Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung...

63
Gew ¨ ohnliche Differentialgleichungen Franz Hofbauer Eine Vorlesung f¨ ur das Lehramtstudium

Transcript of Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung...

Page 1: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

Gewohnliche

Differentialgleichungen

Franz Hofbauer

Eine Vorlesung fur das

Lehramtstudium

Page 2: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist
Page 3: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1. Einleitung 1

Kapitel 2. Differentialgleichungen erster und zweiter Ordnung 31. Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung 32. Differentialgleichungen mit getrennten Variablen 53. Homogene lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten 74. Inhomogene lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten 12

Kapitel 3. Systeme linearer Differentialgleichungen 171. Eigenwerte und Eigenvektoren fur 2× 2-Matrizen 172. Homogene Systeme linearer Differentialgleichungen 193. Inhomogene Systeme linearer Differentialgleichungen 234. Ein anderer Zugang zu homogenen Systemen 255. Systeme zweiter Ordnung 286. Losungskurven 31

Kapitel 4. Nichtlineare Differentialgleichungssysteme 351. Partielle Ableitungen 362. Existenz und Eindeutigkeit von Losungen 373. Fixpunkte 384. Bewegungsinvariante 39

Kapitel 5. Anhang 431. Die Keplerschen Gesetze 432. Ljapunovfunktionen 473. Lineare Differentialgleichungssysteme 564. Lineare Differentialgleichungssysteme – ein anderer Zugang 58

Page 4: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist
Page 5: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

KAPITEL 1

Einleitung

Eine Differentialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en)enthalt. Gesucht ist diese Funktion. Wir schreiben diese Funktion ublicherweise als x(t), dadie Variable t oft die Zeit bezeichnet und x(t) den Ort eines Korpers oder die Große einerPopulation zum Zeitpunkt t.

Beispiel. Ein Korper fallt aus der Hohe h. Sei x(t) die Hohe des Korpers zum Zeit-punkt t. Dann ist x′(t) die Geschwindigkeit und x′′(t) die Beschleunigung des Korpers zumZeitpunkt t. Die Beschleunigung ist zu jedem Zeitpunkt t gleich der Erdbeschleunigung −g(das Minusvorzeichen besagt, dass der Korper nach unten fallt). Zum Zeitpunkt 0 hat derKorper Hohe h und Geschwindigkeit 0. Das ergibt die Gleichungen

x′′(t) = −g fur alle t ≥ 0 , x(0) = h und x′(0) = 0

Die erste Gleichung ist eine (sehr einfache) Differentialgleichung, die anderen beiden Glei-chungen sind sogenannte Anfangsbedingungen. Es ist leicht, x(t) zu finden. Durch Integrationder Gleichung x′′(t) = −g erhalten wir x′(t) = −gt+ c fur ein c ∈ R (Integrationskonstante).Wegen x′(0) = 0 folgt c = 0. Durch Integration der Gleichung x′(t) = −gt erhalten wirschließlich x(t) = −g

2t2 + d fur ein d ∈ R. Wegen x(0) = h folgt d = h. Damit ergibt sich

x(t) = h − g2t2. Das ist die Losung des gestellten Problems. Durch x(t) = h − g

2t2 wird die

Hohe des fallenden Korpers zum Zeitpunkt t angegeben.Um zu berechnen, wann der Korper am Boden auftrifft, losen wir die Gleichung x(t) = 0

nach t auf. Es folgt g2t2 = h und t =

√2h/g. Die Geschwindigkeit beim Auftreffen des

Korpers am Boden ist x′(√

2h/g) = −g√

2h/g = −√2gh.

Wirft man den Korper senkrecht nach oben, dann gilt ebenfalls die Differentialgleichungx′′(t) = −g. Allerdings haben wir jetzt die Anfangsbedingungen x(0) = 0 und x′(0) = v,wobei v die Anfangsgeschwindigkeit ist, mit der der Korper geworfen wird.

Durch Integration der Gleichung x′′(t) = −g erhalten wir x′(t) = −gt + c fur ein c ∈ R.Wegen x′(0) = v folgt c = v. Durch Integration der Gleichung x′(t) = −gt + v erhaltenwir x(t) = −g

2t2 + vt + d fur ein d ∈ R. Wegen x(0) = 0 folgt d = 0. Damit ergibt sich

x(t) = vt− g2t2. Dadurch wird die Hohe des Korpers zum Zeitpunkt t angegeben.

Um zu berechnen, wann der Korper am Boden auftrifft, losen wir die Gleichung x(t) = 0nach t auf. Wir erhalten t = 2v

g. (Die Losung t = 0 gibt den Abwurfzeitpunkt an.) Um den

hochsten Punkt zu berechnen, den der Korper erreicht (dort hat der Korper ja Geschwin-digkeit 0), losen wir x′(t) = 0 nach t auf. Wir erhalten t = v

g. Das ist der Zeitpunkt, zu dem

sich der Korper im hochsten Punkt befindet. Der hochste Punkt ist x(vg) = v2

2g.

Beispiel. Wir beschreiben das Wachstum einer Population, wobei der Zuwachs in einemZeitintervall proportional zur Populationsgroße und zur Lange des Zeitintervalls sein soll. Seix(t) die Große der Population zum Zeitpunkt t. Der Zuwachs im Zeitintervall [t, t + h] ist

1

Page 6: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2 1. EINLEITUNG

proportional zu x(t) und zu h. Somit gilt

x(t+ h)− x(t) = rhx(t) oder x(t+h)−x(t)h

= rx(t)

wobei r der Proportionalitatsfaktor ist. Diese Gleichung gilt allerdings nur fur kleine h, dasich die Populationsgroße x(t) im Zeitintervall [t, t + h] andert. Jedenfalls sollten wir einebrauchbare Gleichung erhalten, wenn wir h gegen 0 gehen lassen. Das ergibt die Differenti-algleichung

x′(t) = rx(t)

Um diese Differentialgleichung zu losen, dividieren wir durch x(t) und erhalten x′(t)x(t)

= r.

Eine Stammfunktion von x′(t)x(t)

ist log x(t). Wir erhalten daher log x(t) = rt+ c fur ein c ∈ R(Integrationskonstante). Wir setzen d = ec. Es folgt x(t) = dert. Das ist die Losung derDifferentialgleichung.

Um die unbestimmte Konstante d zu bestimmen, gibt man die Große x0 der Populationzum Zeitpunkt 0 vor. Wegen x(0) = de0 folgt d = x0. Wir erhalten x(t) = x0e

rt. Dadurchwird die Populationsgroße zum Zeitpunkt t angegeben.

Der Quotient x′(t)x(t)

heißt Wachstumsrate. In diesem Beispiel wird angenommen, dass die

Wachstumsrate konstant ist.

Bezeichnungen: Die hochste in der Differentialgleichung vorkommende Ableitung nenntman die Ordnung der Differentialgleichung. Eine Differentialgleichung heißt linear, wennsie von der Form an(t)x

(n)(t) + an−1(t)x(n−1)(t) + · · · + a1(t)x

′(t) + a0(t)x(t) = b(t) ist. Istb(t) = 0, dann nennt man die lineare Differentialgleichung homogen. Sind die Funktionenan(t), an−1(t), . . . , a1(t), a0(t) konstant, dann sagt man, die lineare Differentialgleichung hatkonstante Koeffizienten.

Page 7: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

KAPITEL 2

Differentialgleichungen erster und zweiter Ordnung

1. Lineare Differentialgleichungen erster Ordnung

Satz 1. Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und p : I → R und q : I → R seien stetig. Sei Peine Stammfunktion von p. Alle Losungen der Differentialgleichung

x′(t) = p(t)x(t) + q(t)

auf dem Intervall I sind dann gegeben durch

x(t) = eP (t)(∫q(t)e−P (t) dt+ c) fur ein c ∈ R

Man nennt das die allgemeine Losung der Differentialgleichung.

Beweis. Sei x(t) = eP (t)(∫q(t)e−P (t) dt + c). Wir zeigen, dass diese Funktion fur jedes

c ∈ R eine Losung der Differentialgleichung x′(t) = p(t)x(t) + q(t) ist. Differenzieren mitHilfe der der Produktregel ergibt

x′(t) = p(t)eP (t)(∫q(t)e−P (t) dt+ c) + eP (t)q(t)e−P (t)

Daraus erkennt man, dass x′(t) = p(t)x(t) + q(t) erfullt ist.Sei jetzt x(t) eine beliebige Losung der Differentialgleichung x′(t) = p(t)x(t) + q(t). Wir

setzenv(t) = x(t)e−P (t) −

∫q(t)e−P (t) dt

Differenzieren mit Hilfe der der Produktregel ergibt

v′(t) = x′(t)e−P (t) − x(t)p(t)e−P (t) − q(t)e−P (t) = (x′(t)− x(t)p(t)− q(t))e−P (t)

Da x(t) die Differentialgleichung erfullt, erhalten wir v′(t) = 0. Eine Funktion, deren Ablei-tung null ist, ist konstant. Es existiert ein c ∈ R mit v(t) = c fur alle t ∈ R. Setzt man dasfur v(t) ein und rechnet x(t) aus, so erhalt man x(t) = eP (t)(

∫q(t)e−P (t) dt+ c). Das beweist,

dass jede Losung der Differentialgleichung x′(t) = p(t)x(t) + q(t) von dieser Form ist. �Anfangswertproblem: Um die in der Losung der Differentialgleichung x′(t) = p(t)x(t) +q(t) vorkommende unbestimmte Konstante c berechnen zu konnen, gibt man eine sogenannteAnfangsbedingung x(t0) = x0 vor. Die Losung x(t) ist an der Stelle t0 bekannt. Darausberechnet man c. Eine Differentialgleichung zusammen mit einer Anfangsbedingung nenntman Anfangswertproblem.

Beispiel. Auf dem Intervall I = (0,∞) losen wir das Anfangswertproblem

x′(t) = −1tx(t) + 1

tcos t mit x(π

2) = 0

Wir verwenden die Formel aus Satz 1. Wir haben p(t) = −1tund q(t) = 1

tcos t. Es folgt

P (t) = − log t und eP (t) = 1t. Wir berechnen

∫q(t)e−P (t) dt =

∫(1tcos t) · t dt =

∫cos t dt =

sin t. Die allgemeine Losung dieser Differentialgleichung ist somit

x(t) = 1t(sin t+ c) mit c ∈ R

3

Page 8: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4 2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER UND ZWEITER ORDNUNG

Die Anfangsbedingung lautet x(π2) = 0. Das ergibt die Gleichung 2

π(sin π

2+ c) = 0. Es folgt

c = −1. Die Losung des Anfangswertproblems ist daher x(t) = 1t(sin t− 1).

Beispiel. Wir behandeln den radioaktiven Zerfall mit konstanter Zufuhr. Sei x(t) dieMenge des zum Zeitpunkt t vorhandenen radioaktiven Materials. Im Zeitintervall [t, t+h] derLange h zerfallt die Menge rhx(t) und die Menge ah wird zugefuhrt, wobei r die konstanteZerfallsrate und a die Zufuhr pro Zeiteinheit ist. Wir erhalten die Gleichung

x(t+ h)− x(t) = −rhx(t) + ah oder x(t+h)−x(t)h

= −rx(t) + a

Diese Gleichung gilt allerdings nur fur kleine h, da sich die Menge x(t) im Zeitintervall[t, t+ h] andert. Lassen wir h gegen 0 gehen, erhalten wir die Differentialgleichung

x′(t) = −rx(t) + a

Die allgemeine Losung dieser Differentialgleichung ist nach Satz 1

x(t) = e−rt(arert + c) = ce−rt + a

rmit c ∈ R

Ist zu Beginn die Menge x0 vorhanden, dann ist x(0) = x0 die Anfangsbedingung. Das ergibtdie Gleichung c+ a

r= x0. Es folgt c = x0− a

r. Die Losung des Anfangswertproblems ist daher

x(t) = (x0 − ar)e−rt + a

r

Es gilt limt→∞ x(t) = ar. Nach einiger Zeit stellt sich die konstante Menge a

ran radioaktivem

Material ein.Casium 137 zerfallt mit Zerfallsrate r = 0.023/Jahr. Wenn a kg Casium pro Jahr in die

Athmosphare abgegeben werden, dann sammelt sich dort ar= a

0.023= 43.5a kg Casium 137,

also das 43.5-fache des Jahresausstoßes.

Beispiel. Wir behandeln einen Stromkreis, der einen Widerstand von R Ohm und eineSpule mit Induktivitat L enthalt. Er ist an eine Spannungsquelle angeschlossen.

⃝ER

L

Sei I(t) der Strom (in Ampere), der zum Zeitpunkt t im Stromkreis fließt. Nach demOhmschen Gesetz ist U1(t) = RI(t) die vom Widerstand verursachte Spannung. Sie ist pro-portional zum fließenden Strom und diesem entgegengesetzt. Stromanderungen in der Spuleverursachen ein Magnetfeld, das eine Spannung U2(t) induziert. Diese wirkt dem fließendenStrom entgegen und ist proportional zur Stromanderung. Es gilt U2(t) = LI ′(t). Da es sichum einen geschlossenen Stromkreis handelt, ist die angelegte Spannung E(t) gleich der Sum-me der von Widerstand und Spule verursachten Spannungen, also E(t) = U1(t) + U2(t). Esfolgt E(t) = RI(t) + LI ′(t). Wir erhalten die Differentialgleichung

I ′(t) = −RLI(t) + 1

LE(t)

Legt man eine Gleichspannung an, dann ist E(t) konstant gleich E. Die allgemeine Losungder Differentialgleichung ist nach Satz 1

I(t) = e−RLt(∫

ELe

RLt dt+ c) = ce−

RLt + E

Rfur ein c ∈ R

Es gilt limn→∞ I(t) = ER. Nach einiger Zeit fließt ein konstanter Strom von E

RAmpere.

Page 9: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN MIT GETRENNTEN VARIABLEN 5

Legt man eine Wechselspannung an, dann gilt E(t) = E sinωt mit ω ∈ R. Die allgemeineLosung der Differentialgleichung ist nach Satz 1

I(t) = e−RLt(∫

ELsinωt e

RLt dt+ c) = ce−

RLt + ER sinωt−ωLE cosωt

ω2L2+R2 fur ein c ∈ Rwobei man zur Berechnung des Integrals zweimalige partielle Integration verwendet. Es giltI(t) ≈ ER

ω2L2+R2 sinωt− ωLEω2L2+R2 cosωt fur große t. Wahlt man den Winkel γ so, dass sin γ =

ωL√ω2L2+R2 und cos γ = R√

ω2L2+R2 gilt und setzt man A = E√ω2L2+R2 , dann hat man fur große t

I(t) ≈ A cos γ sinωt− A sin γ cosωt = A sin(ωt− γ)

Es stellt sich ein Wechselstrom mit verschobener Phase ein.

2. Differentialgleichungen mit getrennten Variablen

Satz 2. Seien I und J offene Intervalle, beschrankt oder unbeschrankt. Sei g : I → (0,∞)eine stetige Funktion. Ebenso sei h : J → (0,∞) oder h : J → (−∞, 0) stetig. Ihre Stamm-

funktionen seien G und H. Die Losungen der Differentialgleichung x′(t) = g(t)h(x(t))

sind dann

x(t) = H−1(G(t) + c) definiert auf dem Intervall G−1(H(J)− c)

wobei c ∈ R beliebig ist aber so, dass G−1(H(J)− c) nicht die leere Menge ist.

Beweis. Wegen h > 0 oder h < 0 ist H streng monoton, sodass H−1 : H(J) → Jexistiert. Weiters ist H(J) ein offenes Intervall, sodass auch das um c verschobene IntervallH(J) − c offen ist. Wegen g > 0 ist G streng monoton wachsend, sodass G−1(H(J) − c)dann ein offenes Teilintervall von I (oder leer) ist. Sei jetzt t 7→ x(t) eine differenzierbareAbbildung, die auf einem offenen Teilintervall von I definiert ist und Werte in J hat (sonstkann man x(t) nicht in die Differentialgleichung einsetzen). Dann gilt

x′(t) = g(t)h(x(t))

⇐⇒ h(x(t))x′(t) = g(t)

⇐⇒ H(x(t)) = G(t) + c fur eine Konstante c ∈ R⇐⇒ x(t) = H−1(G(t) + c) fur eine Konstante c ∈ R

wobei x(t) auf G−1(H(J)−c) definiert ist. Es gilt ja t ∈ G−1(H(J)−c) ⇔ G(t) ∈ H(J)−c⇔G(t) + c ∈ H(J) , sodass man dann H−1(G(t) + c) bilden kann. �

Beispiel. Auf dem Intervall I = (0,∞) losen wir das Anfangswertproblem

x′(t) = 1tex(t)

mit x(1) = 0

Wir verwenden die Formel aus Satz 2. Es gilt g(t) = 1tund h(x) = ex. Es folgt G(t) = log t

definiert auf I = (0,∞) und H(x) = ex definiert auf J = R. Weiters gilt H(J) = (0,∞) undH−1(y) = log y. Wegen G−1(y) = ey erhalten wir G−1(H(J)− c) = G−1(−c,∞) = (e−c,∞).Die allgemeine Losung dieser Differentialgleichung ist somit

x(t) = H−1(G(t) + c) = log(log t+ c) auf (e−c,∞) mit c ∈ RDie Anfangsbedingung lautet x(1) = 0. Das ergibt die Gleichung log(log 1 + c) = 0. Es folgtc = 1. Die Losung des Anfangswertproblems ist daher x(t) = log(1 + log t) auf (1

e,∞).

Beispiel. Wir behandeln die Logistische Differentialgleichung, die das Wachstum einerPopulation behandelt. Die Wachstumsrate wird als lineare Funktion der Populationsgroßemit negativem Anstieg angenommen. Das ergibt

x′(t)x(t)

= a(1− x(t)K

) oder x′(t) = ax(t)(1− x(t)K

)

Page 10: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

6 2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER UND ZWEITER ORDNUNG

Ist x(t) > K, dann ist die Wachstumsrate negativ verursacht durch Uberbevolkerung.Es liegt eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen vor. Wir verwenden die For-

mel aus Satz 2. Es gilt g(t) = a und h(x) = Kx(K−x) =

1x+ 1

K−x . Wir konnen I = R wahlen,

da g eine konstante Funktion ist. Das Intervall J ist so zu wahlen, dass h auf J das Vorzei-chen nicht andert. Wir wahlen daher J = (0, K) oder J = (K,∞). Stammfunktionen sindG(t) = at undH(x) = log |x|−log |K−x| = log | x

K−x |. Im Fall J = (0, K) istH(x) = log xK−x .

Im Fall J = (K,∞) ist H(x) = log −xK−x .

Um H−1 zu berechnen, losen wir die Gleichung H(x) = y nach x auf. Wir erhalten

y = log ±xK−x ⇔ ey = ±x

K−x ⇔ Key = eyx± x ⇔ Key

ey±1= x

Somit ist H−1(y) = Key

ey±1die Umkehrfunktion. Aus Satz 2 folgt jetzt

x(t) = H−1(G(t) + c) = H−1(at+ c) = Keat+c

eat+c±1= K

1±e−at−c = K1±e−ce−at

Wir fuhren die neue Konstante d = ±e−c ein und erhalten die Losung

x(t) = K1+de−at mit d ∈ R

Es ist noch der Definitionsbereich der Losung x(t) zu bestimmen. Wir konnen die Formelaus Satz 2 verwenden oder einfach das Intervall bestimmen auf dem x(t) definiert ist. ImFall J = (0, K) gilt d > 0 und der Definitionsbereich ist ganz R. Im Fall J = (K,∞) giltd < 0 und der Definitionsbereich ist das Intervall (− 1

alog(−1

d),∞).

Um die Konstante d zu bestimmen, gibt man die Populationsgroße x0 zum Zeitpunkt0 vor. Wegen x(0) = K

1+dfolgt d = K

x0− 1. Die Losung des Anfangswertproblems ist dann

x(t) = Kx0x0+(K−x0)e−at . Ist x0 großer als 0, dann gilt limt→∞ x(t) = K. Im Laufe der Zeit stellt

sich eine Population der Große K ein.

Beispiel. Wir untersuchen explosives Wachstum einer Population. Wir nehmen an, dassdie Wachstumsrate gleich αxβ mit α > 0 und β > 0 ist, das heißt sie ist bei großererPopulation nicht kleiner, sondern großer. Das ergibt die Differentialgleichung

x′(t)x(t)

= αx(t)β oder x′(t) = αx(t)β+1

Wir verwenden die Formel aus Satz 2 fur Differentialgleichungen mit getrennten Variablen. Esgilt g(t) = α und h(x) = x−β−1. Die Stammfunktionen sindG(t) = αt definiert auf I = R und

H(x) = x−β

−β definiert auf J = (0,∞). Weiters gilt H(J) = (−∞, 0) und H−1(y) = (−βy)−1β .

WegenG−1(y) = yαerhalten wirG−1(H(J)−c) = G−1(−∞,−c) = (−∞,− c

α). Die allgemeine

Losung der Differentialgleichung ist somit

x(t) = H−1(G(t) + c) = (−βαt− βc)−1β = 1

(−βαt−βc)1/β auf (−∞,− cα) mit c ∈ R

Ist x0 die Populationsgroße zu Beginn, dann ist x(0) = x0 die Anfangsbedingung. Das ergibtdie Gleichung 1

(−βc)1/β = x0. Es folgt −βc = 1

xβ0. Die Losung des Anfangswertproblems ist

x(t) = x0(1−βαxβ0 t)1/β

auf (−∞, 1

αβxβ0)

Man sieht, dass die Populationsgroße x(t) fur t→ 1

αβxβ0gegen ∞ geht.

Page 11: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

3. HOMOGENE LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 7

3. Homogene lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten

Wir behandeln zuerst die homogene lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung. Dasist die Differentialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0 mit a und b in R.

Satz 3. Seien x(t) und y(t) Losungen der Differentialgleichung x′′(t)+ax′(t)+bx(t) = 0,die beide auf einem offenen Intervall I definiert sind, und seien c1 und c2 in R. Dann istz(t) = c1x(t) + c2y(t) ebenfalls eine Losung dieser Differentialgleichung.

Beweis. Es gilt x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0 und y′′(t) + ay′(t) + by(t) = 0, da x(t) undy(t) Losungen sind. Es folgt

z′′(t) + az′(t) + bz(t) = c1x′′(t) + c2y

′′(t) + a(c1x′(t) + c2y

′(t)) + b(c1x(t) + c2y(t))

= c1(x′′(t) + ax′(t) + bx(t)

)+ c2

(y′′(t) + ay′(t) + by(t)

)= 0

Das zeigt, dass auch z(t) eine Losung der Differentialgleichung ist. �Definition. Zum Polynom P (λ) = λ2+aλ+b definieren wir Basisfunktionen h1 : R → R

und h2 : R → R folgendermaßen:Hat P (λ) zwei verschiedene relle Nullstellen λ1 und λ2, dann sei h1(t) = eλ1t und h2(t) = eλ2t.Hat P (λ) eine zweifache relle Nullstellen λ, dann sei h1(t) = eλt und h2(t) = teλt.Hat P (λ) komplexe Nullstellen α± iβ, dann sei h1(t) = eαt cos βt und h2(t) = eαt sin βt.

Satz 4. Seien a und b in R und h1(t) und h2(t) die Basisfunktionen zum PolynomP (λ) = λ2 + aλ+ b. Fur beliebige c1 und c2 in R ist dann c1h1(t) + c2h2(t) eine Losung derDifferentialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0.

Beweis. Es genugt zu zeigen, dass h1(t) und h2(t) Losungen sind. Wegen Satz 3 ist dannauch c1h1(t) + c2h2(t) mit c1 und c2 in R eine Losung. Wir gehen die drei Falle, die in derDefinition der Basisfunktionen unterschieden werden, durch.

Seien λ1 und λ2 verschiedene reelle Nullstellen von P (λ). Es gilt h1(t) = eλ1t. Es folgt

h′′1(t) + ah′1(t) + bh1(t) = λ21eλ1t + aλ1e

λ1t + beλ1t = (λ21 + aλ1 + b)eλ1t = P (λ1)eλ1t = 0

Somit ist h1(t) eine Losung. Genauso zeigt man, dass auch h2(t) = eλ2t eine Losung ist.Sei λ eine zweifache reelle Nullstelle von P (λ). Es gilt h1(t) = eλt und h2(t) = teλt. Wie

oben zeigt man, dass h1(t) eine Losung ist. Fur h2(t) gilt

h′′2(t)+ah′2(t)+bh2(t) = tλ2eλt+2λeλt+a(tλeλt+eλt)+bteλt = (λ2+aλ+b)teλt+(2λ+a)eλt

Da λ eine zweifache reelle Nullstelle von P (λ) ist, gilt nicht nur P (λ) = λ2 + aλ + b = 0,sondern auch P ′(λ) = 2λ + a = 0. Es folgt h′′2(t) + ah′2(t) + bh2(t) = 0. Somit ist h2(t)ebenfalls eine Losung der Differentialgleichung.

Schließlich seien α± iβ konjugiert komplexe Nullstellen von P (λ). Insbesondere gilt

0 = (α + iβ)2 + a(α + iβ) + b = α2 − β2 + aα + b+ i(2αβ + aβ)

Es mussen daher Real- und Imaginarteil null sein, das heißt

α2 − β2 + aα + b = 0 und 2αβ + aβ = 0

Es gilt h1(t) = eαt cos βt und h2(t) = eαt sin βt. Wegen h′1(t) = αeαt cos βt − βeαt sin βtund h′′1(t) = α2eαt cos βt− 2αβeαt sin βt− β2eαt cos βt erhalten wir

h′′1(t) + ah′1(t) + bh1(t) = (α2 − β2 + aα + b)eαt cos βt− (2αβ + aβ)eαt sin βt = 0

Somit ist h1(t) eine Losung. Genauso folgt, dass auch h2(t) = eαt sin βt eine Losung ist. �

Page 12: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

8 2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER UND ZWEITER ORDNUNG

Beispiel. Wir suchen Losungen der Differentialgleichung x′′(t)+6x′(t)+9x(t) = 0. DasPolynom P (λ) = λ2 + 6λ+ 9 hat die zweifache Nullstelle λ = −3. Die Basisfunktionen sindh1(t) = e−3t und h2(t) = te−3t. Fur beliebige c1 und c2 in R ist x(t) = c1e

−3t + c2te−3t eine

Losung.

Anfangswertproblem: Um die in der Losung der Differentialgleichung x′′(t) + ax′(t) +bx(t) = 0 vorkommenden unbestimmten Konstanten c1 und c2 berechnen zu konnen, gibtman Anfangsbedingungen x(t0) = x0 und x

′(t0) = v0 vor. Die Losung x(t) und ihre Ableitungsind an der Stelle t0 bekannt. Daraus berechnet man c1 und c2.

Beispiel. Wir losen das Anfangswertproblem x′′(t) − 6x′(t) + 25x(t) = 0 mit x(0) = 2und x′(0) = 2. Das Polynom P (λ) = λ2 − 6λ + 25 hat konjugiert komplexe Nullstellenλ1,2 = 3± 4i. Die Basisfunktionen sind h1(t) = e3t cos 4t und h2(t) = e3t sin 4t. Fur beliebigec1 und c2 in R ist x(t) = c1e

3t cos 4t+ c2e3t sin 4t eine Losung.

Wegen x′(t) = c1(3e3t cos 4t − 4e3t sin 4t) + c2(3e

3t sin 4t + 4e3t cos 4t) gilt x(0) = c1 undx′(0) = 3c1+4c2. Die Anfangsbedingungen liefern die Gleichungen c1 = 2 und 3c1+4c2 = 2.Es folgt c2 = −1. Somit ist x(t) = 2e3t cos 4t−e3t sin 4t eine Losung des Anfangswertproblems.

Wir zeigen, dass die in Satz 4 gefundenen Losungen bereits alle Losungen der Differen-tialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0 sind. Dazu sind einige Vorbereitungen notwendig.

Lemma 5. Sei I ein offenes Intervall, das auch unbeschrankt sein darf. Sei σ : I → [0,∞)differenzierbar und t0 ∈ I. Es existiere eine Konstante K mit |σ′(t)| ≤ Kσ(t) fur alle t ∈ I.Dann gilt σ(t) ≤ σ(t0)e

K|t−t0| fur alle t ∈ I. Ist σ(t0) = 0, dann gilt σ(t) = 0 fur alle t ∈ I.

Beweis. Sei g : I → R definiert durch g(t) = σ(t)e−K|t−t0|. Das ist eine stetige Funktion,da σ stetig ist. Wir untersuchen das Monotonieverhalten dieser Funktion.

Fur t > t0 gilt g(t) = σ(t)e−K(t−t0) und g′(t) = σ′(t)e−K(t−t0) −Kσ(t)e−K(t−t0). Es folgtg′(t) ≤

(|σ′(t)| −Kσ(t)

)e−K(t−t0) ≤ 0, da |σ′(t)| ≤ Kσ(t) vorausgesetzt wird. Das bedeutet,

dass g auf dem Intervall I ∩ [t0,∞) monoton fallend ist.Fur t < t0 gilt g(t) = σ(t)eK(t−t0) und g′(t) = σ′(t)eK(t−t0) + Kσ(t)eK(t−t0). Es folgt

g′(t) ≥(−|σ′(t)|+Kσ(t)

)eK(t−t0) ≥ 0, da |σ′(t)| ≤ Kσ(t) vorausgesetzt wird. Das bedeutet,

dass g auf dem Intervall I ∩ (−∞, t0] monoton wachsend ist.Somit nimmt g im Punkt t0 das Maximum an. Es gilt daher g(t) ≤ g(t0), das heißt

σ(t) ≤ σ(t0)eK|t−t0| fur alle t ∈ I.

Ist σ(t0) = 0, dann folgt σ(t) ≤ 0 fur alle t ∈ I. Da σ eine Funktion mit Werten in [0,∞)ist, ergibt sich σ(t) = 0 fur alle t ∈ I. �

Lemma 6. Sei I ein offenes Intervall und x(t) eine auf I definierte Losung der Diffe-rentialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0. Es gelte x(t0) = 0 und x′(t0) = 0 fur ein t0 ∈ I.Dann gilt x(t) = 0 fur alle t ∈ I.

Beweis. Wir verwenden Lemma 5. Wir setzen K = 2|a| + |b| + 1 und σ : I → [0,∞)sei definiert durch σ(t) = x(t)2 + x′(t)2. Wir berechnen σ′(t) = 2x(t)x′(t) + 2x′(t)x′′(t).Da x(t) eine Losung der Differentialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0 ist, erhalten wirσ′(t) = 2x(t)x′(t) − 2ax′(t)2 − 2bx(t)x′(t). Mit Hilfe der Dreiecksungleichung ergibt sich|σ′(t)| ≤ 2(1 + |b|)|x(t)x′(t)| + 2|a|x′(t)2. Und die Ungleichung 2|x(t)x′(t)| ≤ x(t)2 + x′(t)2

liefert |σ′(t)| ≤ (1 + |b|)x(t)2 + (1 + |b|+ 2|a|)x′(t)2 ≤ K(x(t)2 + x′(t)2) = Kσ(t).Weiters gilt σ(t0) = 0, da ja x(t0) = 0 und x′(t0) = 0 vorausgesetzt wird. Aus Lemma 5

folgt jetzt, dass σ(t) = 0 fur alle t ∈ I gilt. Somit muss auch x(t) = 0 fur alle t ∈ I gelten. �

Page 13: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

3. HOMOGENE LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 9

Satz 7. Seien h1(t) und h2(t) auf ganz R definierte Losungen der Differentialgleichungx′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0. Es gelte (diese Determinante heißt Wronskideterminante)∣∣∣∣h1(t) h2(t)

h′1(t) h′2(t)

∣∣∣∣ = 0 fur alle t ∈ R

Ist jetzt x(t) eine Losung der Differentialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0, die auf einemoffenen Intervall I definiert ist, dann existieren c1 und c2 in R, sodass x(t) = c1h1(t)+c2h2(t)fur alle t ∈ I gilt. Insbesondere lasst sich x(t) fortsetzen zu einer Losung, die auf ganz Rdefiniert ist (sollte I = R sein).

Beweis. Sei t0 ∈ I beliebig gewahlt. Dann existieren c1 und c2 in R mit

c1h1(t0) + c2h2(t0) = x(t0)

c1h′1(t0) + c2h

′2(t0) = x′(t0)

da die Determinante dieses linearen Gleichungssystems nach Voraussetzung ungleich null ist.Sei y(t) = c1h1(t)+c2h2(t)−x(t) fur t ∈ I. Da c1h1(t)+c2h2(t) nach Satz 4 und x(t) nach

Voraussetzung Losungen der Differentialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0 sind, ist y(t)wegen Satz 3 ebenfalls eine Losung. Außerdem wurden c1 und c2 so gewahlt, dass y(t0) = 0und y′(t0) = 0 gelten. Aus Lemma 6 folgt jetzt, dass y(t) = 0 fur alle t ∈ I gilt. Damit istauch x(t) = c1h1(t) + c2h2(t) fur alle t ∈ I gezeigt. Da auf der rechten Seite eine Losung derDifferentialgleichung steht, die auf ganz R definiert ist, lasst sich x(t) fortsetzen zu einer aufganz R definierten Losung. �

Satz 8. Seien a und b in R und h1(t) und h2(t) die Basisfunktionen zum PolynomP (λ) = λ2 + aλ+ b. Dann ist

{c1h1(t) + c2h2(t) : c1, c2 ∈ R}

die Menge aller Losungen der Differentialgleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = 0.

Beweis. In Satz 4 wurde bereits gezeigt, dass c1h1(t)+c2h2(t) fur alle c1 und c2 in R eineLosung ist, insbesondere auch h1(t) und h2(t) selbst. Wegen Satz 7 genugt es jetzt zu zeigen,

dass∣∣∣ h1(t) h2(t)h′1(t) h

′2(t)

∣∣∣ = 0 fur alle t ∈ R gilt. Wir untersuchen die drei Falle fur die Nullstellen des

Polynoms P (λ), die in der Definition der Basisfunktionen unterschieden werden.Bei verschiedenen reellen Nullstellen λ1 und λ2 gilt h1(t) = eλ1t und h2(t) = eλ2t. Es folgt∣∣∣∣h1(t) h2(t)

h′1(t) h′2(t)

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣ eλ1t eλ2t

λ1eλ1t λ2e

λ2t

∣∣∣∣ = (λ2 − λ1)eλ1teλ2t = 0

Im Fall einer zweifachen reellen Nullstellen λ gilt h1(t) = eλt und h2(t) = teλt. Es folgt∣∣∣∣h1(t) h2(t)h′1(t) h′2(t)

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣ eλt teλt

λeλt eλt + λteλt

∣∣∣∣ = e2λt = 0

Im Fall komplexer Nullstellen α± iβ gilt h1(t) = eαt cos βt und h2(t) = eαt sin βt. Es folgt∣∣∣∣h1(t) h2(t)h′1(t) h′2(t)

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣ eαt cos βt eαt sin βtαeαt cos βt− βeαt sin βt αeαt sin βt+ βeαt cos βt

∣∣∣∣ = βe2αt = 0

wobei man berucksichtigen muss, dass β = 0 gilt. �

Page 14: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

10 2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER UND ZWEITER ORDNUNG

Beispiel. Wir untersuchen einen schwingenden Korper. Ein Korper der Massem bewegtsich entlang der x-Achse. Er ist an einer Feder befestigt mit dem Nullpunkt als Ruhelage.

∣∣∣−/\ /\ /\ /\ /\ /\ /\ /\\/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/−⃝

Sei x(t) seine Auslenkung zum Zeitpunkt t. Seine Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t istdann x′(t) und seine Beschleunigung x′′(t). Auf den Korper wirken zwei Krafte. Die Federzieht den Korper in die Ruhelage zuruck. Diese Ruckstellkraft ist proportional zur Auslen-kung, also gleich −kx(t). Die Proportionalitatskonstante k heißt Federkonstante. Das Minus-zeichen besagt, dass der Korper in die Ruhelage zuruckgezogen wird. Bei positiver Auslen-kung hat die Kraft negative Richtung und bei negativer Auslenkung positive Richtung. Diezweite Kraft, die wirkt, ist die Reibungskraft. Sie ist proportional zur Geschwindigkeit undwirkt dieser entgegen. Daher ist sie gleich −ϱx′(t). Die Proportionalitatskonstante ϱ heißtReibungskoeffizient.

Die Bewegungsgleichung erhalt man, indem man das Produkt aus Masse und Beschleu-nigung gleich der wirkenden Kraft setzt. Das ergibt

mx′′(t) = −kx(t)− ϱx′(t)

Wir setzen r = ϱ2m

≥ 0 und w =√k/m > 0 und erhalten

x′′(t) + 2rx′(t) + w2x(t) = 0

Der Korper wird in Position x0 gebracht und losgelassen. Das ergibt die Anfangsbedingungen

x(0) = x0 und x′(0) = 0

Je nach Große des Reibungswiderstands unterscheiden wir verschiedene Falle.

Fall 1: Keine Reibung. Es gilt ϱ = 0 und somit r = 0. Das ergibt das Anfangswertproblem

x′′(t) + w2x(t) = 0 mit x(0) = x0 und x′(0) = 0

Das Polynom P (λ) = λ2 + w2 hat die konjugiert komplexen Nullstellen λ1,2 = ±iw. Dieallgemeine Losung der Differentialgleichung ist daher

x(t) = c1 coswt+ c2 sinwt mit c1, c2 ∈ R

Es gilt x(0) = c1 und x′(0) = c2w. Die Anfangsbedingungen ergeben daher die Gleichungenc1 = x0 und c2 = 0. Die Losung des Anfangswertproblems ist somit

x(t) = x0 coswt mit w =√k/m

Dadurch wird die Bewegung eines schwingenden Korpers ohne Reibung beschrieben. DenZeitpunkt des ersten Durchgangs durch die Ruhelage erhalt man als Losunmg der Gleichungx(t) = 0. Das ergibt coswt = 0 und t = π

2w. Die Zeitpunkte der weiteren Durchgange

sind t = π2w

+ k πw

fur k ∈ N. Weiters ist x′( π2w) = −x0w sin π

2= −x0w = −x0

√k/m die

Geschwindigkeit beim Durchgang.

Fall 2: Große Reibung r > w. Wir haben das Anfangswertproblem

x′′(t) + 2rx′(t) + w2x(t) = 0 mit x(0) = x0 und x′(0) = 0

Page 15: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

3. HOMOGENE LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 11

Die Nullstellen von P (λ) = λ2+2rλ+w2 sind λ1 = −r+√r2 − w2 und λ2 = −r−

√r2 − w2.

Es gilt λ2 < λ1 < 0. Die allgemeine Losung der Differentialgleichung ist

x(t) = c1eλ1t + c2e

λ2t mit c1, c2 ∈ REs gilt x(0) = c1 + c2 und x′(0) = λ1c1 + λ2c2. Die Anfangsbedingungen ergeben daher dieGleichungen c1 + c2 = x0 und λ1c1 + λ2c2 = 0. Es folgt c1 = − x0λ2

λ1−λ2 und c2 = x0λ1λ1−λ2 . Die

Losung des Anfangswertproblems ist somit

x(t) = x0λ1−λ2

(−λ2eλ1t + λ1e

λ2t)

Dadurch wird die Bewegung eines schwingenden Korpers mit großer Reibung beschrieben.Wegen λ2 < λ1 < 0 geht x(t) monoton gegen 0 fur t→ ∞.

Im Grenzfall r = w hat P (λ) die zweifache Nullstelle λ1,2 = −r. Die allgemeine Losungder Differentialgleichung ist

x(t) = c1e−rt + c2te

−rt mit c1, c2 ∈ REs gilt x(0) = c1 und x′(0) = −rc1 + c2. Die Anfangsbedingungen ergeben die Gleichungenc1 = x0 und −rc1 + c2 = 0. Es folgt c2 = rx0. Die Losung des Anfangswertproblems ist

x(t) = x0e−rt + rx0te

−rt = x0e−rt(1 + rt

)Fur t→ ∞ geht x(t) monoton gegen 0.

Fall 3: Kleine Reibung 0 < r < w. Wir haben wieder das Anfangswertproblem

x′′(t) + 2rx′(t) + w2x(t) = 0 mit x(0) = x0 und x′(0) = 0

Das Polynom P (λ) = λ2 + 2rλ+ w2 hat die Nullstellen λ1,2 = −r ± i√w2 − r2 mit Realteil

α = −r und Imaginarteil β =√w2 − r2. Die allgemeine Losung der Differentialgleichung ist

x(t) = c1e−rt cos βt+ c2e

−rt sin βt mit c1, c2 ∈ REs gilt x(0) = c1 und x

′(0) = −rc1 + βc2. Die Anfangsbedingungen ergeben die Gleichungenc1 = x0 und −rc1 + βc2 = 0. Es folgt c2 =

rx0β. Die Losung des Anfangswertproblems ist

x(t) = x0e−rt cos βt+ rx0

βe−rt sin βt = x0

βe−rt

(β cos βt+ r sin βt

)Wahlt man den Winkel γ so, dass sin γ = β√

β2+r2= β

wund cos γ = r√

β2+r2= r

wgilt, und

setzt man d = x0β

√β2 + r2 = x0w

β, dann hat man

x(t) = de−rt(sin γ cos βt+ cos γ sin βt

)= de−rt sin(βt+ γ)

Dadurch wird die Bewegung eines schwingenden Korpers mit kleiner Reibung beschrieben.Wir erhalten eine gedampfte Schwingung.

Es soll noch kurz die homogene lineare Differentialgleichungen n-ter Ordnung mit kon-stanten Koeffizienten besprochen werden. Diese ist

x(n)(t) + a1x(n−1)(t) + · · ·+ an−1x

′(t) + anx(t) = 0 mit a1, a2, . . . , an ∈ RDazu definieren wir wieder Basisfunktionen.

Definition. Zum Polynom P (λ) = λn + a1λn−1 + a2λ

n−2 + · · · + an definieren wirBasisfunktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t) folgendermaßen:Fur jede k-fache reelle Nullstelle λ des Polynoms P (λ) nehmen wir die Funktionen

eλt , teλt , t2eλt , . . . , tk−1eλt

Page 16: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

12 2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER UND ZWEITER ORDNUNG

Fur jedes k-fache konjugiert komplexe Nullstellenpaar α ± iβ des Polynoms P (λ) nehmenwir die Funktionen

eαt cos βt , teαt cos βt , . . . , tk−1eαt cos βt und eαt sin βt , teαt sin βt , . . . , tk−1eαt sin βt

Insgesamt ergibt das n Funktionen. Diese sind die Basisfunktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t) zumPolynom P (λ).

Es gilt dann

Satz 9. Seien a1, a2, . . . , an ∈ R und h1(t), h2(t), . . . , hn(t) die Basisfunktionen zumPolynom P (λ) = λn + a1λ

n−1 + a2λn−2 + · · ·+ an. Dann ist

{c1h1(t) + c2h2(t) + · · ·+ cnhn(t) : c1, c2, . . . , cn ∈ R}

die Menge aller Losungen der Differentialgleichung x(n)(t) + a1x(n−1)(t) + · · ·+ anx(t) = 0.

Diesen Satz kann man genauso beweisen wie den fur lineare Differentialgleichungen zwei-ter Ordnung, allerdings sind die Rechnungen wesentlich komplizierter.

Anfangswertproblem: Um die unbestimmten Konstanten c1, c2, . . . , cn, die in der Losungder Differentialgleichung x(n)(t) + a1x

(n−1)(t) + · · ·+ an−1x′(t) + anx(t) = 0 vorkommen, zu

berechnen, sind n Anfangsbedingungen x(t0) = x0, x′(t0) = x

(1)0 , . . . , x(n−1)(t0) = x

(n−1)0

notwendig.

Beispiel. Wir losen das Anfangswertproblem x′′′(t)+4x′(t) = 0 mit x(0) = 0, x′(0) = 0und x′′(0) = 1. Das Polynom P (λ) = λ3 + 4λ hat die Nullstellen λ1 = 0 und λ2,3 = ±2i. DieBasisfunktionen sind h1(t) = 1, h2(t) = cos 2t und h3(t) = sin 2t. Die allgemeine Losung derDifferentialgleichung ist somit

x(t) = c1 + c2 cos 2t+ c3 sin 2t mit c1, c2, c3 ∈ R

Es gilt x(0) = c1 + c2, x′(0) = 2c3 und x′′(0) = −4c2. Die Anfangsbedingungen ergeben die

Gleichungen c1 + c2 = 0, 2c3 = 0 und −4c2 = 1 Es folgt c2 = −14, c3 = 0 und c1 = 1

4. Die

Losung des Anfangswertproblems ist x(t) = 14− 1

4cos 2t.

4. Inhomogene lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten

Wir behandeln zuerst die inhomogene lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung. Dasist die Differentialgleichung x′′(t)+ax′(t)+bx(t) = f(t) mit a und b in R und mit f : R → R.

Satz 10. Sei x(t) eine (spezielle oder partikulare) Losung der inhomogenen Differenti-algleichung x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = f(t). Sei L die Menge aller Losungen der zugehorigenhomogenen Differentialgleichung x′′(t)+ax′(t)+bx(t) = 0. Dann ist {x(t)+z(t) : z(t) ∈ L}die Menge aller Losungen der inhomogenen Differentialgleichung x′′(t)+ax′(t)+bx(t) = f(t).

Beweis. Wir zeigen zuerst, dass x(t) + z(t) mit z(t) ∈ L eine Losung der inhomogenenDifferentialgleichung ist. Es gilt (x(t) + z(t))′′ + a(x(t) + z(t))′ + b(x(t) + z(t)) = x′′(t) +ax′(t) + bx(t) + z′′(t) + az′(t) + bz(t) = f(t) + 0, womit der Nachweis gelungen ist.

Sei jetzt x(t) eine beliebige Losung der inhomogenen Differentialgleichung. Wir setzenz(t) = x(t)−x(t). Dann gilt z′′(t)+az′(t)+bz(t) = x′′(t)+ax′(t)+bx(t)−x′′(t)−ax′(t)−bx(t) =f(t)− f(t) = 0, das heißt z(t) ∈ L. Ausserdem gilt x(t) = x(t) + z(t). Jede Losung x(t) derinhomogenen Differentialgleichung lasst sich in der gewunschten Form schreiben. �

Page 17: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4. INHOMOGENE LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 13

Wegen Satz 10 genugt es eine spezielle Losung der inhomogenen Differentialgleichungx′′(t) + ax′(t) + bx(t) = f(t) zu finden. Die Methode im folgenden Satz heißt Variation derKonstanten, da die Losung der inhomogenen Differentialgleichung von der selben Form istwie die der homogenen, wobei jedoch die Konstanten c1 und c2 keine Konstanten mehr sind,sondern Funktionen in t.

Satz 11. Seien h1(t) und h2(t) die Basisfunktionen zum Polynom P (λ) = λ2 + aλ + b.Seien c1(t) und c2(t) Funktionen, fur die gilt

c′1(t)h1(t) + c′2(t)h2(t) = 0(1)

c′1(t)h′1(t) + c′2(t)h

′2(t) = f(t)(2)

Dann ist x(t) = c1(t)h1(t) + c2(t)h2(t) eine Losung der inhomogenen Differentialgleichungx′′(t) + ax′(t) + bx(t) = f(t).

Beweis. Wir differenzieren mit der Produktregel. Es gilt x′(t) = c′1(t)h1(t)+c1(t)h′1(t)+

c′2(t)h2(t) + c2(t)h′2(t). Wegen (1) erhalten wir x′(t) = c1(t)h

′1(t) + c2(t)h

′2(t). Nun folgt

x′′(t) = c′1(t)h′1(t) + c1(t)h

′′1(t) + c′2(t)h

′2(t) + c2(t)h

′′2(t). Damit ergibt sich

x′′(t) + ax′(t) + bx(t) = c′1(t)h′1(t) + c′2(t)h

′2(t)

+ c1(t)h′′1(t) + c1(t)ah

′1(t) + c1(t)bh1(t) + c2(t)h

′′2(t) + c2(t)ah

′2(t) + c2(t)bh2(t)

Da h1(t) und h2(t) Losungen der homogenen Differentialgleichung sind, erhalten wir h′′1(t)+ah′1(t)+bh1(t) = 0 und h′′2(t)+ah

′2(t)+bh2(t) = 0. Wegen (2) gilt c′1(t)h

′1(t)+c

′2(t)h

′2(t) = f(t).

Es folgt x′′(t)+ax′(t)+bx(t) = f(t). Damit ist gezeigt, dass x(t) eine Losung der inhomogenenDifferentialgleichung ist. �Bemerkung: Das lineare Gleichungssystem in Satz 11 ist immer losbar. Die Determinanteist die Wronskideterminante. Im Beweis von Satz 8 wurde ja gezeigt, dass sie immer = 0 ist.

Beispiel. Wir losen die Differentialgleichung x′′(t) − 2x′(t) + x(t) = et. Das PolynomP (λ) = λ2 − 2λ + λ hat 1 als zweifache Nullstelle. Die beiden Basisfunktionen sind daherh1(t) = et und h2(t) = tet. Die allgemeine Losung der homogenen Differentialgleichung istdann c1e

t + c2tet mit c1 und c2 in R.

Wir verwenden Satz 11, um eine Losung der inhomogenen Differentialgleichung zu finden.Zu losen ist folgendes lineare Gleichungssystem

c′1(t)et + c′2(t)te

t = 0

c′1(t)et + c′2(t)(e

t + tet) = et

Subtrahiert man die erste von der zweiten Gleichung, so hat man c′2(t)et = et, das heißt

c′2(t) = 1. Aus der ersten Gleichung folgt c′1(t) = −t. Stammfunktionen sind c1(t) = − t2

2

und c2(t) = t. Somit ist x(t) = − t2

2et + t · tet = t2

2et eine spezielle Losung der inhomogenen

Differentialgleichung. Nach Satz 10 ist dann

x(t) = c1et + c2te

t + t2

2et mit c1, c2 ∈ R

die allgemeine Losung der inhomogenen Differentialgleichung.

Beispiel. Wir behandeln den freien Fall mit Reibung. Ein Korper der Masse m falltaus der Hohe h. Sei x(t) die Hohe des Korpers zum Zeitpunkt t. Seine Geschwindigkeit zumZeitpunkt t ist dann x′(t) und seine Beschleunigung x′′(t). Die Krafte, die auf den Korpereinwirken, sind die Gravitationskraft −mg und der Reibungswiderstand −ϱx′(t).

Page 18: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

14 2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER UND ZWEITER ORDNUNG

Die Bewegungsgleichung erhalt man, indem man das Produkt aus Masse und Beschleu-nigung gleich der wirkenden Kraft setzt. Das ergibt

mx′′(t) = −mg − ϱx′(t)

Wir setzen r = ϱm

≥ 0 und erhalten

x′′(t) + rx′(t) = −gDer Korper fallt aus der Hohe h. Das ergibt die Anfangsbedingungen

x(0) = h und x′(0) = 0

Das Polynom P (λ) = λ2+rλ hat die Nullstellen λ1 = −r und λ2 = 0. Die allgemeine Losungder homogenen Differentialgleichung ist daher c1e

−rt + c2 mit c1 und c2 in R.Wir verwenden Satz 11, um eine Losung der inhomogenen Differentialgleichung zu finden.

Zu losen ist folgendes lineares Gleichungssystem

c′1(t)e−rt + c′2(t) = 0

−c′1(t)re−rt = −g

Die Losungen sind c′1(t) = grert und c′2(t) = −g

r. Stammfunktionen sind c1(t) = g

r2ert und

c2(t) = −grt. Eine spezielle Losung der inhomogenen Differentialgleichung ist dann

x(t) = gr2erte−rt − g

rt = g

r2− g

rt

Die allgemeine Losung der inhomogenen Differentialgleichung ist schließlich

x(t) = c1e−rt + c2 +

gr2

− grt mit c1, c2 ∈ R

Wegen x(0) = c1+c2+gr2

und x′(0) = −rc1− grerhalten wir die Gleichungen c1+c2+

gr2

= hund −rc1− g

r= 0 aus den Anfangsbedingungen. Das ergibt c1 = − g

r2und c2 = h. Die Losung

des Anfangswertproblems ist somit

x(t) = − gr2e−rt + h+ g

r2− g

rt

Dadurch wird die Bewegung des fallenden Korpers mit Reibung beschrieben. Fur r → 0

erhalt man x(t) = −gt2

2+ h. Das ist der fallende Korper ohne Reibung.

Beispiel. Wir untersuchen eine erzwungene Schwingung ohne Reibung. Ein Korper derMasse m bewegt sich entlang der x-Achse. Er ist an einer Feder befestigt.

∣∣∣−/\ /\ /\ /\ /\ /\ /\ /\\/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/−⃝

Es wirkt jedoch noch eine zusatzliche zeitabhangige Kraft f(t) auf den Korper. Sei x(t) dieAuslenkung des Korpers zum Zeitpunkt t. Seine Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t ist dannx′(t) und seine Beschleunigung x′′(t). Auf den Korper wirken die Ruckstellkraft −kx(t) derFeder und die Kraft f(t). Die Bewegungsgleichung erhalt man, indem man das Produkt ausMasse und Beschleunigung gleich der wirkenden Kraft setzt

mx′′(t) = −kx(t) + f(t)

Setzt man w =√k/m > 0 so ergibt sich

x′′(t) + w2x(t) = 1mf(t)

Page 19: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4. INHOMOGENE LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN MIT KONSTANTEN KOEFFIZIENTEN 15

Die allgemeine Losung der homogenen Differentialgleichung ist c1 coswt + c2 sinwt mit c1und c2 in R.

Ist f(t) konstant gleich a, dann ist x(t) = amw2 eine Losung der inhomogenen Differenti-

algleichung, wie man leicht nachpruft. Die allgemeine Losung der inhomogenen Differential-gleichung ist c1 coswt+ c2 sinwt+

amw2 mit c1 und c2 in R.

Interessanter ist der Fall f(t) = a sinwt, bei dem Resonanz eintritt. Wir verwendenSatz 11, um eine Losung der inhomogenen Differentialgleichung zu finden. Zu losen ist daslineare Gleichungssystem

c′1(t) coswt + c′2(t) sinwt = 0

−wc′1(t) sinwt + wc′2(t) coswt =amsinwt

Multipliziert man die erste Gleichung mit w sinwt, die zweite mit coswt und addiert diebeiden, dann hat man wc′2(t) = a

msinwt coswt, woraus c′2(t) = a

2wmsin 2wt folgt. Aus der

ersten Gleichung folgt dann wc′1(t) = − amsin2wt und daraus c′1(t) = − a

2wm(1 − cos 2wt).

Stammfunktionen sind c1(t) = − a2wm

(t− 12w

sin 2wt) und c2(t) = − a4w2m

cos 2wt. Eine spezielleLosung der inhomogenen Differentialgleichung ist dann

x(t) = − a2wm

t coswt+ a4w2m

sin 2wt coswt− a4w2m

cos 2wt sinwt = − a2wm

t coswt+ a4w2m

sinwt

Die allgemeine Losung der inhomogenen Differentialgleichung ist

x(t) = c1 coswt+ c2 sinwt− a2wm

t coswt mit c1, c2 ∈ Rda man a

4w2msinwt mit c2 sinwt zusammenfassen kann. Wird der Korper in die Position x0

gebracht und losgelassen, dann hat man die Anfangsbedingungen

x(0) = x0 und x′(0) = 0

Daraus ergibt sich c1 = x0 und c2 =a

2w2m. Die Losung des Anfangswertproblems ist

x(t) = x0 coswt+a

2w2msinwt− a

2wmt coswt

Der Summand a2wm

t coswt besagt, dass sich die Schwingung immer weiter aufschaukelt.

Ganz analog funktioniert die Variation der Konstanten auch fur lineare Differentialglei-chungen hoherer Ordnung, zum Beispiel dritter Ordnung:

x′′′(t) + ax′′(t) + bx′(t) + cx(t) = f(t)

Seien h1(t), h2(t) und h3(t) die Basisfunktionen zum Polynom P (λ) = λ3 + aλ2 + bλ+ c. Zulosen ist folgendes lineare Gleichungssystem

c′1(t)h1(t) + c′2(t)h2(t) + c′3(t)h3(t) = 0

c′1(t)h′1(t) + c′2(t)h

′2(t) + c′3(t)h

′3(t) = 0

c′1(t)h′′1(t) + c′2(t)h

′′2(t) + c′3(t)h

′′3(t) = f(t)

Man bildet Stammfunktionen c1(t), c2(t) und c3(t) der als Losung gefundenen Funktionenc′1(t), c

′2(t) und c′3(t). Dann ist x(t) = c1(t)h1(t) + c2(t)h2(t) + c3(t)h3(t) eine Losung der

inhomogenen Differentialgleichung x′′′(t) + ax′′(t) + bx′(t) + cx(t) = f(t).

Beispiel. Wir losen das Anfangswertproblem x′′′(t)−3x′(t)−2x(t) = 9e−t mit x(0) = 0,x′(0) = 0 und x′′(0) = 0.

Das Polynom P (λ) = λ3 − 3λ − 2 hat die Nullstellen λ1 = 2 und λ2,3 = −1. DieBasisfunktionen sind h1(t) = e2t, h2(t) = e−t und h3(t) = te−t. Die allgemeine Losung derhomogenen Differentialgleichung ist c1e

2t + c2e−t + c3te

−t mit c1, c2 und c3 in R.

Page 20: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

16 2. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN ERSTER UND ZWEITER ORDNUNG

Um eine spezielle Losung der inhomogenen Differentialgleichung zu finden, berechnen wirnoch h′3(t) = e−t− te−t und h′′3(t) = −2e−t + te−t. Zu losen ist das lineare Gleichungssystem

c′1(t)e2t + c′2(t)e

−t + c′3(t)te−t = 0

2c′1(t)e2t − c′2(t)e

−t + c′3(t)(e−t − te−t) = 0

4c′1(t)e2t + c′2(t)e

−t + c′3(t)(−2e−t + te−t) = 9e−t

Die Summe der ersten beiden Gleichungen ist 3c′1(t)e2t+c′3(t)e

−t = 0. Die Summe der letztenbeiden Gleichungen ist 6c′1(t)e

2t− c′3(t)e−t = 9e−t. Summiert man diese beiden Gleichungen,

so hat man 9c′1(t)e2t = 9e−t, woraus c′1(t) = e−3t folgt. Setzt man oben ein, so erhalt man

c′3(t) = −3 und c′2(t) = 3t − 1. Stammfunktionen sind c1(t) = −13e−3t, c2(t) =

32t2 − t und

c3(t) = −3t. Eine spezielle Losung der inhomogenen Differentialgleichung ist daher

x(t) = −13e−3te2t + (3

2t2 − t)e−t − 3t · te−t = (−3

2t2 − t− 1

3)e−t

Die allgemeine Losung der inhomogenen Differentialgleichung ist

x(t) = c1e2t + c2e

−t + c3te−t − 3

2t2e−t mit c1, c2, c3 ∈ R

da man −te−t mit c3te−t und −1

3e−t mit c2e

−t zusammenziehen kann.Es gilt x(0) = c1+c2, x

′(0) = 2c1−c2+c3 und x′′(0) = 4c1+c2−2c3−3. Die Gleichungenc1+c2 = 0, 2c1−c2+c3 = 0 und 4c1+c2−2c3 = 3 erhalten wir aus den Anfangsbedingungen.Das ist ein lineares Gleichungssystem in drei Variablen. Lost man es auf so erhalt man c1 =

13,

c2 = −13und c3 = −1. Die Losung des Anfangswertproblems ist

x(t) = 13e2t − (3

2t2 + t+ 1

3)e−t

Page 21: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

KAPITEL 3

Systeme linearer Differentialgleichungen

Bisher hatten die Losungen x(t) der Differentialgleichungen Werte in R. Jetzt lassen wirWerte im R2 oder allgemeiner im Rn zu. Die Losungen sind jetzt Abbildungen t 7→ x(t)von R oder einem Intervall nach R2. Man kann diese Losungen als Kurven im R2 auffassen.Wir bezeichnen die Komponenten des Vektors x(t) mit x1(t) und x2(t). Die Ableitung x′(t)

definieren wir komponentenweise, das heißt x′(t) =( x′1(t)x′2(t)

).

Ein homogenes System linearer Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten ist

x′1(t) = ax1(t) + bx2(t)

x′2(t) = cx1(t) + dx2(t)

Fuhren wir die Matrix A =(a bc d

)ein, so konnen wir dieses System schreiben als

x′(t) = Ax(t)

Um Losungen fur Systeme linearer Differentialgleichungen zu finden, verwenden wir Eigen-werte und Eigenvektoren. Wir stellen die benotigten Resultate zusammen.

1. Eigenwerte und Eigenvektoren fur 2× 2-Matrizen

Definition. Sei A eine Matrix. Ein Vektor v = 0 heißt Eigenvektor der Matrix A, wennAv = λv fur eine Zahl λ gilt. Die Zahl λ nennt man Eigenwert der Matrix A.

Wie finden wir Eigenwerte und Eigenvektoren? Wir konnen Ax = λx auch schreibenals (A − λI2)x = 0. Dieses lineare Gleichungssystem hat nur dann eine Losung = 0, wenndet(A − λI2) = 0 gilt. Dann existiert ein Vektor v = 0 mit (A − λI2)v = 0, das heißtAv = λv. Somit ist v ein Eigenvektor und λ ein Eigenwert. Mit v erfullt auch rv fur alleZahlen r die Gleichung Ax = λx. Daher sind auch alle Vielfachen von v Eigenvektoren. IstA =

(a bc d

), dann gilt A− λI2 =

(a−λ bc d−λ

)und

det(A− λI2) = (a− λ)(d− λ)− bc = λ2 − (a+ d)λ+ ad− bc (∗)Das ist ein Polynom in der Variablen λ. Man nennt es das charakteristische Polynom derMatrix A. Die Eigenwerte der Matrix A sind dann die Losungen der quadratischen Gleichungλ2−(a+d)λ+ad−bc = 0. Es gibt drei Falle, entweder zwei verschiedene reelle Eigenwerte λ1und λ2, oder einen zweifachen reellen Eigenwert λ, oder zwei zueinander konjugiert komplexeEigenwerte λ1,2 = α± iβ.

Fall 1: Die Matrix A hat zwei verschiedene reelle Eigenwerte λ1 und λ2. Es existierenEigenvektoren u ∈ R2 und v ∈ R2 zu diesen Eigenwerten. Sie sind = 0 und es gilt Au = λ1uund Av = λ2v.

Die beiden Vektoren u und v sind nicht parallel. Wurde v = ru fur ein r ∈ R \ {0}gelten, dann hatten wir auch Au = λ2u und somit (λ1−λ2)u = 0, einen Widerspruch wegenλ1 = λ2 und u = 0.

17

Page 22: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

18 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beispiel. Sei A =(5 13 3

). Gesucht sind Eigenwerte und Eigenvektoren.

Wir bilden A − λI2 =(5−λ 13 3−λ

)und berechnen die Determinante (5 − λ)(3 − λ) − 3 =

λ2 − 8λ+ 12. Das ist das charakteristische Polynom von A. Die Nullstellen sind λ1 = 6 undλ2 = 2. Damit sind die Eigenwerte der Matrix A gefunden.

Wir berechnen A−λ1I2 =( −1 1

3 −3

). Einen Eigenvektor u zum Eigenwert λ1 = 6 erhalten

wir als Losung von( −1 1

3 −3

)u = 0. Wir wahlen u als Normalvektor der ersten Zeile der Matrix( −1 1

3 −3

), also u =

(11

). Da das auch ein Normalvektor der zweiten Zeile ist, ist

( −1 13 −3

)u = 0

erfullt. Somit ist(11

)ein Eigenvektor zum Eigenwert λ1 = 6. Jedes Vielfache dieses Vektors,

außer dem Nullvektor, ist ebenfalls Eigenvektor.Ebenso berechnen wir A − λ2I2 =

(3 13 1

). Einen Eigenvektor v zum Eigenwert λ2 = 2

erhalten wir als Normalvektor der beiden Zeilen der Matrix(3 13 1

), also v =

(−13

).

Fall 2: Die Matrix A hat einen zweifachen reellen Eigenwert λ. Wir nehmen an, dass A nichtgleich rI2 fur ein r ∈ R ist, sonst zerfallt das Differentialgleichungssystem in zwei einzelneDifferentialgleichungen. Dann existiert ein Eigenvektor u ∈ R2 \ {0}, fur den Au = λu gilt,und ein Vektor v ∈ R2 \ {0}, fur den Av = λv+ u gilt.

Die beiden Vektoren u und v sind nicht parallel. Wurde v = ru fur ein r ∈ R \ {0}gelten, dann hatten wir auch Au = (λ+ 1

r)u und somit 1

ru = 0, ein Widerspruch.

Wir zeigen, dass solche Vektoren u und v existieren. Dazu sei A =(a bc d

). Da λ zweifacher

Eigenwert ist, erhalten wir λ = 12(a+d) und q2 = −bc, wobei q = 1

2(a−d) ist. Das charakteri-

stische Polynom in (∗) hat ja eine zweifache Nullstelle. Es folgt A− λI2 =(q bc −q

). Ist c = 0,

dann wahlen wir u =(qc

)und v =

(10

). Es gilt dann (A− λI2)u = 0 und (A− λI2)v = u,

das heißt Au = λu und Av = λv + u. Ist c = 0, dann gilt b = 0, sonst ware A = aI2. Wirwahlen u =

(b−q

)und v =

(01

). Es gilt wieder Au = λu und Av = λv+ u.

Beispiel. Sei A =(

5 4−1 1

). Gesucht sind Eigenwerte und Eigenvektoren.

Wir bilden A − λI2 =(5−λ 4−1 1−λ

)und berechnen die Determinante (5 − λ)(1 − λ) + 4 =

λ2 − 6λ + 9. Das ist das charakteristische Polynom von A. Dieses Polynom hat λ = 3 alszweifache Nullstelle. Somit ist 3 ein zweifacher Eigenwert der Matrix A.

Wir berechnen A − λI2 =(

2 4−1 −2

). Nach obiger Rechnung konnen wir u =

(2−1

)und

v =(10

)wahlen. Es gilt dann Au = λu und Av = λv+ u.

Fall 3: Die Matrix A hat konjugiert komplexe Eigenwerte α ± iβ mit β = 0 (sonst warendie Eigenwerte nicht komplex). Zum Eigenwert α + iβ existiert ein Eigenvektor ∈ C2, denwir als u+ iv schreiben konnen mit u und v in R2. Es gilt A(u+ iv) = (α + iβ)(u+ iv).

Da Eigenvektoren = 0 sind, konnen nicht beide u und v gleich 0 sein. Wir zeigen, dassbeide ungleich 0 sind. Ware v = 0, dann hatten wir Au = αu+ iβu und wegen β = 0 wurdeauch u = 0 folgen. Ware u = 0, dann hatten wir iAv = iαv− βv und wegen β = 0 wurdeauch v = 0 folgen (eine imaginare Zahl kann ja nicht gleich einer reellen Zahl sein).

Die beiden Vektoren u und v sind nicht parallel. Wurde v = cu fur ein c ∈ R \ {0}gelten, dann hatten wir auch A(1 + ic)u = (α+ iβ)(1 + ic)u und somit Au = αu+ iβu, einWiderspruch wegen β = 0 (eine reelle Zahl kann ja nicht gleich einer imaginaren Zahl sein).

Beispiel. Sei A =(4 −25 2

). Gesucht sind Eigenwerte und Eigenvektoren.

Wir bilden A− λI2 =(4−λ −25 2−λ

)und berechnen die Determinante (4− λ)(2− λ) + 10 =

λ2 − 6λ+ 18. Das ist das charakteristische Polynom von A. Die Nullstellen sind λ1 = 3+ 3iund λ2 = 3− 3i. Damit sind die Eigenwerte der Matrix A gefunden.

Page 23: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. HOMOGENE SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 19

Wir berechnen A− λ1I2 =(1−3i −25 −1−3i

). Einen Eigenvektor z zum Eigenwert λ1 = 3+ 3i

erhalten wir als Losung von(1−3i −25 −1−3i

)z = 0. Wir wahlen z als Normalvektor der ersten

Zeile der Matrix(1−3i −25 −1−3i

), also z =

(2

1−3i

). Da das auch ein Normalvektor der zweiten

Zeile ist, ist(1−3i −25 −1−3i

)z = 0 erfullt. Somit ist

(2

1−3i

)=

(21

)+ i

(0−3

)ein Eigenvektor zum

Eigenwert λ1 = 3 + 3i.Ganz analog berechnet man, dass

(2

1+3i

)=

(21

)+ i

(03

)ein Eigenvektor zum Eigenwert

λ2 = 3 − 3i ist. Man sieht, dass nicht nur die Eigenwerte, sondern auch die Eigenvektorenzueinander konjugiert komplex sind.

2. Homogene Systeme linearer Differentialgleichungen

Ein homogenes System linearer Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten ist

x′(t) = Ax(t)

Wir suchen Losungen dieser Differentialgleichungssysteme.

Satz 12. Seien x(t) und y(t) Losungen des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t)und c1 und c2 in R. Dann ist z(t) = c1x(t) + c2y(t) ebenfalls eine Losung dieses Systems.

Beweis. Es gilt x′(t) = Ax(t) und y′(t) = Ay(t), da x(t) und y(t) Losungen des Systemssind. Es folgt z′(t) = c1x

′(t) + c2y′(t) = c1Ax(t) + c2Ay(t) = A(c1x(t) + c2y(t)) = Az(t).

Das zeigt, dass auch z(t) eine Losung des Systems ist. �

Satz 13. Sei A eine 2×2-Matrix. Wir definieren r(t) und s(t) mit t ∈ R folgendermaßen:Hat A zwei verschiedene reelle Eigenwerte λ1 und λ2 mit Eigenvektoren u und v dann sei

r(t) = eλ1tu und s(t) = eλ2tv

Hat A einen zweifachen reellen Eigenwert λ mit Eigenvektor u und ist v ein Vektor, fur denAv = λv+ u gilt, dann sei

r(t) = eλtu und s(t) = eλtv+ teλtu

Hat A den komplexen Eigenwert α + iβ mit Eigenvektor u+ iv dann sei

r(t) = eαt cos βtu− eαt sin βtv und s(t) = eαt sin βtu+ eαt cos βtv

Fur beliebige c1 und c2 in R ist dann c1r(t) + c2s(t) eine Losung des Differentialgleichungs-systems x′(t) = Ax(t).

Beweis. Es genugt zu zeigen, dass r(t) und s(t) Losungen sind. Wegen Satz 12 ist dannauch c1r(t) + c2s(t) eine Losung. Wir gehen die drei Falle durch.

Im ersten Fall gilt r′(t) = λ1eλ1tu und Ar(t) = Aeλ1tu = eλ1tAu = eλ1tλ1u. Damit ist

r′(t) = Ar(t) gezeigt. Genauso zeigt man, dass auch s′(t) = As(t) gilt.Im zweiten Fall zeigt man genauso wie oben, dass r(t) eine Losung ist. Fur s(t) gilt

s′(t) = λeλtv+ eλtu+ λteλtu und As(t) = eλtAv+ teλtAu = eλt(λv+u) + teλtλu. Damit istauch s′(t) = As(t) gezeigt.

Im dritten Fall gilt A(u+ iv) = (α+ iβ)(u+ iv) = αu+ iβu+ iαv−βv. Durch Vergleichvon Real- und Imaginarteil ergibt sich Au = αu − βv und Av = βu + αv. Dann giltr′(t) = αeαt cos βtu−βeαt sin βtu−αeαt sin βtv−βeαt cos βtv und aus obigen Gleichungenfolgt Ar(t) = eαt cos βtAu−eαt sin βtAv = eαt cos βt (αu−βv)−eαt sin βt (βu+αv). Damitist r′(t) = Ar(t) gezeigt. Genauso zeigt man, dass auch s′(t) = As(t) gilt. �

Page 24: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

20 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Anfangswertproblem: Um die in der Losung des Differentialgleichungssystems x′(t) =Ax(t) vorkommenden unbestimmten Konstanten c1 und c2 berechnen zu konnen, gibt maneine Anfangsbedingung x(t0) = x0 vor. Die Losung x(t) ist an der Stelle t0 bekannt. Darausberechnet man c1 und c2.

Beispiel. Wir losen x′(t) = Ax(t) mit A =(

5 8−2 −3

). Das charakteristische Polynom

ist (5 − λ)(−3 − λ) + 16 = λ2 − 2λ + 1. Somit ist λ = 1 ein zweifacher Eigenwert. Es giltA−λI2 =

(4 8−2 −4

). Wir wahlen u =

(4−2

)(erste Spalte der Matrix) und v =

(10

). Dann gilt

Au = λu und Av = λv+ u. Nach Satz 13 sind

x(t) = c1et(

4−2

)+ c2(e

t(10

)+ tet

(4−2

)) mit c1 , c2 ∈ R

Losungen des Differentialgleichungssystems. Wir wahlen x(0) =(−54

)als Anfangsbedingung.

Daraus ergibt sich4c1 + c2 = −5 und − 2c1 = 4

Es folgt c1 = −2 und c2 = 3. Somit lost

x(t) = −2et(

4−2

)+ 3(et

(10

)+ tet

(4−2

)) = et

( −5+12t4−6t

)das Anfangswertproblem.

Wir zeigen, dass die in Satz 13 gefundenen Losungen bereits alle Losungen des Diffe-rentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) sind. Wir gehen genauso vor wie bei den linearenDifferentialgleichungen zweiter Ordnung.

Lemma 14. Sei I ein offenes Intervall und x(t) eine auf I definierte Losung des Systemsx′(t) = Ax(t) mit x(t0) = 0 fur ein t0 ∈ I. Dann gilt x(t) = 0 fur alle t ∈ I.

Beweis. Sei A =(a bc d

). Wir verwenden Lemma 5. Wir setzen K = 2|a|+ |b|+ |c|+ 2|d|

und σ : I → [0,∞) sei definiert durch σ(t) = ∥x(t)∥2 = x1(t)2 + x2(t)

2. Wir berechnenσ′(t) = 2x1(t)x

′1(t) + 2x2(t)x

′2(t). Da x(t) eine Losung des Differentialgleichungssystems

x′(t) = Ax(t) ist, erhalten wir σ′(t) = 2ax1(t)2 + 2bx1(t)x2(t) + 2cx2(t)x1(t) + 2dx2(t)

2. MitHilfe der Dreiecksungleichung folgt |σ′(t)| ≤ 2|a|x1(t)2 + 2(|b| + |c|)|x1(t)x2(t)| + 2|d|x2(t)2.Und mit Hilfe der Ungleichung 2|x1(t)x2(t)| ≤ x1(t)

2 + x2(t)2 erhalten wir schließlich

|σ′(t)| ≤ (2|a|+ |b|+ |c|)x1(t)2 + (|b|+ |c|+ 2|d|)x2(t)2 ≤ K(x1(t)2 + x2(t)

2) = Kσ(t).Weiters gilt σ(t0) = ∥x(t0)∥2 = 0, da ja x(t0) = 0 vorausgesetzt wird. Aus Lemma 5

erhalten wir, dass σ(t) = ∥x(t)∥2 = 0 fur alle t ∈ I gilt. Es folgt x(t) = 0 fur alle t ∈ I. �Satz 15. Seien r(t) und s(t) auf ganz R definierte Losungen des Differentialgleichungs-

systems x′(t) = Ax(t). Es gelte (diese Determinante heißt Wronskideterminante)

det(r(t), s(t)) =

∣∣∣∣r1(t) s1(t)r2(t) s2(t)

∣∣∣∣ = 0 fur alle t ∈ R

Ist jetzt x(t) eine Losung des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t), die auf einemoffenen Intervall I definiert ist, dann existieren c1 und c2 in R, sodass x(t) = c1r(t) + c2s(t)fur alle t ∈ I gilt. Insbesondere lasst sich x(t) fortsetzen zu einer Losung, die auf ganz Rdefiniert ist (sollte I = R sein).

Beweis. Sei t0 ∈ I beliebig gewahlt. Dann existieren c1 und c2 in R mit

c1r1(t0) + c2s1(t0) = x1(t0)c1r2(t0) + c2s2(t0) = x2(t0)

das heißt c1r(t0) + c2s(t0) = x(t0)

da die Determinante dieses linearen Gleichungssystems nach Voraussetzung ungleich null ist.

Page 25: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. HOMOGENE SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 21

Sei y(t) = c1r(t) + c2s(t) − x(t) fur t ∈ I. Da c1r(t) + c2s(t) nach Satz 12 und x(t)nach Voraussetzung Losungen des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) sind, ist y(t)wegen Satz 12 ebenfalls eine Losung. Außerdem wurden c1 und c2 so gewahlt, dass y(t0) = 0gilt. Aus Lemma 14 folgt jetzt, dass y(t) = 0 fur alle t ∈ I gilt. Damit ist dann auchx(t) = c1r(t) + c2s(t) fur alle t ∈ I gezeigt. Da auf der rechten Seite eine Losung steht, dieauf ganz R definiert ist, lasst sich x(t) fortsetzen zu einer auf ganz R definierten Losung. �

Satz 16. Sei A eine 2× 2-Matrix und r(t) und s(t) wie in Satz 13 definiert. Dann ist

{c1r(t) + c2s(t) : c1, c2 ∈ R}die Menge aller Losungen des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t).

Beweis. In Satz 13 wurde bereits gezeigt, dass r(t) und s(t) und damit auch c1r(t) +c2s(t) fur alle c1, c2 ∈ R Losungen des Differentialgleichungssystems sind. Wegen Satz 15genugt es zu zeigen, dass det(r(t), s(t)) = 0 fur alle t ∈ R gilt. Wir untersuchen die dreiFalle, die in Satz 13 unterschieden werden.

Hat A zwei verschiedene reelle Eigenwerte λ1 und λ2 mit Eigenvektoren u und v dann giltr(t) = eλ1tu und s(t) = eλ2tv. Es folgt det(r(t), s(t)) = eλ1teλ2t det(u,v). Da die Vektoren uund v nicht parallel sind, gilt det(u,v) = 0. Es folgt det(r(t), s(t)) = 0 fur alle t ∈ R.

Hat A einen zweifachen reellen Eigenwert λ mit Eigenvektor u und ist v ein Vektor, furden Av = λv + u gilt, dann gilt r(t) = eλtu und s(t) = eλtv + teλtu. Wir erhalten danndet(r(t), s(t)) = det(eλtu, eλtv) + det(eλtu, teλtu) = e2λt det(u,v). Da die Vektoren u und vnicht parallel sind, gilt det(u,v) = 0. Damit ist det(r(t), s(t)) = 0 fur alle t ∈ R gezeigt.

Hat A schließlich den komplexen Eigenwert α + iβ mit Eigenvektor u + iv, dann giltr(t) = eαt cos βtu − eαt sin βtv und s(t) = eαt sin βtu + eαt cos βtv. Rechnen mit Determi-nanten ergibt det(r(t), s(t)) = det(eαt cos βtu, eαt cos βtv) − det(eαt sin βtv, eαt sin βtu) =e2αt cos2 βt det(u,v) − e2αt sin2 βt det(v,u) = e2αt det(u,v). Da die Vektoren u und v nichtparallel sind, gilt det(u,v) = 0. Damit ist det(r(t), s(t)) = 0 fur alle t ∈ R gezeigt. �

Beispiel. Wir losen x′(t) = Ax(t) mit A =(

3 2−1 1

). Das charakteristische Polynom ist

(3 − λ)(1 − λ) + 2 = λ2 − 4λ + 5. Somit ist λ = 2 + i ein komplexer Eigenwert. Es giltA − λI2 =

(1−i 2−1 −1−i

). Ein Eigenvektor ist

(2

−1+i

)=

(2−1

)+ i

(01

)(ein Normalvektor zur

ersten Zeile der Matrix). Nach Satz 16 ist {c1r(t) + c2s(t) : c1, c2 ∈ R} die Menge allerLosungen, wobei

r(t) = e2t cos t(

2−1

)− e2t sin t

(01

)und s(t) = e2t sin t

(2−1

)+ e2t cos t

(01

)Wir wahlen x(π

2) =

(20

)als Anfangsbedingung. Daraus ergeben sich die beiden Gleichungen

eπ · 2c2 = 2 und eπ(−c1 − c2) = 0. Es folgt c1 = −e−π und c2 = e−π.

Die in Satz 13 angegebenen Losungen eines Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t)mit einer 2 × 2-Matrix A enthalten die fruher definierten Basisfunktionen h1(t) und h2(t)des charakteristischen Polynoms P (λ) der Matrix A. Fur die beiden Komponenten x1(t) undx2(t) einer Losung x(t) des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) existieren Konstan-ten a1, a2, b1, b2 aus R, sodass x1(t) = a1h1(t) + a2h2(t) und x2(t) = b1h1(t) + b2h2(t) gilt.Das trifft in allen drei in Satz 13 unterschiedenen Fallen zu.

Dieses Resultat gilt auch fur ein Differentialgleichungssystem x′(t) = Ax(t) mit einern× n-Matrix A. Das charakteristische Polynom P (λ) der Matrix A hat Grad n. Somit hates auch n Basisfunktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t). Man kann zeigen: Fur die Komponentenx1(t), x2(t), . . . , xn(t) einer Losung x(t) des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) gilt

Page 26: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

22 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

dann x1(t) = a1h1(t) + a2h2(t) + · · ·+ anhn(t), x2(t) = b1h1(t) + b2h2(t) + · · ·+ bnhn(t) undso weiter, wobei die Koeffizienten a1, a2, . . . , an, b1, b2, . . . , bn aus R sind.

Einen Ausdruck der Form a1h1(t) + a2h2(t) + · · ·+ anhn(t) mit a1, a2, . . . , an ∈ R nenntman eine Linearkombination der Funktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t). Daher kann man diesesResultat folgendermaßen formulieren (den Beweis lassen wir weg, da er zu schwierig ist)

Satz 17. Sei A eine n × n-Matrix und P (λ) das charakteristische Polynom dieser Ma-trix. Seien h1(t), h2(t), . . . , hn(t) die Basisfunktionen zu P (λ). Jede Komponente xj(t) einerLosung x(t) des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) ist dann eine Linearkombinati-on der Funktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t).

Das folgende Beispiel zeigt, wie man diesen Satz zum Losen eines Differentialgleichungs-systems verwenden kann.

Beispiel. Wir losen x′(t) = Ax(t) mit A =( −1 1 −2

4 1 02 1 −1

). Das charakteristische Polynom

ist (−1− λ)(1− λ)(−1− λ)− 8− 4(−1− λ) + 4(1− λ) = −(λ− 1)(λ+ 1)2. Somit ist 1 eineinfacher und −1 ein zweifacher Eigenwert. Die Basisfunktionen sind h1(t) = et, h2(t) = e−t

und h1(t) = te−t. Wir verwenden Satz 17. Jede Komponente einer Losung des Differential-gleichungssystems ist eine Linearkombination der Basisfunktionen. Es gilt also

x1(t) = a1et + a2e

−t + a3te−t

x2(t) = b1et + b2e

−t + b3te−t

x3(t) = c1et + c2e

−t + c3te−t

wobei a1, a2, a3, b1, b2, b3, c1, c2 und c3 unbestimmte Konstanten aus R sind. Setzt manx1(t), x2(t) und x3(t) in das Differentialgleichungssystem ein, so hat man

a1et − a2e

−t+a3e−t − a3te

−t

= −a1et − a2e−t − a3te

−t + b1et + b2e

−t + b3te−t − 2c1e

t − 2c2e−t − 2c3te

−t

b1et − b2e

−t+b3e−t − b3te

−t

= 4a1et + 4a2e

−t + 4a3te−t + b1e

t + b2e−t + b3te

−t

c1et − c2e

−t+c3e−t − c3te

−t

= 2a1et + 2a2e

−t + 2a3te−t + b1e

t + b2e−t + b3te

−t − c1et − c2e

−t − c3te−t

Vergleicht man die Koeffizienten der Funktionen et, e−t und te−t in diesen drei Gleichungen,so erhalt man

a1 = −a1 + b1 − 2c1 −a2 + a3 = −a2 + b2 − 2c2 −a3 = −a3 + b3 − 2c3

b1 = 4a1 + b1 −b2 + b3 = 4a2 + b2 −b3 = 4a3 + b3

c1 = 2a1 + b1 − c1 −c2 + c3 = 2a2 + b2 − c2 −c3 = 2a3 + b3 − c3

Die drei links stehenden Gleichungen (die dritte Gleichung folgt aus den beiden ersten)sind aquivalent zu a1 = 0 und b1 = 2c1. Die drei rechts stehenden Gleichungen (die dritteGleichung folgt aus der zweiten) sind aquivalent zu b3 = 2c3 und 2a3 = −b3. Aus den dreiin der Mitte stehenden Gleichungen folgt b2 = 2c2 + a3, 4a2 + 2b2 = b3 und 2a2 + b2 = c3.Diese letzte Gleichung ist identisch mit der vorletzten und kann daher weggelassen werden,da b3 = 2c3 gilt. Von den neun ursprunglichen Gleichungen bleiben somit sechs ubrig. Dieseverwenden wir, um alle unbestimmten Koeffizienten durch c1, c2 und c3 auszudrucken. wirerhalten a1 = 0, b1 = 2c1, b3 = 2c3, a3 = −1

2b3 = −c3, b2 = 2c2 − c3 und a2 = 1

4b3 − 1

2b2 =

Page 27: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

3. INHOMOGENE SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 23

12c3 − c2 +

12c3 = c3 − c2. Setzt man das oben ein, so hat man die allgemeine Losung des

Differentialgleichungssystems.

x1(t) = (c3 − c2)e−t − c3te

−t

x2(t) = 2c1et + (2c2 − c3)e

−t + 2c3te−t

x1(t) = c1et + c2e

−t + c3te−t

Man kann sie auch in Vektorschreibweise aufschreiben

x(t) = c1et(

021

)+ c2e

−t(

−121

)+ c3e

−t(

1−t−1+2tt

)mit c1 , c2 , c3 ∈ R

Damit haben wir die Losung in der gewohnten Form geschrieben. Sie enthalt drei unbe-stimmte Konstanten.

3. Inhomogene Systeme linearer Differentialgleichungen

Das inhomogene Differentialgleichungssystem ist

x′1(t) = ax1(t) + bx2(t) + g1(t)

x′2(t) = cx1(t) + dx2(t) + g2(t)

Fuhren wir die Matrix A =(a bc d

)und den Vektor g(t) =

( g1(t)g2(t)

)ein, so konnen wir dieses

System schreiben als

x′(t) = Ax(t) + g(t)

Wir gehen genauso vor wie fur lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung.

Satz 18. Sei x(t) eine (spezielle oder partikulare) Losung des inhomogenen Systemsx′(t) = Ax(t) + g(t). Sei L die Menge aller Losungen des zugehorigen homogenen Systemsx′(t) = Ax(t). Dann ist {x(t)+z(t) : z(t) ∈ L} die Menge aller Losungen des inhomogenenSystems x′(t) = Ax(t) + g(t).

Beweis. Wir zeigen zuerst, dass x(t) + z(t) mit z(t) ∈ L eine Losung des inhomogenenSystems ist. Es gilt (x(t)+z(t))′ = x′(t)+z′(t) = Ax(t)+g(t)+Az(t) = A(x(t)+z(t))+g(t),womit der Nachweis gelungen ist.

Sei jetzt x(t) eine beliebige Losung des inhomogenen Systems. Wir setzen z(t) = x(t)−x(t). Dann gilt z′(t) = x′(t)− x′(t) = Ax(t)+g(t)− (Ax(t)+g(t)) = Ax(t)−Ax(t) = Az(t).Somit gilt z(t) ∈ L. Ausserdem gilt x(t) = x(t) + z(t). Jede Losung x(t) des inhomogenenDifferentialgleichungssystems lasst sich in der gewunschten Form schreiben. �

Wegen Satz 18 genugt es eine spezielle Losung des inhomogenen Differentialgleichungs-systems x′(t) = Ax(t) + g(t) zu finden. Dafur verwenden wir die Variation der Konstanten.

Satz 19. Sei A eine 2× 2-Matrix und r(t) und s(t) wie in Satz 13 definiert. Seien c1(t)und c2(t) Funktionen, fur die gilt

c′1(t)r(t) + c′2(t)s(t) = g(t) das heißtc′1(t)r1(t) + c′2(t)s1(t) = g1(t)c′1(t)r2(t) + c′2(t)s2(t) = g2(t)

Dann ist x(t) = c1(t)r(t)+ c2(t)s(t) eine Losung des inhomogenen Differentialgleichungssys-tems x′(t) = Ax(t) + g(t).

Page 28: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

24 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Beweis. Es gilt x′(t) = c′1(t)r(t)+c1(t)r′(t)+c′2(t)s(t)+c2(t)s

′(t). Nun wurden c1(t) undc2(t) so gewahlt, dass c′1(t)r(t)+ c′2(t)s(t) = g(t) gilt. Es folgt x′(t) = c1(t)r

′(t)+ c2(t)s′(t)+

g(t). Da r(t) und s(t) Losungen des homogenen Systems sind, erhalten wir r′(t) = Ar(t) unds′(t) = As(t). Es folgt x′(t) = c1(t)Ar(t)+c2(t)As(t)+g(t) = A(c1(t)r(t)+c2(t)s(t))+g(t) =Ax(t) + g(t). Damit ist gezeigt, dass x(t) eine Losung des inhomogenen Systems ist. �Bemerkung: Das lineare Gleichungssystem in Satz 19 ist immer losbar. Die Determinanteist die Wronskideterminante. Im Beweis von Satz 16 wurde gezeigt, dass sie = 0 ist.

Beispiel. Wir losen x′(t) = Ax(t) + g(t) mit A =( −2 5−1 4

)und g(t) = et

(91

). Das

charakteristische Polynom der Matrix A ist (−2− λ)(4− λ) + 5 = λ2 − 2λ− 3. Somit sindλ1 = −1 und λ2 = 3 die Eigenwerte. Es gilt A−λ1I2 =

( −1 5−1 5

)und A−λ2I2 =

( −5 5−1 1

). Somit

sind u =(51

)und v =

(11

)Eigenvektoren zu λ1 = −1 und λ2 = 3. Nach Satz 16 sind

x(t) = c1e−t( 5

1

)+ c2e

3t(11

)mit c1 , c2 ∈ R

alle Losungen des homogenen Differentialgleichungssystems.Mit Hilfe von Satz 19 suchen wir eine Losung des inhomegenen Differentialgleichungssys-

tems. Dazu losen wir

5c′1(t)e−t + c′2(t)e

3t = 9et

c′1(t)e−t + c′2(t)e

3t = et

Subtrahiert man die zweite von der ersten Gleichung, so erhalt man 4c′1(t)e−t = 8et und

daraus c′1(t) = 2e2t. Subtrahiert man die erste vom Funffachen der zweiten Gleichung, soerhalt man 4c′2(t)e

3t = −4et und daraus c′2(t) = −e−2t. Stammfunktionen sind c1(t) = e2t

und c2(t) =12e−2t. Nach Satz 19 ist x(t) = e2te−t

(51

)+ 1

2e−2te3t

(11

)= 1

2et(113

)eine Losung

des inhomogenen Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t)+g(t). Nach Satz 18 sind dann

x(t) = c1e−t( 5

1

)+ c2e

3t(11

)+ 1

2et(113

)mit c1 , c2 ∈ R

alle Losungen des inhomogenen Systems.

Die Satze 18 und 19 lassen sich leicht in hohere Dimensionen ubertragen. Wir rechnendazu ein Beispiel.

Beispiel. Wir losen x′(t) = Ax(t) + g(t) mit A =( −1 1 −2

4 1 02 1 −1

)und g(t) =

( −t5−2t3−t

). In

einem fruheren Beispiel haben wir die Losung des homogenen Differentialgleichungssystemsx′(t) = Ax(t) berechnet

x(t) = c1et(

021

)+ c2e

−t(

−121

)+ c3e

−t(

1−t−1+2tt

)mit c1 , c2 , c3 ∈ R

Um das inhomogene Differentialgleichungssystem x′(t) = Ax(t) + g(t) zu losen, verwendenwir die Satze 18 und 19. Nach Satz 19 ist folgendes lineare Gleichungssystem zu losen

− c′2(t)e−t + c′3(t)e

−t(1− t) = −t2c′1(t)e

t + 2c′2(t)e−t + c′3(t)e

−t(−1 + 2t) = 5− 2t

c′1(t)et + c′2(t)e

−t + c′3(t)e−tt = 3− t

Subtrahiert man das zweifache der dritten Gleichung von der zweiten Gleichung, dann hatman −c′3(t)e−t = −1, also c′3(t) = et. Die erste Gleichung ergibt −c′2(t)e−t + 1 − t = −toder c′2(t) = et. Aus der dritten Gleichung folgt schließlich c′1(t)e

t + 1 + t = 3 − t oder

Page 29: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4. EIN ANDERER ZUGANG ZU HOMOGENEN SYSTEMEN 25

c′1(t) = (2− 2t)e−t. Die Stammfunktionen sind c1(t) = 2te−t, c2(t) = et und c3(t) = et. Einespezielle Losung des inhomogenen Systems x′(t) = Ax(t) + g(t) ist daher

x(t) = 2te−tet(

021

)+ ete−t

(−121

)+ ete−t

(1−t

−1+2tt

)= 2t

(021

)+(

−121

)+(

1−t−1+2tt

)=

( −t1+6t1+3t

)Nach Satz 18 sind dann

x(t) = c1et(

021

)+ c2e

−t(

−121

)+ c3e

−t(

1−t−1+2tt

)+( −t

1+6t1+3t

)mit c1 , c2 , c3 ∈ R

alle Losungen des inhomogenen Systems.

Beispiel. Wir behandeln ein Stromnetz aus zwei Schleifen, das zwei Widerstande vonR1 Ohm und R2 Ohm enthalt und zwei Spulen mit Induktivitat L1 und L2. Es ist an eineSpannungsquelle angeschlossen. Dieses Stromnetz sieht so aus

⃝E

R1

L1

R2

L2

Sei I(t) der Strom, der zum Zeitpunkt t von der Spannunngsquelle durch den WiderstandR1 fließt. Er spaltet sich in den Strom I1(t), der durch die Spule L1 fließt, und den StromI2(t), der durch den Widerstand R2 und die Spule L2 fließt. Es gilt I(t) = I1(t) + I2(t). Dievon den Widerstanden verursachten Spannungen sind U1(t) = R1I(t) und U2(t) = R2I2(t).Die von den Spulen verursachten Spannungen sind U3(t) = L1I

′1(t) und U4(t) = L2I

′2(t).

Fur die beiden Schleifen, aus denen das Stromnetz besteht, konnen wir Gleichungen fur dieSpannungen aufstellen. In der linken Schleife ist die angelegte Spannung E(t) gleich den vonWiderstand und Spule verursachten Spannungen. Es gilt also E(t) = U1(t) + U3(t). In derrechten Schleife mussen die Spannungen zwischen den Verzweigungspunkten entlang beiderVerbindungswege gleich groß sein. Es gilt also U3(t) = U2(t)+U4(t). Es folgt E(t) = R1I(t)+L1I

′1(t) und L1I

′1(t) = R2I2(t) + L2I

′2(t). Wir erhalten das Differentialgleichungssystem

I ′1(t) = −R1

L1I1(t)− R1

L1I2(t) +

1L1E(t)

I ′2(t) = −R1

L2I1(t)− R1+R2

L2I2(t) +

1L2E(t)

Die Matrix dieses Differentialgleichungssystems ist A =( −p −p−q −q−r

)mit p = R1

L1, q = R1

L2und

r = R2

L2. Das charakteristische Polynom ist λ2+(p+q+r)λ+pr. Man erhalt negative reelle Ei-

genwerte wegen 0 < (p+q+r)2−4pr < (p+q+r)2. Es folgt, dass die Losungen des homogenenSystems fur t → ∞ gegen Null gehen. Der Einfluss der Anfangsbedingungen verschwindet.Es bleibt eine Losung des inhomogenen Systems. Ist E(t) = E konstant (Gleichspannung),dann stellen sich konstante Strome I1(t) =

ER1

und I2(t) = 0 ein. Ist E(t) = sinωt mit ω ∈ R(Wechselspannung), dann stellen sich Wechslestrome mit verschobener Phase ein.

4. Ein anderer Zugang zu homogenen Systemen

Sei A eine 2×2-Matrix. In Kapitel 1 wurden zur Matrix A in allen drei dort behandeltenFallen Vektoren u und v im R2 gefunden, die ungleich 0 und nicht parallel zueinander sind.

Page 30: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

26 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Ist x im R2 beliebig, dann existieren d1 und d2 in R, sodass x = d1u+ d2v gilt. Die Zahlend1 und d2 sind Losungen des linearen Gleichungssystems

x1 = d1u1 + d2v1

x2 = d1u2 + d2v2

das sind d1 = x1v2−x2v1u1v2−u2v1 und d2 = u1x2−u2x1

u1v2−u2v1 . Der Nenner ist ungleich 0, da die Vektoren uund v nicht parallel zueinander sind.

Wir wenden diese Darstellung auf eine Funktion t 7→ x(t) an. Man kann so eine Funktionals Kurve im R2 auffassen. Zum Zeitpunkt t befindet man sich im Punkt x(t). Es gilt

x(t) = p(t)u+ q(t)v

mit p(t) = x1(t)v2−x2(t)v1u1v2−u2v1 und q(t) = u1x2(t)−u2x1(t)

u1v2−u2v1 . Daraus erkennt man auch, dass p(t) und

q(t) differenzierbare Funktionen sind, wenn x1(t) und x2(t) differenzierbar sind. Mit die-ser Darstellung von x(t) gehen wir in das Differentialgleichungssystem x′(t) = Ax(t). Wirbehandeln die drei Falle, die in Kapitel 1 unterschieden werden, in den drei folgenden Satzen.

Satz 20. Sei A eine 2×2-Matrix mit zwei verschiedenen reellen Eigenwerten λ1 und λ2.Seien u und v zugehorige Eigenvektoren. Wir setzen

r(t) = eλ1tu und s(t) = eλ2tv

Dann ist {c1r(t)+ c2s(t) : c1, c2 ∈ R} die Menge aller Losungen des Differentialgleichungs-systems x′(t) = Ax(t).

Beweis. Sei t 7→ x(t) eine beliebige differenzierbare Funktion von einem Intervall nachR2. Wir konnen sie schreiben als x(t) = p(t)u+ q(t)v mit differenzierbaren Funktionen p(t)und q(t). Es gilt x′(t) = p′(t)u + q′(t)v und Ax(t) = p(t)Au + q(t)Av = p(t)λ1u + q(t)λ2v.Das Differentialgleichungssystem

(1) x′(t) = Ax(t)

ist genau dann erfullt, wenn (p′(t) − p(t)λ1)u = −(q′(t) − q(t)λ2)v gilt. Da die Vektoren uund v ungleich 0 und nicht parallel zueinander sind, ist das wieder aquivalent zu

(2) p′(t) = λ1p(t) und q′(t) = λ2q(t)

Nach Satz 1 sind die beiden Differentialgleichungen in (2) genau dann erfullt, wenn gilt

(3) p(t) = c1eλ1t und q(t) = c2e

λ2t mit c1 , c2 ∈ R

Somit lost x(t) = p(t)u + q(t)v das Differentialgleichungssystem (1) genau dann, wenn (3)gilt. Damit ist der Satz bewiesen. �

Satz 21. Sei A eine 2 × 2-Matrix mit einem zweifachen reellen Eigenwert λ. Sei u einEigenvektor zum Eigenwert λ und v ein Vektor, fur den Av = λv+ u gilt. Wir setzen

r(t) = eλtu und s(t) = eλtv+ teλtu

Dann ist {c1r(t)+ c2s(t) : c1, c2 ∈ R} die Menge aller Losungen des Differentialgleichungs-systems x′(t) = Ax(t).

Beweis. Sei t 7→ x(t) eine beliebige differenzierbare Funktion von einem Intervall nachR2. Wir konnen sie schreiben als x(t) = p(t)u+ q(t)v mit differenzierbaren Funktionen p(t)

Page 31: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4. EIN ANDERER ZUGANG ZU HOMOGENEN SYSTEMEN 27

und q(t). Es gilt x′(t) = p′(t)u+q′(t)v undAx(t) = p(t)Au+q(t)Av = p(t)λu+q(t)λv+q(t)u.Das Differentialgleichungssystem

(1) x′(t) = Ax(t)

ist genau dann erfullt, wenn (p′(t)− p(t)λ− q(t))u = −(q′(t)− q(t)λ)v gilt. Da die Vektorenu und v ungleich 0 und nicht parallel zueinander sind, ist das wieder aquivalent zu

(2) p′(t) = λp(t) + q(t) und q′(t) = λq(t)

Nach Satz 1 ist die zweite der beiden Differentialgleichungen in (2) genau dann erfullt, wennq(t) = c2e

λt mit c2 ∈ R gilt. Nachdem q(t) bestimmt ist, ist die erste genau dann erfullt,wenn p(t) = eλt(

∫c2e

λte−λt dt+ c1) = eλt(c2t+ c1) mit c1 ∈ R gilt. Also ist (2) aquivalent zu

(3) p(t) = c1eλt + c2te

λt und q(t) = c2eλt mit c1 , c2 ∈ R

Somit lost x(t) = p(t)u + q(t)v das Differentialgleichungssystem (1) genau dann, wenn (3)gilt. Damit ist der Satz bewiesen. �

Satz 22. Sei A eine 2 × 2-Matrix mit komplexem Eigenwert α + iβ. Sei u + iv einzugehoriger Eigenvektor. Wir setzen

r(t) = eαt cos βtu− eαt sin βtv und s(t) = eαt sin βtu+ eαt cos βtv

Dann ist {c1r(t)+ c2s(t) : c1, c2 ∈ R} die Menge aller Losungen des Differentialgleichungs-systems x′(t) = Ax(t).

Beweis. Es gilt A(u+ iv) = (α+ iβ)(u+ iv) = αu+ iβu+ iαv− βv. Durch Vergleichvon Real- und Imaginarteil ergibt sich Au = αu− βv und Av = βu+ αv.

Sei t 7→ x(t) eine beliebige differenzierbare Funktion von einem Intervall nach R2. Wirschreiben sie als x(t) = p(t)u+ q(t)v mit differenzierbaren Funktionen p(t) und q(t). Es giltx′(t) = p′(t)u+ q′(t)v und Ax(t) = p(t)Au+ q(t)Av = p(t)αu− p(t)βv+ q(t)βu+ q(t)αv.Das Differentialgleichungssystem

(1) x′(t) = Ax(t)

ist genau dann erfullt, wenn (p′(t)− p(t)α− q(t)β)u = −(q′(t)+ p(t)β− q(t)α)v gilt. Da dieVektoren u und v ungleich 0 und nicht parallel zueinander sind, ist das aquivalent zu

(2) p′(t) = αp(t) + βq(t) und q′(t) = αq(t)− βp(t)

Wir mussen die Funktionen p(t) und q(t) finden, die die Differentialgleichungen in (2) losen.Wir differenzieren die erste Gleichung und erhalten p′′(t) = αp′(t) + βq′(t). Wir addierendazu das β-fache der zweiten Gleichung und subtrahieren das α-fache der ersten Gleichung.Das ergibt p′′(t)−2αp′(t)+(α2+β2)p(t) = 0. Das Polynom P (λ) = λ2−2αλ+α2+β2 hat diekonjugiert komplexen Nullstellen α±iβ. Nach Satz 8 muss p(t) = c1e

αt cos βt+c2eαt sin βtmit

c1 , c2 ∈ R gelten. Das konnen wir in die zweite Gleichung in (2) einsetzen. Nach Satz 1 mussdann q(t) = eαt(−

∫βc1 cos βt+ βc2 sin βt dt+ d) = eαt(−c1 sin βt+ c2 cos βt+ d) mit d ∈ R

gelten. Nur diese Funktionen p(t) und q(t) kommen als Losungen der Differentialgleichungenin (2) in Frage. Wir setzen sie in (2) ein und sehen, dass d = 0 sein muss. Dann sind p(t)und q(t) tatsachlich Losungen. Also ist (2) aquivalent zu

(3) p(t) = c1eαt cos βt+ c2e

αt sin βt und q(t) = c2eαt cos βt− c1e

αt sin βt mit c1, c2 ∈ RSomit erfullt x(t) = p(t)u+q(t)v das Differentialgleichungssystem (1) genau dann, wenn (3)gilt. Damit ist der Satz bewiesen. �

Page 32: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

28 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

5. Systeme zweiter Ordnung

Bei Bewegungsgleichungen in der Physik tritt die zweite Ableitung (Beschleunigung) auf.Hat man mehrere aneinander gekoppelte schwingende Korper, dann fuhrt das zu Systemenzweiter Ordnung. Man kann sie durch Einfuhren der Geschwindigkeiten als neue Funktionenauf Systeme erster Ordnung zuruckfuhren, aber manche Systeme zweiter Ordnung lassensich einfacher direkt losen.

Satz 23. Sei a ∈ R und B eine 2 × 2-Matrix mit zwei verschiedenen reellen Eigenwer-ten φ1 und φ2. Seien u und v zugehorige Eigenvektoren. Weiters seien g1(t) und g2(t) dieBasisfunktionen zum Polynom G(λ) = λ2+ aλ+φ1 und h1(t) und h2(t) die Basisfunktionenzum Polynom H(λ) = λ2 + aλ+ φ2. Dann ist

{c1g1(t)u+ c2g2(t)u+ c3h1(t)v+ c4h2(t)v : c1, c2, c3, c4 ∈ R}

die Menge aller Losungen des Differentialgleichungssystems x′′(t) + ax′(t) +Bx(t) = 0.

Beweis. Sei t 7→ x(t) eine beliebige differenzierbare Funktion von einem Intervall inden R2. Wir konnen sie schreiben als x(t) = p(t)u+ q(t)v mit differenzierbaren Funktionenp(t) und q(t). Es gilt dann einerseits x′(t) = p′(t)u+ q′(t)v und x′′(t) = p′′(t)u+ q′′(t)v undandererseits Bx(t) = p(t)Bu+q(t)Bv = p(t)φ1u+q(t)φ2v. Das Differentialgleichungssystem

(1) x′′(t) + ax′(t) +Bx(t) = 0

ist genau dann erfullt, wenn (p′′(t) + ap′(t) +φ1p(t))u = −(q′′(t) + aq′(t) +φ2q(t))v gilt. Dadie Vektoren u und v ungleich 0 und nicht parallel zueinander sind, ist das aquivalent zu

(2) p′′(t) + ap′(t) + φ1p(t) = 0 und q′′(t) + aq′(t) + φ2q(t) = 0

Nach Satz 8 sind die beiden Differentialgleichungen in (2) genau dann erfullt, wenn gilt

(3) p(t) = c1g1(t) + c2g2(t) und q(t) = c3h1(t) + c4h2(t) mit c1, c2, c3, c4 ∈ R

Somit lost x(t) = p(t)u + q(t)v das Differentialgleichungssystem (1) genau dann, wenn (3)gilt. Damit ist der Satz bewiesen. �

Satz 24. Sei B eine 2×2-Matrix mit zwei verschiedenen positiven Eigenwerten φ1 = ω21

und φ2 = ω22. Seien u und v zugehorige Eigenvektoren. Dann ist

{c1 cosω1tu+ c2 sinω1tu+ c3 cosω2tv+ c4 sinω2tv : c1, c2, c3, c4 ∈ R}

die Menge aller Losungen des Differentialgleichungssystems x′′(t) +Bx(t) = 0.

Beweis. Das ist ein Spezialfall von Satz 23. Die beiden Polynome sind G(λ) = λ2 + ω21

und H(λ) = λ2 + ω22. Die Basisfunktionen zum Polynom G(λ) sind g1(t) = cosω1t und

g2(t) = sinω1t. Die Basisfunktionen zum Polynom H(λ) sind h1(t) = cosω2t und h2(t) =sinω2t. �

Man kann diese Resultate auch auf hohere Dimensionen ausdehnen, zum Beispiel furx(t) ∈ R3 und eine 3 × 3-Matrix B mit drei verschiedenen positiven Eigenwerten φ1 = ω2

1,φ2 = ω2

2 und φ3 = ω23. Seien u, v und w zugehorige Eigenvektoren. Dann ist

c1 cosω1tu+ c2 sinω1tu+ c3 cosω2tv+ c4 sinω2tv+ c5 cosω3tw+ c6 sinω3tw

mit c1, c2, c3, c4, c5, c6 ∈ R die Menge aller Losungen des Differentialgleichungssystemsx′′(t) +Bx(t) = 0.

Page 33: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

5. SYSTEME ZWEITER ORDNUNG 29

Beispiel. Wir untersuchen zwei schwingende Korper der Masse m, die sich entlang derx-Achse bewegen. ∣∣∣−/\ /\ /\ /\ /\ /\

\/ \/ \/ \/ \/ \/−⃝−/\ /\ /\ /\ /\ /\\/ \/ \/ \/ \/ \/−⃝

Der erste Korper ist an einer fixierten Feder befestigt. Der zweite Korper ist durch eine Federmit dem ersten Korper verbunden. Beide Federn haben die gleiche Federkonstante k.

Seien x1(t) und x2(t) die Auslenkungen der beiden Korper aus der Ruhelage zum Zeit-punkt t. Die Krafte, die auf den ersten Korper wirken, sind −kx1(t) und −k(x1(t)− x2(t)).Auf den zweiten Korper wirkt die Kraft −k(x2(t)−x1(t)). Die Reibung wird vernachlassigt.Daraus ergeben sich die Bewegungsgleichungen

mx′′1(t) = −kx1(t)− k(x1(t)− x2(t))

mx′′2(t) = −k(x2(t)− x1(t))

Wir erhalten das Differentialgleichungssystem x′′(t) + Bx(t) = 0 mit B = km

(2 −1−1 1

). Der

Einfachheit halber nehmen wir an, dass km

= 1 gilt. Das charakteristische Polynom der

Matrix B ist P (λ) = λ2 − 3λ + 1. Die Eigenwerte sind ω21 = 3

2+

√52

und ω22 = 3

2−

√52.

Zugehorige Eigenvektoren sind u =(

21−

√5

)und v =

(2

1+√5

). Es folgt ω1 =

√52

+ 12und

ω2 =√52− 1

2. Die allgemeine Losung des Differentialgleichungssystem ist nach Satz 24

x(t) = (c1 cos√5+12t+ c2 sin

√5+12t)(

21−

√5

)+ (c3 cos

√5−12t+ c4 sin

√5−12t)(

21+

√5

)mit c1, c2, c3, c4 ∈ R. Die Auslenkungen der beiden Korper zum Zeitpunkt 0 seien p und q.Die Anfangsgeschwindigkeiten seien null. Das ergibt die Anfangsbedingungen

x(0) =(pq

)und x′(0) = 0

Aus der zweiten Gleichung folgt c2 = 0 und c4 = 0. Aus der ersten folgt 2c1 + 2c3 = p und

(1−√5)c1 + (1 +

√5)c3 = q. Das ergibt c1 =

(√5+1)p−2q

4√5

und c3 =(√5−1)p+2q

4√5

. Somit ist

x(t) = (√5+1)p−2q

4√5

cos√5+12t(

21−

√5

)+ (

√5−1)p+2q

4√5

cos√5−12t(

21+

√5

)die Losung des Anfangswertproblems.

Beispiel. Wir haben wieder zwei schwingende Korper der Masse m, die sich entlang derx-Achse bewegen.∣∣∣−/\ /\ /\ /\ /\ /\

\/ \/ \/ \/ \/ \/−⃝−/\ /\ /\ /\ /\ /\\/ \/ \/ \/ \/ \/−⃝−/\ /\ /\ /\ /\ /\

\/ \/ \/ \/ \/ \/−∣∣∣

Der erste Korper ist an einer fixierten Feder befestigt. Der zweite Korper ist durch eine Federmit dem ersten Korper verbunden. Der zweite Korper ist jetzt ebenfalls mit einer fixiertenFeder verbunden. Alle drei Federn haben die gleiche Federkonstante k.

Seien x1(t) und x2(t) die Auslenkungen der beiden Korper aus der Ruhelage zum Zeit-punkt t. Die Krafte, die auf den ersten Korper wirken, sind −kx1(t) und −k(x1(t)− x2(t)).Auf den zweiten Korper wirken die Krafte −k(x2(t)−x1(t)) und −kx2(t). Die Reibung wirdvernachlassigt. Daraus ergeben sich die Bewegungsgleichungen

mx′′1(t) = −kx1(t)− k(x1(t)− x2(t))

mx′′2(t) = −kx2(t)− k(x2(t)− x1(t))

Page 34: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

30 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Wir erhalten das Differentialgleichungssystem x′′(t) + Bx(t) = 0 mit B = km

(2 −1−1 2

). Der

Einfachheit halber nehmen wir an, dass km

= 1 gilt. Das charakteristische Polynom derMatrix B ist P (λ) = λ2− 4λ+3. Die Eigenwerte sind ω2

1 = 3 und ω22 = 1 mit Eigenvektoren

u =(−11

)und v =

(11

). Die allgemeine Losung des Systems ist nach Satz 24

x(t) = (c1 cos√3t+ c2 sin

√3t)

(−11

)+ (c3 cos t+ c4 sin t)

(11

)mit c1, c2, c3, c4 ∈ R. Die Auslenkungen der beiden Korper zum Zeitpunkt 0 seien p und q.Die Anfangsgeschwindigkeiten seien null. Das ergibt die Anfangsbedingungen

x(0) =(pq

)und x′(0) = 0

Aus der zweiten Gleichung folgt c2 = 0 und c4 = 0. Aus der ersten folgt −c1 + c3 = p undc1 + c3 = q. Das ergibt c1 =

q−p2

und c3 =q+p2. Somit ist

x(t) = q−p2

cos√3t

(−11

)+ q+p

2cos t

(11

)die Losung des Anfangswertproblems.

Fugt man bei diesen Beispielen auch einen Reibungswiderstand hinzu, so erhalt manBeispiele zu Satz 23.

Beispiel. Man kann auch mehr als zwei schwingende Korper betrachten, die sich entlangder x-Achse bewegen und durch Federn miteinander verbunden sind. Die Korper an denEnden sind durch eine Feder mit einer Wand verbunden. Alle Korper haben Masse m undalle Federn haben Federkonstante k.∣∣∣−/\ /\ /\ /\ /\

\/ \/ \/ \/ \/−⃝−/\ /\ /\ /\ /\\/ \/ \/ \/ \/−⃝−/\ /\ /\ /\ /\

\/ \/ \/ \/ \/−⃝−/\ /\ /\ /\ /\\/ \/ \/ \/ \/−

∣∣∣Hat man drei Korper und sind x1(t), x2(t) und x3(t) ihre Auslenkungen aus der Ruhelagezum Zeitpunkt t, dann ergeben sich die Bewegungsgleichungen

mx′′1(t) = −kx1(t)− k(x1(t)− x2(t))

mx′′2(t) = −k(x2(t)− x1(t))− k(x2(t)− x3(t))

mx′′2(t) = −kx3(t)− k(x3(t)− x2(t))

Wir erhalten das Differentialgleichungssystem x′′(t) + Bx(t) = 0 mit B = km

(2 −1 0−1 2 −10 −1 2

).

Wir nehmen wieder an, dass km

= 1 gilt. Das charakteristische Polynom der Matrix B ist

P (λ) = (2−λ)3 − 2(2−λ) = (2−λ)(λ2 − 4λ+2). Die Eigenwerte sind ω21 = 2, ω2

2 = 2+√2

und ω22 = 2−

√2 mit Eigenvektoren u =

(10−1

), v =

(1

−√2

1

)und w =

(1√21

). Die allgemeine

Losung des Systems ist

x(t) =(c1 cos

√2 t+ c2 sin

√2 t

) (10−1

)+(c3 cos

√2 +

√2 t+ c4 sin

√2 +

√2 t

) (1

−√2

1

)+(c5 cos

√2−

√2 t+ c6 sin

√2−

√2 t

) (1√21

)mit c1, c2, c3, c4, c5, c6 ∈ R. Nimmt man die Anfangsgeschwindigkeiten als null an, so folgtc2 = 0, c4 = 0 und c6 = 0. Gibt man die Auslenkungen der drei Korper zum Zeitpunkt 0vor, so kann man daraus c1, c3 und c5 berechnen.

Page 35: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

6. LOSUNGSKURVEN 31

6. Losungskurven

Die Losungen x(t) eines linearen Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) konnenwir als Kurven in der Ebene auffassen. Wir konnen uns einen Korper vorstellen, der eineBewegung ausfuhrt. Zum Zeitpunkt t befindet er sich im Punkt x(t).

Wir konnen jeden Punkt der Ebene als Anfangsbedingung wahlen. Daher gibt es durchjeden Punkt eine Losungskurve. Losungskurven konnen sich nicht uberkreuzen oder verzwei-gen. Sonst konnte man den Kreuzungs- oder den Verzweigungspunkt als Anfangsbedingungwahlen und hatte fur diese Anfangsbedingung mehr als eine Losung. Anfangsbedingungenbestimmen aber die Losung eindeutig. Losungskurven sind somit paarweise disjunkt undfullen die gesamte Ebene aus.

Eine Losungskurve ist die, die konstant = 0 ist, das heißt x(t) = 0 fur alle t. Man pruftleicht nach, dass sie das Differentialgleichungssystem x′(t) = Ax(t) lost. Man nennt denNullpunkt 0 daher einen Fixpunkt.

Sei λ = 0 ein reeller Eigenwert der Matrix A und u ein zugehoriger Eigenvektor. Seig die Gerade durch den Nullpunkt mit Richtungsvektor u. Dann sind x(t) = eλtu undx(t) = −eλtu Losungen des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t). Die zugehorigenKurven sind die beiden Halbgeraden, in die die Gerade g zerfallt, wenn man den Nullpunktwegnimmt. Ist λ < 0, dann werden die beiden Halbgeraden wegen limt→∞ eλt = 0 nach innendurchlaufen. Ist λ > 0, dann werden die beiden Halbgeraden wegen limt→∞ eλt = ∞ nachaußen durchlaufen.

Wir gehen die verschiedenen Falle der Reihe nach durch, die fur ein Differentialglei-chungssystem x′(t) = Ax(t) auftreten konnen.

Zwei reelle Eigenwerte mit verschiedenen Vorzeichen: Sei λ1 der positive Eigen-wert mit Eigenvektor u und λ2 der negative Eigenwert mit Eigenvektor v. Seien g1 und g2die Geraden durch den Nullpunkt mit Richtungsvektoren u und v. Wie wir bereits gesehenhaben, sind die Halbgeraden, in die g1 und g2 zerfallen, wenn man den Nullpunkt weg-nimmt, Losungskurven. Die Halbgeraden auf g1 werden nach außen, die auf g2 nach innendurchlaufen. Alle Losungen erhalt man als x(t) = c1e

λ1tu + c2eλ2tv mit c1, c2 ∈ R. Wegen

limt→−∞ eλ1t = 0 und limt→∞ eλ2t = 0 liegen sie fur t → −∞ asymptotisch zu g2 und furt→ ∞ asymptotisch zu g1. In diesem Fall nennt man den Nullpunkt einen Sattelpunkt.

Die Zeichnung zeigt Losungskurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mitA =

(−2 52 1

). Die Eigenwerte sind λ1 = 3 mit Eigenvektor u =

(11

)und λ2 = −4 mit

Eigenvektor v =(

5−2

).

Zwei negative reelle Eigenwerte: Sei λ1 der betragskleinere Eigenwert mit Eigenvektoru und λ2 der betragsgroßere Eigenwert mit Eigenvektor v. Seien g1 und g2 die Geraden

Page 36: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

32 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

durch 0 mit Richtungsvektoren u und v. Die Halbgeraden, in die g1 und g2 zerfallen, wennman 0 wegnimmt, sind Losungskurven. Sie werden nach innen durchlaufen. Alle Losungenerhalt man als x(t) = c1e

λ1tu+ c2eλ2tv mit c1, c2 ∈ R. Wegen λ1 < 0 und λ2 < 0 gehen alle

Losungskurven gegen 0. In diesem Fall nennt man den Nullpunkt einen Attraktor oder eineSenke. Da eλ2t schneller gegen 0 geht als eλ1t, schmiegen sich die Losungskurven an g1 an.

Die Zeichnung zeigt Losungskurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mitA =

( −2 −1−1 −2

). Die Eigenwerte sind λ1 = −1 mit Eigenvektor u =

(1−1

)und λ2 = −3 mit

Eigenvektor v =(11

).

Zwei positive reelle Eigenwerte: Sei λ1 der kleinere Eigenwert mit Eigenvektor u undλ2 der großere Eigenwert mit Eigenvektor v. Seien g1 und g2 die Geraden durch 0 mit Rich-tungsvektoren u und v. Die Halbgeraden, in die g1 und g2 zerfallen, wenn man 0 wegnimmt,sind Losungskurven. Sie werden nach außen durchlaufen. Alle Losungen erhalt man alsx(t) = c1e

λ1tu+ c2eλ2tv mit c1, c2 ∈ R. Wegen λ1 > 0 und λ2 > 0 gehen alle Losungskurven

nach Unendlich. In diesem Fall nennt man den Nullpunkt einen Repeller oder eine Quelle,da die Losungskurven von ihm weglaufen. Da eλ2t fur t → −∞ schneller gegen 0 geht alseλ1t, schmiegen sich die Losungskurven an g1 an.

Als Beispiel konnten wir die Matrix A =(2 11 2

)nehmen. Das ist die aus dem letzten

Beispiel, aber mit entgegengesetzten Vorzeichen. Das ergibt dieselben Losungskurven wie inobiger Zeichnung, sie werden nur in die andere Richtung durchlaufen. Die Zeichnung untenzeigt Losungskurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mit A =

(2 −10 1

). Die

Eigenwerte sind λ1 = 1 mit Eigenvektor u =(11

)und λ2 = 2 mit Eigenvektor v =

(10

).

Ein zweifacher reeller Eigenwert: Sei λ der Eigenwert mit Eigenvektor u. Sei g dieGerade durch 0 mit Richtungsvektor u. Die Halbgeraden, in die g zerfallt, wenn man 0

Page 37: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

6. LOSUNGSKURVEN 33

wegnimmt, sind Losungskurven. Sie werden nach außen durchlaufen, wenn λ > 0 ist, undnach innen, wenn λ < 0 ist. Alle Losungen erhalt man als x(t) = c1e

λtu+c2(eλtv+teλtu) mit

c1, c2 ∈ R, wobei Av = λv+u gilt. Ist λ > 0, dann gehen alle nach Unendlich, der Nullpunktist ein Repeller. Ist λ < 0, dann gehen alle zum Nullpunkt, der somit ein Attraktor ist.

Die Zeichnung zeigt Losungskurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mitA =

( −3 1−1 −1

). Der Eigenwert ist λ = −2 mit Eigenvektor u =

(11

). Das ist ein Beispiel mit

negativem Eigenwert. Die Matrix B =(3 −11 1

)= −A hat Eigenwert λ = 2 mit Eigenvektor

u =(11

). Sie hat dieselben Losungskurven, aber mit umgedrehter Durchlaufrichtung.

Imaginare Eigenwerte: Die Eigenwerte sind ±iβ mit Eigenvektoren u±iv. Alle Losungenerhalt man als x(t) = c1(cos βtu−sin βtv)+c2(sin βtu+cos βtv) mit c1, c2 ∈ R. Man sieht,dass x(t+ 2π

β) = x(t) fur alle t gilt. Alle Losungskurven sind daher geschlossene Kurven. Sie

werden mit Periode 2πβ

durchlaufen. Außerdem gilt x(t+ πβ) = −x(t), sodass der Nullpunkt

den Mittelpunkt der Losungskurven darstellt.Die Zeichnung zeigt Losungskurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mit

A =(−1 −51 1

). Die Eigenwerte sind λ = ±2i.

Konjugiert komplexe Eigenwerte mit positivem Realteil: Die Eigenwerte sind α±iβmit α > 0 und zugehorigen Eigenvektoren u ± iv. Alle Losungen kann man schreiben alsx(t) = eαt

(c1(cos βtu − sin βtv) + c2(sin βtu + cos βtv)

)mit c1, c2 ∈ R. Es sind also

dieselben Losungen wie bei imaginaren Eigenwerten, allerdings noch mit eαt multipliziert.Wegen α > 0 geht eαt nach ∞, wenn t nach ∞ geht. Wahrend die Losungskurven um den

Page 38: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

34 3. SYSTEME LINEARER DIFFERENTIALGLEICHUNGEN

Nullpunkt herumlaufen, wird ihr Abstand vom Nullpunkt immer großer. Somit laufen dieLosungskurven spiralenformig nach außen bis ins Unendliche. Der Nullpunkt ist ein Repeller.

Die Zeichnung zeigt Losungskurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mitA =

(1 −22 1

). Die Eigenwerte sind λ = 1± 2i.

Konjugiert komplexe Eigenwerte mit negativem Realteil: Die Eigenwerte sind α±iβmit α < 0 und zugehorigen Eigenvektoren u ± iv. Alle Losungen kann man schreiben alsx(t) = eαt

(c1(cos βtu−sin βtv)+c2(sin βtu+cos βtv)

)mit c1, c2 ∈ R. Wegen α < 0 geht eαt

nach 0, wenn t nach ∞ geht. Wahrend die Losungskurven um den Nullpunkt herumlaufen,wird ihr Abstand vom Nullpunkt immer kleiner. Die Losungskurven laufen spiralenformignach innen und konvergieren gegen den Nullpunkt, der somit ein Attraktor ist.

Die Zeichnung zeigt Losungskurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mitA =

( −1 −11 −1

). Die Eigenwerte sind λ = −1± i.

Bemerkung. Ist ein Eigenwert gleich 0 und u sein Eigenvektor, dann besteht die Geradedurch 0 mit Richtungsvektor u aus lauter Fixpunkten.

Page 39: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

KAPITEL 4

Nichtlineare Differentialgleichungssysteme

Sei A eine n × n-Matrix. Dann ist F (x) = Ax eine lineare Abbildung von Rn nach Rn.Das Differentialgleichungssystem x′(t) = Ax(t) lasst sich schreiben als x′(t) = F (x(t)). Mankann fur F auch eine Abbildung von Rn nach Rn wahlen, die nicht linear ist. Das ergibtdann ebenfalls ein Differentialgleichungssystem, allerdings kein lineares.

Eine Abbildung F : Rn → Rn nennt man ein Vektorfeld. Jedem Punkt x ∈ Rn wird derVektor F (x) zugeordnet. Es folgen Beispiele fur nichtlineare Differentialgleichungssysteme.

Pendel: Ein Korper der Masse m hangt an einer Stange der Lange 1. Sei x(t) seine Aus-lenkung (Winkel im Bogenmaß) zum Zeitpunkt t. Auf den Korper wirkt die Schwerkraftmg, die den Korper senkrecht nach unten zieht. Wir zerlegen sie in die beiden Komponen-ten mg cosx(t), die die Richtung der Stange hat und daher nichts bewirkt, und mg sinx(t),die senkrecht auf die Stange wirkt und den Korper in die Ruhelage zurucktreibt. OhneBerucksichtigung der Reibung erhalten wir die Bewegungsgleichung mx′′(t) = −mg sinx(t).Das Minuszeichen bedeutet, dass die Kraft den Korper zurucktreibt. Bei Auslenkung nachrechts wirkt sie nach links und bei Auslenkung nach links wirkt sie nach rechts. Ist y(t) = x′(t)die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t, dann ergibt sich das Differentialgleichungssystem

x′(t) = y(t)

y′(t) = −g sinx(t)

Wir konnen auch den Reibungswiderstand berucksichtigen. Er ist eine Funktion der Ge-schwindigkeit und wirkt dieser entgegen. Sei s : R → R stetig mit s(0) = 0, s(y) > 0 fury > 0 und s(y) < 0 fur y < 0. Eine sehr allgemeine Form der Reibung ist dann −s(x′(t)).Das ergibt die Bewegungsgleichung mx′′(t) = −mg sinx(t)− s(x′(t)). Ist y(t) = x′(t) wiederdie Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t und setzen wir r(y) = 1

ms(y), dann ergibt sich das

Differentialgleichungssystem

x′(t) = y(t)

y′(t) = −g sinx(t)− r(y(t))

Das Vektorfeld dieses Differentialgleichungssystems ist F (x, y) =( y−g sinx−r(y)

).

Zwei-Spezies-Systeme: Sei x(t) die Populationsgroße der ersten Spezies und y(t) dieder zweiten Spezies zum Zeitpunkt t. Die Wachstumsraten der beiden Populationen sind

dann x′(t)x(t)

und y′(t)y(t)

. Diese Wachstumsraten werden als lineare Funktionen in x(t) und y(t)

angenommen. Je nach Vorzeichen der Koeffizienten erhalt man verschiedene Modelle.Die Koeffizienten a, b, c, d, e, f seien in R+. Das Differentialgleichungssystem

x′(t)x(t)

= a− bx(t)− cy(t)

y′(t)y(t)

= d− ex(t)− fy(t)

35

Page 40: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

36 4. NICHTLINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME

ist ein sogenanntes Konkurrenzmodell. Großere Populationen bewirken großere Konkurrenz

und dadurch kleinere Wachstumsraten. Das Vektorfeld ist F (x, y) =( x(a−bx−cy)y(d−ex−fy)

).

Die Koeffizienten a, b, c, d, e, f seien wieder in R+. Das Differentialgleichungssystem

x′(t)x(t)

= a− bx(t)− cy(t)

y′(t)y(t)

= −d+ ex(t)− fy(t)

ist ein sogenanntes Rauber-Beute-Modell, wobei x(t) die Große der Beute-Population und

y(t) die Große der Rauber-Population ist. Das Vektorfeld ist F (x, y) =( x(a−bx−cy)y(−d+ex−fy)

).

Bei Abwesenheit der Rauber, das heißt bei y(t) = 0, entwickelt sich die Beute-Populationentsprechend der Logistischen Differentialgleichung. Die Anwesenheit der Rauber wirkt sichzusatzlich negativ auf die Wachstumsrate der Beute-Population aus, daher−cy(t). Bei Abwe-senheit der Beute, das heißt bei x(t) = 0, hat die Rauber-Population negative Wachstumsrateund stirbt daher aus. Je großer die Beute-Population ist, umso großer ist die Wachstumsrateder Rauber-Population, daher +ex(t).

Da Populationsgroßen nicht negativ sind, untersucht man diese Differentialgleichungs-systeme ublicherweise nur auf B = R+ × R+.

1. Partielle Ableitungen

Bevor wir uns weiter mit Differentialgleichungssystemen beschaftigen, fuhren wir partielleAbleitungen ein und beweisen die zweidimensionale Kettenregel.

Wir definieren ε-Umgebungen im R2. Sei p ∈ R2. Die ε-Umgebung des Punktes p ist dieMenge aller Punkte, deren Abstand vom Punkt p kleiner als ε ist. Wir bezeichnen sie mitUε(p). Sie ist die Kreisscheibe mit Mittelpunkt p und Radius ε ohne Rand. Eine TeilmengeB des R2 heißt offen, wenn es zu jedem Punkt p ∈ B ein ε > 0 gibt mit Uε(p) ⊂ B.

Beispiel. Die Menge [0,∞) × [0,∞) ist nicht offen. Fur den Punkt (0, 0) gibt es keineε-Umgebung, die in dieser Menge enthalten ist.

Die Menge B = (0,∞) × (0,∞) ist jedoch offen. Ist (x, y) ∈ B, dann gilt x > 0 undy > 0. Wir konnen ε = min{x, y} wahlen. Dann gilt ε > 0 und Uε(x, y) ⊂ B.

Mit Hilfe dieser Definition einer Umgebung lassen sich Grenzwert und Stetigkeit furFunktionen in zwei Variablen genauso definieren wie fur Funktionen in einer Variablen. Esgelten dann auch analoge Satze.

Definition. Sei B ⊂ R2 offen und f : B → R eine Funktion. Weiters sei (x, y) ∈B. Mit D1f(x, y) bezeichnen wir die Ableitung der Funktion f nach der ersten Variable

(wenn sie existiert), das heißt D1f(x, y) = limh→0f(x+h,y)−f(x,y)

h. Mit D2f(x, y) bezeichnen

wir die Ableitung der Funktion f nach der zweiten Variable (wenn sie existiert), das heißt

D2f(x, y) = limh→0f(x,y+h)−f(x,y)

h. Man nennt diese Ableitungen die partiellen Ableitungen

der Funktion f . Den Vektor( D1f(x,y)D2f(x,y)

)nennt man den Gradienten der Funktion f im Punkt

(x, y) und bezeichnet ihn mit grad f(x, y).

Beispiel. Sei f(x, y) = 3x2y+ y4. Dann ist D1f(x, y) = 6xy und D2f(x, y) = 3x2 +4y3.

Somit gilt grad f(x, y) =( 6xy3x2+4y3

).

Wir beweisen eine zweidimensionale Version der Kettenregel. Sei (a, b) ein Intervall undB ⊂ R2. Seien g : (a, b) → B und f : B → R Funktionen, wobei g aus den Komponenten g1

Page 41: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT VON LOSUNGEN 37

und g2 besteht. Dann konnen wir die Funktion h = f ◦ g bilden, die das Intervall (a, b) nachR abbildet. Es macht also Sinn nach der Ableitung h′(t) fur t ∈ (a, b) zu fragen.

Satz 25. Sei (a, b) ein Intervall und B eine offene Teilemenge von R2. Sei g : (a, b) → Beine Funktion mit stetiger Ableitung und f : B → R habe stetige partielle Ableitungen. Dannist die Funktion h = f ◦ g von (a, b) nach R differenzierbar und fur t ∈ (a, b) gilt

h′(t) = ⟨grad f(g(t)), g′(t)⟩ = D1f(g(t)) g′1(t) + D2f(g(t)) g

′2(t)

Beweis. Seien t und s im Intervall (a, b) mit s = t. Dann gilt

h(s)−h(t) = f(g(s))−f(g(t)) = f(g1(s), g2(s))−f(g1(t), g2(s))+f(g1(t), g2(s))−f(g1(t), g2(t))Wir setzen φ(x) = f(g1(x), g2(s)) und ψ(x) = f(g1(t), g2(x)). Aus obiger Gleichung ergibtsich h(s) − h(t) = φ(s) − φ(t) + ψ(s) − ψ(t). Aus der Kettenregel fur Funktionen in einerVariablen erhalten wir φ′(x) = D1f(g1(x), g2(s)) g

′1(x) und ψ′(x) = D2f(g1(t), g2(x)) g

′2(x).

Aus dem Mittelwertsatz folgt jetzth(s)−h(t)

s−t = φ(s)−φ(t)s−t + ψ(s)−ψ(t)

s−t = φ′(ξ) + ψ′(η)

wobei ξ und η zwischen s und t liegen. Wir setzen fur φ′ und ψ′ einh(s)−h(t)

s−t = D1f(g1(ξ), g2(s)) g′1(ξ) + D2f(g1(t), g2(η)) g

′2(η)

Wenn s gegen t geht, gehen auch ξ und η gegen t. Wegen der Stetigkeit der partiellenAbleitungen D1f und D2f erhalten wir lims→tD1f(g1(ξ), g2(s)) = D1f(g1(t), g2(t)) undlims→tD2f(g1(t), g2(η)) = D2f(g1(t), g2(t)). Wegen der Stetigkeit der Ableitungen g′1 undg′2 erhalten wir lims→t g

′1(ξ) = g′1(t) und lims→t g

′2(η) = g′2(t). Damit ergibt sich

lims→th(s)−h(t)

s−t = D1f(g1(t), g2(t)) g′1(t) + D2f(g1(t), g2(t)) g

′2(t)

Somit existiert h′(t) und ist gleich D1f(g(t)) g′1(t) + D2f(g(t)) g

′2(t). �

2. Existenz und Eindeutigkeit von Losungen

Den folgenden Existenz- und Eindeutigkeitssatz geben wir ohne Beweis an.

Satz 26. Sei B eine offene Teilmenge des Rn und F : B → Rn ein Vektorfeld mitstetigen partiellen Ableitungen. Sei x0 ∈ B und t0 ∈ R. Dann hat das Anfangswertproblem

x′(t) = F (x(t)) mit x(t0) = x0

genau eine Losung x(t), die auf einem offenen Intervall, das t0 enthalt, definiert ist. Ist dasIntervall, auf dem die Losung definiert ist, beschrankt und c ein Endpunkt, dann geht x(t)fur t→ c gegen Unendlich oder gegen den Rand von B.

Die Losung kann auf ganz R existieren, wie es zum Beispiel bei linearen Differentialglei-chungssystemen der Fall ist, oder auch nur auf einem Intervall, das nicht ganz R ist, wie wirzum Beispiel bei Differentialgleichungen mit getrennten Variablen gesehen haben.

Die Voraussetzung, dass das Vektorfeld stetige partielle Ableitungen besitzt, ist wesent-lich. Im folgenden Beispiel hat man keine eindeutigen Losungen.

Beispiel. Gesucht sind Losungen der Differentialgleichung x′(t) = 3x(t)23 mit Anfangs-

bedingung x(0) = 0. Man pruft leicht nach, dass sowohl x(t) = 0 als auch x(t) = t3 Losungendieses Anfangswertproblems sind. Die Losung ist nicht eindeutig.

Das Vektorfeld F : R → R ist definiert durch F (x) = 3x23 . Es ist eindimensional,

kann aber als Vektorfeld aufgefasst werden. (Die partielle Ableitung ist dann die normale

Page 42: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

38 4. NICHTLINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME

Ableitung.) Es gilt F ′(x) = 2x−13 . Die Ableitung existiert fur x = 0 nicht. Die Voraussetzung

von Satz 26, dem Existenz- und Eindeutigkeitssatz, ist nicht erfullt. So erklart sich dieNichteindeutigkeit der Losungen.

Hat das Vektorfeld F : B → Rn stetige partielle Ableitungen, dann konnen sich Losungs-kurven des Differentialgleichungssystem x′(t) = F (x(t)) nicht kreuzen oder verzweigen. Warex0 ein Punkt, wo das passiert, dann hatte das Anfangswertproblem

x′(t) = F (x(t)) mit x(0) = x0

keine eindeutige Losung auf dem Intervall (−ε, ε), wie klein ε auch ist. Das widerspricht demExistenz- und Eindeutigkeitssatz. Die Losungen sind daher paarweise disjunkt und fullenden Bereich B vollstandig aus, da ja durch jeden Punkt x0 ∈ B auch eine Losung existiert.

Die Vektorfelder der eingangs behandelten Beispiele sind auf ganz R2 definiert und habenstetige partielle Ableitungen. Die Losungskurven sind daher paarweise disjunkt und fullenden R2 vollstandig aus.

3. Fixpunkte

Sei B ⊂ R2 offen und F : B → R2 ein Vektorfeld. Ein Punkt p ∈ B heißt Fixpunkt,wenn F (p) = 0 gilt. Setzt man x(t) = p fur alle t, dann ist das eine Losung des Differenti-algleichungssystems x′(t) = F (x(t)). Es gilt ja x′(t) = 0 und F (x(t)) = F (p) = 0.

In einer Umgebung eines Fixpunktes p kann man das Vektorfeld F (x) =( F1(x)F2(x)

)lineari-

sieren. Man bildet die Matrix M =( D1F1(p) D2F1(p)D1F2(p) D2F2(p)

)der partiellen Ableitungen. Ist weder 0

noch eine imaginare Zahl Eigenwert der MatrixM , dann kann man zeigen, dass die Losungs-kurven des Differentialgleichungssystems x′(t) = F (x(t)) in einer Umgebung des Fixpunktesp genauso aussehen wie die (isomorph sind zu den) Losungskurven des Differentialgleichungs-systems x′(t) =Mx(t) in einer Umgebung des Fixpunktes 0. Insbesondere sind Sattelpunktefur die Untersuchung von nichtlinearen Differentialgleichungssystemen wichtig. Hat die Ma-trix M zwei reelle Eigenwerte mit verschiedenen Vorzeichen, dann ist der Fixpunkt 0 einSattelpunkt fur das Differentialgleichungssystem x′(t) = Mx(t). Daher ist auch der Fix-punkt p ein Sattelpunkt fur das Differentialgleichungssystem x′(t) = F (x(t)). Es existierenzwei Losungskurven, die in den Sattelpunkt p einmunden und zwei Losungskurven, die vonihm ausgehen. Die anderen Losungskurven in der Nahe von p schmiegen sich an diese vierLosungskurven an.

Wir bestimmen die Fixpunkte fur obige Beispiele und untersuchen einige von ihnen.

Pendel: Das Vektorfeld ist F (x, y) =( y−g sinx−r(y)

), wobei r(0) = 0 gilt. Fur einen Fixpunkt

muss y = 0 und g sinx + r(y) = 0 gelten. Es folgt sinx = 0 und daraus x = nπ mit n ∈ Z.Die Fixpunkte sind daher Pn = (nπ, 0) fur n ∈ Z. Da die Winkel nπ fur gerades n alle gleichdem Winkel 0 sind, entsprechen die Fixpunkte Pn fur gerades n einem senkrecht nach untenhangenden Pendel. Die Winkel nπ fur ungerades n sind alle gleich dem Winkel π. Daherentsprechen die Fixpunkte Pn fur ungerades n einem senkrecht nach oben stehenden Pendel(das Pendel ist ja an einer Stange befestigt).

Die Fixpunkte P2j+1 mit j ∈ Z sind Sattelpunkte. Wir setzen r′(0) = 2a. Es gilt a ≥ 0,da r(y) > 0 fur y > 0 gilt und r(y) < 0 fur y < 0. Die Matrix der partiellen Ableitungen istM =

(0 1

−g cosx −r′(y)). Setzt man P2j+1 ein, das heißt x = (2j + 1)π und y = 0, so erhalt man

M =(0 1g −2a

). Die Eigenwerte sind λ1 = −a +

√a2 + g > 0 und λ2 = −a −

√a2 + g < 0.

Das zeigt, dass der Fixpunkt ein Sattelpunkt ist.

Page 43: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4. BEWEGUNGSINVARIANTE 39

Konkurrenzmodell: Das Vektorfeld ist F (x, y) =( x(a−bx−cy)y(d−ex−fy)

). Fur einen Fixpunkt muss

x(a− bx− cy) = 0 und y(d− ex− fy) = 0 gelten. Wir erhalten vier Losungen P1 = (0, 0),P2 = (a

b, 0), P3 = (0, d

f) und P4 = (af−cd

bf−ce ,bd−aebf−ce). Das sind die Fixpunkte dieses Vektorfelds.

Die ersten drei liegen am Rand des Gebietes [0,∞) × [0,∞). Diese drei Fixpunkte sindLosungen. Wir bestimmen die anderen Losungskurven, die auf dem Rand verlaufen. Fur diex-Achse gilt y(t) = 0. Das erfullt auch die zweite Gleichung des Differentialgleichungssystems.Fur x(t) folgt dann x′(t) = x(t)(a− bx(t)) = ax(t)(1− b

ax(t)) aus der ersten Gleichung des

Differentialgleichungssystems. Das ist die Logistische Differentialgleichung mit K = ab. Ihre

Losungen konvergieren gegen K, das heißt limt→∞ x(t) = K, abgesehen von der Nulllosung.Startet man auf der positiven x-Achse, dann lauft die Losungskurve des Konkurrenzmodellsauf der x-Achse gegen den Fixpunkt P2. Ganz analog erhalt man, dass die Losungskurven,die auf der positiven y-Achse starten, auf dieser gegen den Fixpunkt P3 laufen.

Rauber-Beute-Modell: Das Vektorfeld ist F (x, y) =( x(a−bx−cy)y(−d+ex−fy)

). Fur einen Fixpunkt

muss x(a−bx−cy) = 0 und y(−d+ex−fy) = 0 gelten. Wir erhalten die Losungen P1 = (0, 0)und P4 = (af+cd

bf+ce, ae−bdbf+ce

). Auf der x-Achse gibt es den Fixpunkt P2 = (ab, 0), wenn b > 0 gilt.

Auf der y-Achse gibt es keinen Fixpunkt. Wie fur das Konkurrenzmodell zeigt man, dass alleLosungskurven des Rauber-Beute-Modells, die auf der positiven x-Achse starten, auf diesergegen den Fixpunkt P2 laufen. Ist b = 0 dann laufen sie nach unendlich. Fur Losungskurvenauf der positiven y-Achse gilt y′(t) = −y(t)(d+ fy(t)). Das ist immer negativ. Daher laufendie Losungskurven auf der y-Achse gegen P1.

Wir nehmen an, dass P4 im Bereich B = (0,∞)× (0,∞) liegt, das heißt ae− bd > 0. Wirzeigen, dass dann der Fixpunkt P2 = (a

b, 0) ein Sattelpunkt ist. Die Matrix der partiellen

Ableitungen des Vektorfelds ist M =(a−2bx−cy −cx

ey −d+ex−2fy

). Setzt man P2 ein, das heißt

x = abund y = 0, so erhalt man M =

( −a −acb

0 −d+aeb

). Eigenwerte sind λ1 = −a < 0 und

λ2 = −d+ aeb= ae−bd

b> 0. Das zeigt, dass der Fixpunkt ein Sattelpunkt ist.

4. Bewegungsinvariante

Bewegungsinvariante und Ljapunovfunktionen (diese werden im Anhang behandelt) ver-wendet man, um Differentialgleichungssysteme zu untersuchen, die man nicht losen kann.

Definition. Sei B eine offene Teilmenge des Rn und F : B → Rn ein Vektorfeld. Einedifferenzierbare Funktion V : B → R heißt Bewegungsinvariante zum Vektorfeld F , wenn⟨gradV (x), F (x)⟩ = 0 fur alle x ∈ B gilt.

Satz 27. Sei B ⊂ Rn offen, F : B → Rn ein Vektorfeld und V : B → R eine Bewe-gungsinvariante zum Vektorfeld F . Sei x(t) eine Losung des Systems x′(t) = F (x(t)), dieauf einem Intervall I existiert. Dann gilt d

dtV (x(t)) = 0 fur alle t ∈ I. Das heißt, auf jeder

Losungskurve ist die Funktion V konstant.

Beweis. Wegen Satz 25 und wegen x′(t) = F (x(t)) erhalten wir

ddtV (x(t)) = ⟨gradV (x(t)),x′(t)⟩ = ⟨gradV (x(t)), F (x(t))⟩

Aus der Definition der Bewegungsinvarianten folgt jetzt, dass ddtV (x(t)) = 0 fur alle t ∈ I gilt.

Eine Funktion, die Ableitung 0 hat, ist konstant. Somit existiert ein k ∈ R mit V (x(t)) = kfur alle t ∈ I. �

Page 44: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

40 4. NICHTLINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME

Ist V eine Bewegungsinvariante des Vektorfeldes F und x(t) eine Losungskurve des Dif-ferentialgleichungssystems x′(t) = F (x(t)), dann existiert ein k ∈ R, sodass V (x(t)) = k furalle t gilt. Das heißt, die Losungskurve liegt in der Menge {x : V (x) = k}. Diese Mengennennt man Hohenschichtlinien. Man bestimmt die Hohenschichtlinien der Bewegungsinvari-ante. Auf diesen verlaufen dann die Losungskurven des Differentialgleichungssystems.

Pendel ohne Reibung: Das Vektorfeld ist F (x, y) =( y−g sinx

). Wir konnen eine Bewe-

gungsinvariante mit Hilfe einer physikalischen Uberlegung finden. Die potentielle Energie desPendels istmg(1−cosx(t)), wobei 1−cosx(t) die Hohe des Pendels uber der Ruhelage ist. Diekinetische Energie des Pendels ist 1

2my(t)2. Die Gesamtenergie istmg(1−cosx(t))+ 1

2my(t)2.

Sie sollte invariant sein, da keine Reibung wirkt. Wir konnen durch die Konstante m di-vidieren und die Konstante g subtrahieren. Es bleibt V (x, y) = −g cosx + 1

2y2. Es gilt

gradV (x, y) =(g sinxy

)und ⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = yg sinx− yg sinx = 0. Also ist V (x, y)

tatsachlich eine Bewegungsinvariante.Wir bestimmen die Hohenschichtlinien dieser Bewegungsinvariante. Es gilt

V (x, y) = k ⇐⇒ y = ±√

2(g cosx+ k)

Ist k < −g, dann ist der Ausdruck unter der Wurzel immer negativ. Es existiert keine Hohen-schichtlinie. Ist −g < k < g, dann schneidet der Graph der Funktion x 7→ 2(g cosx+ k) diex-Achse. Dort, wo diese Funktion negativ ist, lasst sich die Wurzel nicht ziehen. Dort, wosie positiv ist, erhalten wir eine Hohenschichtlinie, die symmetrisch zur x-Achse liegt. DieHohenschichtlinie besteht aus getrennt liegenden Kurven. (In den folgenden Zeichnungen istjeweils die Funktion x 7→ 2(g cosx+ k) gezeichnet und die Hohenschichtlinie, die die Wurzelaus dieser Funktion ist.)

Grenzfalle sind k = −g und k = g. Im ersten Fall besteht die Hohenschichtlinie aus denPunkten (2jπ, 0) mit j ∈ Z. Im zweiten Fall liegt die Funktion x 7→ 2(g cosx + k) uberder x-Achse und beruhrt sie in den Punkten (2j + 1)π mit j ∈ Z. Wir konnen immer die

Wurzel ziehen. Die Hohenschichtlinie y = ±√

2(g cosx+ k) besteht aus zwei einander uber-kreuzenden Linien. In den Punkten (2j +1)π mit j ∈ Z hat die Funktion x 7→ 2(g cosx+ k)zweifache Nullstellen. Die Wurzel aus dieser Funktion ist die Hohenschichtlinie. Diese hateinfache Nullstellen. Daher trifft sie in einem Winkel = 00 auf die x-Achse.

Fur k > g liegt die Funktion x 7→ 2(g cosx+ k) uber der x-Achse. Die Hohenschichtlinie

y = ±√2(g cosx+ k) besteht aus zwei wellenformigen Linien symmetrisch zur x-Achse.

Zeichnen wir die Hohenschichtlinien in ein Bild, so erhalten wir

Page 45: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4. BEWEGUNGSINVARIANTE 41

Die Losungskurven laufen auf den Hohenschichtlinien. Die Punkte (2jπ, 0) mit j ∈ Z sindFixpunkte. Sie entsprechen einem in Ruhelage hangenden Pendel, da x(t) = 2jπ und y(t) = 0fur alle t gilt. Die diese Fixpunkte umkreisenden Hohenschichtlinien sind Losungskurven. Sieeintsprechen einem hin- und herschwingenden Pendel. Sie werden im Uhrzeigersinn durch-laufen, da die Geschwindigkeit y(t) großer als null ist, wenn sich das Pendel nach rechtsbewegt, und kleiner als null ist, wenn sich das Pendel nach links bewegt. Die oben und untenliegenden wellenformigen Hohenschichtlinien sind ebenfalls Losungskurven. Die oben liegen-den werden nach rechts, die unten liegenden nach links durchlaufen. Sie entsprechen einemkreisenden Pendel.

Es bleibt die sich uberkreuzende Hohenschichtlinie. Die Kreuzungspunkte ((2j + 1)π, 0)mit j ∈ Z sind Fixpunkte. Sie entsprechen einem senkrecht nach oben stehenden Pendel, dax(t) = (2j+1)π und y(t) = 0 fur alle t gilt. Die diese Fixpunkte verbindenden Kurvenstuckesind Losungskurven. Sie werden nach rechts durchlaufen, wenn sie oberhalb der x-Achseliegen, und nach links, wenn sie unterhalb der x-Achse liegen. Sie entsprechen einem Pendel,das aus der senkrecht stehenden Lage herausfallt und daher gerade so viel Schwung hat, umwieder in diese zuruckzukehren. Die Fixpunkte (2j + 1)π mit j ∈ Z sind Sattelpunkte.

Das Bild ist periodisch mit Periode 2π, da ja der Winkel x + 2π mit dem Winkel xubereinstimmt.

Wie kann man Bewegungsinvariante fur andere Vektorfelder finden? Der folgende Satzbehandelt Vektorfelder mit getrennten Variablen.

Satz 28. Sei B ⊂ R2 offen. Das Vektorfeld F : B → R2 habe getrennte Variable,das heißt F1(x, y) = g1(x)h1(y) und F2(x, y) = g2(x)h2(y). Sei R(x) eine Stammfunktion

von g2(x)g1(x)

und S(y) eine Stammfunktion von h1(y)h2(y)

. Dann ist V (x, y) = R(x) − S(y) eine

Bewegungsinvariante zum Vektorfeld F .

Beweis. Es gilt ⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = D1V (x, y)F1(x, y) + D2V (x, y)F2(x, y). Wir

setzen D1V (x, y) = R′(x) = g2(x)g1(x)

, D2V (x, y) = −S ′(y) = −h1(y)h2(y)

und das Vektorfeld ein:

⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = g2(x)g1(x)

g1(x)h1(y) − h1(y)h2(y)

g2(x)h2(y) = g2(x)h1(y) − h1(y)g2(x) = 0.

Somit ist V eine Bewegungsinvariante zum Vektorfeld F . �

Fur das Pendel ohne Reibung gilt F1(x, y) = y und F2(x, y) = −g sinx. Wir konneng1(x) = 1, h1(y) = y und g2(x) = g sinx, h2(y) = −1 wahlen. Eine Stammfunktion vong2(x)g1(x)

= g sinx ist R(x) = −g cosx. Eine Stammfunktion von h1(y)h2(y)

= −y ist S(y) = −12y2.

Nach Satz 28 ist V (x, y) = R(x) − S(y) = −g cosx + 12y2 eine Bewegungsinvariante. Es ist

dieselbe, die wir fruher gefunden haben.

Rauber-Beute-Modell: Wir untersuchen das Rauber-Beute-Modell mit b = 0 und f = 0

(keine innerspezifische Konkurrenz). Das Vektorfeld ist F (x, y) =( x(a−cy)y(−d+ex)

). Es hat ge-

trennte Variable. Wir wahlen g1(x) = x, h1(y) = a − cy und g2(x) = −d + ex, h2(y) = y.

Eine Stammfunktion von g2(x)g1(x)

= e − dxist R(x) = ex − d log x. Eine Stammfunktion von

Page 46: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

42 4. NICHTLINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME

h1(y)h2(y)

= −c + ayist S(y) = −cy + a log y. Nach Satz 28 ist V (x, y) = R(x) − S(y) eine

Bewegungsinvariante auf dem Bereich B = (0,∞)× (0,∞).Wir setzen u = d

eund v = a

c. Dann ist (u, v) ein Fixpunkt. Die Bewegungsinvariante

ist V (x, y) = e(x − u log x) + c(y − v log y). Die Funktion x 7→ e(x − u log x) ist monotonfallend auf dem Intervall (0, u), hat ein Minimum im Punkt u und ist monoton wachsend aufdem Intervall (u,∞). Die Funktion y 7→ c(y − v log y) ist monoton fallend auf dem Intervall(0, v), hat ein Minimum im Punkt v und ist monoton wachsend auf dem Intervall (v,∞).Es folgt, dass V (x, y) ein Minimum im Punkt (u, v) hat, von dort in alle Richtungen wachstund gegen ∞ geht, wenn man sich dem Rand des Bereichs B nahert. Die Hohenschichtliniensind daher geschlossene Kurven, die um den Punkt (u, v) herumlaufen. Das folgende Bildzeigt Hohenschichtlinien der Funktion V (x, y) = 1.1x− 8.5 log x+ 1.9y − 7.7 log y.

Die Losungskurven laufen auf den Hohenschichtlinien. Wir wissen bereits, was am Randpassiert. Der Nullpunkt ist ein Fixpunkt. Die positive x-Achse ist eine Losungskurve, dienach Unendlich lauft. Die positive y-Achse ist eine Losungskurve, die nach Null lauft. DerPunkt (u, v) ist ein Fixpunkt. Jede Hohenschichtlinie ist eine Losungskurve, die im Gegen-uhrzeigersinn durchlaufen wird.

Page 47: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

KAPITEL 5

Anhang

1. Die Keplerschen Gesetze

Wir verwenden die Resultate uber Bewegungsinvariante, um die Keplerschen Gesetze furdie Bahn eines Planeten herzuleiten.

Sei P : R3 \ {0} → R eine stetig differenzierbare Funktion. Im Punkt 0 befindet sichein Korper (Sonne). Ein zweiter Korper (Planet) bewegt sich im R3 \ {0}. Wir nehmen an,dass seine Masse 1 ist. Befindet er sich im Punkt x ∈ R3, dann gibt P (x) seine potentielleEnergie an. Die Kraft, die die Sonne auf den Planeten ausubt, ist − gradP (x). Seien x(t)und v(t) die Position und die Geschwindigkeit des Planeten zum Zeitpunkt t. Dann gilt

(1) x′(t) = v(t) und v′(t) = − gradP (x(t)) fur alle t ∈ RSei E : R6 → R definiert durch E(x,v) = P (x) + 1

2∥v∥2.

Satz 29. Seien x(t) und v(t) Losungen der Gleichungen in (1). Fur alle t ∈ R gilt danndd tE(x(t),v(t)) = 0 und somit E(x(t),v(t)) = h fur eine Konstante h > 0.

Beweis. Sei Q(v) = 12∥v∥2 = 1

2(v21 + v22 + v23). Dann gilt gradQ(v) = (v1, v2, v3) = v.

Nach der Kettenregel gilt dd tE(x(t),v(t)) = ⟨gradP (x(t)),x′(t)⟩+ ⟨gradQ(v(t)),v′(t)⟩. Aus

(1) folgt gradQ(v(t)) = v(t) = x′(t) und gradP (x(t)) = −v′(t). Setzt man das ein, so hatman d

d tE(x(t),v(t)) = 0. Und Funktionen mit Ableitung 0 sind konstant. �

Dieser Satz gilt fur jedes Potential P . Ab jetzt nehmen wir eine Zentralkraft an, das heißtP (x) = φ(∥x∥) fur eine stetig differenzierbare Funktion φ : (0,∞) → R. Wegen Dj∥x∥ =

xj∥x∥

gilt gradP (x) = φ′(∥x∥)(D1∥x∥,D2∥x∥,D3∥x∥

)= xφ

′(∥x∥)∥x∥ .

Sei W : R6 → R3 definiert durch W (x,v) = x× v.

Satz 30. Seien x(t) und v(t) Losungen von (1). Fur alle t ∈ R gilt dd tW (x(t),v(t)) = 0.

Beweis. Produktregel: dd tW (x(t),v(t)) =

(x(t)× v(t)

)′= x′(t)× v(t) + x(t)× v′(t) =

v(t)× v(t)− x(t)× gradP (x(t)) = v(t)× v(t)− x(t)× x(t)φ′(∥x(t)∥)∥x(t)∥ = 0. �

Wir wahlen das Koordinatensystem so, dass die Position x(0) und die Geschwindig-keit v(0) des Planeten zum Zeitpunkt 0 in der x1-x2-Ebene liegen. Es gilt dann x3(0) = 0und v3(0) = 0. Daraus folgt W (x(0),v(0)) = (0, 0, g) fur ein g ∈ R. Nach Satz 30 giltW (x(t),v(t)) = (0, 0, g) fur alle t ∈ R, da diese Funktion konstant in t ist. Somit steht(0, 0, g) orthogonal sowohl auf x(t) als auch auf v(t), das heißt x3(t) = 0 und v3(t) = 0 furalle t ∈ R. Die Bahn des Planeten liegt in der x1-x2-Ebene. Wir lassen die dritte Koordinateweg, sodass x(t) ∈ R2 und v(t) ∈ R2 gilt. Weiters gilt g = det(x(t),v(t)) fur alle t ∈ R.(Ist g = 0, dann sind v(t) und x(t) immer parallel, das heißt der Planet sturzt in einergeradlinigen Bewegung in die Sonne hinein.)

Fur t ≥ 0 sei r(t) = ∥x(t)∥ und s(t) der Winkel, den der Vektor x(t) vom Zeitpunkt 0bis zum Zeitpunkt t uberstreicht.

43

Page 48: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

44 5. ANHANG

Satz 31. Fur t > 0 gilt s′(t) = gr(t)2

.

Beweis. Fur alle t > 0 gilt s(t) = arctan x2(t)x1(t)

− s(0) + nπ, wobei n eine ganze Zahl ist.

Es folgt s′(t) = arctan′ x2(t)x1(t)

· x′2(t)x1(t)−x′1(t)x2(t)

x1(t)2= x1(t)v2(t)−x2(t)v1(t)

x1(t)2+x2(t)2= det(x(t),v(t))

∥x(t)∥2 = gr(t)2

. �

Satz 32. (Zweites Keplersches Gesetz) Sei a(t) die Flache, die der Vektor x(t) vomZeitpunkt 0 bis zum Zeitpunkt t uberstreicht. Dann gilt a(t) = 1

2gt.

Beweis. Sei h ∈ R. Seien t1 und t2 im Intervall mit Endpunkten t und t+h so gewahlt,dass r(t1) minimal und r(t2) maximal ist. Dann liegt a(t+h)−a(t) zwischen den Flachen derKreissektoren mit Winkel s(t+h)−s(t) und Radien r(t1) beziehungsweise r(t2). Die Flachendieser Sektoren sind 1

2(s(t+h)−s(t))r(t1)2 und 1

2(s(t+h)−s(t))r(t2)2. Bei negativem Winkel

ist die Flache negativ. Somit liegt a(t+h)−a(t)h

zwischen 12s(t+h)−s(t)

hr(t1)

2 und 12s(t+h)−s(t)

hr(t2)

2.

Fur h→ 0 gehen t1 und t2 gegen t, sodass wir limh→0a(t+h)−a(t)

h= 1

2s′(t)r(t)2 erhalten. Wegen

Satz 31 folgt a′(t) = 12s′(t)r(t)2 = 1

2g. Wegen a(0) = 0 ergibt sich daraus a(t) = 1

2gt. �

Ab jetzt nehmen wir an, dass P (x) = − c∥x∥ gilt. Weiters sei u(t) = 1

∥x(t)∥ = 1r(t)

.

Satz 33. Es gilt(u′(t)s′(t)

)2+ u(t)2 = 2

g2(h+ cu(t)) fur alle t ∈ R.

Beweis. Es gilt u′(t) = −2x1(t)x′1(t)+2x2(t)x′2(t)

2(x1(t)2+x2(t)2)3/2= − ⟨x(t),v(t)⟩

∥x(t)∥3 . Mit Hilfe von Satz 31 folgt(u′(t)s′(t)

)2+u(t)2 = ⟨x(t),v(t)⟩2+g2

g2∥x(t)∥2 . Mit Hilfe der Formel det(a,b)2 = ∥a∥2∥b∥2−⟨a,b⟩2 erhaltenwir ⟨x(t),v(t)⟩2 + g2 = ⟨x(t),v(t)⟩2 + det(x(t),v(t))2 = ∥x(t)∥2∥v(t)∥2. Damit ergibt sich

dann(u′(t)s′(t)

)2+u(t)2 = ∥v(t)∥2

g2. Wegen Satz 29 und P (x(t)) = − c

∥x(t)∥ = −cu(t) gilt außerdem∥v(t)∥2 = 2h− 2P (x(t)) = 2h+ 2cu(t), womit

(u′(t)s′(t)

)2+ u(t)2 = 2

g2(h+ cu(t)) folgt. �

Wegen Satz 31 ist s streng monoton, sodass s−1 existiert. Wir fuhren den Winkel w = s(t)als neue Variable ein. Sei ϱ(w) = r(s−1(w)) und ψ(w) = u(s−1(w)), das sind der Bahnradiusund sein Kehrwert als Funktion des Winkels geschrieben.

Satz 34. (Erstes Keplersches Gesetz) Fur die Bahn des Planeten gilt ϱ(w) = g2/c1+ε cos(w−w0)

fur ein geeignetes w0 ∈ R, wobei ε2 = 1 + 2hg2

c2ist (Gleichung eines Kegelschnitts).

Beweis. Da die Ableitung der Umkehrfunktion s−1(w) gleich 1s′(s−1(w))

ist, erhalten wir

ψ′(w) = u′(s−1(w))s′(s−1(w))

. Setzt man t = s−1(w) in Satz 33 ein, so ergibt sich

(2) ψ′(w)2 + ψ(w)2 = 2g2(h+ cψ(w))

Differenzieren ergibt 2ψ′(w)ψ′′(w) + 2ψ(w)ψ′(w) = 2cg2ψ′(w). Division durch 2ψ′(w) liefert

ψ′′(w) + ψ(w) = cg2. Das ist eine Differentialgleichung zweiter Ordnung, deren allgemeine

Losung ψ(w) = d cos(w−w0) +cg2

mit d und w0 in R ist. Setzt man das in (2) ein, so ergibt

sich d2 sin2(w−w0)+(d cos(w−w0)+cg2)2 = 2h

g2+ 2cd

g2cos(w−w0)+

2c2

g4. Durch Ausquadrieren

und Vereinfachen ergibt sich d2 = 2hg2

+ c2

g4= c2

g4ε2. Somit ist ψ(w) = c

g2ε cos(w − w0) +

cg2

mit beliebigem w0 ∈ R die allgemeine Losung von (2). Setzt man ψ(w) = 1ϱ(w)

ein und formt

um, so hat man ϱ(w) = g2/c1+ε cos(w−w0)

. Diese Gleichung muss dann ebenfalls gelten. �

Page 49: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

1. DIE KEPLERSCHEN GESETZE 45

Satz 35. (Drittes Keplersches Gesetz) Sei ε2 < 1. Dann ist der Kegelschnitt in Satz 34

eine Ellipse. Fur die Umlaufzeit T gilt T 2 = 4π2a3

c, wobei a die große Halbachse der Ellipse ist.

Beweis. Die Ellipsenflache ist abπ, wobei b die kleine Halbachse ist. Nach Satz 32 istdie Ellipsenflache ebenfalls gleich 1

2gT , die in der Zeit T uberstrichene Flache. Es folgt

T 2 = 4π2a2b2

g2. Der im Zahler der Ellipsengleichung auftretende Ausdruck ist b2

a. Somit gilt

b2

a= g2

c. Setzt man b2 = g2

ca ein, so hat man T 2 = 4π2a3

c. �

Erstes Keplersches Gesetz – ein anderer Zugang: Sei P (x) = − c∥x∥ fur x ∈ R3\{0} das

Gravitationspotential der Sonne. Seien x(t) und v(t) die Position und die Geschwindigkeitdes Planeten zum Zeitpunkt t. Dann gilt

(1) x′(t) = v(t) und v′(t) = − gradP (x(t)) fur alle t ∈ RWir wissen bereits, dass die Bahn des Planeten in der x1-x2-Ebene verlauft. Wir habenKonstante h und g gefunden, sodass P (x(t)) + 1

2∥v(t)∥2 = h und det(x(t),v(t)) = g fur alle

t ∈ R gelten. Weiters sei K : R4 → R2 durch K(x,v) = P (x)x+ ⟨v,v⟩x− ⟨x,v⟩v definiert.

Satz 36. Fur alle t ∈ R gilt dd tK(x(t),v(t)) = 0. Es existiert ein Vektor d ∈ R2, sodass

K(x(t),v(t)) = d fur alle t ∈ R gilt.

Beweis. Wir uberlegen, wie man die in der Funktion K(x,v) auftretenden Summandendifferenziert. Sind f : R → R und x : R → R2 differenzierbare Funktionen, dann gilt(f(t)x(t)

)′=

(f(t)x1(t)f(t)x2(t)

)′ = (f ′(t)x1(t)+f(t)x′1(t)f ′(t)x2(t)+f(t)x′2(t)

)= f ′(t)

(x1(t)x2(t)

)+f(t)

(x′1(t)x′2(t)

)= f ′(t)x(t)+f(t)x′(t).

Sind x : R → R2 und v : R → R2 differenzierbar, dann gilt ⟨x(t),v(t)⟩′ =(x1(t)v1(t)x2(t)v2(t)

)′ =(x′1(t)v1(t)+x1(t)v

′1(t)

x′2(t)v2(t)+x2(t)v′2(t)

)=

(x′1(t)v1(t)x′2(t)v2(t)

)+(x1(t)v′1(t)x2(t)v′2(t)

)= ⟨x′(t),v(t)⟩+ ⟨x(t),v′(t)⟩. Aus der Kettenregel

folgt(P (x(t))

)′= ⟨gradP (x(t)),x′(t)⟩. Mit Hilfe dieser Formeln erhalt man

dd tP (x(t))x(t) = ⟨gradP (x(t)),x′(t)⟩x(t) + P (x(t))x′(t)

dd t⟨v(t),v(t)⟩x(t) = ⟨v′(t),v(t)⟩x(t) + ⟨v(t),v′(t)⟩x(t) + ⟨v(t),v(t)⟩x′(t)

− dd t⟨x(t),v(t)⟩v(t) = −⟨x′(t),v(t)⟩v(t)− ⟨x(t),v′(t)⟩v(t)− ⟨x(t),v(t)⟩v′(t)

Mit Hilfe von (1) berechnet man dann ⟨gradP (x(t)),x′(t)⟩x(t) + ⟨v′(t),v(t)⟩x(t) = 0 und⟨v(t),v(t)⟩x′(t)−⟨x′(t),v(t)⟩v(t) = 0. Berucksichtigt man das bei der Addition obiger Glei-chungen, so erhalt man fur die Ableitung von K(x(t),v(t))

dd tK(x(t),v(t)) = P (x(t))x′(t) + ⟨v(t),v′(t)⟩x(t)− ⟨x(t),v′(t)⟩v(t)− ⟨x(t),v(t)⟩v′(t)

Wegen P (x) = − c∥x∥ gilt DjP (x) =

c xj∥x∥3 und somit v′(t) = − gradP (x(t)) = − c

∥x(t)∥3x(t).

Damit folgt P (x(t))x′(t) −⟨x(t),v′(t)

⟩v(t) = − c

∥x(t)∥v(t) +⟨x(t), c

∥x(t)∥3x(t)⟩v(t) = 0 und⟨

v(t),v′(t)⟩x(t) −

⟨x(t),v(t)

⟩v′(t) = −

⟨v(t), c

∥x(t)∥3x(t)⟩x(t) +

⟨x(t),v(t)

⟩c

∥x(t)∥3x(t) = 0.

Damit ist dd tK(x(t),v(t)) = 0 gezeigt.

Beide Komponenten von K(x(t),v(t)) haben Ableitung null und sind daher konstant.Somit existiert ein Vektor d ∈ R2, sodass K(x(t),v(t)) = d fur alle t ∈ R gilt. �

Mit Satz 36 beweisen wir das erste Keplersche Gesetz. Fur t ≥ 0 sei r(t) = ∥x(t)∥ unds(t) der Winkel, den der Vektor x(t) vom Zeitpunkt 0 bis zum Zeitpunkt t uberstreicht.

Satz 37. (Erstes Keplersches Gesetz) Fur die Bahn des Planeten gilt r(t) = g2/c1+ε cos(s(t)−w0)

fur ein geeignetes w0 ∈ R und ein ε > 0 (Gleichung eines Kegelschnitts).

Page 50: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

46 5. ANHANG

Beweis. Nach Satz 36 existiert ein Vektor d ∈ R2, sodass K(x(t),v(t)) = d fur allet ∈ R gilt. Es folgt

⟨K(x(t),v(t)),x(t)

⟩= ⟨d,x(t)⟩. Mit Hilfe der Definition von K(x,v)

berechnet man⟨K(x(t),v(t)),x(t)

⟩= P (x(t))∥x(t)∥2+∥v(t)∥2∥x(t)∥2−⟨x(t),v(t)⟩2. Wegen⟨

K(x(t),v(t)),x(t)⟩= ⟨d,x(t)⟩ und der Formel ∥a∥2∥b∥2 − ⟨a,b⟩2 = det(a,b)2 erhalt man

⟨d,x(t)⟩ = P (x(t))∥x(t)∥2 + det(x(t),v(t))2. Weiters gilt P (x) = − c∥x∥ und eingangs wurde

erwahnt, dass det(x(t),v(t)) = g fur alle t ∈ R gilt. Setzt man das ein, so ergibt sich⟨d,x(t)⟩ = −c∥x(t)∥+ g2.

Sei w0 der Winkel zwischen den beiden Vektoren x(0) und d. Dann ist s(t) − w0 der

Winkel zwischen den Vektoren d und x(t). Somit gilt cos(s(t) − w0) = ⟨d,x(t)⟩∥d∥·∥x(t)∥ . Wegen

⟨d,x(t)⟩ = −c∥x(t)∥+ g2 erhalten wir ∥d∥ · ∥x(t)∥ cos(s(t)−w0) = −c∥x(t)∥+ g2, das heißt

∥x(t)∥ = g2

c+∥d∥ cos(s(t)−w0). Das ist die gesuchte Gleichung, die fur alle t ∈ R gilt. �

F1 F2

w

A

r

Polarkoordinaten: Wir behandeln noch die Gleichung einer Ellipse, wie sie in Satz 37 auf-tritt. Die Halbachsen seien a und b. Der Abstand der Brennpunkte F1 und F2 sei 2e. Es gilta2 = b2 + e2. Der Brennpunkt F2 liegt im Koordinatenursprung, der Brennpunkt F1 linksdavon auf der x-Achse. Wir bestimmen die Glei-chung der Ellipse in Polarkoordinaten. Sei A einbeliebiger Punkt auf der Ellipse. Seine Polarkoor-dinaten seien r und w. Es gilt |F1A|+ |F2A| = 2a,da A auf der Ellipse liegt. Wegen |F2A| = r er-gibt sich |F1A| = 2a − r. Aus dem Cosinussatzfolgt |F1A|2 = r2 + 4e2 − 4re cos(π − w), da ja2e der Abstand der Brennpunkte ist. Setzt man|F1A| = 2a − r und cos(π − w) = − cosw ein,quadriert aus und vereinfacht, dann erhalt man4a2 − 4ar = 4e2 + 4re cosw. Lost man nach r auf, so ergibt sich r = a2−e2

a+e cosw. Wegen

a2 = b2+e2 folgt r = b2

a+e cosw. Das ist die Gleichung einer Ellipse in Polarkoordinaten, wobei

der rechte Brennpunkt im Koordinatenursprung und der linke auf der x- Achse liegt. Oftsetzt man ε = e

a< 1 und p = b2

a> 0. Dann wird die Gleichung zu r = p

1+ε cosw.

F1 F2

w

r

A

Ganz analog erhalt man die Gleichung einer Hyperbel. Der Abstand der Brennpunk-te F1 und F2 sei 2e. Der Abstand der beiden Scheitel sei 2a. Es gilt a < e. Der Brenn-punkt F1 liegt im Koordinatenursprung, der Brennpunkt F2 rechts davon auf der x-Achse.Sei A ein beliebiger Punkt auf dem linken Hy-perbelast. Seine Polarkoordinaten bezeichnen wirmit r und w. Es gilt |F2A| − |F1A| = 2a, da Aauf der Hyperbel liegt. Wegen |F1A| = r ergibtsich |F2A| = 2a + r. Aus dem Cosinussatz folgt|F2A|2 = r2 + 4e2 − 4re cosw, da 2e der Abstandder Brennpunkte ist. Setzt man |F2A| = 2a + rein, quadriert aus und vereinfacht, dann erhaltman 4a2 + 4ar = 4e2 − 4re cosw. Lost man nachr auf, so ergibt sich r = e2−a2

a+e cosw. Das ist die Glei-

chung des linken Hyperbelasts in Polarkoordina-ten, wobei der linke Brennpunkt im Koordinatenursprung und der rechte auf der x- Achseliegt. Setzt man ε = e

a> 1 und p = e2−a2

a> 0, dann wird die Gleichung zu r = p

1+ε cosw.

Page 51: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. LJAPUNOVFUNKTIONEN 47

Wir erhalten die gemeinsame Gleichung r = p1+ε cosw

fur Ellipse und Hyperbel wobei pund ε positive Zahlen sind. Fur 0 < ε < 1 stellt die Gleichung eine Ellipse dar, fur ε > 1 eineHyperbel. Fur ε = 1 stellt sie eine Parabel dar, deren Brennpunkt im Koordinatenursprungliegt und deren Leitlinie Abstand p vom Brennpunkt hat.

In Satz 37 hatten wir r(t) = g2/c1+ε cos(s(t)−w0)

. Wahlt man die x-Achse so, dass sie mit dem

Vektor x(0) den Winkel w0 einschließt, dann ist s(t) − w0 der Winkel des Vektors x(t) imPolarkoordinatensystem. Die Bahn des Planeten ist somit ein Kegelschnitt, und zwar eineEllipse, wenn ε < 1 ist, und eine Hyperbel, wenn ε > 1 ist.

2. Ljapunovfunktionen

Ljapunovfunktionen sind ganz analog wie Bewegungsinvariante definiert. Es wird nur dasGleichheitszeichen durch ein Ungleichheitszeichen ersetzt.

Definition. Sei B eine offene Teilmenge des R2 und F : B → R2 ein Vektorfeld.Eine Funktion V : B → R mit stetigen partiellen Ableitungen heißt Ljapunovfunktion zumVektorfeld F , wenn ⟨gradV (x), F (x)⟩ ≤ 0 fur alle x ∈ B gilt.

Satz 38. Sei B ⊂ R2 offen, F : B → R2 ein stetiges Vektorfeld und V : B → Reine Ljapunovfunktion zum Vektorfeld F . Sei x(t) eine Losung des Systems x′(t) = F (x(t)),die auf dem Intervall I existiert. Dann gilt d

dtV (x(t)) ≤ 0 fur alle t ∈ I. Die Funktion

t 7→ V (x(t)) ist monoton fallend.

Beweis. Wegen Satz 25 und wegen x′(t) = F (x(t)) erhalten wirddtV (x(t)) = ⟨gradV (x(t)),x′(t)⟩ = ⟨gradV (x(t)), F (x(t))⟩

Aus der Definition der Ljapunovfunktion folgt ddtV (x(t)) ≤ 0. Eine Funktion, deren Ableitung

≤ 0 ist, ist monoton fallend. �Grenzwerte und Stetigkeit in zwei Variablen funktionieren genauso wie fur eine Variable.

Fur ε > 0 haben wir die ε-Umgebung des Punktes p durch

Uε(p) = {x ∈ R2 : ∥x− p∥ < ε}definiert. Eine Funktion V : B → R heißt stetig im Punkt p ∈ B, wenn fur jedes ε > 0 einδ > 0 existiert, sodass |V (x)− V (p)| < ε fur alle x ∈ Uδ(p) gilt. Eine Funktion V : B → Rheißt stetig, wenn sie in jedem Punkt p ∈ B stetig ist. Ein Vektorfeld F : B → R2 heißtstetig, wenn beide Komponenten F1 : B → R und F2 : B → R stetig sind.

Sei (pn)n≥1 eine Folge von Punkten im R2. Wir nennen p ∈ R2 Grenzwert dieser Folgeund schreiben limn→∞ pn = p, wenn fur jedes ε > 0 ein n0 existiert, sodass pn ∈ Uε(p) furalle n ≥ n0 gilt.

Fur Grenzwerte und stetige Funktionen im R2 gelten dieselben Satze, die in R gelten.Insbesondere gilt der Satz von Bolzano-Weierstraß: Eine beschrankte Folge im R2 hat einekonvergente Teilfolge.

Definition. Sei x(t) eine Losung des Differentialgleichungssystems x′(t) = F (x(t)), diefur alle t ≥ 0 definiert ist. Wir nennen p einen Limespunkt dieser Losungskurve, wenn eineFolge (tn)n≥1 in R+ mit limn→∞ tn = ∞ existiert, sodass limn→∞ x(tn) = p gilt.

Satz 39. Sei B offen und V : B → R eine Ljapunovfunktion zum stetigen VektorfeldF : B → R2. Sei k in R und Nk = {x ∈ B : V (x) ≤ k}. Sei x(t) eine Losung des Systemsx′(t) = F (x(t)) und x(s0) ∈ Nk fur ein s0 ∈ R. Dann gilt x(s) ∈ Nk fur alle s ≥ s0. Ist pein Limespunkt von x(t), der in B liegt, dann gilt auch p ∈ Nk.

Page 52: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

48 5. ANHANG

Beweis. Wegen x(s0) ∈ Nk gilt V (x(s0)) ≤ k. Da t 7→ V (x(t)) monoton fallend ist,erhalten wir V (x(s)) ≤ k und somit auch x(s) ∈ Nk fur alle s ≥ s0.

Ist p ein Limespunkt von x(t), dann existiert eine Folge (tn)n≥1 mit limn→∞ tn = ∞,sodass limn→∞ x(tn) = p gilt. Da V (x(tn)) ≤ k fur alle n mit tn ≥ s0 gilt, erhalten wir auchV (p) = limn→∞ V (x(tn)) ≤ k, das heißt p ∈ Nk. �

Der Rand der Menge Nk ist die Hohenschichtlinie Hk = {x ∈ B : V (x) = k}. EineLosungskurve x(t) kann die Menge Nk nicht verlassen. Auf dem Rand Hk kann sie nur dannlaufen, wenn dort ⟨gradV (x), F (x)⟩ = 0 gilt (in diesem Fall ist t 7→ V (x(t)) ja konstant).

Satz 40. Sei B ⊆ R2 offen und V : B → R eine nach unten beschrankte Ljapunov-funktion zum stetigen Vektorfeld F : B → R2. Sei δ > 0 und G eine Teilmenge vonB, sodass ⟨gradV (x), F (x)⟩ ≤ −δ fur alle x ∈ G gilt. Sei x(t) eine Losung des Systemsx′(t) = F (x(t)). Zu jedem r > 0 mit x(r) ∈ G existiert dann ein s > r mit x(s) /∈ G.

Beweis. Angenommen es gelte x(t) ∈ G fur alle t ≥ r. Sei f(t) = V (x(t)). Danngilt f ′(t) = ⟨gradV (x(t)), F (x(t))⟩ ≤ −δ fur alle t ≥ r. Es folgt limt→∞ f(t) = −∞. Daswiderspricht der Beschranktheit der Ljapunovfunktion nach unten. Damit ist gezeigt, dassx(t) ∈ G fur alle t ≥ r nicht gelten kann. �

Satz 41. Sei B ⊆ R2 offen und V : B → R eine nach unten beschrankte Ljapunovfunk-tion zum stetigen Vektorfeld F : B → R2. Sei x(t) eine Losung des Systems x′(t) = F (x(t)).Ist p ein Limespunkt dieser Losungskurve, der in B liegt, dann gilt ⟨gradV (p), F (p)⟩ = 0.

Beweis. Angenommen es gelte ⟨gradV (p), F (p)⟩ = 0. Da V eine Ljapunovfunktion ist,gilt dann ⟨gradV (p), F (p)⟩ < 0. Da F und die partiellen Ableitungen von V stetig sind, istauch x 7→ ⟨gradV (x), F (x)⟩ stetig. Daher existieren ϱ > 0 und δ > 0, sodass

(1) ⟨gradV (x), F (x)⟩ ≤ −δ fur alle x ∈ Uϱ(p)

gilt. Da das Vektorfeld F stetig ist, existiert eine Konstante M , sodass

(2) |F1(x)| ≤M und |F2(x)| ≤M fur alle x ∈ Uϱ(p)

gilt. Schließlich wahlen wir ε < ϱ2so, dass

(3) V (p)− ϱδ8M

< V (x) < V (p) + ϱδ8M

fur alle x ∈ Uε(p)

gilt. Das ist moglich, da V stetig ist.Da p ein Limespunkt der Losungskurve x(t) ist, gibt es ein r > 0 mit x(r) ∈ Uε(p).

Wegen (1) und Satz 40 gibt es ein s > r mit x(s) /∈ Uϱ(p). Wir wahlen s minimal. Es gilt

(4) ∥x(s)− p∥ = ϱ und x(t) ∈ Uϱ(p) fur r < t < s

Wegen ddtV (x(t)) = ⟨gradV (x(t)),x′(t)⟩ = ⟨gradV (x(t)), F (x(t))⟩ folgt aus (4) und (1)

(5) V (x(s))− V (x(r)) = (s− r)⟨gradV (x(ξ)), F (x(ξ))⟩ ≤ −(s− r)δ

wobei ξ zwischen r und s liegt. Fur j = 1 und j = 2 erhalten wir wegen (4) und (2), dass|xj(s)− xj(r)| = (s− r)|Fj(x(ξ))| ≤ (s− r)M mit ξ zwischen r und s gilt. Es folgt

(6) ∥x(s)− x(r)∥ =√(x1(s)− x1(r))2 + (x2(s)− x2(r))2 ≤ 2(s− r)M

Wegen x(r) ∈ Uε(p) und ε <ϱ2gilt ∥x(r)−p∥ < ϱ

2. Mit (4) folgt ∥x(s)−x(r)∥ > ϱ

2. Mit (6)

ist ϱ2< 2(s− r)M gezeigt, also s− r > ϱ

4M. Aus (5) folgt dann V (x(s))− V (x(r)) < − ϱδ

4M.

Aus (3) ergibt sich V (x(r)) < V (p) + ϱδ8M

wegen x(r) ∈ Uε(p). Damit erhalten wir

V (x(s)) < V (p) + ϱδ8M

− ϱδ4M

= V (p)− ϱδ8M

Page 53: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. LJAPUNOVFUNKTIONEN 49

Da V eine Ljapunovfunktion und daher t 7→ V (x(t)) monoton fallend ist, gilt auch

V (x(t)) < V (p)− ϱδ8M

fur alle t > s

Aus (3) folgt x(t) /∈ Uε(p) fur alle t > s. Somit kann p kein Limespunkt der Losungskurvex(t) sein. Dieser Widerspruch zeigt, dass ⟨gradV (p), F (p)⟩ = 0 nicht gelten kann. �

IstB eine Menge, dann bezeichnetB den Abschluss vonB, das ist die MengeB zusammenmit ihrem Rand. Ist zum Beispiel B = (0,∞)× (0,∞), dann gilt B = [0,∞)× [0,∞).

Satz 42. Sei B ⊆ R2 offen und V : B → R stetig und nach unten beschrankt. Auf derMenge B sei V eine Ljapunovfunktion zum Vektorfeld F : B → R2. Sei x(t) eine Losung desSystems x′(t) = F (x(t)). Sind p und q Limespunkte von x(t) in B, dann gilt V (p) = V (q).

Beweis. Sei f(t) = V (x(t)). Da V eine nach unten beschrankte Ljapunovfunktion ist,ist f monoton fallend und nach unten beschrankt. Der Grenzwert limt→∞ f(t) existiert. Wirnennen ihn c.

Es existieren Folgen (sn)n≥1 und (tn)n≥1 in R+ mit limn→∞ sn = ∞ und limn→∞ tn = ∞,sodass limn→∞ x(sn) = p und limn→∞ x(tn) = q gilt. Da V eine stetige Funktion ist, gilt dannlimn→∞ f(sn) = limn→∞ V (x(sn)) = V (p) und limn→∞ f(tn) = limn→∞ V (x(tn)) = V (q).Daher muss V (p) = c und V (q) = c gelten. Das zeigt V (p) = V (q). �

Satz 43. Sei F : R2 → R2 ein Vektorfeld mit stetigen partiellen Ableitungen. Sei x(t)eine beschrankte Losung des Systems x′(t) = F (x(t)). Dann hat x(t) einen Limespunkt.

Beweis. Da die Losung x(t) beschrankt ist, ist sie nach dem Existenz- und Eindeutig-keitssatz fur alle t ≥ 0 definiert. Wir wahlen eine Folge (sn)n≥1 in R+ mit limn→∞ sn = ∞.Da die Losungskurve x(t) beschrankt ist, ist auch (x(sn))n≥1 eine beschrankte Folge im R2.Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß hat sie eine Teilfolge, die gegen einen Punkt p kon-vergiert. Das heißt, es existiert eine Teilfolge (tn)n≥1 von (sn)n≥1, fur die limn→∞ x(tn) = pgilt. Da (tn)n≥1 eine Teilfolge von (sn)n≥1 ist, gilt auch limn→∞ tn = ∞. Somit ist p einLimespunkt der Losungskurve x(t). �

Satz 44. Sei B ⊆ R2 offen und F : B → R2 ein stetiges Vektorfeld. Sei x(t) eine Losungdes Systems x′(t) = F (x(t)) und p ein Punkt in B, sodass limt→∞ x(t) = p gilt. Dann giltauch F (p) = 0.

Beweis. Angenommen es gelte F (p) = 0. Es folgt, dass Fj(p) = 0 fur ein j gilt. Da Fstetig ist, existiert ein ε > 0 und ein δ > 0, sodass |Fj(x)| ≥ δ fur alle x ∈ Uε(p) gilt. Wegenlimt→∞ x(t) = p existiert ein t0 > 0 mit x(t) ∈ Uε(p) fur t ≥ t0. Fur alle t ≥ t0 folgt dann

|xj(t)− xj(t0)| = (t− t0)|x′j(ξ)| = (t− t0)|Fj(x(ξ))| ≥ (t− t0)δ

wobei ξ zwischen t und t0 liegt. Die Funktion t 7→ xj(t) ist somit unbeschrankt. Daher kannlimt→∞ x(t) = p nicht gelten. Dieser Widerspruch zeigt, dass F (p) = 0 nicht moglich ist. �

Satz 45. Sei B ⊆ R2 offen und F : B → R2 ein stetiges Vektorfeld. Sei x(t) einebeschrankte Losung des Systems x′(t) = F (x(t)) und p der einzige Limespunkt dieser Lo-sungskurve. Dann gilt limt→∞ x(t) = p.

Beweis. Angenommen limt→∞ x(t) = p gilt nicht. Dann existiert ein ε > 0 und eineFolge (sn)n≥1 in R+ mit limn→∞ sn = ∞, sodass x(sn) /∈ Uε(p) fur alle n ≥ 1 gilt. Da dieLosungskurve x(t) beschrankt ist, ist auch die Folge (x(sn))n≥1 beschrankt und hat dahereine konvergente Teilfolge, deren Grenzwert = p ist, da x(sn) /∈ Uε(p) fur alle n ≥ 1 gilt.

Page 54: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

50 5. ANHANG

Somit hat die Losungskurve x(t) einen weiteren Limespunkt. Dieser Widerspruch zeigt, dasslimt→∞ x(t) = p gelten muss. �

Satz 46. Sei B ⊆ R2 offen und F : B → R2 ein stetiges Vektorfeld. Seien p und q Punkteauf verschiedenen Seiten einer Gerade g. Sind p und q Limespunkte einer beschranktenLosung x(t) des Systems x′(t) = F (x(t)), dann hat x(t) auch einen Limespunkt auf g.

Beweis. Es existieren Folgen (sn)n≥1 und (tn)n≥1 in R+ mit limn→∞ sn = ∞ undlimn→∞ tn = ∞, sodass limn→∞ x(sn) = p und limn→∞ x(tn) = q gilt. Durch Auswahlvon Teilfolgen konnen wir annehmen, dass s1 < t1 < s2 < t2 < s3 < t3 < s4 < t4 < . . .gilt, und dass x(sn) und x(tn) fur n ≥ 1 auf verschiedenen Seiten von g liegen. Fur allen ≥ 1 existiert dann ein rn mit sn < rn < tn, sodass x(rn) auf g liegt. Da die Losungs-kurve x(t) beschrankt ist, liegen die Punkte x(rn) in einem Intervall auf g. Sie haben dahereine konvergente Teilfolge mit Grenzwert a auf g. Somit ist a ebenfalls ein Limespunkt derLosungskurve x(t). �

Wir verwenden diese Satze, um Differentialgleichungssysteme zu untersuchen. Wir be-ginnen mit dem Rauber-Beute-Modell, da es am einfachsten ist.

Rauber-Beute-Modell: Das Vektorfeld ist F (x, y) =( x(a−bx−cy)y(−d+ex−fy)

). Wir nehmen an, dass

die vier Koeffizienten b, c, e und f großer als null sind. Wir konnten auch zulassen, dass boder f gleich null ist. Dann ist die Untersuchung etwas komplizierter.

Wir setzen u = af+cdbf+ce

und v = ae−bdbf+ce

. Dann ist P4 = (u, v) ein Fixpunkt. Wir nehmen an,

dass er im Bereich B = (0,∞)× (0,∞) liegt. Es gilt also ae− bd > 0.Wir versuchen es mit der Funktion V (x, y) = e(x − u log x) + c(y − v log y), die eine

Bewegungsinvariante in einem Spezialfall des Rauber-Beute-Modells ist. Es gilt

⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = (e− eux)x(a− bx− cy) + (c− cv

y)y(−d+ ex− fy)

Wegen a− bu− cv = 0 und −d+ eu− fv = 0 ergibt sich

⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = e(x− u)(−b(x− u)− c(y − v)) + c(y − v)(e(x− u)− f(y − v))

Jetzt wird noch ausmultipliziert und gekurzt. Es bleibt

⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = −be(x− u)2 − cf(y − v)2

Wir erhalten V (x, y) ≤ 0 fur alle (x, y) ∈ B. Somit ist V (x, y) eine Ljapunovfunktion aufdem Gebiet B. Es gilt ⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = 0 nur dann, wenn (x, y) = (u, v).

Die Ljapunovfunktion V nimmt ihr Minimum m = e(u−u log u)+c(v−v log v) im Punkt(u, v) an. Die Hohenschichtlinien der Funktion V haben wir bereits bestimmt. Die MengenNk mit k ≥ m schopfen den Bereich B aus. Es gilt B =

∪k≥mNk. Sei x(t) eine Losungs-

kurve, die in B liegt. Es existiert ein k ≥ m mit x(0) ∈ Nk. Wegen Satz 39 gilt x(t) ∈ Nk furalle t ≥ 0. Da Nk beschrankt ist, ist auch die Losungskurve x(t) beschrankt. Wegen Satz 43hat x(t) einen Limespunkt, der in Nk liegt, da Nk abgeschlossen ist. Wegen Satz 41 kommtnur (u, v) als Limespunkt in Frage. Somit ist (u, v) der einzige Limespunkt der Losungs-kurve x(t). Aus Satz 45 folgt dann, dass limt→∞ x(t) = (u, v) gilt. Alle Losungskurven in Bkonvergieren gegen P4 = (u, v).

Wegen b > 0 ist P2 = (ab, 0) ein Fixpunkt. Es ist ein Sattelpunkt, wie wir bereits gesehen

haben. Die beiden auf der x-Achse liegenden Losungskurven konvergieren gegen P2. Es gibtauch zwei Losungskurven, die von P2 ausgehen. Die eine konvergiert gegen P4, die andereliegt außerhalb von B.

Page 55: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. LJAPUNOVFUNKTIONEN 51

Untenstehendes Bild zeigt Losungskurven fur das Vektorfeld F (x, y) =( x(10.8−0.4x−1.9y)y(−5.7+1.1x−0.7y)

).

Pendel mit Reibung: Das Vektorfeld ist F (x, y) =( y−g sinx−r(y)

), wobei r : R → R stetig

ist mit r(0) = 0, r(y) > 0 fur y > 0 und r(y) < 0 fur y < 0. Wir versuchen es mit der Funk-tion V (x, y) = −g cosx + 1

2y2, die wir beim Pendel ohne Reibung als Bewegungsinvariante

gefunden haben. Es gilt gradV (x, y) =(g sinxy

)und

⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = yg sinx− yg sinx− yr(y) = −yr(y)Da −yr(y) ≤ 0 fur alle y ∈ R gilt, ist V (x, y) tatsachlich eine Ljapunovfunktion. Weiters gilt⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = 0 nur dann, wenn y = 0 ist, das heißt fur Punkte auf der x-Achse.

Das Vektorfeld und die Ljapunovfunktion sind periodisch. Es gilt F (x+2π, y) = F (x, y)und V (x + 2π, y) = V (x, y). Die Hohenschichtlinien der Ljapunovfunktion V haben wirbereits bestimmt. Sie sind ebenfalls periodisch. Wir konnen die Punkte (x+2π, y) und (x, y)identifizieren. Im untenstehenden Bild werden die beiden senkrechten Geraden identifiziert.

Erreicht eine Kurve die rechte Gerade, dann konnen wir zur linken springen und uns dortdie Kurve fortgesetzt denken. Das gilt fur Hohenschichtlinien und Losungskurven.

Es gibt eine Hohenschichtlinie, auf der V den Wert g annimmt. Sie hat Kreuzungspunktein den Fixpunkten ((2k + 1)π, 0) mit k ∈ Z. Diese Hohenschichtlinie nennt man Separatrix.Fur k > g wird die Menge Nk von zwei wellenformigen Hohenschichtlinien begrenzt. Es gilt∪k>gNk = R2. Fur jede Losungskurve x(t) existiert ein k mit x(0) ∈ Nk. Wegen Satz 39 gilt

x(t) ∈ Nk fur alle t ≥ 0. Wegen der oben eingefuhrten Periodizitat ist Nk beschrankt. Somitist auch jede Losungskurve beschrankt und hat wegen Satz 43 einen Limespunkt.

Wegen Satz 41 liegt jeder Limespunkt auf der x-Achse. Hatte eine Losungskurve zweiLimespunkte, dann musste jeder Punkt auf der x-Achse, der dazwischen liegt, nach Satz 46ebenfalls Limespunkt sein (auf der Senkrechten durch jeden Punkt q dazwischen muss jaein Limespunkt liegen, und da alle Limespunkte auf der x-Achse liegen, muss q selbst derLimespunkt sein). Wegen Satz 42 ist das nicht moglich, da V auf einem Intervall, das aufder x- Achse liegt, nicht konstant ist. Das beweist, dass jede Losungskurve genau einen

Page 56: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

52 5. ANHANG

Limespunkt hat. Wegen Satz 45 und Satz 44 konvergiert jede Losungskurve gegen einenPunkt p, fur den F (p) = 0 gilt, also gegen einen Fixpunkt.

Wir wissen bereits, dass die Fixpunkte ((2k+1)π, 0) mit k ∈ Z Sattelpunkte sind. Es gibtzwei Losungskurven, die in jeden dieser Punkte einmunden, und zwei Losungskurven die vonjedem dieser Punkte ausgehen. Diese mussen in die benachbarten Fixpunkte einmunden. Furdrei dieser Sattelpunkte sind diese vier Losungskurven in folgender Zeichnung eingezeichnet

Unten sind diese Losungskurven strichliert eingezeichnet. Sie teilen die Ebene in Gebiete,in denen die anderen Losungskurven verlaufen mussen. Diese konvergieren gegen Fixpunkte,wie wir oben gesehen haben. Da ein Sattelpunkt nur zwei einmundende Losungskurven hat,gehen sie gegen die Fixpunkte (2kπ, 0) mit k ∈ Z.

Diese Losungskurven zeigen, wie das Pendel immer langsamer und kurzer schwingt. DieKonvergenz zu den Fixpunkten (2kπ, 0) bedeutet, dass das Pendel schließlich in Ruhelagestehen bleibt.

Konkurrenzmodell: Schließlich behandeln wir noch das Konkurrenzmodell. Wir beginnenmit einem Satz uber die Eigenwerte einer 2× 2-Matrix.

Satz 47. Sei A eine 2 × 2-Matrix mit Determinante detA. Weiters sei spA die Spurder Matrix A, das ist die Summe ihrer Eintrage in der Diagonale, und prA das Produktihrer Eintrage, die nicht in der Diagonale stehen. Ist detA < 0, dann hat A zwei reelleEigenwerte mit verschiedenen Vorzeichen. Ist detA > 0 und prA ≥ 0, dann hat A zweireelle Eigenwerte mit gleichen Vorzeichen, das mit dem Vorzeichen von spA ubereinstimmt.

Beweis. Sei A =(a bc d

). Die Eigenwerte der Matrix A sind dann die Losungen der

quadratischen Gleichung λ2 − (a+ d)λ+ ad− bc = 0, das heißt

λ1,2 =12(a+ d)±

√14(a+ d)2 − ad+ bc = 1

2(a+ d)±

√14(a− d)2 + bc

= 12spA±

√14(spA)2 − detA = 1

2spA±

√14(a− d)2 + prA

Page 57: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. LJAPUNOVFUNKTIONEN 53

Ist detA < 0, dann gilt 14(spA)2 − detA > 1

4(spA)2. Daher sind λ1 und λ2 reell und haben

verschiedenes Vorzeichen.Ist detA > 0 und prA ≥ 0, dann gilt 0 ≤ 1

4(a−d)2+prA = 1

4(spA)2−detA < 1

4(spA)2.

Daher sind λ1 und λ2 reell und haben gleiches Vorzeichen, wobei dieses Vorzeichen mit demvon spA ubereinstimmt. �

Das Vektorfeld des Konkurrenzmodells ist F (x, y) =( x(a−bx−cy)y(d−ex−fy)

). Wir nehmen c > 0 und

e > 0 an, sonst zerfallt das Differentialgleichungssystem. Wir untersuchen das Vektorfeld imBereich B = (0,∞)×(0,∞). Die Fixpunkte haben wir bereits berechnet. Es sind P1 = (0, 0),P2 = (a

b, 0), P3 = (0, d

f) und P4 = (u, v), wobei wir u = af−cd

bf−ce und v = bd−aebf−ce setzen. Es gilt

bu+ cv = a und eu+ fv = d.Wir suchen eine Ljapunovfunktion. Wir versuchen es mit einem qudratischen Polynom

dessen Mittelpunkt der Fixpunkt P4 ist:

V (x, y) = be(x− u)2 + 2ce(x− u)(y − v) + cf(y − v)2

Unter Verwendung von bu+ cv = a und eu+ fv = d berechnen wir ⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩

(2be(x− u) + 2ce(y − v))x(a− bx− cy) + (2ce(x− u) + 2cf(y − v))y(d− ex− fy)

= 2e(bx+ cy − bu− cv)x(a− bx− cy) + 2c(ex+ fy − eu− fv)y(d− ex− fy)

= 2e(bx+ cy − a)x(a− bx− cy) + 2c(ex+ fy − d)y(d− ex− fy)

Damit haben wir erhalten

⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = −2ex(a− bx− cy)2 − 2cy(d− ex− fy)2

Es gilt V (x, y) ≤ 0 fur alle (x, y) ∈ B. Somit ist V (x, y) eine Ljapunovfunktion auf der MengeB. Es gilt ⟨gradV (x, y), F (x, y)⟩ = 0 genau dann, wenn (x, y) der Fixpunkt P4 = (u, v) ist.

Wir nehmen an, dass P4 in B liegt. Das ist der interessante Fall. Daraus ergibt sichu = af−cd

bf−ce > 0 und v = bd−aebf−ce > 0. Wir unterscheiden die beiden Falle bf − ce > 0 und

bf − ce < 0. Den ersten Fall nennen wir elliptisch, den zweiten hyperbolisch.Im elliptischen Fall gilt bf − ce > 0. Dann muss auch af − cd > 0 und bd − ae > 0

gelten. Die Hohenschichtlinie V (x, y) = k ist der Kegelschnitt xtAx = k mit A =(be cece cf

),

der noch um den Vektor(uv

)verschoben wird. Es gilt detA = becf − c2e2 = ce(bf − ce) > 0

und prA = c2e2 ≥ 0. Die Matrix A hat wegen Satz 47 zwei reelle Eigenwerte, die großer alsnull sind, da auch spA = be + cf > 0 gilt. Somit sind die Hohenschichtlinien Ellipsen mitMittelpunkt P4. Sie haben auch alle dieselben Hauptachsen.

Page 58: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

54 5. ANHANG

Im hyperbolischen Fall gilt bf−ce < 0. Dann muss auch af−cd < 0 und bd−ae < 0 gelten.Die Hohenschichtlinie V (x, y) = k ist der Kegelschnitt xtAx = k mit A =

(be cece cf

), der noch

um den Vektor(uv

)verschoben wird. Es gilt detA = becf − c2e2 = ce(bf − ce) < 0. Wegen

Satz 47 hat die Matrix A zwei reelle Eigenwerte, die verschiedene Vorzeichen haben. Somitsind die Hohenschichtlinien Hyperbeln mit Mittelpunkt P4. Sie haben auch alle dieselbenHauptachsen und dieselben Asymptoten.

Die Asymptoten sind das Geradenpaar xtAx = 0, das noch um den Vektor(uv

)ver-

schoben wird. Es gilt xtAx = 1be

(bex+ (ce+

√c2e2 − bcef)y

)(bex+ (ce−

√c2e2 − bcef)y

),

woraus sich die Gleichungen der Asymptoten ergeben. Wegen 0 <√c2e2 − bcef < ce hat

jede Asymptote negativen Anstieg. Jede Asymptote schneidet beide Koordinatenachsen. Dadie Hohenschichtlinien asymptotisch zu den Asymptoten liegen, istNk fur jedes k beschrankt.

Da Ellipsen ohnehin beschrankt sind, gilt in beiden Fallen, dass Nk fur jedes k beschranktist. Es gilt

∪k∈RNk = B. Fur jede Losungskurve x(t) in B existiert ein k mit x(0) ∈ Nk.

Wegen Satz 39 gilt x(t) ∈ Nk fur alle t ≥ 0.Wegen Satz 43 hat jede Losungskurve, die in B liegt, einen Limespunkt. Wegen Satz 41

kommen dafur nur der Fixpunkt P4 und Punkte am Rand von B in Frage. Hatte eine Lo-sungskurve zwei verschiedene Punkte als Limespunkte, dann musste sie nach Satz 46 auchauf jeder Gerade, die zwischen diesen Limespunkten hindurchgeht, einen Limespunkt haben.Hatte die Losungskurve zwei verschiedene Limespunkte, dann musste es ein Intervall amRand geben, das aus Limespunkten besteht. Nach Satz 42 ist das nicht moglich, da sonstdie Funktion V auf diesem Intervall konstant sein musste.

Somit kann jede Losungskurve nur einen Limespunkt haben. Wegen Satz 45 und Satz 44konvergiert jede Losungskurve in B gegen einen der vier Fixpunkte. Man muss jetzt nurmehr die Fixpunkte anschauen.

Die Matrix der partiellen Ableitungen des Vektorfelds ist M =(a−2bx−cy −cx

−ey d−ex−2fy

). Im

Fixpunkt P1 erhalt man die Matrix M =(a 00 d

). Die Eigenwerte sind λ1 = a > 0 und

λ2 = d > 0. Der Fixpunkt P1 ist immer ein Repeller. Dorthin konvergiert nichts.Im Fixpunkt P2 erhalt man die Matrix M = 1

b

( −ab −ac0 bd−ae

)mit Eigenwerten λ1 = −a < 0

und λ2 =bd−aeb

. Im Fixpunkt P3 erhalt man die Matrix M = 1f

(af−cd 0−de −df

)mit Eigenwerten

λ1 =af−cdf

und λ2 = −d < 0. Im Fixpunkt P4 erhalt man die Matrix M =( −bu −cu−ev −fv

).

Im elliptischen Fall, das ist der mit bf − ce > 0, af − cd > 0 und bd − ae > 0, habendie beiden Fixpunkte P2 und P3 Eigenwerte mit verschiedenen Vorzeichen. Diese Fixpunktesind daher Sattelpunkte. Es gibt nur je zwei Losungskurven, das sind die am Rand von B,

Page 59: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

2. LJAPUNOVFUNKTIONEN 55

die gegen diese Fixpunkte konvergieren. Daher mussen alle Losungskurven im Innern vonB gegen P4 konvergieren. Man kann auch noch die Matrix M im Fixpunkt P4 mit Hilfevon Satz 47 untersuchen. Wegen detM = uv(bf − ce) > 0 und prM = cuev ≥ 0 sindbeide Eigenwerte negativ, da ja auch spM = −bu− fv negativ ist. Der Fixpunkt P4 ist einAttraktor. Das folgende Bild zeigt einige Losungskurven

Im hyperbolischen Fall, das ist der mit bf − ce < 0, af − cd < 0 und bd− ae < 0, habendie beiden Fixpunkte P2 und P3 Eigenwerte mit negativen Vorzeichen. Diese Fixpunkte sinddaher Attraktoren. Fur P4 wenden wir Satz 47 an. Es gilt detM = uv(bf − ce) < 0. Somithat P4 reelle Eigenwerte mit verschiedenen Vorzeichen. Der Fixpunkt P4 ist ein Sattelpunkt.Die beiden Losungskurven, die in den Sattelpunkt P4 einmunden, teilen den Bereich B inzwei Teile. Die Losungskurven in dem einen Teil konvergieren gegen P2, die Losungskurvenim anderen Teil konvergieren gegen P3. Das folgende Bild zeigt einige Losungskurven

Page 60: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

56 5. ANHANG

3. Lineare Differentialgleichungssysteme

Wir losen das Differentialgleichungssystem x′(t) = Ax(t) fur eine n × n-Matrix A. Wirverwenden dazu die Jordansche Normalform einer Matrix.

Außerdem lassen wir komplexwertige Losungen zu. Eine Losung x(t) ist jetzt eine Funk-tion von R oder einem Intervall nach Cn. Die Komponenten xj(t) sind komplexwertige Funk-tionen einer reellen Variablen. Wir stellen einige Uberlegungen zur Ableitung an.

Sei f : I → C eine Funktion, wobei I ein Intervall oder ganz R ist. Wir schreiben f(t) =g(t) + ih(t), wobei g und h reellwertig sind. Es gilt f ′(t) = g′(t) + ih′(t), wenn g und h diffe-renzierbar sind. Die Produktregel fur komplexwertige Funktionen ist leicht nachzurechnen.

Fur die konjugiert komplexe Funktion gilt f(t)′= (g(t)− ih(t))′ = g′(t)− ih′(t) = f ′(t).

Sei h(t) = eλt mit λ = α + iβ ∈ C. Wir zeigen, dass h′(t) = λeλt gilt. Der Realteilvon h(t) ist eαt cos βt mit Ableitung αeαt cos βt − βeαt sin βt. Der Imaginarteil von h(t) isteαt sin βt mit Ableitung αeαt sin βt + βeαt cos βt. Es folgt h′(t) = αeαt cos βt − βeαt sin βt +i(αeαt sin βt+ βeαt cos βt) = eαt(α + iβ)(cos βt+ i sin βt) = λeλt.

Wir verwenden Lemma 5, um eine Verallgemeinerung von Lemma 14 zu beweisen.

Lemma 48. Sei I ein offenes Intervall und x(t) eine auf I definierte (komplexwertige)Losung des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) mit x(t0) = 0 fur ein t0 ∈ I. Danngilt x(t) = 0 fur alle t ∈ I.

Beweis. Sei σ : I → [0,∞) definiert durch σ(t) = ∥x(t)∥2 =∑n

j=1 xj(t)xj(t). Es gilt

σ′(t) =n∑j=1

x′j(t)xj(t) +n∑j=1

xj(t)x′j(t) =n∑j=1

n∑k=1

ajkxk(t)xj(t) +n∑j=1

n∑k=1

xj(t)ajkxk(t)

Es folgt |σ′(t)| ≤∑n

j=1

∑nk=1 |ajk + akj| · |xj(t)xk(t)|. Wegen |xj(t)xk(t)| ≤ |xj(t)|2 + |xk(t)|2

ergibt sich |σ′(t)| ≤∑n

j=1

∑nk=1 |ajk+akj|(|xj(t)|2+|xk(t)|2) =

∑nj=1

∑nk=1 2|ajk+akj|·|xj(t)|2.

Wir setzen K = max1≤j≤n∑n

k=1 2|ajk+ akj| und erhalten |σ′(t)| ≤ K∑n

j=1 |xj(t)|2 = Kσ(t).

Weiters gilt σ(t0) = ∥x(t0)∥2 = 0, da ja x(t0) = 0 vorausgesetzt wird. Aus Lemma 5erhalten wir, dass σ(t) = ∥x(t)∥2 = 0 fur alle t ∈ I gilt. Es folgt x(t) = 0 fur alle t ∈ I. �

Im folgenden Beweis verwenden wir Satz 12, der besagt, dass eine Linearkombination vonLosungen eines linearen Differentialgleichungssystems wieder eine Losung ist. Das gilt auchfur komplexwertige Losungen, wobei die Koeffizienten in der Linearkombination komplexsein durfen. Der Beweis ist derselbe wie der von Satz 12.

Satz 49. Seien rj(t) fur 1 ≤ j ≤ n Losungen des Differentialgleichungssystems x′(t) =Ax(t), die auf ganz R definiert sind. Es gelte

det(r1(t), r2(t), . . . , rn(t)) = 0 fur alle t ∈ R

Ist jetzt x(t) eine Losung des Systems x′(t) = Ax(t), die auf einem offenen Intervall Idefiniert ist, dann existieren c1, c2, . . . , cn in C, sodass x(t) = c1r1(t)+ c2r2(t)+ · · ·+ cnrn(t)fur alle t ∈ I gilt. Insbesondere lasst sich x(t) fortsetzen zu einer Losung, die auf ganz Rdefiniert ist (sollte I = R sein).

Beweis. Sei t0 ∈ I beliebig gewahlt. Wegen det(r1(t0), r2(t0), . . . , rn(t0)) = 0 existierenc1, c2, . . . , cn in C mit

c1r1(t0) + c2r2(t0) + · · ·+ cnrn(t0) = x(t0)

Page 61: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

3. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME 57

Sei y(t) = c1r1(t) + c2r2(t) + · · · + cnrn(t) − x(t) fur t ∈ I. Als Linearkombination vonLosungen ist y(t) eine Losung. Außerdem wurden c1, c2, . . . , cn so gewahlt, dass y(t0) = 0gilt. Aus Lemma 48 folgt jetzt, dass y(t) = 0 fur alle t ∈ I gilt. Damit ist dann auchx(t) = c1r1(t) + c2r2(t) + · · · + cnrn(t) fur alle t ∈ I gezeigt. Da auf der rechten Seite eineLosung des Differentialgleichungssystems steht, die auf ganz R definiert ist, lasst sich x(t)fortsetzen zu einer auf ganz R definierten Losung. �

Wir verwenden die Jordansche Normalform fur die Matrix A. Zu jedem Eigenwert λexistieren Vektoren u1, u2, u3, . . . mit Au1 = λu1, Au2 = λu2 + u1, Au3 = λu3 + u2, . . .

Wir konnen Losungen des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t) angeben

r1(t) = eλtu1, r2(t) = eλt(u2 + tu1), r3(t) = eλt(u3 + tu2 +t2

2!u1), . . .

Mit Hilfe der Produktregel ist leicht nachzurechnen, dass das Losungen sind. Sie sind aufganz R definiert. Man kann zeigen, dass

det(r1(t), r2(t), r3(t), . . . ) = det(eλtu1, eλt(u2 + tu1), e

λt(u3 + tu2 +t2

2!u1), . . . ) = 0

fur alle t ∈ R gilt. Die Exponentialfunktionen kann man aus der Matrix herausziehen. Dieerste Spalte der Determinante ist dann u1. Ein Vielfaches dieser Spalte kann man von denanderen Spalten subtrahieren. So erhalt man u2 in der zweiten Spalte. Ein Vielfaches dieserSpalte kann man von den anderen Spalten subtrahieren. Und so weiter. Auf diese Weiseerhalt man det(u1,u2,u3, . . . ). Diese Determinante ist = 0, da die Vektoren u1,u2,u3, . . .ja eine Basis des Cn bilden. Damit ist det(r1(t), r2(t), r3(t), . . . ) = 0 gezeigt. Nach Satz 49sind die Liearkombinationen der Losungen r1(t), r2(t), r3(t), . . . bereits alle Losungen.

Damit haben wir die allgemeine Losung fur ein System von n linearen Differentialglei-chungen gefunden. Das gibt auch einen Beweis fur Satz 17. Ist λ ein k-facher Eigenwert,dann sind die Komponenten der Losungen r1(t), r1(t), . . . , rk(t) Linearkombinationen derFunktionen eλt, teλt, . . . , tk−1eλt. Ist λ reell, dann kommen diese Funktionen unter den Basis-funktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t) vor. Ist λ = α+ iβ komplex, dann kommen die Real- undImaginarteile dieser Funktionen unter den Basisfunktionen vor, sodass die Komponenten derLosungen r1(t), r1(t), . . . , rk(t) in jedem Fall eine Linearkombination der Basisfunktionenh1(t), h2(t), . . . , hn(t) sind.

Sei x(t) jetzt eine reellwertige Losung des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t).Nach obigem Resultat ist x(t) eine Linearkombination der Losungen r1(t), r2(t), r3(t), . . ..Daher ist jede Komponente xj(t) von x(t) Linearkombination der Basisfunktionen, das heißt

xj(t) = b1h1(t) + b2h2(t) + · · ·+ bnhn(t)

wobei die Koeffizienten b1, b2, . . . , bn in C liegen konnen. Da aber sowohl xj(t) als auchh1(t), h2(t), . . . , hn(t) reell sind, bleibt die Gleichung bestehen, wenn man die Koeffizientendurch ihre Realteile ersetzt. Man hat dann reelle Koeffizienten. Damit ist Satz 17 bewiesen.

Lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung: Diese Resultate kann man auch auf diehomogene lineare Differentialgleichung n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten anwen-den. Diese ist

x(n)(t) + a1x(n−1)(t) + · · ·+ an−1x

′(t) + anx(t) = 0 mit a1, a2, . . . , an ∈ R

Wir fuhren sie auf ein Differentialgleichungssystem zuruck. Sei x(t) eine Losung dieser Dif-ferentialgleichung. Wir setzen

y1(t) = x(t), y2(t) = x′(t), y3(t) = x′′(t), . . . , yn(t) = x(n−1)(t)

Page 62: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

58 5. ANHANG

Es folgt y′k(t) = yk+1(t) fur 1 ≤ k ≤ n− 1 und

y′n(t) = −a1yn(t)− · · · − an−1y2(t)− any1(t)

folgt aus der Differentialgleichung. In Vektorschreibweise ist das

y′(t) = Ay(t) mit A =

0 1 0 0 . . . 0 00 0 1 0 . . . 0 00 0 0 1 . . . 0 0...

......

.... . .

......

0 0 0 0 . . . 1 00 0 0 0 . . . 0 1

−an −an−1 −an−2 −an−3 . . . −a2 −a1

Dieses Differentialgleichungssystem ist aquivalent zur obigen homogenen linearen Differenti-algleichung n-ter Ordnung.

Wir bezeichnen die n × n-Matrix A mit An. Fur 1 ≤ k ≤ n − 1 ist die rechts untenstehende k× k-Teilmatrix von A dann gleich Ak. Sei Pk(λ) = det(λIk−Ak) das charakteris-tische Polynom der Matrix Ak. Insbesondere gilt P2(λ) =

∣∣ λ −1a2 λ+a1

∣∣ = λ2 + a1λ + a2. DurchEntwickeln nach der ersten Spalte ergibt sich die Rekursionsformel Pk(λ) = λPk−1(λ) + ak.Damit erhalt man, dass Pn(λ) = λn+ a1λ

n−1 + a2λn−2 + . . .+ an−1λ+ an gilt. Damit ist das

charakteristische Polynom der Matrix A berechnet.Seien h1(t), h2(t), . . . , hn(t) die Basisfunktionen zu Pn(λ) = λn+a1λ

n−1+. . .+an−1λ+an.Aus dem oben bewiesen Satz 17 folgt, dass insbesondere y1(t) eine Linearkombination derFunktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t) ist. Somit gilt das fur jede Losung x(t) der homogenenlinearen Differentialgleichung x(n)(t)+a1x

(n−1)(t)+ · · ·+an−1x′(t)+anx(t) = 0. Andererseits

kann man nachprufen, dass jede dieser Basisfunktionen h1(t), h2(t), . . . , hn(t) und damitauch jede Linearkombination eine Losung ist. Damit ist Satz 9 bewiesen.

4. Lineare Differentialgleichungssysteme – ein anderer Zugang

Es geht wieder darum, fur eine n× n-Matrix A das Differentialgleichungssystem x′(t) =Ax(t) unter Verwendung der Jordanschen Normalform zu losen. Wir arbeiten auch wiedermit komplexwertigen Losungen. Als Hilfsmittel dienen jetzt lineare Differentialgleichungenerster Ordnung. Wir verallgemeinern Satz 1.

Satz 50. Sei I ⊂ R ein offenes Intervall und p : I → C und q : I → C seien stetig. SeiP eine Stammfunktion von p. Alle Losungen der Differentialgleichung x′(t) = p(t)x(t)+ q(t)auf dem Intervall I sind dann gegeben durch x(t) = eP (t)(

∫q(t)e−P (t)d t+ c) fur ein c ∈ C.

Beweis. Sei h(t) = eP (t). Sei p(t) = p1(t) + ip2(t) mit reellwertigen Funktionen p1 undp2. Dann gilt P (t) = P1(t) + iP1(t), wobei P1 und P2 Stammfunktionen von p1 und p2sind. Wir zeigen h′(t) = p(t)eP (t). Der Realteil von h(t) ist eP1(t) cosP2(t) mit Ableitungp1(t)e

P1(t) cosP2(t)−p2(t)eP1(t) sinP2(t). Der Imaginarteil von h(t) ist eP1(t) sinP2(t) mit Ab-leitung p1(t)e

P1(t) sinP2(t) + p2(t)eP1(t) cosP2(t). Es folgt

h′(t) = p1(t)eP1(t) cosP2(t)− p2(t)e

P1(t) sinP2(t) + i(p1(t)e

P1(t) sinP2(t) + p2(t)eP1(t) cosP2(t)

)= eP1(t)(p1(t) + ip2(t))(cosP2(t) + i sinP2(t)) = p(t)eP (t)

Da ebenso die Ableitung von e−P (t) gleich −p(t)e−P (t) ist und auch fur komplexwertige Funk-tionen die Produktregel gilt, funktioniert der weitere Beweis genauso wie der von Satz 1. �

Page 63: Gew ohnliche fftialgleichungen - univie.ac.atfh/DGL.pdfKAPITEL 1 Einleitung Eine fftialgleichung ist eine Gleichung, die eine Funktion und deren Ableitung(en) enth alt. Gesucht ist

4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGSSYSTEME – EIN ANDERER ZUGANG 59

Wir verwenden die Jordansche Normalform fur die Matrix A. Zum Eigenwert λ existierenVektoren u1, u2, . . . , uk sodass gilt: Au1 = λu1, Au2 = λu2 + u1, . . . , Auk = λuk + uk−1.Ist µ ein weiterer Eigenwert, dann existieren dazu ebenfalls Vektoren v1, v2, . . . sodass gilt:Av1 = µv1, Av2 = µv2 + v1, . . . und dergleichen fur alle weiteren Eigenwerte.

Sei x(t) eine Losung des Differentialgleichungssystems x′(t) = Ax(t). Da die Vektorenu1, u2, . . . , uk,v1, v2, . . . eine Basis des Cn bilden, existieren komplexwertige Funktioneny1(t), y2(t), . . . , yk(t), z1(t), z2(t), . . . fur die gilt

(1) x(t) = y1(t)u1 + y2(t)u2 + . . .+ yk(t)uk + z1(t)v1 + z2(t)v2 + . . .

Die Funktionen y1(t), y2(t), . . . , yk(t), z1(t), z2(t), . . . sind auch differenzierbar, da sie alsLinearkombinationen der Komponenten von x(t) geschrieben werden konnen. Es gilt dann

x′(t) =y′1(t)u1 + y′2(t)u2 + . . .+ y′k(t)uk + z′1(t)v1 + z′2(t)v2 + . . .

Ax(t) =y1(t)λu1 + y2(t)λu2 + y2(t)u1 + . . .+ yk(t)λuk + yk(t)uk−1

+ z1(t)µv1 + z2(t)µv2 + z2(t)v1 + . . .

Durch Koeffizientenvergleich (die Vektoren u1, u2, . . . , uk,v1, v2, . . . sind ja linear un-abhangig) erhalten wir folgende Gleichungen

(2)

y′1(t) = λy1(t) + y2(t)

y′2(t) = λy2(t) + y3(t)

· · · · · · · · · · · · · · · · · ·y′k−1(t) = λyk−1(t) + yk(t)

y′k(t) = λyk(t)

z′1(t) = µz1(t) + z2(t)

· · · · · · · · · · · · · · · · · ·· · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Genau dann, wenn die Gleichungen in (2) erfullt sind, ist x(t) eine Losung des Differen-tialgleichungssystems x′(t) = Ax(t). Wir konnen den ersten Block der Gleichungen in (2)schrittweise mit Hilfe von Satz 50 auflosen.

Die Gleichung y′k(t) = λyk(t) ist genau dann erfullt, wenn yk(t) = ckeλt fur ein ck ∈ C

gilt. Die Gleichung davor wird dann zu y′k−1(t) = λyk−1(t)+ ckeλt. Sie ist genau dann erfullt,

wenn yk−1(t) = eλt(∫cke

λte−λtd t+ck−1) = eλt(ckt+ck−1) fur ein ck−1 ∈ C gilt. Und so geht es

weiter bis zu y1(t) = eλt(ck

tk

k!+ck−1

tk−1

(k−1)!+. . .+c2t+c1

), wobei weitere Integrationskonstanten

ck−2, . . . , c2, c1 auftreten.Analog kann man die weiteren Gleichungen in (2) blockweise auflosen und die Losungen

dann in (1) einsetzen. So erhalt man die allgemeine Losung des Differentialgleichungssystemsx′(t) = Ax(t). Ordnet man um, so ergibt sich

x(t) = c1eλtu1 + c2e

λt(u2 + tu1) + . . .+ ckeλt(uk + tuk−1 + . . .+ tk

k!u1)

+ d1eµtv1 + d2e

µt(v2 + tv1) + . . .

wobei c1, c2, . . . , ck, d1, d2, . . . beliebige komplexe Zahlen sind.