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Leseprobe Manow, Philip Im Schatten des Königs Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 2524 978-3-518-12524-3 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Manow, Philip

Im Schatten des Königs

Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation

© Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2524

978-3-518-12524-3

Suhrkamp Verlag

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Warum interessieren wir uns für die Haarfarbe Gerhard Schröders oder dieSchönheitsoperationen Silvio Berlusconis? Philip Manow antwortet: Weilein Teil der symbolischen Bedeutung, die ihren Sitz einst im Körper desKönigs hatte, in der Demokratie nachlebt, nicht nur im Herrscherkörper,sondern auch im zentralen politischen Körper der repräsentativen Demo-kratie: dem Parlament. Zum Ausgangspunkt für seinen Essay über die poli-tische Anatomie der Demokratie wählt Manow die Gestaltung modernerPlenarsäle. Anhand von weiteren Überlegungen zur Immunität von Ab-geordneten, zur Öffentlichkeit parlamentarischer Verhandlungen und zurFrage, warum in George W. Bushs Wagenkolonne stets mehrere baugleicheCadillacs fahren, kommt er zu dem Ergebnis, daß in der modernen Demo-kratie das staatstheoretische Gedankengut des Mittelalters überlebt.

Philip Manow, geboren 1963, ist Professor für Politikwissenschaft an derUniversität Konstanz.

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Philip ManowIm Schatten des Königs

Die politische Anatomiedemokratischer Repräsentation

Suhrkamp

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edition suhrkamp 2524Erste Auflage 2008

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der

Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf StaudtPrinted in Germany

ISBN 978 - 3 - 518 - 12524 - 3

1 2 3 4 5 6 – 13 12 11 10 09 08

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Inhalt

Kapitel 1: Hat die Republik einen Körper? . . . . . . . . . . . . 7

Kapitel 2: Das Parlament als politischer Körper –parlamentarische Sitzordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

2.1 Kennt die Demokratie keine Bilder? 16 · 2.2 Grundformenparlamentarischer Sitzanordnung und ihre historische Genese 20 ·2.3 Der Schatten des Körpers des Königs 37 · 2.4 Die Parlamen-tarisierung des Gottesgnadentums 53

Kapitel 3: Das Parlament als politischer Körper –parlamentarische Immunität, Publizität,Proportionalität und Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

3.1 1793 – republikanisches body snatching 57 · 3.2 »Ein Grad vonHeiligkeit« – parlamentarische Immunität 64 · 3.3 Die parlamenta-rische Puppe kann sprechen! – parlamentarische Publizität 75 · 3.4 »Arecognisable likeness of the populace« – parlamentarische Proportio-nalität 88 · 3.5 »Le parlement ne meurt jamais?« – parlamentarischeDiskontinuität 97 · 3.6 Der »verabschiedete Volkskörper«? 113

Kapitel 4: Demokratische Körper/Despotische Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

4.1 Stellvertreter/Doppelgänger 120 · 4.2 in corpore/in effigie (1) 126 ·4.3 in corpore /in effigie (2) 129 · 4.4 in corpore /in effigie (3) 131 ·4.5 heiße /kalte Repräsentation 134 · 4.6 gewalttätig /wundertätig136 · 4.7 dignitas /humanitas 139 · 4.8 Entzauberung/(Rück-)Ver-zauberung 144

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

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Kapitel 1

Hat die Republik einen Körper?

»Rex est populus« – auf diese Formel spitzt Thomas Hobbesseine politische Repräsentationstheorie zu. Daß der König dasVolk ist, »weil sich durch den einzigen Willen des Königsdas Volk als Einheit manifestiert« (Duso 2006: 24), formuliertHobbes während der britischen Revolution gegen die Parteider »Parlamentarier«, die in ihren politischen Streitschriftenbereits dem Parlament und nicht demKönig die Funktion der»Repräsentation des Königsreichs als Ganzem« zuweisen wol-len (Skinner 2005: 163). Während die britische Revolution ineinen konstitutionellen Kompromiß mündet, der dem Kö-nig – und auch dem House of Lords – seine eminente Reprä-sentationsfunktion beläßt, triumphiert in der FranzösischenRevolution endgültig die Vorstellung einer ausschließlich par-lamentarischen Repräsentation des neuen Souveräns, des Vol-kes, über das Prinzip der monarchischen Voll- oder Teilreprä-sentation der Nation. Nun heißt es: »Der Konvent ist dasVolk« (zitiert nach Heutrin 2005: 768) – durch den vom Par-lament artikulierten Volkswillen soll sich das Volk als politi-sche Einheit manifestieren (und konstituieren; vgl. Abschnitt3.2). Diese Auffassung von der parlamentarischen Repräsenta-tion des Willens des souveränen Volkes bestimmt bis heute –wenn auch nicht vollkommen unumstritten – unsere demo-kratische Vorstellungswelt. 1962 führt der Abgeordnete PaulReynaud in einer Rede vor der französischen Assemblee Na-tionale aus: »In allen zivilisierten Ländern wird das Parlamentals Repräsentant der Nation angesehen. Wenn die gewähl-ten Abgeordneten debattieren und abstimmen, kommt ihnen

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diese besondere Qualität zu, dieNation zu repräsentieren. Füruns Republikaner ist Frankreich hier und nirgendwo anders«– eine Redepassage, die nicht ohneWiderspruch aus dem Ple-num bleibt: »Frankreich ist nicht nur mit Ihnen (Elle [laFrance] n’est pas uniquement avec vous!)« (Abgeordne-ter Roulland) und: »Frankreich ist im Volk (Elle est dans lepeuple)« (Abgeordneter Guillon, alle Zitate nachMopin 1991:159).Nach dem vorherrschenden Selbstverständnis demokratischerGesellschaften ist mit dem Souveränitäts- und Repräsenta-tionswechsel vomMonarchen auf das Volk und seinem parla-mentarischen Abbild ein weitgehender Verzicht auf alles Zere-monielle, Spektakuläre und Theatralische der Herrschaftsre-präsentation, das für das Ancien regime ja so charakteristischwar, verbunden. Der monarchistische Bilderzauber scheintdurch demokratische Vernunft undNüchternheit ersetzt. Diemoderne Demokratie, so heißt es, sei im wesentlichen »nach-metaphysisch« (Habermas 1991: 602), ein Erbe des Vernunft-rechts, und kenne keine Bilder. Die moderne Demokratie seialso wesentlich ikonoklastisch. Nichts scheint das besser zuverdeutlichen als jene vormoderne Lehre von den zwei Kör-pern des Königs, dem leiblichen sterblichen und dem ewigenpolitischen, die zentral war für die Verfassungsordnung desAncien regime und die in aufwendigen Inszenierungen kö-niglicher Herrschaft immer wieder öffentlich erneuert undbekräftigt wurde. Diese Doppelkörper-Theorie erscheint unsheute weitgehend fremd und befremdlich, für sie fehlt offen-sichtlich ein modernes, demokratisches Pendant. Selbst Fou-cault, exponierter Kritiker der Aufklärung, zugleich wie keinzweiter sensibel für die soziale und politische Rolle des Kör-pers, kommt zu dem Schluß: »Es gibt keinen Körper derRepublik […]. Nie funktioniert sie [die Republik; PM] wie

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der Körper des Königs unter der Monarchie« (Foucault 1994[1975]: 754).Die Republik besteht aus Individuen, die in der demokrati-schen Wahl zu Zahlen werden (vgl. Rosanvallon 1998; Gue-niffey 1993; Crook 2002) – aber hat sie einen Körper? Oftwird behauptet, daß gerade der Abschied von der Vorstellungvom politischen Körper den Übergang von der personellenHerrschaft des Monarchen zur modernen repräsentativen De-mokratie markiert: Die Demokratie beginne »mit dem Endealler ›Verkörperungsmechanismen‹« (Charim 2006: 16), mitihr gehe eine »Entkörperung der Macht« einher (Lefort 1990:293), die demokratische Gesellschaft begründe »sich als gleich-sam körperlose Gesellschaft« (ebd.: 295).In den folgenden Kapiteln möchte ich zeigen, daß der oftfür tot erklärte politische Körper auch in der Demokratielebendig ist oder zumindest nachlebt. Die Idee der Volkssou-veränität ist in vielerlei Hinsicht eine intellektuelle Nachbil-dung der Idee monarchischer Souveränität (vgl. Kielmansegg1976) und bleibt deswegen von dieser nicht unbeeinflußt.Jouvenel hat hierfür die schöne Formel gefunden, daß der Kö-nig durch die Französische Revolution gar nicht verschwin-det (vgl. Schmitt 1969: 195; Fn. 119; Schmitt 1971). Nach derVerfassungsdoktrin des Ancien regime wurde dem Herrscherdie Aufgabe der representatio in toto zugewiesen. Der Herr-scher »symbolisiert die Einheit der Gesellschaft und verkör-pert die Handlungsfähigkeit des Staatswesens« (Schmitt 1969:189 -190). Das Parlament hingegen hatte die Funktion derRepräsentation der ständischen Einzelinteressen (representatiosingulariter) gegenüber dem König. Mit der Revolution ver-schwindet dann der König als Institution, aber nicht als Funk-tion, denn das Parlament übernimmt nun die Repräsentationin toto: »Nicht der König ist verschwunden: Der Gesetzgeber

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als Repräsentant des nationalen Interesses ist sein Nachfolger;aber was verschwunden ist, ist die Repräsentation der gesell-schaftlichen Einzelinteressen« (zitiert nach Schmitt 1969: 195,Fn. 119). Das aber hat Folgen für die möglichen symbolischenFormen der parlamentarischen Repräsentation in toto, die –wie zu zeigen sein wird – in vielfacher Hinsicht die Formenköniglicher Repräsentation imitiert. Es geht also in den fol-genden Abschnitten vor allem um die Erinnerungsspuren, diedie Monarchie in den Praktiken der Demokratie hinterlassenhat, und somit um das Nachleben vor-demokratischer Vor-stellungen in der Demokratie. Dieses Nachleben kann – wiedie nachfolgenden Kapitel zeigen sollen – besonders gut ander hergebrachten und dann in der Demokratie re-seman-tisierten Idee des politischen Körpers veranschaulicht wer-den.Volkssouveränität ist überhaupt zunächst nur negativ, als Kri-tik an der absolutistischen Souveränität gefaßt (vgl. Raynaud2001: 869). Damit bleibt dieses Konzept aber gebunden andas, was es kritisiert. Das schließt zeremonielle Fragen deröffentlichen Darstellung demokratischer Herrschaft, Formender Repräsentation des Volkes als neuer Souverän in der De-mokratie ein. Diese Repräsentationen geben häufig der Vor-stellung von der Herrschaft eines politischen VolkskörpersAusdruck. Daß diese Vorstellung vom Volk als einheitlichempolitischen Akteur recht besehen nicht weniger phantastischist als die Vorstellung vom königlichen Doppelkörper, ver-deckt sich uns durch eine kontinuierliche inszenatorischeBestätigung und Bestärkung dieser Vorstellung, die eben nichtals Zeremonie oder Ritual angesehen wird, sondern als natür-licher, selbstverständlicher Teil demokratischer Herrschafts-praxis selbst – genauso wie ein königliches lit de justice vonZeitgenossen auch nicht in erster Linie als Zeremonie wahr-

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genommen wurde, sondern eben als selbstverständlicher Be-standteil monarchischen Herrschaftsvollzugs im Ancien re-gime.»Die Idee eines sozialen Körpers, der sich durch die Gesamt-heit der Willen konstituieren würde» – das ist, soweit kannman Foucault zustimmen, das »große Phantasma« der De-mokratie (Foucault 1994 [1975]: 754). In den folgenden Ab-schnitten wird jedoch argumentiert, daß dieses Phantasmaeines einheitlichen demokratischen Körpers vor allem in derinszenierten Einheit (sowie Würde und Heiligkeit) seinerpolitischen Repräsentation zu finden ist, die Anleihen bei denRepräsentationen politischer Souveränität des Ancien regimenimmt. Dabei werde ich das Argument vom Nachleben despolitischen Körpers in der Demokratie anhand mehrererempirischer Beispiele durchdeklinieren. ImMittelpunkt stehtdabei die Darstellung demokratischer Herrschaft und dieFrage, was uns diese Darstellung über die impliziten Theoriendemokratischer Repräsentation sagt. Es geht um – zunächstvielleicht abseitig erscheinende – Probleme wie: Warum setztsich mit der Französischen Revolution der Halbkreis als do-minante Form parlamentarischer Sitzordnung durch?Warumhat es in England so viel länger gedauert als z.B. in Frankreich,die Öffentlichkeit parlamentarischer Debatten herzustellen?Wie begründet sich eigentlich der Schutz von Parlamentariernvor Strafverfolgung, das Prinzip parlamentarischer Immuni-tät? Woher erklärt sich die Vorstellung einer Proportionalitätim Verhältnis zwischen Parlament und Demos, warum glau-ben wir, das Parlament solle die Gesellschaft in ihrer Vielfaltmöglichst perfekt abbilden? Wie markieren wir Beginn undEnde einer Legislaturperiode, wenn eine demokratische Re-präsentationsbefugnis ausgestellt wird oder erlischt? Warumbricht der Prozeß der Gesetzgebung am Ende einer Legislatur-

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periode ab, um zu Beginn der nächsten wieder neu aufgenom-men zu werden?Die zunächst vielleicht abseitig anmutende Themenwahl »hatMethode«: es sind die überständigen Praktiken, die sperrig indie neue Ordnung hineinragen, an denen sich besonders gutersehen läßt, wie sich die Demokratie aus der ihr vorgängi-gen politischen Herrschaftsform entwickelt hat. Selten ist derMensch einfallsreicher, als wenn es darum geht, einer beste-henden Praxis nachträglich Gründe unterzuschieben, sinnlosgewordene Praktiken mit neuem Sinn zu versehen. Aber ge-rade wegen der nur unvollständig geglückten Umsetzungüberständiger Praktiken in den Randbereichen der parlamen-tarischenDemokratie kann an ihnen unsere Hermeneutik desVerdachts besonders gut ansetzen.Ich setze mich in den folgenden Kapiteln und Abschnittenaber nicht nur mit dem neuen politischen Doppelkörper inder Demokratie, dem Volk und seinem parlamentarischenAbbild, auseinander, sondern auch mit den Körpern zeitge-nössischer Politiker und ihrer medialen Inszenierung. Vieleder Eigenschaften, die schon am parlamentarischen Reprä-sentationskörper abzulesen sind – etwa das Reklamieren einerbesonderen Würde und Unantastbarkeit – begegnen uns hiererneut. Die Rede vom politischen Charisma verweist nichtnur etymologisch auf das chrisma, das heilige Öl der Königs-salbung, sondern transportiert – wie zu zeigen sein wird –immer auch und immer noch Vorstellungen einer besonderenpolitischen Gnadengabe, der Auserwähltheit, die es im demo-kratischen Ritual der Wahl eigentlich nur noch nachträglichzu bestätigen gilt.

Kurz: die zentrale These dieses Buches lautet, daß die mo-derne Demokratie nicht nach-metaphysisch, sondern – wenn

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man so will – neo-metaphysisch ist. Jede politische Macht,also auch die Demokratie, benötigt und produziert ihre ei-gene politische Mythologie: »Eine vollständig entzauberteWelt ist eine vollständig entpolitisierte Welt« (Geertz 1985:30). Jede Form der politischen Herrschaft steht im Kontexteiner symbolischen Ordnung, die sie legitimiert (»KeineMacht, die nicht ostentativ wäre«, Lefort/Gauchet 1990: 98)1

und sakralisiert: »Herrschaft und Heil« (Assmann 2002) sindzu jeder Zeit eng miteinander verschränkt.

»Die Macht gewinnt ihre Stärke ebensosehr aus den realen Mitteln,über die sie verfügt, wie aus der ständigen Mitwirkung der Gewöh-nung und Phantasie; sie braucht eine verstandesmäßige Autoritätund einen magischen Einfluß; sie muß handeln [. . .] mit sichtbarenMitteln und aus einer unerkennbaren Überwelt« (zitiert nach Gab-lentz 1965: 193).

Es ist das Vorurteil unserer vorgeblich aufgeklärten Zeit, daßdiese Wahrheit immer nur an anderen Orten und für andereZeiten gelten soll. Doch dem Prozeß der Entzauberung deralten Ordnung, der mit der demokratischen Revolution ein-hergeht, ist der Prozeß der Verzauberung der neuen demo-kratischen Ordnung komplementär. Carl Schmitt glaubte,daß jede Zeit eine politische Ordnung hat, die ihren mythi-schen Überzeugungen entspricht (vgl. Schmitt 1934). Im fol-genden präsentiere ich Material, das die umgekehrte, meinerMeinung nach plausiblere These illustrieren soll, nach derjede Zeit mythische Überzeugungen hat, die ihrer politischenOrdnung entsprechen. Wenn in diesem Zusammenhang vonpolitischer Theologie die Rede ist, dann meint das auch nicht– wie bei Schmitt – die Säkularisierung ursprünglich religiö-ser Begriffe durch ihre politische Verwendung, sondern –wie etwa bei Jan Assman (2002) oder Jacob Taubes (1983) –

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die religiöse Aufladung ursprünglich säkular-politischer Be-griffe.Kapitel 2 und 3 dieses Buches beruhen auf zwei längeren Stu-dien über parlamentarische Sitzanordnungen sowie über dasParlament als politischen Körper, die 2004 und 2006 imLeviathan veröffentlicht wurden.2 Für dieses Buch wurdendiese Aufsätze überarbeitet, von einigen Fehlern bereinigt underheblich um zusätzliches empirisches Material und Literaturerweitert.3 Ich möchte der Redaktion des Leviathan für dieErlaubnis zum Wiederabdruck der zwei Texte sehr herzlichdanken.Dieses Buch ist durch die Mithilfe zahlreicher Personen ent-standen. Für ihre Arbeit und Unterstützung, für ihre Ermun-terung und Kritik bin ich ausgesprochen dankbar. Zunächstsind zwei sehr engagierte und erfahrene studentische Hilfs-kräfte zu nennen, die mich beim Sammeln der Literatur undder Bilder, beim Edieren und der Korrektur des Textes exzel-lent unterstützt haben: Annika Schulte und Dominic Heinz.Frau Strohmeyer von der Universität zu Köln hat freundli-cherweise Kapitel 3 gelesen und wichtige Anregungen dazugegeben. Bodo von Greiff und Hanne Herkommer habenKapitel 2 und 3 auf ihre unvergleichlich gründliche, text- undsprachsensible Art und Weise durchgesehen. Hierfür ganzherzlichen Dank. Daß ich an diesem Buch während meinerZeit am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsfor-schung arbeiten konnte, verdanke ich vor allem der ganzaußergewöhnlichenGroßzügigkeit vonWolfgang Streeck, derals Institutsdirektor nicht nur Arbeiten zugelassen hat, diezunächst nicht in den Kernbereich des Forschungsprogrammsdes Instituts zu fallen schienen, sondern mich sogar dazuermuntert hat, unkonventionelleWege zu gehen und der eige-nenNeugierde zu vertrauen. Für dieses seltene Privileg bin ich

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ihm außerordentlich dankbar. Die letzten Arbeiten am Ma-nuskript erfolgten in Paris, während eines Gastaufenthalts amSciences Po. Ich konnte keinen geeigneteren Ort finden, umdieses Buch über das Nachleben des politischen Körpers inder Demokratie abzuschließen. Dank an Bruno Palier, PatrickLeGales und Renaud Dehousse, die meinen Aufenthalt mög-lich und so angenehm gemacht haben. Den neuen Kollegenam Exzellenzcluster »Die kulturellen Grundlagen der Inte-gration« der Universität Konstanz, insbesondere AlbrechtKoschorke, herzlichen Dank für Förderung und Unterstüt-zung. Die Studie über den »fiktiven Staat« (Koschorke et al.2007), deren Fragestellungen und Einschätzungen in so er-staunlich hohem Ausmaß mit den Fragen und Einschätzun-gen der hier verfolgten Untersuchung übereinstimmen, konntenur noch teilweise eingearbeitet werden. Ich habe zudem vonden freundlichen, hilfreichen und ermunternden Kommen-taren von Horst Bredekamp, Ulrich Glassmann, Bodo vonGreiff, Andre Kaiser, Jürgen Kaube, MarionMüller und Tho-mas Zittel profitiert. Bei dieser umfangreichen Unterstützungist es selbstverständlich, daß die verbliebenen Mängel desBuches allein mir zuzurechnen sind.

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Kapitel 2

Das Parlament als politischer Körper –parlamentarische Sitzordnungen

2.1 Kennt die Demokratie keine Bilder?

Eine Reihe neuerer Veröffentlichungen dokumentiert ein ge-steigertes Interesse am Thema Parlamentsarchitektur.4 Wasan dieser Literatur allerdings auffällt, ist die weitgehende Ver-nachlässigung eines ganz zentralen Formelements: der parla-mentarischen Sitzordnung. Sie findet, wenn überhaupt, nurkursorisch Erwähnung. Als eigenständige wissenschaftlicheBeiträge, die die parlamentarische Sitzanordnung zum The-ma machen, können – soweit ich sehe – nur die von Goodsell(1988) und Döring (1995a) gelten.5 Dabei vertreten beide Au-toren die Position, die Form der parlamentarischen Sitzanord-nung lasse sich nicht allein sachlich-funktional begründen,etwa mit Erwägungen über die Akustik und die optimaleSichtbarkeit der Redner, sondern sei darüber hinaus odersogar überwiegend Ausdruck einer politischen Kultur, die siezum Teil auch selbst forme. So wird etwa das Gegenüber vonRegierungs- und Oppositionsbänken im britischen House ofCommons als Ausdruck eines konkurrenzdemokratischenVerständnisses der politischen Auseinandersetzung interpre-tiert (vgl. Union 1976: 258), während in Konkordanzdemo-kratien eher der Halbkreis als angemessener Ausdruck einerproportionalen Repräsentation aller politischen Kräfte anzu-sehen sei (vgl. Döring 1995a). Zum Teil gelte hier auch dieUmkehr des Arguments »form follows culture«: Die architek-tonische Form habe also die parlamentarische und politische

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Kultur beeinflußt.Unabhängig davon, wie überzeugend die»kulturalistischen« Argumente Goodsells, Dörings und ande-rer sind, ist zunächst der erstaunliche Umstand festzuhalten,daß der zentrale Ort politischer Herrschaft in modernen west-lichen Gesellschaften, die »herausgehobenste Einrichtung dergewaltenteiligen Demokratie« (Beyme 1992: 33) – das Parla-ment als Abgeordnetenversammlung –, also der Plenarsaal,bislang kaum im Hinblick auf seine symbolisch-repräsenta-tive Erscheinungsform untersucht worden ist. Zwar gibt esneben der anwachsenden Literatur zur generellen Parlaments-architektur mittlerweile auch Beiträge zur parlamentarischenSymbolik (Patzelt 2001) und Ikonologie (Reiche 1988), zuRitualen und Zeremonien (vgl. die Arbeiten von MarionMüller, insbesondere Müller 2003; Mergel 2002), aber derPlenarsaal selbst, seine architektonische Form, insbesonderedie Sitzanordnung werden in der Literatur weiterhin eherstiefmütterlich behandelt.

Dieser Befund trifft weitgehend auch für Arbeiten zu, diesich dem Thema aus einem anderen, nämlich kunst- bzw.bildgeschichtlich informierten Interesse an politischer Iko-nologie nähern. Diese Literatur fragt danach, wie sich das vor-her reichhaltige Programm der Herrschaftslegitimation und-repräsentation in Bildern, Gärten, Schlössern, Feuerwerkensowie anderen öffentlichen Spektakeln wie Theaterauffüh-rungen und Zeremonien im Übergang von der monarchisch-absolutistischen Herrschaft zur demokratischen Gesellschaftgeändert hat (vgl. Burke 2001 [1993]). Was löst die überbor-dende Darstellung des alten herrschaftlichen Bilderpro-gramms ab? Welche bildhaften Verbindungen gehen »Pompund Politik« (Paulmann) in modernen Demokratien ein?Wenn es nicht mehr der König und sein Hofstaat sind, die im

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wortwörtlichen Sinne die Herrschaft verkörpern (vgl. Kanto-rowicz 1957 [1998]), was tritt an ihre Stelle? Oder tritt garnichts an ihre Stelle?Auf diese Fragen heißt es meist nur, die Demokratie kennekeine Bilder. Nach dem Bruch mit »tradierte[n] Formen derRepräsentation von Gemeinschaftlichkeit und Einheit derGesellschaft« im Spätabsolutismus befänden sich modernedemokratische Systeme in der dilemmatischen Lage zwischen»Unmöglichkeit und Unumgänglichkeit symbolischer Reprä-sentation« (Klinger 2002: 224), sie stünden vor dem unlösba-ren Problem der »Verbildlichung von Volksautorität« (Falken-hausen 1993: 1019). In der Demokratie erweise »sich der Ortder Macht [. . .] als nicht darstellbar« (Lefort 1990: 293), erwerde zu einer Leerstelle (vgl. de Mazza 2003). »Undarstell-barkeit« wird zum »Wesenszug der Demokratie« erklärt (vgl.Koschorke et al. 2007: 251), demokratische Macht, so heißtes, gruppiere sich um ein leeres Zentrum, um ein »imaginäresVakuum« in einem »bilderlosen Raum« (ebd.). So überwie-gen skeptische Einschätzungen, nach denen es Demokratienohnehin »schwerer haben, sinnfällig zu werden« (Arndt 1992:58), es sei geradezu ein Ausdruck des Pluralismus modernerdemokratischer Gesellschaften, daß sie sich auf kein einheit-liches Bilderprogramm einigen können (Beyme 1996: 31),Demokratien seien daher zwangsläufig in ihrer »Selbstdarstel-lung [. . .] bescheidener« (Beyme 1992: 45). Der Verzicht auf»bündige, ästhetische Repräsentation« sei ein »merkwürdigesManko« sowie eine »peinliche Schwäche« der Demokratie(Grasskamp 1992: 7, 9). Überraschenderweise werden auchdiese pauschalen Negativfeststellungen getroffen, ohne daßder zentrale Ort moderner politischer Herrschaft, das demo-kratisch gewählte Parlament, die Abgeordnetenversammlung,einer genaueren Bildanalyse unterzogen würde.

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Dagegen möchte ich im folgenden zeigen, daß bei einer nä-heren Betrachtung parlamentarischer Sitzanordnungen diebisherigen Pauschalurteile über die Bilderlosigkeit moder-ner demokratischer Herrschaft als vorschnell zurückgewiesenwerden müssen. Meine zentrale These lautet, daß sich geradein der parlamentarischen Sitzanordnung das »Nachleben«einer politischen Theorie und Theologie manifestiert, derenzentrales Element die Vorstellung vom (heiligen) politischenKörper (body politic) darstellt. Wenn diese These zutrifft,dann hätte dies Implikationen für unser Verständnis derFunktionsvoraussetzungen moderner Demokratien und ihrerkulturellen Verankerung, auf die ich am Ende dieses Kapitelskurz zu sprechen kommen werde.Dieses Kapitel ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werde icheine Bestandsaufnahme der vorfindbaren Formenvielfalt par-lamentarischer Sitzanordnungen in entwickelten Demokra-tien vornehmen und dabei zeigen, daß es zwei Grundformen(mit zwei elementaren Spielarten) gibt. Zum einen die briti-sche Sitzanordnung, wie wir sie aus dem House of Commonsmit den zwei sich gegenüberstehenden Bankreihen von Re-gierung und Opposition und dem Präsidium (Speaker) imZentrum der Stirnseite des Parlamentssaals kennen. DieseAnordnung enthält Reminiszenzen an mittelalterliche For-men ständischer Repräsentation, die in den europäischen Par-lamenten vor der Französischen Revolution dominant waren(vgl. Myers 1975), auch wenn die britische Sitzordnung derGenese nach keine direkten Verbindungslinien zu den klas-sischen Ständeparlamenten aufweist. Zum anderen die »mo-derne« französische Form des Halbkreises, die sich nach 1789in der Mehrzahl der westlichen Demokratien durchgesetzthat. Danach folgt eine Diskussion der verschiedenen Hypo-thesen, mit denen bislang die jeweiligen nationalen Entschei-

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dungen für die eine oder andere Form erklärt wurden. In ei-nem vierten Abschnitt verweise ich auf bislang unberücksich-tigte Bilder- und Symbolkontinuitäten der Halbkreisform,die eine neue Erklärung der vorfindbaren Varianz nahelegen.Eine kurze Diskussion der zentralen demokratietheoretischenImplikationen meiner Argumentation schließt dieses Kapitelab.

2.2 Grundformen parlamentarischer Sitzanordnungund ihre historische Genese

Um das empirische Phänomen, um das es hier geht, genauerzu fassen und seine Formenvielfalt sichtbar zu machen, gilt eszunächst, die Bandbreite der unterschiedlichen Formen parla-mentarischer Sitzanordnungen darzustellen und voneinanderabzugrenzen. Dabei muß auch die chronologische Entwick-lung der Formen möglichst genau rekonstruiert werden.Ein allgemeiner Befund vorweg: Vor 1789 gab es ein domi-nantes Muster parlamentarischer Repräsentation, das Recht-eck mit dem Monarchen an der Stirnseite (als dem »fokalenPunkt der Aufmerksamkeit«, Goodsell 1988: 293) und Bän-ken für den ersten und zweiten Stand (Klerus, Adel) rechtsund links von ihm an den Längsseiten. In einigen Fällen saßenihm zusätzlich Vertreter des dritten Standes gegenüber (dabeihandelte es sich in der Regel um Vertreter der Städte, manch-mal auch des ländlichen Großgrundbesitzes).6 Nach der Fran-zösischen Revolution war die dominierende Anordnung eineandere: der Halbkreis.7 DerWandel zeigt, daß wir es mit einerzeitbezogenen systematischen Variation zu tun haben, dieihrerseits nach einer systematischen Erklärung verlangt. DieForm der parlamentarischen Sitzanordnung beruht also nicht

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