verfolgen lassen. Voraussetzung ist die Glaubwürdigkeit der Erzählung. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Möglicherweise hatte Jim Rogers bereits im Vorfeld des

Abbildung 1: Goldpreisentwicklung 2010 bis 2014. Im November 2011 prognostizierte der Rohstoff-

investor Jim Rogers einen Anstieg des Goldpreises auf über 2.000 US-Dollar (www.cnbc.com/id/45472311).

Tatsächlich sank der Preis seitdem dramatisch. Ein Beispiel für fiktionale Erwartungen.

Quelle: Börsendaten

Abbildung 2: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts der BRICS-Staaten. Finanzmärkte mit ihrer

hohen Ungewissheit und Volatilität sind besonders geprägt von fiktionalen Erwartungen. Nicht nur die

Prognosen der Analysten von Banken und Wirtschaftsforschungsinstituten sind Beispiele hierfür. Das

BRICS-Konzept, eine Kreation der US-amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, lenkte mehr als

ein Jahrzehnt lang bedeutende Investitionsströme in eine Handvoll Schwellenländer, basierend auf der

fiktionalen Erwartung, es seien gerade diese Länder, in denen ein besonders hohes und stabiles Wirt-

schaftswachstum und infolgedessen hohe Steigerungen der Aktienkurse zu erwarten seien. Tatsächlich

haben sich sowohl die Wirtschaft als auch die Aktienmärkte der Länder höchst unterschiedlich entwickelt.

Quelle: IMF, World Economic Outlook 2014.

2.000 US-Dollar

1.750

1.500

1.250

1.000

2010 2011 2012 2013 2014

Goldpreis-Prognose von Jim Rogers

November 2011

15

10

0

-5

-10

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2013

Brasilien VR China Indien Russland Südafrika

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GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15 Aus der Forschung

Interviews für seine Investmentfonds hohe Goldbestände gekauft und hoffte nun, dass durch das Interview andere In-vestoren ebenfalls Gold kaufen und so der Preis weiter steigen würde.

Dies mag auf den ersten Blick trivial er-scheinen, doch ist der Wettbewerb um Erwartungen tatsächlich einer der be-deutendsten und zugleich am wenigsten erforschten Aspekte wirtschaftlicher Kon kurrenz. Man denke etwa an das Werben von Start-up-Unternehmen um das Interesse von Risikokapitalgebern. Mit angenommenen Zahlen und einer Geschichte müssen letztere überzeugt werden, dass das noch unfertige Produkt tatsächlich eine Marktchance hat. Hier-für müssen die Jungunternehmer eine erfolgreiche Zukunft glaubwürdig erzäh-len können. Oder man denke an Konsu-menten, deren Kaufbereitschaft für ein neues Smartphone durch die Erzeugung von Erwartungen an das neue Produkt geschaffen wird. Die Marketingindustrie ist mit nichts anderem beschäftigt als mit der Erzeugung und Stabilisierung fiktio-naler Erwartungen.

Zum anderen lässt sich die Zukunft zwar nicht voraussehen, doch können Erwar-tungen und die Handlungen, die sie aus-lösen, bestimmte Entwicklungen über-haupt erst hervorrufen. In diesem Sinn können Erwartungen performativ sein. Ein Beispiel hierfür sind technologische Innovationen. Niemand kann am Beginn des Innovationsprozesses vorhersehen, ob eine Innovation im technischen Sinn gelingt und dann auch noch am Markt

erfolgreich sein wird. Doch, wenn über-haupt, kann die vorgestellte technologi-sche Zukunft nur mithilfe der durch fik-tionale Erwartungen motivierten Inves-titionen je Realität werden. Ohne eine glaubwürdige Fiktion am Anfang käme es nicht zu den notwendigen Investitio-nen und wir könnten nie herausfinden, ob die vorgestellte Zukunft möglich ist.

Ein verändertes Verständnis ökonomischer ProzesseÜber Finanzmärkte hinaus sind fiktiona-le Erwartungen relevant für wohl sämtli-che Bereiche der Wirtschaft: Kapitalin-vestitionen, Investitionen in Human-kapital, den Konsum, Innovationspro-zesse und das Funktionieren des Geldes. Sie sind ein in der Forschung bislang kaum wahrgenommener Schlüssel zum Verständnis wirtschaftlicher Dynamik. Es sind die Vorstellungswelten der Ak-teure, die Investitionsströme lenken und das Moment der Kreativität in die Öko-nomie einbringen, ebenso wie neue Un-sicherheit. Wirtschaftliche Dynamik wird auch durch die menschliche Fähig-keit vorangetrieben, sich eine Welt vor-zustellen, die anders ist als die jeweils gegebene. Dies gibt Raum nicht nur für interessante empirische Projekte wirt-schaftssoziologischer Forschung, son-dern eröffnet auch ein fruchtbares Para-digma in den Sozialwissenschaften, in dem die Erwartungen der Akteure im Mittelpunkt stehen. „The future matters“: Nicht nur die Vergangenheit ist relevant für die Erklärung sozialen Handelns, sondern auch die Vorstellungen von der Zukunft.

Die Hinwendung zu fiktionalen Erwar-tungen und den Narrativen, mit denen Glaubwürdigkeit für bestimmte Erwar-tungen zukünftiger Entwicklung ge-schaffen wird, führt auch zu einer verän-derten Analyse ökonomischer Prozesse. Im Mittelpunkt stehen die Bedeutungen, die wirtschaftliche Güter und Prozesse durch ihre Interpretation erlangen. Dar-an schließt sich die Frage an, wie solche Bedeutungen erzeugt, stabilisiert und verändert werden. Wenn Erwartungen fiktional sind, gibt es kein allein auf Kal-

kulation beruhendes Handeln in der Wirtschaft und eine Wissenschaft der Ökonomie folgt eher dem Modell der Hermeneutik als dem der Naturwissen-schaften.

Zum Weiterlesen

Publikationen von Jens Beckert

Imagined Futures: Expectations and Capitalist Dynamics. Harvard University Press 2016, Cambridge, im Erscheinen.

Capitalist Dynamics: Fictional Expectations and the Openness of the Future. MPIfG Discussion Paper 14/7. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2014.www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp14-7.pdf

Capitalism as a System of Expecta-tions: Toward a Sociological Micro-foundation of Political Economy. Politics & Society 41(3), 323–350 (2013).

Imagined Futures: Fictional Expectations in the Economy. Theory and Society 42(3), 219–240 (2013).

Imaginierte Zukünfte: Fiktionale Erwartungen und kapitalistische Dynamik. Vortrag auf der 6. Wissenschaftlichen Tagung des Instituts für die Gesamt-analyse der Wirtschaft (ICAE) der Universität Linz, 11.–13.12.2014.www.youtube.com/watch?v=GTirjP2xrXs

Der Wettbewerb um Erwartungen ist tatsächlich einer der bedeutendsten und zugleich am wenigsten erforschten Aspekte wirtschaftlicher Kon kurrenz.

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Die BestieSie verbringen Tage und Nächte auf dem glühend heißen Dach der Bestie. Einige von ihnen sind angegurtet, damit sie im Schlaf nicht herunterrutschen oder von Verbrecherbanden herunter-gestoßen wer den. Viele bleiben auf der Strecke. Mit abgetrennten Armen oder Beinen. Wenn sie noch mehr Pech ha-ben, tötet sie La Bestia. So nennen die Lateinamerikaner den Güterzug, der sich vom Süden Mexikos bis zur US-amerika-nischen Grenze quer durch das Land schleppt. Jährlich riskieren Zigtausende verzweifelte Honduraner ihr Leben und lassen sich auf den Dächern der Wag-gons in eine andere Welt tragen. Dort-hin, wo sie eine Existenz aufbauen wol-len, auch wenn sie wissen, dass sie in den USA theoretisch nicht existieren werden: illegal und ohne Arbeitserlaubnis.

Aber immer noch besser als in Hon-duras: Knapp die Hälfte (46 Prozent) der Bevölkerung lebt in extremer Armut, das heißt, sie muss mit weniger als 1,25 US-Dollar am Tag auskommen. Das mit-telamerikanische Land verzeichnet welt-weit die höchste Mordrate, wobei die al-lermeisten Morde (98 Prozent) nicht aufgeklärt werden. Der honduranische Staat versagt in seiner wichtigsten Funk-tion: den Bürgern ein sicheres und aus-kömmliches Leben zu gewährleisten. Warum dann nicht einfach einen Staats-ersatz mit neuen, besseren Institutionen

schaffen – frei von Korruption, Verbre-chen und Rechtsunsicherheit? Wenn nicht im ganzen Land, dann zumindest in einer neu erbauten Stadt mit eigenen Regeln – mit einer eigenen Charta: der Charter City?

Die Vision Vor sechs Jahren stellte der US-amerika-nische Wirtschaftswissenschaftler Paul Romer seine Vision auf einer TED-Kon-ferenz einem internationalen Publikum vor. In Entwicklungsländern sollen in ausgewählten Regionen, die dem staatli-

Unternehmen Staat: Von der Utopie zur Ötopie

Thema GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

Anno 1949 „What we lack is a liberal Utopia, a program which seems neither a mere defense of things as they are nor a diluted kind of socialism, but truly liberal radicalism. … The main lesson which the true liberal must learn from the success of the socialists is that it was their courage to be Utopian which gained them the support of the intellectuals and therefore an influence on public opinion which is daily making possible what only recently seemed utterly remote.“ F. A. Hayek

Anno 2013 „Die Alternative zu einem Kapitalismus ohne Demokratie wäre eine De-mokratie ohne Kapitalismus, zumindest ohne den Kapitalismus, den wir kennen. Sie wäre die andere, mit der Hayekschen konkurrierende Utopie. Aber im Unterschied zu dieser läge sie nicht im historischen Trend, sondern würde im Gegenteil dessen Umkehr erfordern. Deshalb und wegen des enormen Organisations- und Verwirklichungsvorsprungs der neoliberalen Lösung … erscheint sie heute als vollkommen unrealistisch.“ W. Streeck

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Was tun, wenn Staaten in ihrer wichtigstenFunktion versagen, den Bürgern ein sicheres und auskömmliches Leben zu gewährleisten?

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chen Einfluss weitestgehend entzogen sind, ökonomisch prosperierende und sichere, kurz: perfekte Städte entstehen – mit eigenen Gesetzen, eigener Verwal-tung, eigener Polizeieinheit. An ihrer Spitze stehen idealerweise Experten aus westlichen Demokratien mit vor allem juristischen, administrativen oder öko-nomischen Kompetenzen, die Rechts-sicherheit garantieren und so Investoren anlocken sollen. Ein Konzept, das weit über die bisher weltweit existierenden Freihandels- oder Sonderverwaltungszo-nen hinausgeht. Allerdings ist das Phä-nomen der Charter Cities bislang wis-senschaftlich kaum bearbeitet. In der Publizistik und seitens der Nichtregie-rungsorganisationen gibt es rege Diskus-sionen. Ein immer wieder auftauchender Kritikpunkt ist der Vorwurf, das Modell sei ein klarer Fall von Neokolonialismus.

Als Paul Romer 2009 seine große Idee vorstellte, mag sie auf viele wie das Hirn-gespinst eines etwas kauzigen, wenn-gleich renommierten Professors gewirkt haben. Aber Paul Romer insistierte und

hielt failure of imagination, mangelnde Vorstellungskraft, für das einzige Hin-dernis seines Gesellschaftsentwurfs. Fan-tasie und Vorstellungsvermögen sind

konstitutive Momente von Utopien, in deren Tradition sich Paul Romers Vision einreiht – und das, obwohl mit dem Zu-sammenbruch des real existierenden So-zialismus das Ende der Utopien verkün-det wurde. Es ist bemerkenswert, aus welcher Richtung diese neuartige Vision nun dennoch kommt. Nämlich aus eben jener – radikal – marktliberalen Rich-tung, die das utopische Zeitalter für be-endet erklärt hat und den Staat auf seine grundlegenden Funktionen beschränkt sehen wollte. Staatliche Eingriffe sollten auf das Nötigste begrenzt werden,

der wirtschaftliche Gestaltungsspielraum sollte möglichst groß sein. Eben diese Prinzipien prägen auch die Charter City. Hayek wäre zufrieden: „What we lack is a liberal utopia”. Nach seiner Vorstellung ist liberales utopisches Denken ein we-sentlicher Schritt zur Realisierung einer radikal liberalen Gesellschaft.

Mittlerweile, sechzig Jahre später, sind bereits viele große Schritte getan – und zwar im Realen. Wolfgang Streeck spricht deshalb von einem „enormen Organisations- und Verwirklichungsvor-sprung der neoliberalen Lösung“. Jetzt scheint die Zeit reif, failure of imagina-tion zu überwinden und eine kühne uto-pische Vision auf den bereiteten Grund zu setzen. Und Romers Vision ist nicht mehr reine Utopie, sondern auf dem bes-ten Weg zur Realisierung: Kurz nach der TED-Konferenz meldete sich der dama-lige honduranische Präsident Porfirio Lobo bei ihm. Angesichts der desolaten Wirtschaftslage in Honduras erhoffte er sich Rettung durch die Charter Cities. Nach langjährigen Debatten, Gesetzes-

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15 Thema

La Bestia – die Bestie. Immer wieder fahren Menschen aus Lateinamerika illegal mit dem Güterzug

Richtung USA, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dabei kommt es oft zu Unfällen.

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Die Charter City: ein Beispiel für radikal-liberales utopisches Denken.

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entwürfen und diversen Verfassungsän-derungen wurde 2013 ein Gesetz be-schlossen, das die Details der ZEDE regelt. ZEDE – Zona de Empleo y de Desarrollo Económico, so heißt das Vor-haben, das in Honduras aus Paul Romers Konzept der Charter Cities hervorging.

Der PlanPaul Romer selbst allerdings ist nicht mehr beteiligt. Nach seiner Darstellung konnte er sich auf Zusagen der Regierung nicht verlassen – was diese ihrerseits be-streitet. Nun an Bord: einundzwanzig vor allem ausländische, vornehmlich US-ame rikanische einflussreiche Vertreter libertärer Ideen. Darunter sind vier eh e-ma lige Mitarbeiter der Reagan-Admini s-tra tion und drei Angehörige des Cato-In-stituts, das sich auf die Prinzipien limited government, free markets, individual liber-ty, and peace beruft. Die einundzwanzig ernannten Mitglieder bilden das „Komi-tee für die Übernahme der besten Prakti-ken“ (CAMP, Comité para la Adopción de Mejores Prácticas). Das Komitee ist das oberste Lenkungsorgan der zukünftigen ZEDE und nicht vom Volk gewählt, son-dern von der honduranischen Regierung ernannt. Spätere Kontrollmaßnahmen

durch die Regierung sind nicht mehr vor-gesehen, jedenfalls nicht im aktuellen Ge-setz erwähnt. Das ist angesichts der Be-fugnisse des CAMP durchaus bemerkens-wert: Das Komitee erlässt die Gesetze und Regeln für die Region, verfügt über das Vorschlagsrecht für die Besetzung der Ju-dikative und beruft das sogenannte tech-nische Sekretariat, das an der Spitze der Verwaltung steht. Um den Investoren ein sicheres Pflaster zu bieten, sorgt in der ZEDE eine eigens geschaffene Polizei für Recht und Ordnung. Nur noch auf dem Gebiet der Außen- und Verteidigungspo-litik, bei der Staatsbürgerschaft und in be-stimmten Bereichen des Strafrechts gilt die honduranische Verfassung.

Noch ist das Projekt in weiten Bereichen unkomponierte Zukunftsmusik. So viel ist aber bei aller gegenwärtigen Unbe-stimmtheit schon klar: In einem ersten

Schritt wird eine bestimmte, für Investo-ren attraktive Region ausgewiesen wer-den. Gegenwärtig führt die hondurani-sche Regierung Gespräche mit KOICA, der Entwicklungshilfeorganisation der koreanischen Regierung, die in einer Machbarkeitsstudie drei Orte in Hon-duras als potenzielle Standorte vorge-schlagen hat. Einer davon ist das Fischer-dorf Amapala, in dem ein Tiefwasserhafen angelegt werden soll. Dem Hinweis, dass mit dem Ausweisen von Regionen als ZEDE Landkonflikte, die in Honduras ohnehin eine lange gewalttätige Tradition haben, programmiert sind, begegnen Mark Klugmann, Vize-Vorsitzender des CAMP, und die anderen Befürworter der ZEDE mit Achselzucken. Ziehen die be-troffenen Bewohner nicht weg, dann wer-den sie sich unter Umständen über Nacht als Untertanen des CAMP wiederfinden. Aber ihnen bleibt die Freiheit, das Gebiet

Paul Romer, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der NYU Stern School of Business und Senior Fellow am Stanford Institute for Economic Policy Research,

stellte seine Idee der Charter Cities auf den TED-Konferenzen 2009 und 2011 vor. TED (Technologie, Entertainment und Design) ist eine seit drei Jahrzehnten

stattfindende Vortragsveranstaltung, auf der eine exklusive Gruppe von Fachleuten der unterschiedlichsten Gebiete ihre Ideen austauscht. Vor allem mit ihren

Internet-Videos hat die Konferenz weltweit Aufmerksamkeit gefunden.

Thema GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

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Nur noch in der Außen- und Vertei digungspolitik, bei der Staats bürgerschaft und in bestimmten Bereichen des Strafrechts soll die hon duranische Verfassung gelten.

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zu verlassen, wie es auch jedem Hondura-ner freisteht, sich dort niederzulassen – die Befürworter der ZEDE werden nicht müde, dies zu betonen. „Freiheit“ ist ein Schlüsselbegriff in der Darstellung der ZEDE durch Mark Klugmann. Der ehe-malige Redenschreiber von George Bush und Ronald Reagan bezeichnet ZEDE schlichtweg als weitere – eben dritte – freie Option für die Honduraner, neben der Auswanderung und den bestehenden Institutionen in Honduras.

Aber wie sollen die Institutionen, wie zum Beispiel Kindergärten und Schulen gestaltet sein? Wird es ein Gesundheits-system geben, eine Rentenversorgung, Arbeitslosengeld? Interessierte Investo-

ren haben schon weitergedacht, wie etwa der Anwalt Michael Strong: Er hat den Prozess von Anfang an aufmerksam be-obachtet, in Honduras Hintergrundge-spräche mit Verantwortlichen geführt und ist international vernetzt. In seiner Vorstellung könnten die Kirchen bei nicht Gewinn bringenden Einrichtungen durchaus nützlich sein. Hochwertige Ar-beitsplätze sollen durch geringe Steuern, Rechtssicherheit und wenig Regulierung entstehen. Dann würde das Projekt als entscheidender Schritt wahrgenommen werden, der Honduras ins 21. Jahrhun-dert führt. Eine realistische Beschäfti-gungsstruktur für eine ZEDE hat bislang allerdings noch keiner der Visionäre ent-worfen. Auf jeden Fall verkaufen sie ihre Idee als Ausweg aus der Armut für viele.

Jenseits der PolitikDiese großen Hoffnungen teilen in Hon-duras nicht alle. Gegen die Einrichtung von Charter Cities wurden bereits Ver-fassungsklagen eingereicht. Die erste hatte Erfolg, woraufhin für das Vorhaben ein anderer Name festgelegt und das Ge-setz geringfügig geändert wurde. Der oberste honduranische Gerichtshof, der für diese Störfeuer verantwortlich war, wurde inzwischen neu besetzt. Eine wei-tere Klage gegen das neue Gesetz wurde abgewiesen. „I don’t think it should be a claim of the ZEDE that everyone in Hon-duras says: that is exactly what I want.” Für Mark Klugmann ist die Sache ganz einfach: Wer nicht will, der muss ja nicht mitmachen.

Das utopische Paket gibt es nur ganz oder gar nicht. Demokratische Mitbe-stimmung ist nicht vorgesehen. Es zählt das ökonomische Prinzip von Angebot und Nachfrage – wie im Supermarkt. Die politische Gestaltung von Gesellschaft und Partizipation als wesentliche Ele-mente eines demokratischen Staates

werden ersetzt durch Verwaltung und die Orientierung an Investitionsbedin-gungen. Ganz im Sinne von Mark Klug-manns Aussage: „The ZEDE is not de-signed to create a politicized administra-tion.“ Und so herrschen Regeln statt Ge-setze, und an die Stelle von Government tritt Governance.

Hayeks alter Traum einer radikal libera-len Utopie ist also in unserer Gegenwart angekommen: ein Gesellschaftsentwurf jenseits der Politik und vom Staat so un-abhängig wie möglich. Die fundamenta-le Kritik der Philosophin Hannah Arendt bewahrheitet sich: Die Utopie sei unpoli-tisch, sie degradiere die Politik zu einem Mittel zur Erreichung eines jenseits des Politischen gelegenen Zwecks. Und die-ser Zweck scheint nun die von staatli-chen Eingriffen ungestörte und mög-lichst unregulierte Ökonomie zu sein. Aus der Utopie wird eine Ötopie.

Zum Weiterlesen

Arendt, H.: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. Piper, München 2006, 4. Auflage.

Hayek, F. A.: The Intellectuals and Socialism. The University of Chicago Law Review 16, 417–433 (1949).

Streeck, W.: Was nun, Europa? Kapitalismus ohne Demokratie oder Demokratie ohne Kapitalismus. Blätter für deutsche und internationale Politik 4, 57–68 (2013).

Paul Romer on Charter Cities: All That’s Holding Us Back Is a Failure of Imagination. Interview, online publiziert am 5. Oktober 2009; tinyurl.com/paul-romer-chartercities[7.11.2014]

Nicole RuchlakRedakteurin und Hörfunkjournalistin des Bayerischen Rundfunks, war 2014 als Journalist in Residence Gast am MPIfG. Sie interessiert sich besonders für die Frage, wie sich unter globalen Voraussetzungen die Zusammenhän-ge von Demokratie und Kapitalismus verändern. Im Zuge ihrer Recherchen am MPIfG zu den Charter Cities hat sie zahlreiche Hintergrundgespräche und Interviews geführt, unter anderen mit Mark Klugman (CAMP – Komitee für die Übernahme der besten Praktiken), Michael Strong (Netzwerker und Unternehmer), Jari Dixon Herrera (Poli-tiker der Oppositionspartei Libertad y Refundación).

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15 Thema

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„Die Utopie degradiert die Politik zu einem Mittel zur Erreichung eines jenseits des Politischen gelegenen Zwecks.“ H. Arendt

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„Eigentlich wollte ich einmal Physiker werden“, sagt Robert Boyer, der zweiund-siebzigjährige Ökonom aus Frankreich in seinem Büro im Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, wo er in diesem Frühjahr Gast war. „Dann, Mitte der Sechzigerjahre, wurde mein Forschungskredit gekürzt. Mein Schick-sal wäre der Brücken- und Straßenbau geworden“, sagt Boyer. Weil ihm die Pra-xis weniger erbaulich erschien als die theoretische Reflexion, ergänzte Boyer seine Ausbildung an der École nationale des ponts et chaussées, einer Elitehoch-schule für Ingenieurwesen, mit einem Studium am Institut d’études politiques de Paris, der angesehenen Hochschule für Sozialwissenschaften, die heute unter dem Namen „Sciences Po“ bekannt ist. Danach studierte er noch Ökonomie an der Universität Paris I. Nach dem Ab-schluss an der Paris I widmete sich Boyer an der Sciences Po fortan der Politikwis-senschaft und der Ökonomie.

Der Sprung vom Bauingenieur zum poli-tischen Ökonomen fiel in Robert Boyers Leben mit einem gesellschaftlichen Epo-chenbruch zusammen: In Nizza an der Côte d’Azur geboren, wurde Boyer im politisch bewegten Paris der späten 1960er-Jahre zum Aktivisten: „Wir sahen in der ökonomischen Analyse ein wesent-

liches Mittel zur Befreiung, zur Befreiung des Lebens von ökonomischen Prinzipien – Idealismus!“ Damals hätten alle ihren Marx gelesen, sagt Boyer. „Ein linker Ak-tivist musste ein Experte der politischen Ökonomie sein. Im vollen Bewusstsein der Logik des Kapitalismus sollte die Poli-tik fähig werden, die wirtschaftlichen Kräfte in ihre Schranken zu weisen.“

In den 1960er-Jahren war Frankreich mit seiner florierenden, stark staatlich gepräg-ten Großindustrie zum Inbegriff einer „gemischten Volkswirtschaft“ geworden; zu einer Synthese zwischen Markt und Staat, die durch ihre keynesianisch ge-prägte Steuerung der Krisenhaftigkeit des

Kapitalismus entwachsen schien. Die Öl-krise und der Zusammenbruch des Wäh-rungssystems der Nachkriegszeit von Bretton Woods setzte 1973 den Trente glo-rieuses, der knapp dreißigjährigen Wachs-tumsperiode nach dem zweiten Weltkrieg allerdings ein jähes Ende und damit auch dem Glauben an die Möglichkeit eines krisenfreien Kapitalismus. In den USA

und in Großbritannien schlug die Stunde der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft, die einen Ausweg aus der Krise propa-gierte, der auf einer Befreiung des Kapi-tals aus den regulativen Schranken des Keynesianismus basierte. In Frankreich dagegen begann sich eine Gruppe von Ökonomen unter dem Eindruck der Krise wieder für die Geschichte kapitalistischer Zyklen aus Wachstum und Krise zu inter-essieren.

Robert Boyer war einer von ihnen. Ab 1974 forschte er am Pariser Centre pour la recherche économique et ses applica-tions (CEPREMAP) und wurde dort zu einem der prägenden Denker der Regu-

lationstheorie: „Regulationisten verste-hen den Kapitalismus als ein ökono-misch-politisches System, das sich in ei-nem andauernden endogenen Verände-rungsprozess befindet. Wir wollen wissen, was den Kapitalismus befähigt, seine eigene Art und Weise des Funktio-nierens immanent immer wieder neu zu organisieren.“ In ihren Analysen schen-

Einer, der anders denktDer französische Regulationstheoretiker Robert Boyerbeschäftigte sich in drei Gastvorlesungen am MPIfG mit den epistemologischen und institutionellen Gründen für die Krisen in der Makroökonomie und in der Eurozone. Eine Begegnung.

Dominik Gross

Forscherportrait GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

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Im politisch bewegten Paris der späten 1960er-Jahre musste ein linker Aktivist ein Experte der politischen Ökonomie sein.

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ken die Regulationisten den Krisen des Kapitalismus eine besondere Aufmerk-samkeit und versuchen damit, jene Kräf-te offenzulegen, die in der Geschichte des Kapitalismus für Bewegung und Wandel sorgen. „Heute wird Ökonomie als etwas geradezu natürlich Gewachsenes be-trachtet, wir aber gingen immer davon aus, dass wirtschaftliche Prozesse gesell-schaftlich konstruiert sind“, sagt Boyer.

Das Fundament, in dem die jeweilige, in einer bestimmten Epoche gerade eviden-te kapitalistische Konstruktion verankert ist, besteht für Regulationisten aus staat-lichen Institutionen und Apparaten, so-zialen Beziehungen, bestimmten For-men des Massenkonsums und einem die Epoche prägenden Lebensstil: „Alle die-se Elemente machen das aus, was wir als Regulationisten zu einem bestimmten Zeitpunkt als aktuelle Ausformung des Kapitalismus begreifen.“

Ein System, das konstruiert ist, lässt sich also auch umbauen, das heißt politisch gestalten – vorausgesetzt, man versteht seine ihm immanenten Funktionslogi-ken. Und so wurde für Robert Boyer die Regulationstheorie zur Symbiose seiner aktivistischen Existenz als 68er und sei-nem wissenschaftlichen Interesse für den dem Kapitalismus inhärenten histori-schen Wandel. „Ich habe also begonnen, das Finanzsystem zu analysieren und war überrascht: Es war schwieriger zu verstehen als die Physik.“ Und so blieb Boyer siebenunddreißig Jahre lang am CEPREMAP, bis zu seiner Pensionie-rung 2008. Ab 1982 war er zudem Pro-fessor und Studiendirektor an der École des hautes études en sciences sociales in Paris, einer Hochschule, an der immer wieder sehr prominente Namen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften forschten und lehrten: Vom Historiker

Fernand Braudel über den Soziologen Pierre Bourdieu bis jüngst zum Ökono-men Thomas Piketty. Seit 2012 ist Boyer nun assoziierter Forscher am ebenfalls in Paris angesiedelten Institut des Amé-riques.

Während Boyer zu Beginn seiner akade-mischen Laufbahn noch gute Beziehun-gen in die Politik unterhielt – er war un-

ter anderem ökonomischer Berater im französischen Bauministerium, Experte in der Agentur für Planung und Recher-cheur im Finanzministerium – fühlt er sich diesbezüglich heute eher isoliert. Boyer kritisiert, dass für politische Öko-nomen, die gewisse Ansichten des Main-streams der Wirtschaftswissenschaften

nicht teilen, in den Beraterstäben der eu-ropäischen Regierungen der Gegenwart kein Platz mehr ist. Zudem gilt Frank-reich, in den 1960er-Jahren noch der Star unter den europäischen Ökonomien, heute als beinahe unreformierbar. Das ökonomische Denken, das hinter der Idee der „gemischten Volkswirtschaft“ der sechziger Jahre stand, bleibt deshalb

vielerorts diskreditiert. Und so hat sich in der westlichen Wirtschaftspolitik der letzten vierzig Jahre die angelsächsische Konkurrenz mit ihrer Krisenanalyse der 1970er-Jahre durchgesetzt. Die Ortho-doxen, die Neoliberalen dominieren heute die wirtschaftlichen Experten-komissionen der allermeisten westlichen Regierungen: „Wir haben seit den 1970er-Jahren eine Art Naturalisierung der Ökonomie erlebt“, sagt Robert Boyer, der Konstruktivist: „Die gegenwärtige Ausgestaltung der Wirtschaft wird in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr als etwas sozial konstruiertes begriffen, sondern als natürlich gewachsen hinge-nommen. Man glaubt nicht mehr an ihre politische Veränderbarkeit.“

Das mache sich auch in der Wissenschaft bemerkbar. Boyer beklagt eine „Balkani-sierung der Ökonomie“, einen Zerfall der Disziplin in viele, nicht mehr interagie-rende Teilbereiche, der Blick fürs syste-mische Fundament gehe verloren. Boyer stellt zudem ein Unverständnis gegen-über den Lehren anderer Sozialwissen-

schaften fest, eine Isolierung von der Emphase der Geisteswissenschaften für Ambivalenzen und die symbolische, weil sprachlich vermittelte Herstellung von Kultur und Gesellschaft. So verschließe sich die Wirtschaftswissenschaft dem Blick auf gesellschaftliche Prozesse, die mit rein ökonomischen Begriffen nicht zu fassen sind. „Für die allermeisten

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Regulationisten verstehen den Kapitalismus als ein ökonomisch-politisches System, das sich in einem andauernden endogenen Veränderungsprozess befindet.

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meiner Kollegen ist ein Ökonom per de-finitionem unabhängig von allen anderen Disziplinen.“

Vorschläge aus den Wirtschaftswissen-schaften zur Ausgestaltung einer be-stimmten Wirtschaftspolitik seien nur auf der Grundlage des Prinzips der öko-nomischen Rationalität möglich, das ei-gentlich umstritten sein müsste: „Öko-nom sein heißt heute, ausschließlich in den Kategorien der Rationalität und des Marktes zu denken.“ Boyer sieht in die-

ser Fixierung der orthodoxen Wirt-schaftswissenschaft auf die ökonomische Rationalität eine normative Annahme: „Alles Soziale und Politische wird aufs Ökonomische reduziert. Die ganze Pro-fession ist auf diese Weise sozialisiert und es gibt einen inhärenten Mechanis-mus, der dieses Selbstverständnis immer wieder reproduziert. Die, die damit nicht einverstanden sind, flüchten in die So-ziologie oder in die Geschichtswissen-schaft. Es gibt aber eine Alternative: „Wir müssen eine neue politische Ökonomie der Gegenwart entwickeln.“

Wie lebt es sich als Wissenschaftler, der mit dem Ziel begann, die Politik von der Ökonomie zu befreien und stattdessen die Ökonomisierung nicht nur der Poli-tik, sondern auch der Wissenschaft er-lebte? „Wir versuchten in der Tat, uns vom ökonomischen Joch zu befreien. Aber die Wirtschaft hat es geschafft, ei-nen derartigen Überfluss zu produzie-ren, dass das ökonomische Joch gar nicht mehr als solches wahrgenommen wird. Sie können sich vorstellen, wie groß die Enttäuschung eines politischen Ökono-men über diese Entwicklung sein muss.“ Auch der Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 hat aus der Sicht Robert Boyers an

dieser neuen Unangreifbarkeit der öko-nomischen Rationalität nicht viel geän-dert: „In einem Zeitraum von acht bis zwölf Monaten in den Jahren 2008 und 2009 spürte man eine neue Offenheit im ökonomischen Diskurs. Es wurde viel über die Rückkehr von Marx als dem Theoretiker des Kapitalismus geredet, von Keynes als dem Begründer der Ma-kro ökonomie, und von Minsky, dem brillanten Analytiker des Finanzkapita-lismus. Es hieß, sowohl das Wirtschafts-system wie auch die Wirtschaftswissen-schaften würden neu aufgebaut, die He-terodoxie gewinne ihre Berechtigung zu-rück.“ Dann kam der März 2010, die Staatsschuldenkrise erreichte mit der dro henden Zahlungsunfähigkeit Grie-chenlands einen ersten Höhepunkt, der sogenannte EU-Rettungsschirm wurde aufgespannt, Austeritätspläne imple-mentiert, mit dem sich die hochver-schuldeten Länder an den Rändern der Eurozone gesund sparen sollten.

Wenn Robert Boyer über das institutio-nelle Gefüge der Eurozone spricht, be-schreiben seine Hände große Bögen im Raum, verleiht seine Gestik den ausge-drückten Analysen Dreidimensionalität. Es scheint, als versuche Boyer verzwei-felt, ein aus dem Takt geratenes Orches-ter der falsch aufgestellten europäischen Institutionen, geboren aus historischen Irrtümern, dirigierend wieder in Ein-

klang zu bringen. „Es war schon 2010 klar, dass Griechenland seine Schulden nie wird zurückzahlen können. Anstelle der Austeritätspolitik hätten wir einen neuen Marshallplan entwerfen sollen. Es wäre viel einfacher gewesen, die griechi-schen Schulden zu restrukturieren, also zu erlassen.“

Der historische Fehler in der Konstrukti-on der Eurozone wurde gemäß Boyer

aber schon viel früher begangen, noch zu Zeiten ihrer Gründerväter François Mit-terand und Helmut Kohl. Das Ziel einer gemeinsamen Währung war in erster Li-nie ein politisches: „Die beiden wollten auf der Grundlage einer gemeinsamen europäischen Währung die politische In-tegration vorantreiben.“ Doch heute zeigt sich, sie erreichten – Treppenwitz der eu-ropäischen Integrationsgeschichte – das Gegenteil: Die gemeinsame Währung, in deren Konstruktion kein Platz für regio-nale Eigenheiten verschiedener politi-scher Ökonomien bleibt, spaltet das ur-sprüngliche Friedensprojekt Europa heu-te vielmehr als dass es die Nationen näher zusammenrücken lässt. „Eine gemeinsa-me Währung sollte nie der Beginn eines Integrationsprozesses sein, sondern des-sen Abschluss“, meint Boyer.

Da man in der Eurozone achtzehn unter-schiedliche ökonomische Systeme homo-genisieren wollte, anstatt nach ökonomi-schen Mechanismen zu fragen, die der Heterogenität Europas und seiner Volks-wirtschaften gerecht werden würden, treibt man die Nationen nun erst recht auseinander: „Alle sollten so funktionie-ren wie die Deutschen“, sagt Boyer, „Ex-portweltmeister sein. Aber das geht nicht! Dann hätten wir in Europa einen völlig unhaltbaren Handelsbilanzüberschuss – viel mehr noch als in China!“ Was Europa hätte zusammenbringen sollen, hat es nun

also gespalten. Boyer ist nicht der einzige, der jetzt eine Renationalisierung, ein Jahr-zehnt der wirtschaftlichen Stagnation und des politischen Nationalismus befürchtet. Wie tröstet sich jemand, von dessen theo-retischem Denken die Praxis nichts wissen will: „Ich finde bei Michel Foucault Zu-flucht: ‚Travailler c’est entreprendre de penser autre chose que ce qu’on pensait avant.‘“ – Arbeiten heißt, den Versuch zu unternehmen, anders zu denken als zuvor.

Forscherportrait GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

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„Eine gemeinsame Währung sollte nie der Beginn eines Integrationsprozesses sein, sondern dessen Abschluss.“

„Wir müssen eine neue politische Ökonomie der Gegenwart entwickeln.“

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Nachrichten

Robert Boyer ist Scholar in Residence 2014/2015

Im Frühjahr 2015 war Professor Robert Boyer, Associate Professor am Institut des Amériques in Vanves, Frankreich, als Scholar in Residence Gast am MPIfG. Während seines Aufenthalts in Köln bot er in seiner Vortragsreihe „Economic Theory Facing Major Changes and Syste-mic Crises: An Analytical and Social

History of Macroeconomics“ drei Vorträge zur Aufgabe der Wirtschaftstheorie in Zeiten globaler Finanz- und Wirtschafts-krisen an. Hierin kritisierte er die bei Theoretikern und Politi-kern verbreitete Ansicht, dass die aktuelle Krise der Eurozone ein außergewöhnliches Vorkommnis mit keinerlei Folgen für die Wirtschaftstheorie darstelle, und diskutierte mögliche Ant-worten auf die Frage, warum Ökonomen nicht in der Lage wa-ren, die Krise rechtzeitig als solche zu erkennen. Das MPIfG lädt jährlich einen führenden Wissenschaftler oder eine füh-rende Wissenschaftlerin aus den Politik-, Wirtschafts- und So-zialwissenschaften für sechs Monate an das Institut ein. Schol-ars in Residence verfolgen ein Forschungsprojekt, das thema-tisch an die Schwerpunkte der Forschung am MPIfG an-schließt.

Scholars in Residence am MPIfG www.mpifg.de/forschung/SiR_de.aspVortragspodcasts www.mpifg.de/aktuelles/veranstaltungen/SiR_podcasts_de.aspKonferenzbericht S. 24

Cornelia Woll in den Vorstand der Sciences Po berufen

Im September 2015 übernimmt Cornelia Woll die Leitung der Abteilung Studium und Lehre der Sciences Po (Direction des études et de la scolarité) und wird damit als Vizepräsidentin Mitglied des vierköp-figen Vorstands an der Pariser Hoch-schule. In dieser Position trägt sie die Verantwortung für Curricula und strate-

gische Weiterentwicklung des grundständigen Studiums und der acht Graduate Schools der Sciences Po sowie für die Auf-nahme-, Studien- und Prüfungsangelegenheiten für alle Studi-engänge von zurzeit 13.000 Studierenden. Cornelia Woll ist Professorin für Politikwissenschaft an der Sciences Po und Ko-direktorin des Max Planck Sciences Po Centers on Coping with Instability in Market Societies in Paris.

Cornelia Woll tinyurl.com/woll-sciencespoMaxPo www.maxpo.eu

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Nachrichten

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Finanzialisierung Gemeinsamer Workshop von MPIfG und Sciences Po

Im April luden Sciences Po und MPIfG zu einem weiteren ge-meinsamen Workshop der Reihe „States and Markets“ nach Köln. Das Thema „Politik und Gesellschaft im Zeitalter der Fi-nanzialisierung“ gab rund zwanzig Forscherinnen und For-schern der Politik- und Sozialwissenschaften aus Deutschland und Frankreich Gelegenheit zu einem Austausch und zur Dis-kussion ihrer Forschungsergebnisse. Die Beiträge behandelten verschiedene Aspekte der Auswirkungen der Finanzkrise auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft und der Möglichkeiten der Regulierung von Finanzmärkten. Organisiert wurde der Work-shop von Jens Beckert, Direktor am MPIfG, und Olivier Go-dechot, Kodirektor am Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) in Paris.

Konferenzbericht S. 25

Jens Beckert Externes Fakultätsmitglied der Columbia University Seit März 2015 ist Jens Beckert Externes Fakultätsmitglied am Center on Organizational Innovation an der Columbia Univer-sity, New York. Das von David Stark geleitete Center ist Teil des Institute for Social and Economic Research and Policy und be-schäftigt sich mit den neuen Formen der Kollaboration, Kom-munikation und Koordination, die durch interaktive Technolo-gien entstehen. Die Columbia University ist eine langjährige Kooperationspartnerin des MPIfG.

Legalität und Illegalität auf Märkten Internationale Konferenz am MPIfG

Illegale und legale Märkte sind nicht so klar voneinander zu trennen, wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn Marktaktivi-täten nicht legal, aber legitim sind, werden die Grenzen frag-lich. Das Verhältnis von Legalität und Illegalität auf Märkten war Thema der interdisziplinären Konferenz „Interfaces be-tween Legality and Illegality in Markets“, die im Februar 2015 am MPIfG stattfand. Forscher aus Europa, Afrika und den USA diskutierten die Schnittstellen von illegalen und legalen Marktaktivitäten mit Blick auf so verschiedene Märkte wie die Diamantenproduktion in Sierra Leone oder Finanzmärkte in der westlichen Welt. Organisiert wurde die Veranstaltung von Jens Beckert und Matías Dewey. Zurzeit widmen sich fünf For-schungsprojekte am MPIfG dem Thema „Illegale Märkte“.

Konferenzbericht S. 26Forschung des MPIfG zu illegalen Märkten tinyurl.com/beckert-forschung

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

Lukas Haffert erhält Otto-Hahn-Medaille 2014

Lukas Haffert wurde für seine Dissertati-on „Freiheit von Schulden – Freiheit zur Gestaltung? Die politische Ökonomie von Haushaltsüberschüssen“ mit der Ot-to-Hahn-Medaille der Max-Planck-Ge-sellschaft (MPG) ausgezeichnet. Seine Analyse von Ländern, die dauerhaft Haushaltsüberschüsse erwirtschaften,

ergab, dass selbst umfangreiche Haushaltsüberschüsse die zu-nehmende Erosion staatlicher Gestaltungsfähigkeit kaum auf-halten können. Die Otto-Hahn-Medaille der MPG für heraus-ragende Leistungen junger Wissenschaftler ist mit einem Anerkennungsbetrag von 7.500 Euro verbunden und soll be-sonders begabte Nachwuchswissenschaftler zu einer späteren Hochschul- oder Forscherkarriere motivieren. Der Preis wurde während der Jahresversammlung der MPG im Juni 2015 in Berlin verliehen. Lukas Haffert war von 2010 bis 2014 Dokto-rand am MPIfG und ist heute Oberassistent am Institut für Po-litikwissenschaften der Universität Zürich.

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Nachrichten

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Zeitschriftenpreis geht an Leonhard Dobusch und Sigrid QuackLeonhard Dobusch und Sigrid Quack erhielten für ihren Arti-kel „Framing Standards, Mobilizing Users: Copyright versus Fair Use in Transnational Regulation“ (Review of International Political Economy 2013) den Zeitschriftenpreis 2014 des Ver-eins der Freunde und Ehemaligen. Der Preis ist mit 750 Euro dotiert und wird für den besten Artikel einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters des MPIfG in einer begutachteten Fachzeitschrift vergeben. Nach einer Laudatio von Arndt Sorge überreichte Werner Eichhorst, Sprecher des Vorstands des Ver-eins, die Urkunde im Rahmen des Mitgliedertreffens am 30. November 2014 in Köln.

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

Das Gespenst der Unregierbarkeit Tagung zu Konzepten politischer Steuerung seit den 1970er-Jahren

Historiker, Sozial- und Kulturwissenschaftler trafen sich im April 2015 zur Tagung „Das Gespenst der Unregierbarkeit und der Traum vom guten Regieren“ am MPIfG. Ziel der Konferenz war es, Transformationen des Regierungshandelns von der Erosion des Planungsoptimismus in den 1970er-Jahren bis zur Gegenwart zu analysieren. Vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume des Regie-rens wurden Schlüsselkonzepte guten Regierens und politi-scher Steuerung sowie neue Formen der Gouvernementalität und Selbststeuerung diskutiert. Die Veranstaltung wurde von Ariane Leendertz, Forschungsgruppenleiterin am MPIfG, Martin Geyer, Universität München, und Ulrich Bröckling, Universität Freiburg, organisiert.

Konferenzbericht S. 27

Workshop zur Governance von FinanzmarktreformenWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa und den USA trafen sich im Dezember 2014 zum Autorenworkshop „Multilevel Governance of Financial Market Reform“. Sie arbei-ten an einem Buch, das sich mit dem Zusammenspiel lokaler, regionaler und internationaler Institutionen bei der Regulie-rung von Finanzmärkten befasst. Renate Mayntz, Gründungs-direktorin des MPIfG, organisierte den Workshop. Der Work-shop setzt die Arbeit eines von ihr geleiteten internationalen und interdisziplinären Netzwerkprojekts fort, das mit Studien zu transnationalen Gremien und einzelnen Regelungsberei-chen, wie etwa Ratingagenturen, dazu beigetragen hat, ein um-fassendes Bild der hoch komplexen Prozesse globaler Finanz-marktregulierung zu zeichnen. Das Buch wird Ende 2015 in der Schriftenreihe des MPIfG im Campus Verlag erscheinen.

Caspar Dohmen und Dominik Gross sind Journalists in Residence

Caspar Dohmen (l.), freier Wirtschafts-journalist aus Berlin, und Dominik Gross, freier Journalist aus Zürich, waren im Frühjahr und Som-mer 2015 Gäste des

MPIfG. Caspar Dohmen beschäftigte sich im Rahmen seines Journalist in Residence Fellowship mit den Auswirkungen der zunehmenden Automatisierung und Vernetzung auf die globa-le Arbeitsverteilung und die Gesellschaft, die aktuell unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ diskutiert werden. Im Zen trum der Recherchen von Dominik Gross standen aktuelle Debatten zur Eurokrise und speziell die Frage, ob der gegen wärtige Legiti-mationsverlust der repräsentativen Demokratie(n) in Europa auch eine Krise linker politischer Perspektiven ist. Mit dem Journalist in Residence Fellowship bietet das MPIfG Journalis-tinnen und Journalisten die Möglichkeit eines Gastaufenthalts von bis zu drei Monaten. Ziel ist es, den Dialog zwischen Sozi-alwissenschaften und Gesellschaft zu stärken und die journalis-tische Arbeit zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen zu fördern.

Journalist in Residence Fellowship www.mpifg.de/service/pressestelle/jir_de.asp

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MPIfG BücherMarius R. BusemeyerSkills and Inequality: Partisan Politics and the Political Economy of Education Reforms in Western Welfare States.Cambridge: Cambridge University Press, 2015 | 312 SeitenISBN 978-1-1070-6293-1 | $ 99.00 (gebundene Ausgabe)ISBN 978-1-31605-779-7 | $ 79.00 (Epub)

Skills and Inequality studies the politi-cal economy of education and training reforms from the perspective of compar-ative welfare state research. Highlight-ing the striking similarities between es-tablished worlds of welfare capitalism and educational regimes, Marius R. Bu-semeyer argues that both have similar political origins in the postwar period.

He identifies partisan politics and different varieties of capital-ism as crucial factors shaping choices about the institutional design of post-secondary education. The political and institu-tional survival of vocational education and training as an al-ternative to academic higher education is then found to play an important role in the later development of skill regimes. Busemeyer also studies the effects of educational institutions on social inequality and patterns of public opinion on the welfare state and education. Adopting a multi-method ap-proach, this book combines historical case studies of Sweden, Germany, and the United Kingdom with quantitative analyses of macro-level aggregate data and micro-level survey data.

MPIfG Journal ArticlesAbstracts und Download www.mpifg.de/pu/journal_articles_de.asp

Felipe GonzálezWhere Are the Consumers? „Real Households” and the Financialization of Consumption. In: Cultural Studies, online veröffentlicht, 6. März 2015, DOI: 10.1080/09502386.2015.1017144.

Lukas Haffert und Philip MehrtensFrom Austerity to Expansion? Consolidation, Budget Surpluses, and the Decline of Fiscal Capacity. In: Politics and Society 43(1), 2015, 119–148.

Martin HöpnerDer integrationistische Fehlschluss. In: Leviathan 43(1), 2015, 29–42.

Lisa Kastner„Much Ado about Nothing?” Transnational Civil Society, Consumer Protection and Financial Regulatory Reform. In: Review of International Political Economy 21(6), 2014, 1313–1345.

Ariane LeendertzMedialisierung der Wissenschaft: Die öffentliche Kommunikation der Max-Planck-Gesellschaft und der Fall Starnberg (1969–1981). In: Geschichte und Gesellschaft 40(4), 2014, 555–590.

Mark LutterDo Women Suffer from Network Closure? The Moderating Effect of Social Capital on Gender Inequality in a Project-based Labor Market, 1929 to 2010. In: American Sociological Review 80(2), 2015, 329–358.

Philip Mader und Sophia SabrowArmutsbekämpfung als Mythos und Zeremonie? Ursachen und Logiken eines Strategiewechsels in der Mikrofinanz. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 7(2), 2014,175–198.

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Neuerscheinungen GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

Bücher, Journal Articles und Discussion Papers

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NeuerscheinungenGESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

Michael A. McCarthyPolitical Mediation and American Old-Age Security Exceptionalism. In: Work and Occupations 41(2), 2014, 175–209.

Michael A. McCarthyTurning Labor into Capital: Pension Funds and the Corporate Control of Finance. In: Politics and Society 42(4), 2014, 455–487.

Sidonie NaulinLe plaisir affranchi de la nécessité? La représentation de l’alimentation dans le magazine Cuisine et Vins de France (1947–2010). In: Sociologie et Sociétés 46(2), 2014, 109–131.

Thomas PasterWhy Did Austrian Business Oppose Welfare Cuts? How the Organization of Interests Shapes Business Attitudes Toward Social Partnership. In: Comparative Political Studies 47(7), 2014, 966–992.

Fritz W. ScharpfAfter the Crash: A Perspective on Multilevel European Democracy. In: European Law Journal, online veröffentlicht, 25. Februar 2015, DOI: 10.1111/eulj.12127.

Fritz W. ScharpfDas Dilemma der supranationalen Demokratie in Europa. In: Leviathan 43(1), 2015, 12–28.

Cornelia Woll und Emiliano GrossmanSaving the Banks: The Political Economy of Bailouts. In: Comparative Political Studies 47(6), 2014, 574–600.

MPIfG Discussion PapersAbstracts und Download www.mpifg.de/pu/discpapers_de.asp

Adel Daoud, Björn Halleröd und Deberati Guha SapirReoccurring Natural Disasters, Quality of Government, and Severe Child Deprivation. MPIfG Discussion Paper 15/5.

Barbara FuldaCulture’s Influence: Regionally Differing Social Milieus and Variation in Fertility Rates. MPIfG Discussion Paper 15/4.

Thomas PasterBringing Power Back In: A Review of the Literature on the Role of Business in Welfare State Politics. MPIfG Discussion Paper 15/3.

Stefan SvallforsPolitics as Organized Combat: New Players and New Rules of the Game in Sweden. MPIfG Discussion Paper 15/2.

Wolfgang StreeckThe Rise of the European Consolidation State. MPIfG Discussion Paper 15/1.

Fritz W. ScharpfAfter the Crash: A Perspective on Multilevel European Democracy. MPIfG Discussion Paper 14/21.

MaxPo Discussion PapersAbstracts und Download www.maxpo.eu/publications.asp

Cornelia WollPolitics in the Interest of Capital: A Not-So-Organized Combat. MaxPo Discussion Paper 15/2.

Laure Lacan und Jeanne LazarusA Relationship and a Practice: On the French Sociology of Credit. MaxPo Discussion Paper 15/1.

Aktuelle Publikationen des MPIfG www.mpifg.de/pu/mpifg_pub_de.asp

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Das MPIfG lädt jährlich eine führende Wissenschaftlerin oder einen führenden Wissenschaftler aus den Politik-, Wirt-schafts- oder Sozialwissenschaften an das Institut ein. Scholars in Residence verfol-gen ein Forschungsprojekt, das thematisch an die Schwerpunkte der Forschung am MPIfG anschließt, und bieten während ih-res Aufenthaltes eine Vortragsreihe an. In diesem Jahr spannte Robert Boyer in sei-nen Scholar in Residence Lectures einen weiten Bogen. Seine Ausführungen reich-ten von der Beschreibung ökonomischer Visionen, die der wirtschaftlichen Integra-tion in Europa zugrunde gelegen haben, über die Geschichte makroökonomischen Denkens seit der Großen Depression bis zur systematischen Einordnung der Wirt-schafts-, Finanz- und Eurokrise des letzten Jahrzehnts. Die Fragestellung, mit der Bo-yer seine Beobachtungen zusammenhielt, zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes wissenschaftliches Werk: Wie sollen sozialwissenschaftliche Theorien mit einer notorisch beweglichen, poli-tisch-ökonomischen Wirklichkeit umge-hen?

Im Vergleich mit vielen seiner früheren Beschäftigungsfeldern – etwa den makro-ökonomischen Krisen der 1970er-Jahre, dem Ende der Blütezeit fordistischer

Wachstumsregime in reichen Industrielän-dern, der Innovation und dem technischen Wandel in kapitalistischen Gesellschaften oder der wirtschaftlichen Globalisierung – stellt das makroökonomische Denken der letzten dreißig Jahre für Boyer eine Art Ausreißer dar. Trotz massiver wirtschaftli-cher und sozialer Verwerfungen und noch vor einem Jahrzehnt für undenkbar gehal-tener staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft weise das makroökonomische Denken ei-nen eigentümlichen Konservatismus auf. Statt chronisch instabile Finanzmärkte, systemische Krisen, internationale Un-gleichgewichte sowie regionale und histo-rische Wirtschaftsregime als systematische Irritationen aufzunehmen, auf deren Basis Theorien ökonomischer Entwicklung revi-diert und weiterentwickelt werden könn-ten, kopple sich die makroökonomische Modell- und Theoriebildung zunehmend von der Wirklichkeit ab. Das Resultat sei eine professionelle Spaltung zwischen em-pirischer Forschung und fundamentaler Theoriebildung sowie eine unüberblickba-re Menge an systematisch folgenlosen Ad-hoc-Hypothesen. Um diese Entwick-lung zu erklären, griff Boyer auf professi-onssoziologische Ideen zurück: Das Feld belohne Konformität, technische Eleganz und geringfügige Variationen in einzelnen Modellannahmen. Anreize für die Arbeit an paradigmatischem Wandel seien jedoch gering.

Boyers Geschichte der Makroökonomik zielte nicht bloß auf ein wissenschaftsso-ziologisches Problem. Wie er anhand der letzten Jahrzehnte europäischer Integrati-on deutlich machte, gingen von der mo-dernen Makroökonomik auch politische Versprechen aus. Deregulierung, Wettbe-werbsschaffung, monetäre Integration und

fiskale Disziplin würden über wirtschaftli-ches Wachstum politische Unterstützung für eine Vertiefung der Europäischen Uni-on schaffen. Tatsächlich aber, argumentier-te Boyer, sei das Gegenteil eingetreten. Nach einem guten Stück angebotspoliti-scher Integration seien internationale Un-gleichgewichte nur gewachsen, Quellen wirtschaftlicher Instabilität zahlreicher ge-worden und die Gesellschaften im Süden Europas in eine schwere Depression gera-ten. Statt zu einem Quell der Einigung ha-be sich das ökonomische Integrationsmo-dell der Europäischen Union zur Grundla-ge von politischen Spaltungen entwickelt, die nun selbst die ursprüngliche wirt-schaftliche Integration infrage zu stellen scheinen.

Boyers Vorlesungen knüpften in vielerlei Hinsicht an die Forschung des MPIfG an. In den Anschlussdiskussionen zu seinen Gedanken wurden Probleme der Theorie-bildung in den Sozialwissenschaften, die Rolle von Institutionen in der Makroöko-nomik sowie die Schwierigkeiten neuer pa-radigmatischer Grundlagen der wirt-schaftlichen Integration in Europa erörtert. Neue makroökonomische Theorien, so könnte man die Diskussionen zusammen-fassen, wären sicher kein Allheilmittel für die politischen und wirtschaftlichen Kri-sen, die Europa plagen, sie könnten aber immerhin Verständigungsgrundlagen für eine problemorientierte Politik wirtschaft-licher Integration darstellen.

Timur Ergen

Vortragspodcasts der Scholar in Residence Lectures www.mpifg.de/aktuelles/veranstaltungen/SiR_podcasts_de.asp

Veranstaltungen GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

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Die ökonomische Theorie in Zeiten systemischer Krisen: Zur analytischen und sozialen Geschichte der MakroökonomieDie Scholar in Residence Lectures von Robert Boyer15., 22. und 29. April 2015

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Politics and Society in the Age of FinancializationStates and Markets VII – Joint Sciences Po – MPIfG Conferences16. bis 17. April 2015

Im April lud das MPIfG zum gemeinsa-men Workshop mit dem Max Planck Sciences Po Center on Coping with In-stability in Market Societies (MaxPo) und der Sciences Po Paris zur Diskussion über „Politics and Society in the Age of Financialization“ ein. Der jährliche Workshop im Rahmen der Konferenz-reihe „States and Markets“ dient dem Ausbau der Zusammenarbeit zwischen den Instituten. Während der zweitägigen Konferenz hatten auch Nachwuchswis-senschaftler die Möglichkeit, ihre For-schungsprojekte vorzustellen und wert-volle Einschätzungen von etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-lern zu erhalten.

Olivier Godechot (MaxPo) erläuterte in seinem einführenden Vortrag verschie-dene Dimensionen von Finanzialisie-rung. Sie beschränke sich nicht nur auf den Finanzsektor, sondern weite sich im-mer mehr auch auf andere Sektoren aus. Es sei wichtig, nicht nur die Ursachen von Finanzialisierung als sozialem Phä-nomen zu erforschen, sondern auch Konsequenzen zu analysieren und die Frage nach möglicher politischer Inter-vention zu stellen.

Martino Comelli (MaxPo) präsentierte sein Dissertationsprojekt „Haushaltsver-schuldung in kapitalistischen Marktwirt-schaften“ und Daniel Mertens (Goethe- Universität Frankfurt) gab Einblicke in Finanzialisierungsprozesse in Deutsch-land. Felipe González (MPIfG) beantwor-tete die Frage, warum sich Verbraucher-kredite in Chile zunehmender Beliebt-heit erfreuen, und Simon Bittman vom Centre de sociologie des organisations der Sciences Po (CSO) zeigte anhand ei-

ner vergleichenden historischen Studie zu Atlanta und Chicago, wie sich der Markt für Verbraucherkredite in den 1920er-Jahren in den USA entwickelt hat.

Sabine Montagne und Philipp Korom (Université Paris-Dauphine und MPIfG) beschäftigten sich mit der Finanzialisie-rung in den USA. Wie relevant juristi-sche Entwicklungen der Treuhandgesell-schaften für die Finanzialisierung von Pensionsfonds in den USA sind, stellte Montagne heraus. Korom dagegen er-klärte, wie sich das Vermögen superrei-cher Personen, die in den „Forbes 400“ aufgelistet werden, zusammensetzt. Ein interessantes Ergebnis: Millionäre, die in eine reiche Familie geboren werden, ha-ben bessere Chancen, ihr Vermögen zu erhalten, als jene, deren Vermögensbil-dung dem American Dream ähnelt.

Pierre François und Claire Lemercier (bei-de CSO, Sciences Po) stellten ihre Arbeit zur Entwicklung der französischen Un-ternehmenselite seit den 1950er-Jahren vor. Demnach habe sich die Finanzialisie-rung französischer Unternehmen vollzo-gen, ohne dass sich die Konzernleitungen personell wesentlich veränderten. Ebenso hat sich im Machtgefüge verschiedener Leitungsfunktionen trotz Finanzialisie-rung wenig geändert.

Leon Wansleben, Benjamin Braun und Pierre Pénet erörterten die Rolle von geldpolitischen Institutionen in der Fi-nanzialisierung. Wansleben (London School of Economics, LSE) zeigte, wie sich die Interaktion von Schweizer Ban-ken mit der Zentralbank, dem Finanzmi-nisterium und staatlichen Regulierungs-

stellen seit den 1970er-Jahren entwickelt hat. Braun (MPIfG) beleuchtete die Be-deutung der Zentralbanken im Euro-raum bei der Schaffung von Märkten für neuartige Schuldpapiere. Viel diskutiert wurde Pénets (OSC/CSO, Sciences Po) These, dass Ratingagenturen ihre Bewer-tungen von Wertpapieren veränderten, wenn Zentralbankregelungen zur Refi-nanzierung sie dazu zwingen, eine öf-fentliche Funktion zu erfüllen. Dies füh-re in Krisenzeiten dazu, dass Ratingagen-turen ihre Vorhersagen zur Entwicklung von Anleihen und ihre Entscheidungen, Papiere herabzustufen, nicht mehr allein von makroökonomischen Theorien ab-leiteten, sondern mehr und mehr von dem aktuell erwünschten Anleihenwert. Schließlich stellte Solomon Zori (MPIfG) die Ergebnisse seiner Dissertation zu in-ternationalen Rechnungslegungsstan-dards in Afrika vor.

Lisa KastnerInga Rademacher

GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15 Veranstaltungen

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Interfaces between Legality and Illegality in Markets Internationale Konferenz5. und 6. Februar 2015

Illegale und legale Märkte sind nicht so klar voneinander zu trennen, wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn Markt-aktivitäten nicht legal, aber legitim sind, werden die Grenzen fraglich. Das Ver-hältnis von Legalität und Illegalität auf Märkten war Thema der zweitägigen, von Jens Beckert und Matías Dewey (beide MPIfG) organisierten interdiszi-plinären Konferenz „Interfaces between Legality and Illegality in Markets“, die im Februar 2015 am MPIfG stattfand. An-hand von sehr unterschiedlichen empiri-schen Untersuchungsgegenständen dis-kutierten Forscherinnen und Forscher aus Europa, Afrika und den USA die Schnittstellen legaler und illegaler Marktaktivitäten mit Blick auf organisa-torische, politische und kulturelle As-pekte.

Keith Hart (London School of Econo-mics und University of Pretoria, Südafri-ka) führte mit seinem Vortrag über De-regulierung, Informalisierung und „glo-bales Geld“ thematisch in die Konferenz ein. Kirsten Endres (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle) er-

öffnete mit ihrer Arbeit über den Mong Cai Border Market, den größten staatlich kontrollierten Markt Vietnams an der Grenze zu China, den ersten Teil der Konferenz, „Contested Illegality: Tolera-ting or Combating Illegal Market Ex-changes?“. Matías Dewey (MPIfG) prä-sentierte die Ergebnisse seiner For-schungsarbeit zur Rolle der Behörden bei der Kontrolle von Illegalität auf dem argentinischen Bekleidungsmarkt, und Philippe Steiner (Université Paris-Sor-bonne) erläuterte, was illegale Transakti-onen im Bereich des Organspende-markts bedeuten und wie sie durchge-führt werden. Nina Engwicht (MPIfG) diskutierte das Verhältnis von Legalität und Legitimität im Diamantenmarkt von Sierra Leone und Simon Mackenzie (Uni-versity of Glasgow) sprach über die Er-gebnisse zweier Fallstudien über den grauen Markt gestohlener Kulturobjekte. Annette Hübschle (MPIfG) schloss den ersten Teil der Konferenz mit Erkennt-nissen aus ihrer Dissertation über die Rolle des Staates und von Naturschut-zexperten beim Handel mit Rhinoze-roshorn.

Das erste Panel des zweiten Teils der Konferenz, „Camouflaging Illegality: Il-legal Market Transactions in Legal Con-texts“, trug den Titel „Organized crime“ und wurde von Renate Mayntz eröffnet. Sie widmete sich mit den konzeptionel-len Grenzen zwischen legalen und illega-len Aktionssystemen und einigen zentra-len analytischen Dimensionen bei der Untersuchung illegaler Märkte. An-schließend schilderte Vadim V. Radaev (Higher School of Economics, Moskau) die Entwicklung illegaler Märkte für Al-kohol in Russland und stellte eine Klassi-fizierung für illegale Alkoholmärkte vor. Paolo Campana (Cambridge University) präsentierte seine Analyse eines zwi-schen Nigeria und Europa agierenden be deutenden Menschenhändlerrings, und Boris Samuel (CERI, Sciences Po, Paris) diskutierte die politische Sozio-logie von Preissetzungsprozessen und den damit verbundenen illegalen Macht-beziehungen in Afrika und der Karibik. Zu Beginn des zweiten Panels „Financial crime“ zeigte Michael Levi (University of Cardiff) auf, wie Aktivitäten, die mit Fi-nanz- oder Wirtschaftskriminalität in Verbindung gebracht werden, in unter-schiedlicher Weise gesetzlich kriminali-siert und in der Praxis kontrolliert wer-den. Ronen Palan (City University Lon-don) stellte seine Arbeit zur Off shore-Ökonomie vor und unterstrich, dass dieser Wirtschaftszweig in Zukunft an Bedeutung gewinnen werde. Die Konfe-renz schloss mit einem Vortrag von Peter Reuter (University of Maryland) zur Be-deutung von Gewalt auf Drogenmärk-ten. Die Ergebnisse der Konferenz sollen in einem Sammelband veröffentlicht werden. Die unterschiedlichen Perspek-tiven und Herangehensweisen der Auto-rinnen und Autoren versprechen neue Forschungsansätze für die Untersuchung illegaler Märkte.

Matías Dewey

Konferenzwebsite www.mpifg.de/projects/illegalityForschung des MPIfG zu illegalen Märkten tinyurl.com/beckert-forschung

Veranstaltungen GESELLSCHAFTSFORSCHUNG 1.15

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Die unmittelbare Vorgeschichte unserer Gegenwart, die Zeit seit den 1970er-Jah-ren, wird in der Zeitgeschichte aktuell als eine Phase qualitativer Veränderungen, vielleicht gar revolutionärer Umbrüche, diskutiert. Die Konferenz „Das Gespenst der Unregierbarkeit und der Traum vom guten Regieren“ am MPIfG fragte daher nach Konzepten politischer Steuerung seit diesem Jahrzehnt und deren Verän-derung nach dem Boom der Nachkriegs-jahre.

Nach einleitenden Vorträgen der Orga-nisatoren Ariane Leendertz (MPIfG), Martin Geyer (Ludwig-Maximilians- Universität München) und Ulrich Bröck-ling (Universität Freiburg) präsentierte Jan Hansen (Humboldt-Universität zu Berlin) seine Untersuchungen zum gro-ßen Streit um die Nachrüstung in den 1980er-Jahren. Er vertrat dabei die The-se, dass es bei den heftigen Debatten in der Bundesrepublik nur vordergründig um die Stationierung von Atomwaffen gegangen sei. Vielmehr seien in den Aus-einandersetzungen grundsätzlich unter-schiedliche Politikvorstellungen und Staatsverständnisse aufeinandergetrof-fen. Anschließend widmete sich Thomas Handschuhmacher (Universität zu Köln) der Entstaatlichung als Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsgeschehen in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre. Er konstatierte eine Diskrepanz zwischen hochfliegenden Entstaatlichungszielen und Enttäuschungen hinsichtlich der praktischen Umsetzung derselben. Julia Angster (Universität Mannheim) ver-knüpfte den Wandel von Staatsdenken und Staatlichkeit mit dem Problem des Verlustes politischer Steuerungsfähigkeit unter den Bedingungen globaler Ver-flechtung. Sie deckte dabei in globalge-

schichtlicher Perspektive einen Zeitraum vom Beginn der Hochmoderne in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis ins einundzwanzigste Jahrhundert ab. Politische Verständnisse von Nachhaltig-keit waren Gegenstand der Präsentation von Elke Seefried (Institut für Zeitge-schichte München – Berlin). Sie zeichne-te den Wandel von der Idee des qualitati-ven Wachstums zur nachhaltigen Ent-wicklung im Laufe der 1980er-Jahre nach. Henning Tümmers (Universität Tü-bingen) konzeptualisierte die AIDS-Poli-tik der Bundesregierung in den 1980er-Jahren als Vertrauenspolitik und als Appell an das präventive Selbst. Der Aufstieg der Verhaltensökonomie, be-hav ioral economics, seit den 1980er-Jah-ren war Thema der Präsentation von Rü-diger Graf (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam). Mithilfe eines gou-verne men ta litäts theoretischen Zugriffs stand dabei die Frage im Mittelpunkt, welche Auswirkungen der Aufstieg der Verhaltensökonomie (zum Beispiel beim Einsatz von nudges, sanften Schubsern) auf die Praxis des Regierens hatte.

Mit dem Psychoboom der langen 1970er-Jahre und dessen Bedeutung für eine Transformation von Gouvernemen-talität beschäftigte sich Jens Elberfeld (Universität Bochum). Er untersuchte psychologische sowie therapeutische Praktiken und betonte die Rolle kyber-netischer Steuerungstechniken gerade nach dem Ende des Steuerungsparadig-mas der 1960er-Jahre. Bernhard Rieger (University College London) kokettierte in Anlehnung an ein Zitat des ehemali-gen Bundeskanzlers Gerhard Schröder mit einem „Recht auf Faulheit“. Er analy-sierte damit eine Debatte um die Zumut-

barkeit von Arbeit in der Bundesrepub-lik beziehungsweise um die Verände-rung der Zumutbarkeitskriterien, seit diese 1978 zum ersten Mal festgeschrie-ben worden waren. Mit einem mikroso-ziologischen Ansatz wertete Peter Münte (Universität Bielefeld) den Wandel des Regierens mittels Verfahren zur Bürger-beteiligung aus, die seit 1970 zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Eine Tiefenanalyse von Interviews mit Dienst-leistungsunternehmern, denen die Durchführung dieser Verfahren übertra-gen worden war, lieferte dabei sowohl Erkenntnisse über deren Selbstentwürfe als auch über neue Formen politischen Handelns.

Die anregenden Zwischendiskussionen machten ebenso wie die lebhafte Ab-schlussdiskussion deutlich, dass die zeit-historische Konzeptualisierung einer Zeit nach dem Boom noch lange nicht abgeschlossen ist. Die im Rahmen der Tagung vorgestellten Projekte leisten hierfür wertvolle Beiträge.

Daniel Monninger

Konferenzprogramm www.mpifg.de/aktuelles/doks/201504_Programm-Unregierbarkeit.pdf

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Das Gespenst der Unregierbarkeit und der Traum vom guten Regieren: Konzepte politischer Steuerung seit den 1970er-JahrenKonferenz23. und 24. April 2015

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Donnerstag, 9. Juli 2015 Eine Problemgeschichte der Gegenwart schreiben: Beobachtungen im Niemandsland zwischen Politischer Ökonomie, Zeitgeschichte und SoziologieLutz Raphael, Universität Trier Öffentlicher Vortrag

Dienstag, 20. Oktober 2015tbaKlaus Weber, Kellogg School of Management, Northwestern UniversityÖffentlicher Vortrag

Dienstag, 10. November 2015Faire FinanzindustrieFünfte wissenschaftliche Tagung mit dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln

Dienstag, 8. Dezember 2015The National Competitiveness Revolution and the Race to Below the BottomJohn Christensen, Tax Justice Network Öffentlicher Vortrag

MPIfG Lectures zum NachhörenÖffentliche Vorträge und weitere Veranstaltungen des MPIfG als Audio-Podcasts www.mpifg.de/aktuelles/veranstaltungen/podcasts_de.asp

Aktuelle Veranstaltungen am MPIfGwww.mpifg.de/aktuelles/veranstaltungen_de.asp

InstitutstagDonnerstag und Freitag 5. und 6. November 2015Kinder, Arbeit und Konsum: Wie der Kapitalismus die Familie verändert

Scholar in Residence Lecture SeriesThe Growth Model Perspective on Comparative Capitalism

Lucio Baccaro, Université de Genève

Öffentliche Vorträge

Mittwoch, 7. Oktober 2015Rethinking Comparative Political Economy: Growth Models and Distributive Dynamics

Mittwoch, 14. Oktober 2015Weakening Institutions, Hardening Growth Model: The Liberalization of the German Political Economy

Mittwoch, 21. Oktober 2015Tying Your Hands – and Getting Stuck: The Italian Political Economy under the „External Constraint“ Regime

Vorschau 2015