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Die gute Regierung Pierre Rosanvallon

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Die gute RegierungPierre Rosanvallon

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Pierre RosanvallonDie gute Regierung

Aus dem Französischen vonMichael Halfbrodt

Hamburger Edition

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHVerlag des Hamburger Instituts für SozialforschungMittelweg 3620148 Hamburgwww.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-672-9E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

© der deutschen Ausgabe 2016 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-301-8

© der Originalausgabe 2015 by Éditions du SeuilTitel der Originalausgabe: »Le bon gouvernement«

Umschlaggestaltung: Wilfried GandrasSatz aus der Minion Pro bei Dörlemann Satz, Lemförde

Die Übersetzung wurde durch das Centre national du livre gefördert.

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Inhaltsverzeichnis

Von einer Demokratie zur nächsten (Einleitung) 9

Die Präsidialisierung der Demokratien 10

Das ursächliche Faktum: Die Vorherrschaft der Exekutive 14

Das parlamentarisch-repräsentative Modell 15

Das Verhältnis von Regierenden zu Regierten 19

Niedergang und Neudefinition der Parteien 22

Unterwegs zu neuen demokratischen Organisationen 26

Ein anderer demokratischer Universalismus 28

Die vier Demokratien 29

I Die exekutive Gewalt: Eine problematische Geschichte 33

Die Inthronisierung des Gesetzes und dieDegradierung der Exekutive 35

Die Idee einer Herrschaft des Gesetzes 35

Eine politische Utopie 39

Die Degradierung der Judikative während der Revolution 40

Die Abqualifizierung der Exekutive 42

Der Kult der Unpersönlichkeit und seine Metamorphosen 47

Die Vorstellung einer »kopflosen« Macht 47

Eine nicht gewählte, kollegiale Macht 49

Bonaparte: Rückkehr eines Eigennamens und neues Regimedes Willens 52

Das neue Zeitalter der Unpersönlichkeit 56

Französische Ausnahme oder demokratische Moderne? 59

Das Zeitalter der Rehabilitierung 63

Aufstieg der Massen und Stärkung der Exekutive 63

Der Schock des Ersten Weltkriegs und der Führerkult 68

Die Erweiterung staatlichen Handelns und der Niedergangdes Gesetzes 77

Die beiden Versuchungen 81

Das technokratische Ideal 82

Der Ausnahmezustand 89

Kontinuitäten und Brüche 96

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II Die Präsidialisierung der Demokratien 99

Wegweisende Experimente: 1848 und Weimar 101

1848 in Frankreich oder der Triumph der Unbesonnenheit 101

Die Weimarer Verfassung 108

Max Weber und die plebiszitäre Demokratie 111

Das Laboratorium der Katastrophe 116

Von der gaullistischen Ausnahme zur allgemeinen Präsidialisierung 121

Die Vorbehalte der Nachkriegszeit 121

Eine amerikanische Ausnahme 125

Das gaullistische Moment 127

Die Verbreitung der Präsidentschaftswahlen 133

Die Personalisierung jenseits der Präsidialisierung 135

Unumgänglich und problematisch 139

Die demokratischen Gründe der Präsidialisierung 139

Die spezifischen Grenzen der Legitimation durch Wahlen 141

Präsidialismus und Neigung zum Illiberalismus 146

Über die »Unmöglichkeit, die Zeit zurückzudrehen« 149

Die Regulierung des Illiberalismus 151

Die Einhegung der Wahlen 151

Reparlamentarisierung der Demokratie? 155

Die neuen Wege der Unpersönlichkeit 160

III Die Aneignungsdemokratie 165

Das Verhältnis von Regierenden und Regierten 167

Die Ratio der Herrn 168

Das Zeitalter der Verführung und der Manipulation 173

Das Verhältnis von Regierten und Regierenden denken 176

Selbstverwaltung, Selbstregierung, Selbstinstitution 179

Die unmögliche Aufhebung der Äußerlichkeit 181

Herrschaft und Asymmetrie 187

Demokratie als Eigenschaft 190

Lesbarkeit 193

Das Auge des Parlaments auf die Regierung 194

Das Auge des Volkes auf seine Repräsentanten 198

Bentham und die Augen der Demokratie 204

Reich der Sichtbarkeit und Elend der Lesbarkeit 207

Die Dämonen der Intransparenz 212

Das Recht auf Wissen und die Institutionen der Lesbarkeit 216

Eine gewisse gesellschaftliche Vorliebe für Intransparenz? 224

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Verantwortung 227

Eine englische Erfindung 228

Von der Banalisierung zum Versagen 234

Die politische Verantwortung neu begründen 239

Verantwortung als Rechenschaftspflicht 240

Verantwortung als Verpflichtung gegenüber der Zukunft 245

Reaktivität 251

Zuhören und regieren: Lektion in regressiver Geschichte 251

Polarisierung und Regression des staatsbürgerlichen Ausdrucks 258

Die verkümmerte Demokratie 265

Die Konfigurationen einer interaktiven Demokratie 267

IV Die Vertrauensdemokratie 271

Die Figuren des guten Regierenden 273

Der tugendhafte Fürst 273

Der reine Mandatsträger 277

Der homme-peuple 281

Der Politiker aus Berufung 286

Die Vertrauensperson 290

Wahrsprechen 293

Einige geschichtliche Elemente 294

Utopien und Verrat 300

Die Motive des Wahrsprechens 305

Die Schlachten des Wahrsprechens 309

Integrität 317

Die drei Transparenzen 319

Klärungsversuche 327

Die Institutionen der Integrität 330

Die Sanktionssysteme 333

Die zweite demokratische Revolution (Schluss) 341

Institutionen und Akteure der Betätigungsdemokratie 342

Funktionale Demokratie und Konkurrenzdemokratie 347

Einen positiven Bezug zur Zukunft wiederfinden 348

Bibliografie 351

Namensregister 373

Zum Autor 377

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Von einer Demokratie zur nächsten(Einleitung)

Unsere politischen Systeme können als demokratisch bezeichnet wer-den, doch demokratisch regiert werden wir nicht. Das ist der großeWiderspruch, aus dem die heutige Ernüchterung und Ratlosigkeit re-sultieren. Deutlicher formuliert: Unsere Systeme werden in dem Sinneals demokratisch betrachtet, als die Macht aus einem Urnengang amEnde eines offenen Wettbewerbs hervorgeht und wir in einem Rechts-staat leben, der sich zu den individuellen Freiheitsrechten bekennt unddiese schützt. Demokratien, die zugegebenermaßen reichlich unvoll-kommen sind. Die Repräsentierten fühlen sich häufig von ihren nomi-nellen Repräsentanten im Stich gelassen, und das Volk empfindet sich,sind die Wahlen erst einmal vorüber, als wenig souverän. Doch solltediese Realität nicht über eine andere Tatsache hinwegtäuschen, die inihrer Besonderheit noch unzureichend erkannt ist: die eines Schlecht-regiertwerdens (mal-gouvernement), das unsere Gesellschaften bis inihre Grundfesten zerrüttet. Die Politik mag durch Institutionen ge-regelt werden, die für ein bestimmtes System charakteristisch sind, sieist zugleich aber auch Regierungshandeln, Alltagsmanagement des Ge-meinwesens, Entscheidungsinstanz und Kommandostelle. Sie ist derOrt einer Machtausübung, die in der Sprache der Verfassungen »exe-kutive Gewalt« heißt. Mit ihr sind die Bürger unmittelbar in ihrem All-tag konfrontiert. Gleichzeitig hat sich das Gravitationszentrum des de-mokratischen Anspruchs unmerklich verschoben. War Letzterer überlange Zeit hinweg vor allem mit der Herstellung eines positiven Bezugszwischen Repräsentanten und Repräsentierten verbunden, so ist mitt-lerweile das Verhältnis der Regierenden zu den Regierten in den Vor-dergrund gerückt. Diese Verschiebung markiert noch keinen Bruch,solange sich weiter mit Nachdruck die Frage der Repräsentation stellt –im Übrigen ist ständig von einer »Krise der Repräsentation« die Rede

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(dazu später mehr). Doch das Gefühl mangelnder Demokratie speistsich inzwischen offenkundig auch aus einer anderen Quelle. Demo-kratiedefizit bedeutet für die Bürger, nicht gehört zu werden, zusehenzu müssen, wie Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hin-weg gefällt werden, wie Minister sich ihrer Verantwortung entziehen,führende Politiker ungestraft lügen, die politische Elite in ihrer eigenenWelt lebt und nicht hinreichend Rechenschaft über ihr Tun ablegt, be-deutet, mit einem nach wie vor undurchschaubaren Verwaltungsbe-trieb konfrontiert zu sein.

Das Problem ist, dass diese Dimension der Politik nie als solchetheoretisch erfasst wurde. Demokratie wurde stets als System verstan-den, kaum jemals als spezifische Regierungsweise. Das äußert sichübrigens auch in der Tatsache, dass die Worte »System« und »Regie-rung« historisch gleichbedeutend waren.1 Die Frage konnte in der Tatzweitrangig erscheinen in der ersten historischen Form des demokra-tischen Systems, dem parlamentarisch-repräsentativen Modell, in demdie gesetzgebende Gewalt alle anderen überwog. Doch inzwischen istdie vollziehende Gewalt zum Dreh- und Angelpunkt geworden undhat den Umschlag in ein präsidiales Regierungsmodell der Demokra-tien nach sich gezogen. War es in der Vergangenheit das Gefühl desSchlechtrepräsentiertwerdens (mal-représentation), das alle Kritikenbündelte, so ist mittlerweile auch das Gefühl des Schlechtregiertwer-dens in Betracht zu ziehen. Das vorliegende Buch präsentiert eine Ge-schichte dieses Umschlags und der vorherigen Tendenz zur Ausblen-dung der vollziehenden Gewalt. Im Anschluss werden die Grundlageneiner demokratischen Theorie von Regierung formuliert.

Die Präsidialisierung der Demokratien

Um das Problem zu erforschen, ist folgende Tatsache der Ausgangs-punkt: Die Tendenz zur Präsidialisierung markiert seit etwa drei Jahr-zehnten einen grundlegenden Einschnitt in Wesen und Form der De-

1 Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Regierung und System eindeutig als Syno-nyme verwendet, der Begriff der Regierung erstreckte sich also gleichermaßenauf die Legislative wie die Exekutive. Der gängige Ausdruck »repräsentative Re-gierung« bezeichnete somit das, was ich im Folgenden die parlamentarisch-re-präsentative Form des demokratischen Systems nennen werde.

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mokratien. Diese Tendenz ist unmittelbar ersichtlich, denn die Wahldes Staatsoberhauptes durch das Volk beschreibt sie auf die einfachsteund sinnfälligste Weise. Das politische Geschehen rund um die Welterinnert ständig daran, welch eine zentrale Bedeutung ihr bei der Ge-staltung des politischen Lebens der Völker zukommt. Aber gleichzeitigist der damit vollzogene Bruch bisher nicht in seiner ganzen Tragweiteerfasst worden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. In den Demokra-tien neueren Datums, und sie stellen die Mehrheit – in Asien, Afrika,Lateinamerika, in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und der ara-bischen Welt –, hat sich das Verfahren unreflektiert durchgesetzt, alsvermeintlich logische Folge des Austritts aus despotischen Regimenund der Anerkennung der Volkssouveränität; ein Verfahren, dessenFundiertheit offenbar keiner argumentativen Begründung bedurfte.Selbst dort, wo sich die stärksten antiliberalen Tendenzen bemerkbarmachen – erwähnt seien, der Anschaulichkeit halber, Russland oderdie Türkei –, denkt niemand daran, es infrage zu stellen. Die Präsident-schaftswahl wird in diesen neuen Demokratien gleichsam zum Aus-druck des allgemeinen Wahlrechts schlechthin.

Auf älterem demokratischen Boden wird dieser Bruch, aus ande-ren Gründen, ebenfalls nicht wahrgenommen. In den VereinigtenStaaten, weil das Amt des Präsidenten bereits mit der Verfassung von1787 eingeführt wurde und die Wahl zum Chef der Exekutive, obwohlsie formal immer noch zweistufig verläuft, seit nahezu einem Jahr-hundert, seit der Einführung des Systems der Vorwahlen in den einzel-nen Bundesstaaten, einer Direktwahl durch das Volk gleichkommt.Stets unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Prinzip der Gewal-tenteilung, die das amerikanische System charakterisiert und ihm seineBesonderheit verleiht, die Vormachtstellung des Amtes begrenzt. Des-halb stellt sich bei den Amerikanern weniger das Gefühl eines tiefgrei-fenden Wandels2 als eines schleichenden Prozesses ein, innerhalb des-sen Ereignissen wie der Krise der 1930er Jahre oder dem 11. September2001 eine maßgebliche Rolle bei der Erweiterung des präsidialenHandlungsspielraums zukommt. Die Erfordernisse der Terrorismus-

2 Und das umso weniger, als sich die Verfassung inzwischen stabilisiert hat unddie Verfahren zu ihrer Änderung mittlerweile nahezu unmöglich zusammenzu-bringen sind (vgl. Artikel V dieser Verfassung).

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bekämpfung, die das Land jüngst dazu veranlassten, sogar ein Abgleitenin Formen des Ausnahmezustands zu billigen, lassen eine Bereitschafterkennen, die Exekutive in manchen Bereichen mit unbegrenzten Voll-machten auszustatten.

In Europa wurde das allgemeine Wahlrecht überall vor mehr alseinem Jahrhundert erkämpft. Es ging seinerzeit mit der Bildung reprä-sentativer Versammlungen einher und wurde, mit Ausnahme derFranzösischen Republik von 1848 und der Weimarer Republik von1919, in seiner Frühphase nicht zur Wahl des Staatsoberhauptes ver-wendet. Das Besondere an der großen Mehrheit der europäischenStaaten ist, dass sie anschließend diesem ersten Stadium des demokra-tischen Prozesses verfassungsrechtlich treu blieben. Aus verschiedenenGründen. Zunächst weil konstitutionelle Monarchien in vielen Län-dern die demokratische Entwicklung dauerhaft begleiteten. So im Ver-einigten Königreich, in Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Däne-mark, Schweden und Norwegen. Europa fungiert in dieser Hinsichtals regelrechtes Museum der im 19. Jahrhundert entstandenen liberal-demokratischen Institutionen. In diesen Monarchien war es nie eineOption, und wird es nie sein, den Chef der Exekutive, den Premier-minister, per Direktwahl zu bestimmen. Denn das hieße, den derKrone zuerkannten Vorrang grundsätzlich infrage zu stellen. Er wirdalso stets als Führer der Partei oder der Koalition, die die Wahlen ge-wonnen und folglich die parlamentarische Mehrheit errungen hat,zum Träger dieses Amtes ernannt. Daneben ist der Fall der dem Natio-nalsozialismus oder Faschismus entronnenen Länder, Deutschlandund Italien, zu beachten. Sie sind mit einem Staatspräsidenten verse-hen, doch wird dieser vom Parlament gewählt und hat eine rein reprä-sentative Funktion, während der Bundeskanzler bzw. Ministerpräsi-dent von diesem Präsidenten gemäß der aus der Abgeordnetenwahlhervorgegangenen Mehrheit ernannt wird. Deutschland hatte es nach1919 mit der Direktwahl des Reichspräsidenten versucht, was letztend-lich in der Machtübernahme Hitlers endete, und Mussolini hatte 1925eine Diktatur errichtet. Die Erinnerung an diese tragischen Erfahrun-gen der Zwischenkriegszeit veranlasste beide Länder nach 1945 zurEinführung der noch heute bestehenden Institutionen. Was die LänderSüdeuropas betrifft, Spanien, Griechenland und Portugal – denen erstspät, nämlich in den 1970er Jahren, die Abkehr von der Diktatur ge-

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lang –, so machten sie sich ebenfalls eine Sicht zu eigen, die man als»kontrollierte« Rückkehr zur Demokratie bezeichnen könnte. Spaniendurch die Wiederherstellung der Monarchie, Griechenland durch dieEinführung eines traditionellen parlamentarischen Systems, bei demder Präsident vom Parlament gewählt wird, ohne aktives Oberhauptder Exekutive zu sein. Portugal bildete die Ausnahme mit der Einset-zung eines direkt gewählten Präsidenten, der jedoch insofern eine be-sondere Position einnimmt, als sein Amt durch die Bedeutung der tra-ditionellen liberalen Vorstellung einer vermittelnden Instanz definiertwird (in keinem anderen Land im 20. Jahrhundert wurde BenjaminConstant so intensiv als Quelle für die Gegenwart kommentiert!). Istdie Theorie von dieser Sicht beeinflusst, so war es gleichwohl die Pra-xis, die diesem Präsidenten ab 1976 eine besondere Stellung zuwies: Re-lativ zurückhaltend in normalen Perioden und engagierter in Krisen-zeiten, ist seine Beziehung zur Regierung durch ausgiebigen Gebrauchseiner moralischen Autorität sowie seiner Legitimation durch denWähler bestimmt. Die Staaten Osteuropas haben späterhin für dasgleiche Modell optiert wie die Länder des Südens, indem sie sich nachdem Auseinanderbrechen des Ostblocks 1989 im Allgemeinen für pre-mierministerielle Systeme3 entschieden (im Unterschied zu den eigent-lichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion).

Auf je verschiedene Weise scheint Europa vom globalen Trend zurPräsidialisierung verschont geblieben zu sein. Mit der großen Aus-nahme Frankreichs4 allerdings, von dem man umgekehrt behauptenkann, dass es 1962, mit der per Volksabstimmung eingeführten Direkt-wahl des Staatspräsidenten, die Geschichte des modernen Präsidialis-mus begründet hat. Tatsächlich stellte Frankreich ein verallgemeiner-bares Modell der Präsidialisierung bereit, während Amerika eine ausder Vergangenheit stammende, nicht auf das 20. Jahrhundert über-tragbare verfassungsrechtliche Variante verkörperte.5 Diese seinerzeit

3 Auch wenn mit Ausnahme Ungarns ihre Staatspräsidenten aus allgemeinen unddirekten Wahlen hervorgehen.

4 Und den kleineren Ausnahmen Finnlands (1988), Irlands (1938) und Österreichs(1951), da der Präsident in diesen Ländern nicht wirklich das Oberhaupt derExekutive ist.

5 Die Besonderheit des amerikanischen Modells beruht auf der Ernennung vonWahlmännern auf bundesstaatlicher Ebene nach je spezifischen Regeln. Das auf

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von den Wählern weithin angenommene, aber von der politischenKlasse lange argwöhnisch beäugte Präsidialisierung der Demokratieträgt in Frankreich nach wie vor Züge einer verfassungsrechtlichen Lö-sung mit als hoch empfundenem Gefahrenpotenzial. Dieser Verdachtnährt sich aus der Erinnerung an einen Cäsarismus, der seines Anti-liberalismus wegen abgelehnt wurde, ohne dass die Gründe reflektiertworden wären, die ihn in den Augen eines Großteils der Bevölkerungals eine Erfüllung des demokratischen Ideals erscheinen ließen. Des-halb ist diese Präsidialisierung im französischen Verständnis häufigeine »unumgängliche, aber problematische« Figur geblieben, sie wirdals Nationalkrankheit begriffen, von der man kuriert werden müsse,nicht als erster Entwurf einer neuen demokratischen Form.

Das ursächliche Faktum: Die Vorherrschaft der Exekutive

Jenseits dieser zumeist historisch bedingten Unterschiede gilt es, dasAusmaß der Tatsache zu erkennen, dass die Präsidialisierung der De-mokratien nur die Folge eines tiefer reichenden politischen Wandelsist: des Erstarkens der vollziehenden Gewalt. Denn darin liegt die Ur-sache der Präsidialisierung: die Gewalt schlechthin, wenn man von ihrim Singular sprechen will, ist fortan die vollziehende Gewalt. Unmit-telbar und ununterbrochen tätig, ganz und gar eins mit den Entschei-dungen, die sie täglich trifft, permanent in Erscheinung tretend, ist siediejenige Gewalt, von der die Bürger erwarten, dass sie die Bedingun-gen ihres beruflichen und privaten Lebens positiv gestaltet. Sie verlan-gen also von ihr, dass sie sowohl tatkräftigen Einsatz zeigt als auch fürihre Handlungen einsteht.6 Daher die Tendenz zur Polarisierung undPersonalisierung der vollziehenden Gewalt. Wenn auch die Präsidia-lisierung im formalen Sinne – als Direktwahl des Staatsoberhauptes –nicht überall vollzogen wurde, ist das mit der Herrschaft der Exekutiveverbundene Phänomen der Polarisierung/Personalisierung gleichwohluniversell. Politologen konnten folglich von »versteckten Wahlen«

diese Weise zustande gekommene Wahlmännergremium wählt den Präsiden-ten. Aus diesem zweistufigen Verfahren ergibt sich, dass möglicherweise nichtderjenige gewählt wird, der die meisten Wählerstimmen im Land erhalten hat.

6 Die Bedingungen dieses Aufstiegs der Exekutive zur zentralen Größen werdenin Teil 1, Kapitel 3, erörtert.

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sprechen, um das Ernennungsverfahren der Premierminister im altenEuropa zu charakterisieren.7 Es hat also sehr wohl ein globaler Wandelder Demokratien stattgefunden, unabhängig davon, wie dieser sich inden Verfassungen niederschlägt.

Um dieses Phänomen adäquat zu erfassen, ist es notwendig, die re-gierenden Organe in den Blick zu nehmen, jenseits der alleinigen Be-trachtung des Präsidentenamtes, auch wenn dieses in den meisten Län-dern den Dreh- und Angelpunkt bildet. Diese Organe sind das aktiveZentrum der neuen präsidialen Regierungsform der Demokratie. DerBegriff »vollziehende Gewalt«, obwohl nach wie vor verwendet, ent-spricht nicht mehr wirklich dem neuen Status dieser Organe, mit derKonnotation mechanischer Passivität, die ihm historisch lange anhaf-tete. Selbst die gesetzgebende Gewalt ist, wie wir im Folgenden hervor-heben werden, de facto zu einer untergeordneten Größe der regieren-den Funktion geworden. Man muss diese Regierungsorgane also alsein zusammenhängendes Ganzes begreifen. Die Vorherrschaft dieserregierenden Funktion erscheint heute derart evident, dass die Feststel-lung eines solchen Umschlags kaum noch Aufmerksamkeit erregt.Doch wenn man sie mit dem Blick des Historikers betrachtet, wirdman unweigerlich konstatieren müssen, dass es sich um eine kompletteUmkehrung der Perspektive im Vergleich zur Ursprungsvision der mo-dernen Demokratien handelt, wie sie sich insbesondere in der Ameri-kanischen und der Französischen Revolution artikulierte. Die These,die diesem Buch zugrunde liegt, lautet, dass wir uns mangels einer kla-ren Analyse dieses Paradigmenwechsels schwertun, die wahren Ursa-chen der gegenwärtigen Desillusionierung zu verstehen und folglichdie Bedingungen eines neuen demokratischen Fortschritts zu be-stimmen.

Das parlamentarisch-repräsentative Modell

Kehren wir zum parlamentarisch-repräsentativen Modell, dem histo-rischen Modell der Demokratien, zurück. Die Begründer der erstenVerfassungen in Amerika und Frankreich zielten darauf ab, dieses Mo-dell zu definieren. Es baute auf zwei Prinzipien auf: Herrschaft des

7 Vgl. Teil 2, Kapitel 2.

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Rechts und Entstehung eines gesetzgebenden Volkes.8 Herrschaft desRechts, weil Letzteres als Medium einer wesentlich nicht dominantenMacht verstanden wurde: der unpersönlichen Regel. Denn Unpersön-lichkeit galt als höchste aller politischen Eigenschaften, liberal und de-mokratisch in einem. Eine Macht konnte nur unter der Bedingung gutsein, dass sie Ausdruck dieser Unpersönlichkeit war. Auf diese Weiseäußerte sich im Denken des späten 18. Jahrhunderts zuerst der Bruchmit dem Absolutismus, der seinerseits mit der strukturell willkürlichenMacht eines Einzelnen gleichgesetzt wurde. Dieses grundlegende Merk-mal unterstreicht an sich schon den Unterschied zu dem auf Perso-nalisierung beruhenden präsidialen Regierungsmodell. Entstehungeines gesetzgebenden Volkes, weil das Volk fortan als Ausgangspunktaller Gewalten anerkannt wurde. Man bezeichnete es in Amerika als»Quelle der Macht« (fountain of power) und in Frankreich als »Souve-rän«. Das Gesetz konnte in diesem Sinne als »Ausdruck des allgemei-nen Willens« gelten, wie es in der Erklärung der Menschen- und Bür-gerrechte von 1789 heißt, die diesbezüglich ausführt, dass »alle Bürgerdas Recht haben, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestal-tung mitzuwirken« (Artikel 6). Die Zentralgewalt war also die Legis-lative, während die Exekutive als sekundär angesehen wurde, sowohlhinsichtlich dieses Primats als auch der Begrenztheit der staatlichenHandlungssphäre zu jener Zeit. Die Schaffung der organisatorischenVoraussetzungen für die gesetzgebende Gewalt bildete folglich denKernpunkt der Debatte über die Einführung der Demokratie im18. und 19. Jahrhundert und die Art der repräsentativen Beziehung diezentrale Frage.

In diesem Zusammenhang konzentrierte sich das damalige Bemü-hen um einen Ausbau der Demokratie auf drei große Themenbereiche.Zunächst den der Demokratisierung der Wahlen. Beispielsweise durchVerringerung des Einflusses der Apparate und Seilschaften auf dieWahlmöglichkeiten der Bürger. Im Frankreich von 1848 und unterdem Zweiten Kaiserreich etwa wehrten sich Arbeitergruppen vehe-ment gegen die Dominanz von Rechtsanwälten und Journalisten inden Wahlkomitees. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm dieses

8 Über die Entstehungsbedingungen dieses Modells und die Details seiner Kon-stituierung vgl. den ersten Teil, Kapitel 1 und 2.

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Ziel in Amerika die Form einer letztlich siegreichen Kampagne derProgressiven zur Einführung des Vorwahlsystems und zur Zurück-drängung des Einflusses der strippenziehenden Bosse an. Sehr viel we-niger erfolgreiche Schlachten wurden um die Begrenzung der Ämter-häufung und der Mandatsdauer geschlagen, und auch die Einführungdes imperativen Mandats war im 19. Jahrhundert ein häufig wieder-kehrendes Thema.9 Obwohl in striktem Widerspruch zur klassischenDoktrin des Parlamentarismus, die auf dem Prinzip der Unabhängig-keit von Repräsentanten und Repräsentierten beruhte,10 gewann dieIdee indirekt an Boden über die Formulierung von Programmen oderPlattformen, die, ohne juristisch bindend zu sein, gleichwohl die Aner-kennung einer gewissen Abhängigkeit der Gewählten von den Wäh-lern implizierten.

In eine zweite Richtung ging die Suche nach Wegen einer verbesser-ten Repräsentativität der Gewählten, und zwar im Sinne der Repräsen-tation gesellschaftlicher Gruppen: Das war der Ausgangspunkt für dieBildung von Klassenparteien (das Thema einer »gesonderten Vertre-tung der Proletarier« war bereits in den 1830er Jahren in Europa aufge-taucht). Die Idee einer proportionalen Vertretung sorgte ihrerseits umdie Mitte des 19. Jahrhunderts für eine Mobilisierung der Kräfte, umdie »Ausdrucksfunktion« des Parlaments zu erhöhen, wie man inGroßbritannien sagte, wo die Bewegung zuerst theoretisch formuliertwurde und den Schauplatz der intensivsten politischen Kampagnenbildete.

9 Ein Ziel, das auf den europäischen Arbeiterkongressen des ausgehenden19. Jahrhunderts ständig bekräftigt wurde, zu einer Zeit, als das allgemeineWahlrecht gerade erst errungen worden war. Siehe für Frankreich die exempla-rischen Formulierungen von Ernest Roche: »Solange das imperative Mandatnicht existiert, kann der Volksvertreter, selbst der proletarische, der bis zur Wahlso bescheiden und gefügig war, zu einem unerbittlichen Herrn und Tyrannenwerden« (Roche, Séances du Congrès ouvrier socialiste de France, S. 590).

10 Mit dem Argument, dass die Repräsentanten handlungsunfähig wären, wenndie Umstände, auf denen ihr Mandat basierte, sich ändern würden. Deshalb wareine der ersten Entscheidungen der gesetzgebenden Versammlung von 1789, dasimperative Mandat zu verbieten. Ohne dieses Verbot wäre es in der Tat nichtmöglich gewesen, mit dem anfänglichen Prozedere der Generalstände zu bre-chen. Und die Möglichkeit, Positionen aufgrund der Dynamik der Debatten zuverändern, wäre ebenfalls nicht gegeben gewesen.

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Ein dritter Themenschwerpunkt bezog sich auf die Einführungvon Volksabstimmungen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhun-derts entzündete sich in Europa eine große Debatte an der Direkt-gesetzgebung durch das Volk. Amerikanische Progressive, deutsche undfranzösische Sozialisten, Erben des Bonapartismus, sie alle machtensich für das Thema stark. Selbst konservative Stimmen, vor allem inGroßbritannien, mischten sich in den Chor, in der Annahme, dass esunter gewissen Umständen ein nützliches Sicherheitsventil darstellenkönne, dem Volk ein Vetorecht einzuräumen.

Diese verschiedenen, der parlamentarisch-repräsentativen Per-spektive zugehörigen Sichtweisen des demokratischen Fortschrittszeichneten sich bereits zuzeiten der Französischen Revolution ab,während bereits ab Herbst 1789 bissige Kritiken an der »Vertreteraris-tokratie« laut wurden. Es mag verblüffend sein festzustellen, dass eszwei Jahrhunderte später immer noch dieselben drei großen Problem-bereiche sind, die vielfach die Unduldsamkeiten und die Erwartungenan einen demokratischen Fortschritt heraufbeschwören. Mit gewissenAnpassungen natürlich. Die Vertretung von Minderheiten oder dasThema der Geschlechterparität haben beispielsweise das Projekt einerKlassenrepräsentation in den Hintergrund gedrängt. Doch ansonstenist die Kontinuität erstaunlich. Allein die Idee des Losentscheids stellteine Innovation dar. Doch läuft sie im Kern auf nichts anderes hinaus,als die Wahlen durch ein Selektionsverfahren zu ersetzen, das geeigne-ter erscheint, die Repräsentativität der Institutionen zu erhöhen, undsomit dem parlamentarisch-repräsentativen Paradigma verpflichtetbleibt.11 Und auch das Konzept der partizipativen Demokratie gehörtim Wesentlichen dem gleichen Raum der Vervollkommnung/Überwin-

11 Allerdings wurde der Losentscheid, wie zu betonen ist, nie für exekutive Funk-tionen vorgeschlagen. Und zwar aus einem einfachen Grund: Der Losentscheidwürdigt die Kategorie des X-Beliebigen (die den Umfang einer statistischenStichprobe annehmen kann) und fällt als solcher in die Rubrik der repräsenta-tiv-abbildenden Verfahren, während die Ausübung von Regierungsfunktionenvon vornherein Kompetenzen verlangt, es sich also um eine distinktive Wahlhandelt. Der Losentscheid eignet sich somit zur Bildung eines Bürgerforumsoder einer Meinungsgruppe, wobei die technischen Formen des Vorgangsvariieren können, je nach Größe und Zusammensetzung der Populationen, ausdenen gelost wird.

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dung der repräsentativen Demokratie an. In all diesen Fällen werdenArt und Eigenschaft der Repräsentationsbeziehung sowie die Möglich-keit direkter Bürgerbeteiligung als die zentralen Elemente des demo-kratischen Ideals begriffen.

Das Verhältnis von Regierenden zu Regierten

Im Zeitalter der dominierenden Exekutive liegt der Schlüssel zur De-mokratie in den Voraussetzungen ihrer Kontrolle durch die Gesell-schaft. Folglich wird das Verhältnis der Regierenden zu den Regiertenzum entscheidenden Faktor. Das Ziel kann nicht das einer unmög-lichen Selbstregierung sein (auch wenn das Ideal des gesetzgebendenVolkes Sinn macht), solange der Begriff »Regierung« eine funktionaleUnterscheidung zwischen Regierenden und Regierten voraussetzt.12

Vielmehr geht es darum, dieses Verhältnis auf das strikt Funktionale zubegrenzen, indem man die Bedingungen eines Regierungshandelnsfestlegt, unter denen es für die Bürger nutzbar ist und zu keiner Herr-schaftsinstanz, keiner von der Gesellschaft entkoppelten oligarchischenMacht wird. Das Problem ist, dass die einzige Lösung, die bisher fürdiese Anforderung gefunden wurde, sich auf die Wahl des Oberhauptsdieser Exekutive beschränkt. Allerdings wird auf diese Weise lediglicheine Genehmigungsdemokratie installiert, eine Lizenz zum Regieren er-teilt. Nicht mehr und nicht weniger. Was nicht genügen kann, solangewir auf der Welt gewählte Präsidenten erleben, die weit davon entferntsind, sich als Demokraten zu verhalten.

Wenn man auch davon ausgehen kann, dass die Wahl sich untergewissen Umständen eignet, das Verhältnis zwischen Repräsentantenund Repräsentierten angemessen wiederzugeben,13 so gilt für das Ver-hältnis von Regierenden und Regierten nicht das Gleiche. Dieser Punktist wesentlich. Historisch gesehen ging es bei der Ernennung eines Re-präsentanten grundsätzlich darum, eine Identität zum Ausdruck zubringen oder ein Mandat zu übertragen, alles Dinge, die im Idealfalldurch den Wahlakt gewährleistet werden konnten. Letzterem wurde in

12 Genau dieser entscheidende Punkt wird in Teil 3, Kapitel 1 behandelt.13 Das ist zumindest das ihr theoretisch zugewiesene Ziel, wie Bernard Manin in

Erinnerung ruft: »Die zentrale Institution der repräsentativen Demokratie sinddie Wahlen« (Manin, Kritik der repräsentativen Demokratie, S. 14).

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der Tat zugetraut, den Repräsentanten in seiner immanenten Qualitätund Funktionalität zu begründen, einschließlich der Vorstellungvon Permanenz, die dieser Begriff impliziert. Während die Wahl einesRegierenden nur seine institutionelle Position legitimiert und ihmkeinerlei Qualität verleiht. Die »demokratische Leistungsfähigkeit«einer solchen Wahl ist insofern geringer als die der Wahl eines Reprä-sentanten.14

Daher in diesem Fall die zwingende Notwendigkeit, die Genehmi-gungsdemokratie um eine Betätigungsdemokratie zu erweitern. Letz-tere hat die Aufgabe, die von den Regierenden erwarteten Eigenschaf-ten zu ermitteln sowie die organisatorischen Regeln ihres Umgangsmit den Regierten festzulegen. Die Errichtung einer solchen Demokra-tie ist das, worum es fortan im Wesentlichen geht. Und ihr Versagenstellt die Weichen dafür, dass die Wahl eines Exekutivoberhaupts inein illiberales, wenn nicht in manchen Fällen diktatorisches Regimemündet. Unsere Gegenwart ist voller Beispiele dieser Art, die erstmalsdurch den französischen Cäsarismus des 19. Jahrhunderts veranschau-licht wurde. Die mörderischen und destruktiven Pathologien des20. Jahrhunderts waren, neben den Totalitarismen, solche der Reprä-sentation. Es handelte sich um Mächte, die für sich in Anspruch nah-men, die strukturellen Aporien und Unzulänglichkeiten des Repräsen-tativsystems durch eine vollkommene Verkörperung der Gesellschaftüberwunden zu haben, und ihren Absolutismus aufgrund dieser De-ckungsgleichheit für legitim erachteten. Diese alten Pathologien exis-tieren natürlich nach wie vor. Doch sind die neuen Pathologien des21. Jahrhunderts von anderer Art. Sie resultieren nunmehr aus der Ver-kürzung der regierenden Demokratie auf ein bloßes Genehmigungs-verfahren. Wenn es eine Krankheit des Präsidialismus gibt, dann ist esdiese Atrophie.15

Es ist das Hauptanliegen dieses Buches, die Merkmale dieser Betä-tigungsdemokratie zu definieren. Sie umschreibt, wonach heute in vie-

14 Auch aufgrund der Tatsache, dass die Wahl von Repräsentanten stets eine plu-rale ist: Es wird eine Versammlung von Repräsentanten gewählt. Wir kommenauf diesen Punkt zurück.

15 Was manchen erlaubt, sich im Sinne einer positiven Provokation »gegen Wah-len« auszusprechen (vgl. Van Reybrouck, Contre les Elections).

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len Bereichen der Zivilgesellschaft und in Aktivistenkreisen auf sehrallgemeine und unbestimmte Weise gesucht wird, mit dem Propagie-ren von Forderungen wie der nach Transparenz, dem Appell zum Auf-bau einer Internetdemokratie bzw. der Bezugnahme auf das Konzeptder offenen Regierung, um nur einige Schlagworte aufzugreifen, diederzeit allenthalben zu hören und zu lesen sind. Die vorliegende Studiebeabsichtigt, diese Bestrebungen und Reflexionen zu ordnen, indemzwischen den von den Regierenden verlangten Eigenschaften und denorganisatorischen Regeln im Umgang zwischen Regierenden und Re-gierten unterschieden wird. Sie bilden zusammengenommen die Prin-zipien einer Betätigungsdemokratie als guter Regierung.

Dieses Werk unterteilt die Erforschung ihrer Grundelemente inzwei Rubriken. Zunächst das Verständnis der Prinzipien, die den Be-ziehungen von Regierenden und Regierten in einer Demokratie zu-grunde liegen sollten. Derer werden drei angeführt: Lesbarkeit, Verant-wortlichkeit und Reaktivität (ein Begriff, der noch am ehesten demenglischen responsiveness entspricht). Diese Prinzipien zeichnen dieUmrisse einer Aneignungsdemokratie. Ihre Implementierung würde esdem Bürger ermöglichen, auf direktere Weise die demokratischenFunktionen auszuüben, die die parlamentarische Macht lange für sichvereinnahmte. Sie tragen auch voll und ganz der Tatsache Rechnung,dass die Macht kein Ding, sondern eine Beziehung ist, und dass es folg-lich die Merkmale dieser Beziehung sind, die die Differenz zwischen ei-ner Herrschaftssituation und einer rein funktionalen Unterscheidungausmachen, innerhalb derer sich eine staatsbürgerliche Form vonMachtaneignung vollziehen kann. Es folgt die Benennung der persön-lichen Eigenschaften, die erforderlich sind, um ein »guter Regierender«zu sein – Eigenschaften, die nicht deshalb erfasst werden, um ein idea-lisiertes Phantombild zu zeichnen, als Summe aller Talente und allerTugenden, sondern um eine präzisere Vorstellung von jenen Eigen-schaften zu gewinnen, die notwendig sind, um ein Vertrauensverhält-nis zwischen Regierenden und Regierten zu etablieren und so eine Ver-trauensdemokratie zu begründen. Vertrauen gilt in diesem Sinne alseine jener »unsichtbaren Institutionen«, deren Vitalität im Zeitalterder personalisierten Demokratien von entscheidender Bedeutung ist.Wir werden unsere Untersuchung hauptsächlich auf zwei Eigenschaf-ten konzentrieren: Integrität und Wahrsprechen.

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Der Aufbau einer Vertrauensdemokratie und der einer Aneig-nungsdemokratie sind die beiden Schlüssel des demokratischen Fort-schritts im Zeitalter der präsidialen Regierungsform. Diese Prinzipiender guten Regierung dürfen allerdings nicht allein auf die verschiede-nen Instanzen der Exekutive beschränkt bleiben. Sie müssen sich aufden ganzen Komplex der nicht gewählten Institutionen mit regulativerFunktion (die unabhängigen Behörden), die verschiedenen Ebenender Justiz und den gesamten öffentlichen Dienst erstrecken. Denn eshandelt sich um Personen und Institutionen, die irgendeine Form vonBefehlsgewalt über andere ausüben und damit zu den regierenden Or-ganen gehören.

Niedergang und Neudefinition der Parteien

Die politischen Parteien waren jene Organisationen, die im Rahmendes parlamentarisch-repräsentativen Demokratiemodells die Haupt-rolle spielten. Mit dem Aufkommen des allgemeinen (zunächst aufMänner beschränkten) Wahlrechts trugen sie zur Meinungsbildungdurch Kanalisierung der Meinungsvielfalt bei. Sie waren eine Organi-sationsinstanz der »Vielen«, wie man im 19. Jahrhundert sagte. Insbe-sondere lenkten sie durch den Mechanismus der Kandidatenkür dieWahlkämpfe in geordnete Bahnen. Parallel dazu strukturierten sie denParlamentsbetrieb durch die Bildung disziplinierter Gruppen, die di-rekt oder über ein System von Bündnissen das Zustandekommen vonMehrheiten ermöglichten. Mittels dieser beiden Funktionen vollzogensie den Bruch mit der alten Welt der Honoratiorennetzwerke, die in derÄra des Zensus- oder zweistufigen Wahlrechts die Politik und das Par-lament beherrscht hatten.

Zugleich waren die Parteien in zunehmenden Maße Massen-organisationen. Jenseits ihres funktionalen Bezugs auf Wahlen undParlamente spielten sie auch eine Rolle im Bereich der sozialen Reprä-sentation. Sie sprachen für Klassen und formulierten Ideologien, dasheißt, sie brachten Interessen und Visionen der Gesellschaft und ihrerZukunft zum Ausdruck. Mit ihnen wurde das parlamentarisch-reprä-sentative System seiner Definition voll und ganz gerecht. Gleichwohlsorgte ihre bürokratisch-hierarchische Dimension schon früh für hef-tige Kritik. In Frankreich wurden bereits 1848, anlässlich der ersten all-gemeinen und direkten Wahlen, Stimmen laut, die sich gegen ihre ers-

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ten noch embryonalen Erscheinungsformen wandten (es handelte sichum Wahlkomitees, die Kandidatenlisten erstellten). »Das erste Mal,dass ihr euer politisches Recht ausübt«, wetterte beispielsweise eine dergroßen Stimmen der Epoche, »versammelt man euch ungefragt, mandrückt euch eine Liste in die Hand, die ihr weder diskutieren nochüberhaupt habt lesen können, und sagt euch im Befehlston: Werft dasin die Urne. Man macht euch zu einer Wahlmaschine.«16 Mit größe-rer Strenge und auch Härte wurde den Parteien zu Beginn des 20. Jahr-hunderts von zahlreichen Autoren der Prozess gemacht, insbesonderein zwei Grundlagenwerken der Politikwissenschaft, La Démocratie etles partis politiques von Moïseï Ostrogorski (1902), bezogen auf die Ver-einigten Staaten und Großbritannien, und Zur Soziologie des Partei-wesens von Robert Michels (1911), das sich der deutschen Sozialdemo-kratie widmete. Diese Studien zeigten, wie über das Parteienwesenaristokratische Formen in der Demokratie automatisch wiederauf-leben. Die erste legte den Schwerpunkt auf die Verwandlung von Par-teien in »Maschinen«, die in den Händen von Berufspolitikern zur Ver-selbstständigung tendieren, während die zweite die Art und Weiseanalysierte, wie aus diesen Politikern eine Oligarchie neuen Typs ent-steht. Daher die stark zwiespältigen Gefühle ihnen gegenüber. Dochungeachtet solcher Trägheitsmomente und der daraus potenziell resul-tierenden Formen der Apparateherrschaft über die Bürger, die sicher-lich je nach Gruppierung unterschiedlich ausfielen, mit einer extremenZuspitzung des Phänomens durch die kommunistische Disziplin, istzugleich unbestreitbar, dass die Parteien bis dahin politikfernen Bevöl-kerungsgruppen eine Stimme, ein Gesicht und einen Zugang zum Fo-rum der Öffentlichkeit verschafft haben.

Die Parteien mussten mitansehen, wie diese letztere Repräsenta-tivfunktion ab den 1990er Jahren allmählich erodierte, um schließlichganz zu verschwinden. Aus zwei Gründen. Der erste und offensicht-lichste ergibt sich aus der Tatsache, dass die Gesellschaft selber un-durchsichtiger, in mancherlei Hinsicht sogar unlesbar und folglichschwerer repräsentierbar geworden ist als die einstige Klassengesell-schaft mit ihren klaren Konturen und Merkmalen. Denn wir sind inein neues Zeitalter eingetreten, das des Individualismus der Singulari-

16 Lamennais, »Aux ouvriers«, 24. April 1848.

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tät,17 das durch eine komplexer und heterogener werdende soziale Weltcharakterisiert ist sowie durch die Tatsache, dass der Einzelne mittler-weile ebenso von seiner persönlichen Lebensgeschichte wie seinersozialen Stellung geprägt wird. Die Gesellschaft zu repräsentieren, setztin diesem Sinne voraus, die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse imZeitalter eines Innovationskapitalismus, der die Nachfolge des Organi-sationskapitalismus angetreten hat, zu beschreiben und gleichzeitigden das individuelle Leben bestimmenden Situationen, Belastungen,Ängsten und Erwartungen gesellschaftlich Rechnung zu tragen. DieUnsichtbarkeit des Sozialen rührt heute von diesen beiden Realitäts-ebenen her. Die alten Parteien besaßen, gerade aufgrund ihres Massen-charakters, ein identitär zu nennendes Repräsentationsvermögen. Dashaben sie heute eingebüßt. Und zwar auch deshalb, weil die Repräsen-tation der Gesellschaft sich in der neuen sozialen Welt grundlegendverändert hat. Um die Wahrheit dieser Welt in ihrer ganzen Komplexi-tät wiederzugeben, muss sie künftig über eine »narrative« Dimensionverfügen, die die Parteien nicht auszubilden vermögen. Gleichzeitighaben sich Letztere von der Lebenswelt entfernt, und ihre mit abstrak-ten Kategorien und Begriffen durchsetzte Sprache, die nicht mehr mitdem konkreten Erleben der Menschen verbunden ist, stößt inzwischenoft auf taube Ohren. Die soziologisch zu nennenden Wurzeln diesesneuen Zeitalters defizitärer Repräsentation sind inzwischen besser er-forscht, und ich selbst habe mehrere Werke publiziert, die sich mit derKlärung dieser Frage beschäftigen.18

Ein weiterer, unauffälligerer, aber für das Anliegen dieses Bucheswichtiger Faktor hat ebenfalls massiv zum Niedergang der Parteienbeigetragen: ihr Wechsel auf die Seite der regierenden Funktion. Sie be-greifen sich nicht mehr als Schnittstellen, als Vermittler zwischen derGesellschaft und den politischen Institutionen. Zunächst, weil die Par-lamente selbst keine repräsentativen Instanzen oder treibenden Kräftebei der Erarbeitung und Vorlage von Gesetzesentwürfen mehr sind;letztere Aufgabe ist heute weitestgehend der Exekutive vorbehalten.Vor allem jedoch, weil die Hauptfunktion der Parlamente heute mehr-

17 Vgl. diesbezüglich Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen.18 Angefangen mit: Rosanvallon, Le Peuple introuvable; und ders., La Question

syndicale.

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heitlich darin besteht, die Regierungen zu unterstützen oder, was op-positionelle Fraktionen angeht, sie zu kritisieren, bis sie ihrerseits de-ren Platz einnehmen. Die Parteien sind folglich zu Hilfstruppen desExekutivbetriebs geworden,19 sie führen den Kampf darum, der Machteine fortdauernde Legitimation zu sichern oder im Gegenteil durchden Nachweis der verhängnisvollen Auswirkungen ihrer Politik aufihre Niederlage bei den nächsten Wahlen hinzuarbeiten. Sie vertretenfaktisch mehr die Logik der Regierungen gegenüber den Bürgern alsdie der Bürger gegenüber den Regierungen. Auch wenn die Abgeord-neten nach wie vor in ihren Wahlkreisen gewählt werden, sind sie dochnur noch am Rande deren Vertreter, in der Hauptsache sind sie mitrein politischen Aufgaben betraut.20 Sie bilden fortan die beherrschte –da relativ passive – Fraktion der regierenden Oligarchie. Abgesehenvon den sozialen Entdifferenzierungs- und Bürokratisierungsprozes-sen der Parteistrukturen ist dieses Abgleiten in die Exekutive derGrund für die zunehmende Entkoppelung der politischen Führungs-kräfte von der Gesellschaft und ihre Professionalisierung, die sie zu rei-nen (männlichen und weiblichen) Vertretern des Apparates macht.21

Ihre »Realität« wird identisch mit der Binnenperspektive der Politik,dem Leben der Strömungen, der Kongresse, der parteiinternenSchlachten, die das Kräfteverhältnis bestimmen, aus dem die Regieren-den hervorgehen.

Gleichzeitig reduziert sich der Aktivismus der Parteien auf dasFühren von Wahlkämpfen, mit der Präsidentschaftswahl als Dreh- und

19 Die aufschlussreichsten Arbeiten zu diesem einschneidenden Wandel sind dievon Peter Mair. Siehe: ders., Representative versus Responsible Government,und sein posthumes Werk: Ruling the Void Diese letzteren Arbeiten scheinenmir eine Radikalisierung seiner bahnbrechenden Theorie der »Kartellpartei« zusein, die er in den 1990er Jahren zusammen mit Richard Katz formulierte (Katz,»Changing Models of Party Organization and Party Democracy«). Für eine em-pirische Überprüfung dieser Theorie vgl. Aucante/Dézé (Hg.), Les Systèmes departis dans les démocraties occidentales.

20 In dieser Form kehrt die alte organische Repräsentationsvorstellung der franzö-sischen Revolutionäre oder die Edmund Burkes zurück. Allerdings geht es nichtmehr darum, durch die Erarbeitung von Gesetzen etwas »für die Nation zu wol-len«. Das Funktionale ist mittlerweile Aufgabe der Exekutive.

21 Dieser Einschnitt ist in Frankreich besonders ausgeprägt, weil hier die politischeKlasse, als Einheit betrachtet, häufig denselben Elitehochschulen entstammt.

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Angelpunkt, die das ganze übrige politische Leben beherrschen. Wegendes Rückzugs der Parteien auf eine untergeordnete Regierungsfunktionbefindet sich die Zahl »gewöhnlicher«22 Mitglieder fast überall imfreien Fall. Dennoch kommen sie lediglich unter dem utilitaristischenGesichtspunkten den Vorwahlen (wo solche existieren) auf den Gedan-ken, sich auf diese Basis zurückzubesinnen, weil ihre Kontrolle in die-sem Kontext ein entscheidendes Kapital darstellt. Aus welchem Blick-winkel man die demokratische Funktion der Parteien auch betrachtet,man gelangt zu dem Schluss, dass sie fortan auf das alleinige Funktio-nieren der Genehmigungsdemokratie beschränkt sind.

Da die Parteien die Repräsentationsfunktion de facto aufgegebenhaben, muss sie nun über andere Kanäle mit Leben erfüllt werden.Diese werden notgedrungen vielfältig sein, ob es nun darum geht, nar-rative Repräsentationsformen zu entwickeln oder über Verbände undVereine, die in verschiedenen Bereichen des sozialen und kulturellenLebens tätig sind, »gesellschaftliche Probleme zu repräsentieren«. Hierist eine bedeutsame Aufgabe zu erfüllen, um das Gefühl des Schlecht-repräsentiertwerdens zu überwinden, das ständig an unseren Demo-kratien nagt und sie für die Sirenen des Populismus empfänglichmacht. In Le Parlement des invisibles23, dem Gründungsmanifest des2014 gestarteten Projekts »Raconter la vie«24, habe ich Analyse- undAktionswerkzeuge vorgeschlagen, um zur Wiederbelebung einer»postparteilichen« Repräsentation zu gelangen.

Unterwegs zu neuen demokratischen Organisationen

Die zu Hilfsstrukturen der Regierungsorgane gewordenen Parteiensind folglich nicht in der Position, eine positive Rolle bei der demokra-tischen Gestaltung des Verhältnisses der Regierenden zu den Regiertenzu spielen. Das ist offenkundig, wenn sie an einer Machtkoalition teil-haben, aber ebenso deutlich, wenn sie sich in der Oppositionsrolle be-finden und die amtierende Regierung kritisieren. Denn ihre Interven-

22 Darunter sind Mitglieder »aus Überzeugung« zu verstehen, die man denjenigenMitgliedern gegenüberstellen kann, die direkt oder indirekt am politischen Sys-tem partizipieren.

23 Rosanvallon, Le Parlement des invisibles.24 Vgl. www.raconterlavie.fr [29. 4. 2016].

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tionen verfolgen weit mehr den Zweck, die Macht zurückzuerobern,als die Fähigkeiten der Bürger zu erweitern, selbst wenn sie oft gebets-mühlenhaft einen vermehrten Rückgriff auf Volksabstimmungen an-mahnen.25 Zudem richtet sich ihre Aufmerksamkeit vorrangig auf dasVerhältnis der Regierung zum Parlament, dessen aktiver Bestandteil siesind.26

In diesem Kontext sind jenseits dieser längst von der wirklichenWelt entkoppelten Organisationen neue politische Formen entstan-den. Parteien, die ungeachtet ihrer Beteiligung an Wahlen einen starkpartizipativen Charakter zu bewahren versuchen, wie Podemos in Spa-nien, um nur ein Beispiel zu nennen (mit einem sehr charismatischenFührer an der Spitze, wie allerdings gleichzeitig anzumerken ist); Pro-testbewegungen neuen Stils, wie die Indignados, die zu Beginn der2010er Jahre in verschiedenen Ländern auftauchten, oder auch OccupyWall Street, die sich 2011 als »führerlose Widerstandsbewegung« defi-nierte und beabsichtigte, für die 99 Prozent einer Bevölkerung zu spre-chen, die nicht mehr bereit waren, die Gier und Korruption des 1 Pro-zent zu tolerieren, sowie spektakuläre Massenmobilisierungen aufverschiedenen Plätzen der Hauptstädte dieser Welt, die zum Sturz ver-hasster Regime führten. Auf diese unterschiedlichen Arten vollzogensich eine Wiederbelebung des Protest- und Repräsentationsmilieusund eine Reaktivierung des Konzepts eines demokratischen Forums,die von den Medien und den politischen Analysten ausgiebig kom-mentiert wurden. Parallel dazu bildete sich ein anderer Komplex neu-artiger ziviler Initiativen heraus, die in den englischsprachigen Län-dern good government organizations getauft wurden. Das Ziel dieserInitiativen ist es nicht, »die Macht zu ergreifen«, sondern sie zu über-wachen und zu kontrollieren. Weniger im Fokus der Medien stehendals die oben genannten Bewegungen, setzen sie sich mittlerweile auf al-len fünf Kontinenten dafür ein, die Regierenden zu zwingen, Rechen-schaft abzulegen, die Wahrheit zu sagen, den Bürgern zuzuhören, sich

25 Womit im Übrigen vorausgesetzt ist, dass die Wahl die privilegierte, wenn nichtdie einzige Form des demokratischen Ausdrucks bleibt.

26 In diesem Rahmen sind die Parteien vor allem Hüter bestimmter parlamentari-scher Vorrechte und setzen sich ansonsten für eine Stärkung der Rechte der Op-position ein, was einen unbestreitbaren demokratischen Nutzen hat.

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auf verantwortungsvolle Weise zu verhalten, den undurchsichtigenSchleier zu lüften, hinter dem sie sich häufig verbergen, und erschlie-ßen so dem Bürgerengagement ein neues Feld. Das vorliegende Buchentwirft einen konzeptuellen Gesamtrahmen, der es ermöglicht, überdie Rolle derartiger Organisationen und die Experimente auf diesemneuen Feld sowie die ihnen entsprechenden Erwartungen Aufschlusszu geben. Es zielt ferner darauf ab, sie in den Kontext einer erweiterten,auf Regierungspraktiken anwendbaren Demokratietheorie zu stellen.Es wird somit beabsichtigt, die Voraussetzungen für eine Demokrati-sierung der neuen präsidialen Regierungsform der Demokratie zu de-finieren und infolgedessen auch ihren Auswüchsen vorzubeugen.

Ein anderer demokratischer Universalismus

Die Umsetzung von Formen der Betätigungsdemokratie erschließtselbst dort eine Perspektive für Forderungen und Aktionen, wo dieBürger noch davon abgehalten werden, zu den Urnen zu gehen. Daswird an den Vorgängen in China deutlich, um nur ein plakatives Bei-spiel zu nennen. Dort engagieren sich die Bürger gegen Korruption,das Desinteresse der Macht, die Intransparenz mancher politischerMaßnahmen, die Verantwortungslosigkeit der Herrschenden und ver-langen, dass die Behörden Rechenschaft ablegen.27 Dort, wo die Re-gime noch nicht demokratisch sind, kämpfen die Bürger darum, dassihre Regierungen gewisse demokratische Mindeststandards erfüllen.Man erkennt an diesem Beispiel, dass die Erkämpfung von Grundele-menten einer solchen Betätigungsdemokratie der Einführung einerWahldemokratie vorausgehen kann. Historisch gesehen ist es übrigensin den Altdemokratien, besonders in Europa, genauso verlaufen. ImGegensatz zu den neuen Demokratien, die leider in vielen Fällen beieiner bloßen Genehmigungsdemokratie28 mit antiliberalen, populisti-schen, wenn nicht offen totalitären Zügen (siehe zum Beispiel Weiß-russland und Kasachstan) stehen geblieben sind. Die bloße Genehmi-gungsdemokratie bleibt also, aufgrund der Personalisierungslogik und

27 Vgl. diesbezüglich das sehr aufschlussreiche Werk von Thireau/Linshan, LesRuses de la démocratie.

28 Dabei ist das Problem des massiven Wahlbetrugs, der in solchen Fällen häufigvorkommt, noch gar nicht berücksichtigt.

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Polarisierungsdynamik, die ihr zugrunde liegen, instabil, manipulier-bar und anfällig für ein Abgleiten in eine präsidialherrschaftliche Rich-tung. Wegen ihres dezentralen und facettenreichen Charakters ist dieBetätigungsdemokratie viel weniger der Gefahr ausgesetzt, korrum-piert zu werden. Deshalb verkörpert sie fortan die positive Seite des de-mokratischen Universalismus.

Die vier Demokratien

Dieses Buch bildet den Abschluss einer Werkreihe über den Struktur-wandel der zeitgenössischen Demokratien. Somit wurde die Demokra-tie in ihren vier Dimensionen erforscht, als staatsbürgerliche Tätigkeit,als politisches System, als Gesellschafts- und als Regierungsform. DieStaatsbürgerdemokratie konkretisierte sich zunächst über die Erobe-rung des allgemeinen Wahlrechts, die ich in Le Sacre du citoyen29 un-tersucht habe. Dieses Wahlrecht umschrieb zugleich ein politischesRecht, das heißt eine Macht, nämlich die, aktiver Bürger zu sein, undeinen sozialen Status, nämlich über die gleichberechtigte Teilhabe ander Gemeinschaft der Bürger als autonomes Individuum anerkannt zuwerden. Dieses Verständnis von Staatsbürgerschaft hat sich in derFolge erweitert, da die Bürger sich nicht mehr damit begnügten, überden Wahlakt ihre Souveränität zum Ausdruck zu bringen. Neben die-ser ursprünglichen Sphäre der Wahlrepräsentation bildete sich allmäh-lich ein Komplex von Überwachungs-, Verhinderungs- und Verurtei-lungspraktiken heraus, mittels derer die Gesellschaft Zwangs- undKorrekturbefugnisse ausübt. Ergänzend zum Wahlvolk gaben diesePraktiken den Gestalten eines Wächter-Volkes, eines Veto-Volkes undeines Richter-Volkes Gesicht und Stimme. Während die Wahlen einvertrauensbildender Mechanismus waren, begründeten diese Prakti-ken die Misstrauensäußerung als zweite Sphäre staatsbürgerlicher Be-tätigung. Ich habe die Geschichte und Theorie dieser Erweiterung, dieseit den 1980er Jahren eine wichtige Rolle spielt, in La Contre-démocra-tie. La politique à l’âge de la défiance30 formuliert.

Die Demokratie als System wiederum ist durch die Institutionenund Verfahren definiert, die dazu bestimmt sind, den Gemeinwillen zu

29 Rosanvallon, Le Sacre du citoyen.30 Ders., La Contre-démocratie.

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gestalten. Sie hat sich im Kraftfeld zweier großer Komplexe herausgebil-det: dem der Repräsentativinstitutionen einerseits (ich habe in Le Peu-ple introuvable31 ihre Geschichte geschrieben und die sie strukturieren-den Antinomien untersucht) und dem der Souveränitätsinstitutionenandererseits, deren problematische Entstehung ich in La Démocratieinachevée32 nachgezeichnet habe. Ich habe dann in Demokratische Legi-timität33 aufgezeigt, wie durch ein neues Verständnis des Gemeinwillensversucht wurde, die Grenzen von dessen rein majoritärem Ausdruckzu überwinden. Eine Macht gilt fortan nur noch dann als vollkommendemokratisch, wenn sie Kontroll- und Anerkennungsverfahren unter-worfen wird, die mit dem majoritären Ausdruck zugleich konkurrierenund ihn ergänzen. Es wird erwartet, dass sie einer dreifachen Anforde-rung genügt: Distanzierung von Parteipositionen und Partikularinte-ressen (Legitimität der Unparteilichkeit), Berücksichtigung pluralerAusdrucksformen des Gemeinwohls (Legitimität der Reflexivität) undAnerkennung aller Singularitäten (Legitimität der Nähe). Daher dieimmer größere Bedeutung, die Institutionen wie die unabhängigenBehörden und die Verfassungsgerichte innerhalb der Demokratieneinnehmen. Zeitgleich habe ich die zeitgenössische Krise der Repräsen-tation analysiert und in dem Essay Le Parlement des invisibles34 die Be-dingungen ihrer Überwindung untersucht.

Die Demokratie als Gesellschaftsform stellt ihre dritte Gestalt dar.Ich habe mit ihrer Erforschung in Le Sacre du citoyen35 begonnen, woich aufzeigte, in welchem Maße die moderne Revolution ihrem inners-ten Wesen nach zunächst eine »Revolution der Gleichheit« war, letztereverstanden als eine Beziehung, als eine Art, eine »Gesellschaft der Ähn-lichen« zu begründen. Denn Gleichheit galt anfangs als eine demokra-tische Eigenschaft, als eine Gestalt der Kommunalität, nicht nur alsModus der Reichtumsverteilung. Doch vor allem in Die Gesellschaft derGleichen36 habe ich diese Frage in aller Ausführlichkeit diskutiert undnachgewiesen, dass das Versagen dieses Gleichheitsgedankens einer der

31 Ders., Le Peuple introuvable.32 Ders., La Démocratie inachevée.33 Ders., Demokratische Legitimität.34 Ders., Le Parlement des invisibles.35 Ders., Le Sacre du citoyen.36 Ders., Die Gesellschaft der Gleichen.

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wesentlichen Faktoren war, der zur gegenwärtigen, die Demokratie alsGesellschaftsform zerstörenden Explosion der Ungleichheiten führte.Und damit allen anderen möglichen Regressionen des demokratischenIdeals Vorschub leistete.

In vorliegendem Werk wird also die Demokratie als Regierung, ihrevierte Dimension, analysiert. Dabei werden die Voraussetzungen derzentralen Stellung beschrieben, die sie in der heutigen Welt einnimmtund die sich aus dem Durchbruch der neuen präsidialen Regierungs-form des demokratischen Systems ergibt. Der Abschluss dieses lan-gen Unternehmens, der mit der Publikation dieses Bandes vollzogenist, darf natürlich nicht als umfassende Beantwortung der Fragen ver-standen werden, die den Anlass gaben, es in Angriff zu nehmen. Esbleiben in der Tat noch viele Bücher zu schreiben, um Licht in die Ge-schichte und die Wandlungen der Demokratie zu bringen. Zumindestkann ich darauf hoffen, eine Anzahl nützlicher Werkzeuge bereitge-stellt zu haben, um zu einer gedanklichen Neubestimmung dieser Fra-gen beizutragen. Tatsächlich sitzt uns die Geschichte derzeit im Na-cken, und vielleicht ist das Bemühen, die Welt zu erklären, noch nie sonotwendig gewesen, um den Anforderungen einer Gegenwart zu be-gegnen, die auf Messers Schneide steht.

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I Die exekutive Gewalt:I Eine problematische Geschichte

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Die Inthronisierung des Gesetzes und

die Degradierung der Exekutive

Die Idee einer Herrschaft des Gesetzes

Das demokratische Ideal ist das der Begründung einer spezifischmenschlichen Gesellschaftsordnung. Man zog daraus den Schluss, dassdie Anerkennung der Volkssouveränität zur Entstehung eines gesetz-gebenden Volkes führen müsse. Gleichzeitig stützte sich dieses Ideal im18. Jahrhundert auf einen regelrechten Gesetzeskult. Denn die Ideeeiner Herrschaft des Gesetzes wurde seinerzeit auf das Projekt bezogen,eine Macht der Allgemeinheit zugleich prozeduraler und substanziel-ler Art zu installieren, die einer neuen Sicht des Umgangs mit Men-schen und Dingen entsprach. Dieses Unternehmen beinhaltete eineDimension praktischer Rationalisierung: die Abläufe der Justiz durchVereinheitlichung des bestehenden Wildwuchses an Gebräuchen zuvereinfachen und zu verstetigen. Doch über dieses technische Zielhinaus entwickelten die Reformer allmählich sehr viel ehrgeizigerePläne. Es ging darum, das Strafrecht zu revolutionieren, und zwarnicht nur durch Ausschaltung jeder Form von Willkür, sondern vor al-lem durch eine radikale »Entsubjektivierung«, indem man das Kom-mando einer objektiven Macht der Regel anvertraute, die an die Stelleeines Einzelwillens treten sollte. Cesare Beccaria, der große Rechtsphi-losoph des Aufklärungszeitalters, gab einem solchen Gesetzesverständ-nis in seinem epochemachenden Werk Von den Verbrechen und von denStrafen (1764)1 eine gültige Formulierung. Sein Ausgangspunkt war einklassisch »liberaler«. Er wollte zunächst die Inkonsequenz der Justizbeseitigen, die für gleiche Delikte bisweilen höchst unterschiedlicheStrafen verhängte. Wie viele Philosophen quälte ihn das Gespenst desJustizirrtums und empörte ihn die Willkür der Urteile. In seinen Au-gen war der Interpretationsspielraum der Richter für diese verderb-

1 Vgl. Porret (Hg.), Beccaria et la culture juridique des Lumières.

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lichen Schwankungen verantwortlich. Daher sein Kampf für eine Ob-jektivierung des Rechts mit dem Ziel, die Uneinheitlichkeit desGesetzes im Umgang mit der Vielfalt der Fakten zu reduzieren. Die Be-gründung einer wahren Justiz, die in der Lage wäre, Willkür durch Un-persönlichkeit zu verhindern, beinhaltete also für ihn, dass die buch-stabengetreue Anwendung der Texte eine Selbstverständlichkeit sei,damit das allgemeine Gesetz mit den Fakten passgenau zur Deckungkäme. Sein Leitgedanke, der von allen Reformern der Zeit geteiltwurde, lautete, dass jedes Gesetz, aufgrund des allgemeinen Charaktersseiner Formulierung, Einzelfällen aller Art umfassend Rechnung tra-gen und somit genügen könne, um die Wirklichkeit zu beherrschen.An der Schwelle zum 19. Jahrhundert führte Jeremy Bentham, der Be-gründer des Utilitarismus, diesen Gedankengang fort in seinem Ap-pell, eine Wissenschaft der Gesetzgebung zum wesentlichen Träger einerzugleich demokratischen, moralischen und methodologischen Revo-lution zu machen.2 In diesem Geist verfasste er 1789 den Entwurf eines»Pannomions«, das im Bereich des Rechts das Gleiche leisten sollte wiesein späteres »Panopticon« auf dem Gebiet der Gefängnisreform.3 VonBeccaria bis Bentham war der Aufstieg des Gesetzes also unübersehbarmit dem Projekt verbunden, einer objektiven Macht, Stifterin einerneuen Politik, nämlich der der Allgemeinheit, zum Durchbruch zuverhelfen. Die Idee des Gesetzes verdrängte somit die der guten Regie-rung in den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts von einer gerechtenund effizienten politischen Ordnung. Wenige Gesetze genügen, voraus-gesetzt, dass sie gut sind, um eine Gesellschaft zu regieren: so lauteteder allgemeine Tenor. Die Enzyklopädie4 fasste dieses Zeitempfindentreffend in dem Urteil zusammen, dass »die Vielzahl der Gesetze unter

2 Vgl. Vanderlinden, »Code et codification dans la pensée de Jeremy Bentham;Baranger, »Bentham et la codification«, und Ost, »Codification et temporalitédans la pensée de J. Bentham«.

3 Der Entwurf zu einem Pannomion der französischen Nation findet sich unter sei-nen Nachlassmanuskripten am University College (siehe Manuskript Nr. 100,zitiert von Halévy, La Formation du radicalisme philosophique, S. 367). Vgl.auch seine »Pannomial Fragments« sowie seine »Nomography, or the Art of In-diting Laws«, S. 211–230 sowie S. 232f.

4 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers,hrsg. von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, Paris 1751–1772.

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sonst gleichen Bedingungen den schlechten Zustand einer Regierungbeweist«.5 Aufgrund ihres allgemeinen Charakters und ihrer geringenZahl waren die Gesetze auf dauerhaften Bestand eingerichtet. All-gemeinheit, Einfachheit, Beständigkeit: Als Verkörperungen dieserEigenschaften waren die neuen Gesetze dazu ausersehen, Menschenund Dinge am Schnittpunkt von Liberalismus und Demokratie zu re-gieren.

Der Kult des Rechts auf der einen, der des Marktes auf der anderenSeite, Letzterer vom Naturgesetz einer unsichtbaren Hand beherrscht,veranlassten somit die Menschen der Aufklärung dazu, den Raum desPolitischen als Entscheidungssphäre zu beschneiden. Diese beiden Auf-fassungen von Gesetz, verschieden insofern, als die eine Ausdruckeines positiven Rechts war, während die andere als Bestandteil einernatürlichen Ordnung galt, richteten sich gleichermaßen auf das Ziel,den Gedanken der vollziehenden Gewalt und die Rolle eines unmittel-bar tätigen politischen Willens in den Hintergrund zu drängen. Dennder Wille stand in Verdacht, Träger von Herrschaft zu sein oder dieBevorzugung von Privatinteressen zu fördern. Das Bemühen der zeit-genössischen Sozialwissenschaften, deren Wiege in der schottischenAufklärung zu suchen ist, zielte also darauf ab, eine Welt zu denken, inder der Wille, der als potenziell willkürliche Bewusstseinsform wahr-genommen wurde, keine Rolle mehr spielen sollte, womit gleichzeitigdie Idee der Regierung automatisch an Wert verlor. Es waren die Pro-tagonisten der Französischen Revolution, die zu aktiven Verfechterndieser Vorstellung eines Bruchs mit dem alten Zustand wurden. Ihreradikale Art, ihn zu vollziehen, hat deshalb ihr Werk zum theoretischwie praktisch exemplarischen Laboratorium dieser Inthronisierungdes Gesetzes gemacht. Wir können sie folglich als Ausgangspunktunserer Untersuchung über die historischen Entstehungsbedin-gungen des Primats der Legislative und der Negierung der Exekutivenehmen.

Nicht umsonst hatte ein französischer Grammatiker 1789 angeregt,die künftige Bestimmung des Landes darin zu sehen, ein »loyaume« zu

5 Jaucourt, »Loi«, in: Diderot/d’Alembert, Encyclopédie. Vgl. auch Rousseau,»Über die Gesetze«, S. 527–536. Dieser Text ist eine lange Diatribe gegen »dieenorme Vielzahl der Gesetze« (S. 530).

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bilden.6 Bezeichnenderweise wurde im Frühjahr 1792 mit großemPomp ein »Fest des Gesetzes« organisiert – eines der ersten nach demFöderationsfest –, bei dem man einen Wald von Fahnen mit Aufschrif-ten wie »Das Gesetz«, »Achtung vor dem Gesetz« oder »Sterben, um eszu schützen« durch die Pariser Straßen trug. Allenthalben ertönte einspontanes und überschwängliches »Es lebe das Gesetz!«, um den Geistdes neuen Regimes wiederzugeben. Der Bezug auf das Gesetz war da-mals im Bereich der Argumente wie in dem der Emotionen gleicher-maßen allgegenwärtig.7 Von den siebzehn Artikeln der Menschen- undBürgerrechtserklärung beziehen sich sieben auf die Funktionsweisedes Gesetzes und begründen damit dessen zentralen Stellenwert. Mi-chelet hatte deshalb allen Grund, den ersten Impuls der Revolution als»Durchbruch des Gesetzes« zu charakterisieren. Dieser Allgemeinbe-fund muss allerdings differenziert werden. Hinter einer scheinbar ein-helligen Beschwörung verbargen sich 1789 tatsächlich drei verschie-dene Gesetzesvorstellungen.

Die erste, die man als »liberal« bezeichnen könnte, stellte einen ba-nalen Gegensatz zwischen den Vorzügen eines Regelstaates und denIrrtümern einer Willkürmacht auf. Das war die klassische englischeSichtweise. Die Herrschaft des Gesetzes, die sich die Menschen von1789 erhofften, hatte zunächst diese Dimension. Die kanonischen For-mulierungen Montesquieus zu diesem Thema waren in allen Köpfen,und der Despotismus wurde spontan als Regime gebrandmarkt, indem »ein einzelner Mann ohne Regel und Gesetz alles nach seinemWillen und Eigensinn abrichtet«8. Anders ausgedrückt, der Despotis-mus wurde mit der Macht des Partikularen gleichgesetzt (dem »Gut-dünken« des Fürsten als Willkür), während die Freiheit als durch dieAllgemeinheit der Regel gesichert galt: Allgemeinheit als Ursprung(Parlamentsbetrieb), Allgemeinheit als Form (Unpersönlichkeit der

6 »Wir nennen Königreich (royaume) ein Land, das von einem König souverän re-giert wird; das Land, in dem allein das Gesetz (loi) herrscht, will ich loyaumenennen.« Urbain Domergue, zit. n. Brunot, Histoire de la langue française desorigines à 1900, S. 641.

7 Vgl. das Kapitel »La suprématie de la loi«, in: Belin, La Logique d’une idée-force.Vgl. auch Ray, »La Révolution française et la pensée juridique: l’idée du règne dela loi, sowie Larrère, »Le gouvernement de la loi est-il un thème républicain?«.

8 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze.

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Norm), Allgemeinheit als Verwaltungsmodus (Staat). Das Prestige desGesetzes entsprang dieser dreifachen Äquivalenz. Das Gesetz war zu-gleich ein Ordnungsprinzip, das es ermöglichte, »eine unbegrenzteZahl von Menschen […] in einen Körper zu verwandeln«, und einGerechtigkeitsprinzip, weil es in seiner Allgemeinheit keine bestimm-ten Personen kannte und somit »leidenschaftsloser Verstand« seinkonnte.9 Die revolutionäre Verherrlichung des Gesetzes harmonierteaußerdem mit dem rechtlichen Rationalisierungsgebot, das im 18. Jahr-hundert aufgekommen war. Die Entstehung eines umfassenden Kodi-fizierungsunternehmens erfolgte unter diesem Vorzeichen. Schon derBegriff des Gesetzbuches (code) umschreibt den Horizont dieses refor-merischen Willens, die vorherige Heterogenität der Bräuche durcheine einheitliche und rationale Gesetzgebung zu ersetzen. Die Kodifi-zierung war für die Mitglieder der Konstituante eine regelrechte The-rapie, in geistiger wie politischer Hinsicht; sie beschränkte sich nichtauf ein technisches Verfahren (wie das ältere Projekt, die Bräuche auf-zuschreiben, um sie zu fixieren). Schließlich hatte das Gesetz noch einedritte, eminent demokratische Dimension, denn es war »Ausdruck desallgemeinen Willens« und musste insofern das Werk des gesetzgeben-den Volkes sein. Artikel 6 der Menschenrechtserklärung verfügte dem-entsprechend: »Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens.Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter anseiner Gestaltung mitzuwirken.« Es war in dieser dreifachen Hinsichtdie Verkörperung einer Herrschaft der Allgemeinheit.

Eine politische Utopie

Dieses Gesetzesverständnis hatte eine totalisierende Dimension. Eswar nicht zu trennen von der Utopie einer Macht, die in der Lage wäre,die Gesellschaft vollständig zu erfassen und im Einzelnen zu bewegen.Diese politische Philosophie fand darin ihren mächtigsten Impuls. DieHerrschaft der Allgemeinheit, die sie heraufbeschwor, war demnachkeine bloße Verfahrenssache. Das Gesetz war für die Menschen von1789 nicht nur eine effiziente und legitime Norm: es war ein politisches

9 Nach den von Renoux-Zagamé wiedergegebenen Formulierungen, in: dies., DuDroit de Dieu au droit de l’homme, S. 24.

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Agens. Durch das Tilgen jeder Beziehung zum Partikularen sollte dasGesetz eine in ihrer reduktionistischen Einfachheit vollkommen ge-rechte und wohlgeordnete Welt entwerfen. Dem Kodifizierungseiferlag also eine echte Utopie zugrunde: die Welt vollkommen zu beherr-schen, indem man sie zu einer absolut handhabbaren, weil abstrahier-ten, Welt umstrukturiert. Niemand hat besser als Jean Carbonnier,einer der großen französischen Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts,die Beziehung zwischen dem, was einem Phänomen der Rechtspsycho-logie ähnelt, und einer bestimmten politischen Vision zum Ausdruckgebracht. »Gesetze zu machen, ist ein erleseneres Vergnügen als kom-mandieren«, bemerkte er. »Da ist nicht mehr der grobe Befehl, den derHerr dem Sklaven, der Offizier dem Soldaten erteilt, die unmittelbareAnordnung ohne Nachhaltigkeit. Nein, da ist das Gesetz, der gesichts-lose Befehl mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Dauer, demGöttlichen gleich, der in Raum und Zeit ausgesandte Befehl, der sichan anonyme Massen und unsichtbare Generationen richtet.«10 Auchdas schätzten die Menschen der Revolution an der Macht der Allge-meinheit. Souveränität des Gesetzes bedeutete für sie also nicht alleindas Bekenntnis zum Rechtsstaat, sondern das Bestreben des Gesetz-gebers, alle politischen Funktionen zu übernehmen, insbesondere dieJudikative und die Exekutive.

Die Degradierung der Judikative während der Revolution

Als Folge der hier dargestellten Gesetzesauffassung »degradierte« diepolitische Kultur der Revolution zunächst die Judikative. Das war inder großen Justizreformdebatte von 1790 deutlich zu erkennen. Wirkönnen diese Frage, die die konstituierende Versammlung über Mo-nate beschäftigte, hier nicht erschöpfend behandeln. Dennoch lohnt esdie Mühe, wenigstens kurz und exemplarisch auf die Begriffe einzuge-hen, in denen seinerzeit der Aufbau eines Kassationsgerichts gedacht

10 Carbonnier, »La passion des lois au siècle des Lumières«, S. 240. »Es ist demnachverständlich«, heißt es bei ihm weiter, »dass es eine Leidenschaft für die Gesetze,für das Gesetzemachen gibt, die nicht mit banaler Machtgier zu verwechseln ist,auch nicht mit dem spezielleren Vergnügen, das man dabei empfinden mag, seinTestament zu machen. Es ist ein rechtspsychologisches Phänomen – bei dem In-dividual- und Kollektivpsychologie nicht zu trennen sind.«

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wurde.11 Wenngleich die Mitglieder der Konstituante zugestanden, dassdie Einrichtung eines Revisionsverfahrens »ein Übel, aber ein notwen-diges Übel ist«12, sorgten sie sich vor allem um die Gefahr, die eine un-abhängige Auslegungsinstanz darstellen würde. Auch wenn sie sich be-wusst waren, dass eine solche Instanz im technischen Sinne dazudienen könnte, nach den Worten eines von ihnen, »die Einheit der Ge-setzgebung zu gewährleisten«13, fürchteten sie, dass ein Gericht, daszum Hüter und Beschützer der Gesetze bestellt sei, unter der Hand zuihrem Gebieter werden könne. Sie beschlossen folglich, nur eine ein-zige, direkt der gesetzgebenden Körperschaft unterstehende Kassations-kammer zu schaffen, sodass jeweils das Gesetz selbst präzisiert wird,ohne dass sich eine Rechtsprechung im eigentlichen Sinne heraus-bildet.14 »Das Wort Rechtsprechung […] sollte aus unserer Sprache ver-bannt werden«, sagte bezeichnenderweise Robespierre und brachte da-mit das diesbezügliche Allgemeinempfinden zum Ausdruck. »In einemStaat, der über eine Verfassung und eine Gesetzgebung verfügt«, so Ro-bespierre weiter, »ist die Rechtsprechung der Gerichte nichts anderesals das Gesetz selbst.«15 Im Übrigen beschränkte sich die Tätigkeit desKassationsgerichts in dieser Zeit praktisch auf die Annullierung vonBeschlüssen, die einen »förmlichen Verstoß« gegen einen Text darstell-ten oder aus einer »falschen Anwendung des Gesetzes« herrührten.16

11 Gesetz vom 27. November 1790. Vgl. zu diesem Thema die Zusammenfassung vonHalpérin, Le Tribunal de cassation et les pouvoirs sous la Révolution (1790–1799).

12 Bertrand Barère, Rede vom 8. Mai 1790, Mavidal/Laurent, Archives parlemen-taires, Band 15, S. 432.

13 Antoine Barnave, Rede vom 8. Mai 1790, ebd.14 Der genaue Mechanismus, der vereinbart wurde, sah ein faktisches Nebenei-

nander von Gesetzesauslegung und Kassation vor. In den – als sehr selten ange-nommenen – Fällen, in denen eine Ungenauigkeit des Textes vorlag, sollte derGesetzgeber selbst entscheiden. »Das Kassationsgericht muss innerhalb der ge-setzgebenden Körperschaft angesiedelt sein«, sagte Robespierre, um klarzustel-len, dass die Kassation – im engeren Sinne – als eine Maßnahme von allgemei-nem Interesse zu betrachten sei und mit den Fällen von Einzelpersonen undfolglich dem Justizsystem nicht zu tun habe (Rede vom 25. Mai 1790, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires, Band 15, S. 671).

15 Intervention vom 18. November 1790, Mavidal/Laurent, Archives parlementaires,Band 20, S. 516.

16 In buchstabengetreuer Befolgung eines Dekrets vom 27. November 1790, das inseinem Artikel 3 festlegte, dass eine Kassation nur stattfinden könne, wenn ein