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gew¨ ohnliche Differentialgleichungen Prof. Dr. Volker Michel Wintersemester 2008/09 -Vorlesungsmitschrift- getippt von Kathi Albus

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gewohnliche Differentialgleichungen

Prof. Dr. Volker Michel

Wintersemester 2008/09

-Vorlesungsmitschrift-getippt von Kathi Albus

Inhaltsverzeichnis

1 Grundlagen 51.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.2 Klassifikation gewohnlicher Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . 51.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61.4 Grundlagen der Funktionalanalysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung 132.1 Existenz und Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132.2 Lineare gew. Dgl. 1. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202.3 Exakte Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232.4 separierbare Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332.5 Explizit vs. implizit und Geometrisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362.6 Die Bernoulli’sche Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422.7 Die Riccati’sche Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452.8 Abhangigkeitssatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizien-ten 513.1 Ordnung 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.2 n-te Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573.3 Laplacetransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten 734.1 Generelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734.2 Die Euler’sche Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754.3 Potenzreihenansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774.4 Die Bessel’sche Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814.5 Die Sturm’sche Randwertaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

5 Systeme von Differentialgleichungen 935.1 Lineare Gleichungen mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . 935.2 Lineare Gleichungen mit variablen Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . 965.3 allgemeine Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

6 Stabilitat 1036.1 Das Rauber-Beute-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1036.2 Definitionen und Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086.3 Lineare Systeme mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . 1096.4 Ljapunoff-Theorie (ein Einblick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Bibliographie 115

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Inhaltsverzeichnis

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1 Grundlagen

1.1 Vorbemerkungen

N: Menge aller positiven ganzen ZahlenN0 := N ∪ {0}C(k)(D,Rm): Menge aller k-fach stetig differenzierbaren Funktionen F : D → Rm,D ⊂ Rn, k ∈ N0 ∪ {∞}C(k)(D) := C(k)(D,R), C := C(0) (stetige Funktionen), C(k)[a, b] := C(k) ([a, b])

1.2 Klassifikation gewohnlicher Differentialgleichungen

zunachst: Eine Differentialgleichung (Dgl.) ist eine Gleichung, deren Unbekannte eineFunktion ist, wobei in der Gleichung mindestens eine Ableitung der unbekannten Funk-tion auftaucht.

Beispiel: y′ + y2 = 0 ist eine Dgl.y(a+ b) = y(a) · y(b) ist eine Funktionalgleichung (Lsg: y(x) = ex)

Hangt die gesuchte Fkt. von nur einer Veranderlichen ab (univariate Funktion), so sprichtman von einer gewohnlichen Dgl. (ODE), ansonsten (multivariate Funktion) von einerpartiellen Dgl. (PDE).

Eine gew. Dgl. hat allgemein die Form

F (x, y, y′, . . . , y(n)) = 0

wobei F : D → Rm, D ⊂ Rn+2, eine gegebene Funktion ist.Im Beispiel: y′′′ + y2 = cosx ware somit

F (a1, . . . , a5) = − cos a1 + a22 + a5

Beachte: Statt der prazisen Schreibweise

y′′′(x) + y2(x) = cosx

verwendet man ublicherweise die ubersichtlichere Form

y′′′ + y2 = cosx

Gew. Dgl. werden wie folgt kategorisiert:

• OrdnungDie Ordnung einer gew. Dgl. ist die hochste Ableitungsordnung, die in der Glei-chung auftaucht. Die Gleichung

y′′′ + y2 = cosx

hat also die Ordnung 3.

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1 Grundlagen

• GleichungssystemeEin Gleichungssystem liegt vor, wenn F mindestens in den R2 abbildet, also meh-rere Gleichungen vorliegen.

• explizit/implizitEine gew. Dgl. n-ter Ordnung ist explizit, wenn es eine Funktion F gibt, so dass

0 = F (x, y, . . . , y(n))⇔ 0 = y(n) + F (x, y, . . . , y(n−1))

d.h. die Gleichung ist nach der hochsten Ableitungsordnung auflosbar.Ansonsten heißt sie implizit.

• linear/nicht-linearEine gew. Dgl. n-ter Ordnung ist linear, wenn F linear in y, y′, . . . , y(n) ist, ansons-ten nicht-linear.

• homogen/inhomogenEine gew. Dgl. ist homogen, wenn F nicht von x abhangt, d.h. wenn gilt:

∃ F : F (x, y, . . . , y(n)) = F (y, . . . , y(n))

Beispiel: y′′′ + y2 = cosx inhomogeny′′′ + y2 = 0 homogen√xy′′′ + y2 = 0 inhomogen

(vgl. homogene/inhomogene LGS)

Steht die Variable fur die Zeit, so wird oft der Begriff ”autonom“ (zeitunabhg.)statt ”homogen“ verwendet.

1.3 Beispiele

Beispiel 1.3.1

y′ = g g ∈ C[a, b] gegeben.

Explizite, lineare, inhomogene (g 6≡ 0) gew. Dgl. 1. Ordnung.

alle Losungen: y(x) =∫ x

ag(t)dt+ γ, γ ∈ R bel. Konstante

Was ist mit γ? γ = y(a)

Anfangswertproblem (AWP): y′ = g, y(a) = 2

⇒ ∃! Losung: y(x) =∫ x

ag(t)dt+ 2

Endwertproblem (EWP): y′ = g, y(b) = π

⇒ ∃! Losung: y(x) = −∫ b

xg(t)dt+ π

Beispiel 1.3.2

y′′ = g g ∈ C[a, b] gegeben.

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1.3 Beispiele

Explizite, lineare, inhomogene (g 6≡ 0), gew. Dgl. 2. Ordnung.

⇒ y′(x) =∫ x

ag(t)dt+ γ

⇒ y(x) =∫ x

a

(∫ τ

ag(t)dt+ γ

)dτ + δ

=∫ x

a

∫ τ

ag(t)dtdτ + γ(x− a) + δ

γ, δ ∈ R bel. Konstanten (Freiheitsgrade).

Wie bekommt man das eindeutig?

AWP: y′′ = g, y′(a) = c, y(a) = d

⇒ y′(x) =∫ x

ag(t)dt+ y′(a)︸ ︷︷ ︸

=c!=γ

⇒ y(x) =∫ x

a

∫ τ

ag(t)dtdτ + c(x− a) + δ

⇒ y(a) = δ

⇒ y(x) =∫ x

a

∫ τ

ag(t)dtdτ + c(x− a) + d

EWP: y′′ = g, y′(b) = c, y(b) = d

analog.

Randwertproblem(RWP): y′′ = g, y(a) = c, y(b) = d

siehe oben: y(x) =∫ x

a

∫ τ

ag(t)dtdτ + γ(x− a) + δ ⇒ y(a) = δ ⇒ δ = c

y(b) =∫ b

a

∫ τ

ag(t)dtdτ + γ(b− a) + c

!= d

⇒ γ = (b− a)−1

(d−

∫ b

a

∫ τ

ag(t)dtdτ − c

)Beispiel 1.3.3 (Wachstums-(γ > 0)/Zerfallsgleichung(γ < 0))

y′ = γy γ ∈ R fest

Explizite, lineare, homogene gew. Dgl. 1. Ordnung.

Losung: y(x) = ceγx, c ∈ R bel. Konst., c = y(0)

Beispiel 1.3.4 (Schwingungsgleichung - ungedampft -)

y′′ + γ2y = 0 (γ ∈ R konst.)

Explizite, lineare, homogene gew. Dgl. 2. Ordnung.

Losung: z.B. y(x) = ceiγx, y(x) = c sin (γx), y(x) = c cos (γx) (c ∈ R Freiheitsgrad)

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1 Grundlagen

Beispiel 1.3.5 (Newton’sches Gesetz (fur eine Punktmasse))

mx = f(x(t))t 7→ x(t) Bahn der Punktmassem: Masse, f : Kraftfeld

Explizite, homogene (autonome) gewohnliche Differentialgleichung 2. Ordnung. (nur li-near, wenn f linear)

Beispiel 1.3.6y′ = f(x)g(y)

Explizite, i.d.R. inhomogene gew. Dgl. 1. Ordnung mit getrennten Variablen.

Ansatz: (mathematisch unsauber aber wirkungsvoll)

dy

dx= f(x)g(y)

(Alles mit y auf die eine, alles mit x auf die andere Seite)

1g(y)

dy = f(x)dx

∫1

g(y)dy =

∫f(x)dx

Beispiel: y′ = x2y,dy

dx= x2y,

1ydy = x2dx,

∫1ydy =

∫x2dx

⇒ log |y| = 13x3 + c

⇒ y(x) = ±e13x3+c

⇒ y(x) = ±γe13x3, γ ∈ R konst. (uber die Anfangsbedingung bestimmen)

Probe: (Wichtig, da mathematisch unsauberer Weg!)

y′(x) = ±γe13x3 · 3

3x2 = x2

(±γe

13x3)

︸ ︷︷ ︸y(x)

Beispiel 1.3.7 (Riccati’sche Differentialgleichung (→ Kontrolltheorie))y′ = f(x)y2 + g(x)y + h(x)

Explizite, nicht-lineare, inhomogene (wenn h 6≡ 0 und f 6≡ 0) gew. Dgl. 1. Ordnung.

z.B. y′ = y2 + 1, [a, b] = [0, 2], y(0) = 0

dy

dx= y2(x) + 1,

1y2 + 1

dy = 1dx

∫1

y2 + 1dy =

∫1dx⇒ arctan y = x+ γ, γ ∈ R konst.

⇒ y(x) = tan (x+ γ︸︷︷︸Phase

), γ ∈ R

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1.3 Beispiele

Aus y(0) = 0 folgt z.B. γ = 0 (y(0) = tan (0) = 0)(nicht eindeutig wegen der Periodizitat)Probe: y′(x) = 1 + tan2(x+ γ) = 1 + y2(x)Aber(!) die Losung existiert nicht auf dem ganzen Intervall [0, 2].

Kleine Variation: y′ = y2 − 1

dy

dx= y2 − 1,

∫1

y2 − 1dy =

∫1dx

⇒ artanh y = x+ γ

⇒ y(x) = tanh(x+ γ) =sinh(x+ γ)cosh(x+ γ)

Anmerkung: cosh auf ganz R definiert, keine Singularitat. Daher globale Losung.

Probe: tanh′ =(

sinhcosh

)′=

sinh2− cosh2

cosh2 = tanh2−1

Beispiel 1.3.8 (Sturm-Liouville-Problem (→ Seismologie, Thermodynamik, etc.))

RWP:d

dx

(p(x)

du

dx

)+ q(x)u+ λr(x)u = 0 (0 < p ∈ C(1))

α1u(a) + α2u′(a) = 0, β1u(b) + β2u

′(b) = 0

Inhomogene, lineare, explizite gew. Dgl. 2. Ordnung.

Frage u.a.: Fur welche λ gibt es nicht-triviale Losungen? → Eigenwertproblem

Beispiel 1.3.9 (Legendre’sche Differentialgleichung (→ spharische Analysis, elektromagne-tische Wellen))

(1− t2)u′′ − 2tu′ + λ(λ+ 1)u = 0

Inhomogene, lineare gew. Dgl. 2. Ordnung, nur explizit auf ]− 1, 1[ bzw. auf ]−∞,−1[oder ]1,+∞[.

Beispiel 1.3.10 (mathematischer Pendel)

ϕ = −gl

sinϕ

g: Fallbeschleunigung, l: Lange der Stange

Homogene, nicht-lineare, explizite gew. Dgl. 2. Ordnung.

Wir betrachten zwei extreme Falle, um die Nicht-Linearitat zu beseitigen:

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1 Grundlagen

1) ϕ ≈ 0 (sehr kleine Auslenkungen, am Anfang)

⇒ sinϕ ≈ ϕ, denn limϕ→0

sinϕϕ

= 1

vereinfachte (linearisierte) Gleichung: ϕ = −glϕ

ϕ(t) = a sin(√

g

lt+ b

), Freiheitsgrade a, b ∈ R konst. (z.B. a aus ϕ(0) und b aus

ϕ(0) bestimmt)

2) ϕ ≈ π (sehr große Auslenkungen)

⇒ limϕ→π

sinϕπ − ϕ

= 1 (L’Hospital:cosϕ−1

→ϕ→π

1)

alternativ: Taylor

1) sinϕ = ϕ+O(ϕ3), ϕ→ 0

2) sinϕ = sinπ︸︷︷︸=0

+cosπ

1!(ϕ− π) +

− sinπ2!

(ϕ− π)2 +O((ϕ− π)3)

= −(ϕ− π) +O((ϕ− π)3) fur ϕ→ π

⇒ ϕ =g

lϕ− g

lπ mit positivem Faktor vor ϕ

vgl. ϕ = glϕ⇒ ϕ(t) = ae

√glt

mit konstantem Term komplizierter. (chaotisches Verhalten)

Wir mussen uns also folgende Fragen bei einer gew. Dgl. stellen:

• Existiert eine Losung?

• Wenn ja, ist sie eindeutig?

• Ist sie stabil?

• Wie bekommt man die Losung?

• Ist die Losung global?

1.4 Grundlagen der Funktionalanalysis

Defnition 1.4.1 Sei X ein K-Vektorraum (K ∈ {R,C}). Dann heißt || · || : X → R Norm,wenn gilt:

1. ||x|| ≥ 0 ∀x ∈ X, ||x|| = 0⇔ x = 0 (positive Definitheit)

2. ||λx|| = |λ| · ||x|| ∀λ ∈ K ∀x ∈ X (Homogenitat)

3. ||x+ y|| ≤ ||x||+ ||y|| ∀x, y ∈ X (Dreiecksungleichung)

In diesem Fall heißt (X, || · ||) normierter Raum.(Interpretation: Langenmessung)

Beispiel 1.4.2 a) C(K,Rm), K ⊂ Rn kompakt, mit

||f ||∞ := ||f ||C(K,Rm) := maxx∈K|f(x)|

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1.4 Grundlagen der Funktionalanalysis

b) C(K,Rm) mit

||f ||p :=(∫

K|f(x)|p dx

) 1p

=: ||f ||Lp(K,Rm), 1 ≤ p <∞

c) Lp(D,Rm), D ⊂ Rn messbar, mit || · ||p

Lp(D,Rm) := {f : D → Rm messbar |∫D |f(x)|pdx < +∞} (1 ≤ p < +∞)

N p(D,Rm) := {f : D → Rm integrierbar |∫D |f(x)|pdx = 0}

Lp(D,Rm) := Lp(D,Rm)/N p(D,Rm) (Restklassenbildung)

d) (triviales Beispiel) Rn mit der euklidischen Norm

e) lp := {(an)n |∑∞

n=0 |an|p < +∞}, 1 ≤ p < +∞

‖(an)n‖ :=

( ∞∑n=0

|an|p) 1

p

Defnition 1.4.3 Sei (X, ‖ · ‖) ein normierter Raum und (an)n eine beliebige Folge in X.

a) (an) heißt (stark) konvergent gegen α ∈ X, wenn gilt

∀ε > 0 ∃n0 ∀n ≥ n0 : ‖an − α‖ < ε

b) (an) heißt Cauchy-Folge in X

:⇔ ∀ε > 0 ∃n0 ∀n,m ≥ n0 : ‖an − am‖ < ε

c) X heißt vollstandig, wenn jede Cauchy-Folge in X gegen ein Element von X kon-vergiert.Vollstandige normierte Raume nennt man Banachraume.

Beispiel 1.4.4 (vgl. Beispiel 1.4.2.)

• Banachraume:

(C(K,Rm), ‖ · ‖∞) , (Lp(D,Rm), ‖ · ‖p) , (Rn, | · |), (lp, ‖ · ‖p)

• nicht vollstandig(C(K,Rm), ‖ · ‖p)

Defnition 1.4.5 Sei (X, ‖ · ‖) ein normierter Raum und M ⊂ X eine beliebige Menge.M heißt

a) abgeschlossen :⇔M ⊃ {x ∈ X | ∀ε > 0 ∃y ∈M : 0 < ‖y − x‖ < ε}︸ ︷︷ ︸Haufungspunkte (HPe) von M

(M := M ∪ {HPe von M} abgeschlossene Hulle)

b) offen :⇔M = {x ∈ X | ∃ε > 0 : (‖y − x‖ < ε⇒ y ∈M)}︸ ︷︷ ︸=:int M=:M innere Punkte von M

{y ∈ X | ‖x− y‖ < ε} =: Uε(x) =: Nε(x) =: Kε(x) =: Bε(x)

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1 Grundlagen

c) beschrankt :⇔ ∃c ∈ R : ‖x‖ < c ∀x ∈M

d) kompakt :⇔ Jede Folge in M besitzt eine gegen ein Element von M konvergenteTeilfolge.

e) relativ kompakt :⇔M kompakt

f) konvex :⇔ ∀x, y ∈M ∀λ ∈ [0, 1] : λx+ (1− λ)y ∈M

Satz 1.4.6 Sei (X, ‖ · ‖) ein normierter Raum. Dann gilt:Jede beschrankte und abgeschlossene Menge in X ist kompakt ⇔ dimX < +∞.

Satz 1.4.7 (Satz von Arzela-Ascoli)Sei K ⊂ Rn kompakt und M ⊂ C(K), wobei C(K) mit der Maximumnorm ‖ · ‖∞versehen ist. M ist genau dann relativ kompakt, wenn die folgenden beiden Eigenschaftenerfullt sind:

1. M ist beschrankt.

2. M ist gleichgradig stetig (equicontinuous), d.h.

∀ε > 0 ∃δ > 0 : (|x− y| < δ ⇒ |f(x)− f(y)| < ε) ∀f ∈M

Defnition 1.4.8 Seien (X, ‖ · ‖X) und (Y, ‖ · ‖Y ) normierte Raume und A : X → Y einlinearer Operator (Abbildung). A heißt

a) stetig :⇔ wenn xn → ξ in X, dann Axn → Aξ in Y .

b) beschrankt :⇔ ‖A‖ := supx∈Xx 6=0

‖Ax‖Y‖x‖X

= supx∈X‖x‖X=1

‖Ax‖Y < +∞

c) kompakt :⇔ AU ist relativ kompakt in Y , wobeiU := {x ∈ X | ‖x‖X ≤ 1} (abgeschlossene Einheitskugel)

⇔ ∀ beschr. Folgen (xn) in X besitzt (Axn) eine in Y konvergente Teilfolge

Defnition 1.4.9 (X, ‖ · ‖X), (Y, ‖ · ‖Y ) normierte Raume. Ein Operator A : X → Y(nicht zwingend linear) heißt kompakt, wenn fur jede beschrankte Folge (xn) ⊂ X dieFolge (Axn) eine beschrankte Teilfolge besitzt.

Satz 1.4.10 (X, ‖ · ‖X), (Y, ‖ · ‖Y ) normierte Raume, A : X → Y linear. Es gilt:

A kompakt ⇒ A stetig ⇔ A beschrankt

Satz 1.4.11 (Schauder’scher Fixpunktsatz)(X, ‖ · ‖) Banachraum, M ⊂ X nicht-leer, beschrankt, abgeschlossen, konvex.

A : M →M kompakt⇔ A besitzt einen Fixpunkt, d.h. ein x ∈M mit Ax = x

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2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

2.1 Existenz und Eindeutigkeit

Wir betrachten das folgende AWP:

y′ = f(x, y), y(x0) = y0 (AWP1)

Satz 2.1.1 (Satz von Peano)

f : [x0 − a, x0 + a]× [y0 − b, y0 + b]︸ ︷︷ ︸=:R

→ R

mit x0, y0 ∈ R, a, b > 0 sei stetig.Sei M := max

(x,y)∈R|f(x, y)| und α := min(a, b

M ) (wenn f 6≡ 0).

⇒ Auf J := [x0 − α, x0 + α] existiert mindestens eine Losung von (AWP1).

Beweis. 1. Umformulierung von (AWP1) in ein Fixpunktproblem:Es gilt:

y′(x) = f(x, y(x)) ∀x ∈ J, y(x0) = y0, y diff’bar

⇔ y(x) = y0 +∫ x

x0

f(t, y(t))dt︸ ︷︷ ︸=:(Ay)(x)︸ ︷︷ ︸

Integralgleichung

∀x ∈ J, y stetig

(y lost (AWP1)⇔ y ist Fixpunkt von A)

Beweis ⇔ Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (HDI).

Fur A wahlen wir den Definitionsbereich

K := {y ∈ C(J) | |y(x)− y0| ≤ b︸ ︷︷ ︸⇔y(x)∈Kb(y0)

∀x ∈ J}

= {y ∈ C(J) | ‖y − y0‖C(J) ≤ b}

Ziel: Wende den Schauder’schen Fixpunktsatz an. Dafur ist zu zeigen:

• A(K) ⊂ K (Selbstabbildung), d.h. A : K → K

• K 6= ∅

• K beschrankt

• K abgeschlossen

• K konvex

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2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

• A kompakt

2. A(K) ⊂ K: Sei y ∈ K, d.h. |y(x)− y0| ≤ b ∀x ∈ J .z.z. Ay ∈ K, d.h. |(Ay)(x)− y0| ≤ b ∀x ∈ JEs gilt:

|(Ay)(x)− y0| =∣∣∣∣∫ x

x0

f(t, y(t))dt∣∣∣∣ ≤

∣∣∣∣∣∣∣∫ x

x0

|f(t, y(t))|︸ ︷︷ ︸≤M

dt

∣∣∣∣∣∣∣≤M ·

∣∣∣∣∫ x

x0

1 dt∣∣∣∣ ≤M · |x− x0| ≤M · α︸︷︷︸

≤ bM

≤ b

((t, y(t)) ∈ R wg. Integrationsbereich und da y ∈ K)

3. K 6= ∅ trivial, da z.B. y ≡ y0 ∈ K

4. K beschrankt: Fur alle y ∈ K gilt:

‖y‖C(J) = maxx∈J|y(x)| = max

x∈J|y(x)− y0 + y0| ≤ max

x∈J|y(x)− y0|+ |y0| ≤ b+ |y0|

5. K abgeschlossen: Sei y Haufungspunkt (HP) von K. Dann gilt:∀ε > 0 ∃yε ∈ K, yε 6= y, so dass

‖y − yε‖C(J) < ε (*)

Angenommen, es existiert ξ ∈ J , so dass

|y(ξ)− y0|︸ ︷︷ ︸=:d

> b (⇔ y 6= K)

Fur alle y ∈ K ist:

‖y − y‖C(J) ≥ |y(ξ)− y(ξ)| ≥ d− b > 0

Wahle z.B. ε = d−b2 ⇒ Widerspruch zu (*).

Also: y ∈ K ⇒ K abgeschlossen.

6. K konvex: Seien y, z ∈ K und λ ∈ [0, 1]. Dann ist fur x ∈ J :

|λy(x) + (1− λ)z(x)− y0|= |λy(x) + (1− λ)z(x)− (λy0 + (1− λ)y0)|≤ λ|y(x)− y0|+ (1− λ)|z(x)− y0|≤ λb+ (1− λ)b = b

⇒ λy + (1− λ)z ∈ K

7. K kompakt: z.z.: Fur alle beschr. Folgen (xn) ⊂ K hat (Axn) eine konvergenteTeilfolge in C(J).⇒ z.z.: AK relativ kompakt (jede Folge hat eine konvergente Teilfolge), da Kbeschrankt.Wir verwenden den Satz von Arzela-Ascoli:

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2.1 Existenz und Eindeutigkeit

7.1) AK ist beschrankt, da AK ⊂ K und K beschrankt ist (s. 4)

7.2) AK ist gleichgradig stetig:Sei y ∈ K bel. (⇒ Ay ∈ AK bel.) und x1, x2 ∈ J .Dann gilt:

|(Ay)(x1)− (Ay)(x2)|

=∣∣∣∣∫ x1

x0

f(t, y(t)) dt−∫ x2

x0

f(t, y(t)) dt∣∣∣∣

=∣∣∣∣∫ x1

x2

f(t, y(t)) dt∣∣∣∣

≤∣∣∣∣∫ x1

x2

|f(t, y(t))| dt∣∣∣∣

≤∣∣∣∣∫ x1

x2

M dt

∣∣∣∣=M |x1 − x2|

Somit: Zu ε > 0 wahle δ(ε) = εM . Dann gilt:

|x1 − x2| < δ ⇒ |(Ay)(x1)− (Ay)(x2)| ≤M |x1 − x2| ≤Mδ = ε ∀y ∈ K

(d.h. ∀Ay ∈ AK).Arzela-=⇒Ascoli

AK relativ kompakt ⇒ A kompakt.

Schauder=⇒ A besitzt einen Fixpunkt ⇔ (AWP1) hat eine Losung.

Korollar 2.1.2 f : [c, d]× R→ R sei stetig und beschrankt. Dann gilt:Auf ganz [c, d] existiert eine Losung von (AWP1) mit beliebig gewahlten x0 ∈ [c, d] undy0 ∈ R.

Beweis. Variation des vorherigen Beweises (s.U1).

Satz 2.1.3 (Fixpunktsatz von Weissinger) (X, ‖ · ‖) Banachraum, M ⊂ X nicht-leer undabgeschlossen,

∑n αn konvergente Reihe positiver Zahlen, A : M →M Abbildung mit

‖Anx−Any‖ ≤ αn‖x− y‖ ∀x, y ∈M ∀n ∈ N

⇒ A hat genau einen Fixpunkt ξ.Dieser ist Limes der Iterationsfolge (Anx0)n mit bel. Startwert x0 ∈ M . Es gilt dieFehlerabschatzung

‖ ξ −Anx0‖ ≤

( ∞∑k=n

αk

)‖Ax0 − x0‖

(vgl. Banach’scher Fixpunktsatz)

Beweis. Setze xn := Anx0.

1. (xn) ist eine Cauchy-Folge:

‖xn+1 − xn‖ = ‖An+1x0 −Anx0‖ = ‖Anx1 −Anx0‖Vor.≤ αn‖x1 − x0‖ (*)

15

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

k∈N=⇒ ‖xn+k − xn‖ ≤ ‖xn+k − xn+k−1‖+ ‖xn+k−1 − xn+k−2‖+ . . .+ ‖xn+1 + xn‖

=n+k−1∑j=n

‖xj+1 − xj‖(∗)≤

n+k−1∑j=n

αj‖x1 − x0‖ (**)

n+k−1∑j=n

αjαj>0

≤∞∑j=n

αj →(n→∞)

0 Restglied der konvergenten Reihe∑

j aj

⇒ ∀ε > 0 ∃n0 ∀n,m ≥ n0 : ‖xm − xn‖ ≤ ε⇒ (xn) Cauchy-Folge

2. (xn) konvergiert:X Banachraum, M ⊂ X abgeschlossen⇒M vollstandig⇒ (xn) konvergiert gegenein Element von M .Sei ξ := limxn (Beachte, dass die Folge in M bleibt, da A eine Selbstabbildungist: A : M →M).

3. ξ ist ein Fixpunkt von A:

‖xn+1 −Aξ‖ = ‖Axn −Aξ‖Vor.≤ α1‖xn − ξ‖ →

(n→∞)0 (da xn → ξ)

⇒ xn+1 → Aξ

Da die Grenzwerte eindeutig sind, muss ξ = Aξ gelten.

4. Fehlerabschatzung:limk→∞

in (**):

‖ξ − xn︸︷︷︸Anx0

‖ ≤

∞∑j=n

αj

‖ x1︸︷︷︸Ax0

−x0‖

5. Eindeutigkeit des Fixpunktes:Sei η ∈M mit Aη = η. Dann gilt:

‖ξ− η‖ = ‖Aξ−Aη‖ = ‖A2ξ−A2η‖ = . . . = ‖Anξ−Anη‖Vor.≤ αn‖ξ− η‖ ∀n ∈ N

αn → 0 (n→∞)

⇒ ‖ξ − η‖ ≤ 0⇒ ‖ξ − η‖ = 0⇒ ξ = η

Satz 2.1.4 (Picard-Lindelof) Sei R := [x0−a, x0 +a]× [y0−b, y0 +b]; x0, y0 ∈ R, a, b > 0gegeben und f stetig in (x, y) und Lipschitzsch in y, d.h.

∃L > 0 : |f(x, y1)− f(x, y2)| ≤ L|y1 − y2| ∀(x, y1), (x, y2) ∈ R

Dann hat (AWP1) genau eine Losung y auf J := [x0−α, x0+α], wobei α := min(a, b‖f‖C(R)

).Diese Losung y ist gleichmaßiger Limes (also ‖ · ‖∞-Limes) der Iterationsfolge (ϕn) mit

ϕn(x) := y0 +∫ x

x0

f(t, ϕn−1(t))dt, n ∈ N, x ∈ J

16

2.1 Existenz und Eindeutigkeit

ϕ0 ∈ {u ∈ C(J) | |u(x)− y0| ≤ b ∀x ∈ J} =: M

Es gelten die Fehlerabschatzungen:

|y(x)− ϕn(x)| ≤

( ∞∑k=n

(αL)k

k!

)‖ϕ1 − ϕ0‖C(J),

|y(x)− ϕn(x)| ≤ (αL)n

n!eαL‖ϕ1 − ϕ0‖C(J)

∀x ∈ J ∀n ∈ N0.

Beweis. → Weissinger’scher FixpunktsatzSiehe Beweis des Satzes von Peano:

y′ = f(x, y), y(x0) = y0(auf J)

⇐⇒ y(x) = y0 +∫ x

x0

f(t, y(t))dt︸ ︷︷ ︸=:(Ay)(x)

∀x ∈ J

d.h. zu zeigen ist:

• A hat genau einen Fixpunkt y

• Dieser ist Limes der Iterationsfolge

ϕn := Aϕn−1, ϕ0 ∈M bel.

• Fehlerabschatzungen

Weissinger: X = C(J) BanachraumM ⊂ C(J) nicht-leer, abgeschlossen (abgeschlossene Kugel in C(J)mit Radius b um die konstante Funktion y0)A : M →M Selbstabbildung (klar; siehe Beweis des Satzes von Peano)

Abschatzung fur ‖Anu−Anv‖ benotigt (u, v ∈M).zunachst: |(Anu)(x)− (Anv)(x)| ≤ ?

|(Au)(x)− (Av)(x)| Def=von A

∣∣∣∣∫ x

x0

f(t, u(t))− f(t, v(t))dt∣∣∣∣

∣∣∣∣∣∣∣∫ x

x0

| . . . |︸︷︷︸≤L|u(t)−v(t)|

dt

∣∣∣∣∣∣∣ ≤ L∣∣∣∣∣∣∣∫ x

x0

|u(t)− v(t)|︸ ︷︷ ︸≤‖u−v‖C(J)

dt

∣∣∣∣∣∣∣ ≤ L‖u− v‖C(J) · |x− x0|

⇒|(A2u)(x)− (A2v)(x)| =∣∣∣∣∫ x

x0

f(t, (Au)(t))− f(t, (Av)(t))dt∣∣∣∣

≤ L∣∣∣∣∫ x

x0

|(Au)(t)− (Av)(t)|dt∣∣∣∣ ≤ L ∣∣∣∣∫ x

x0

L‖u− v‖C(J)|t− x0|dt∣∣∣∣

= L2‖u− v‖C(J)

∣∣∣∣∫ x

x0

|t− x0|dt∣∣∣∣ = L2‖u− v‖C(J)

|x− x0|2

2

Behauptung: |(Anu)(t)− (Anv)(t)| ≤ Ln‖u− v‖C(J)|x− x0|n

n!∀n ∈ N0

17

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Induktion: n = 0 trivial, n = 1 und n = 2 s.o.n→ n+ 1:

|(An+1u)(x)− (An+1v)(x)|

=∣∣∣∣∫ x

x0

f(t, (Anu)(t))− f(t, (Anv)(t))dt∣∣∣∣

≤L∣∣∣∣∫ x

x0

|(Anu)(t)− (Anv)(t)|dt∣∣∣∣

I.V.≤ L

∣∣∣∣∫ x

x0

Ln‖u− v‖C(J)|t− x0|n

n!dt

∣∣∣∣=Ln+1‖u− v‖C(J)

∣∣∣∣∫ x

x0

|t− x0|n

n!dt

∣∣∣∣︸ ︷︷ ︸=|x− x0|n+1

(n+ 1)n!

=⇒ ‖Anu−Anv‖C(J) ≤ Ln‖u− v‖C(J)αn

n!

=⇒ αn =Lnαn

n!,

∞∑n=0

(αL)n

n!= eαL < +∞ konvergent

Weissinger=⇒ A hat genau einen Fixpunkt y,

y = limϕn, ϕn = Aϕn−1, ϕ0 ∈M bel.

wobei ‖y − ϕn‖C(J) ≤

( ∞∑k=n

Lkαk

k!

)‖Aϕ0︸︷︷︸

ϕ1

−ϕ0‖C(J)

∞∑k=n

Lkαk

k!=∞∑k=0

(Lα)k+n

(k + n)!= (Lα)n

∞∑k=0

(Lα)k

(k + n)!≤ (Lα)n

n!

∞∑k=0

(Lα)k

k!=

(Lα)n

n!eLα

mit (k + n)! = (k + n)︸ ︷︷ ︸≥n

. . . (k + 1)︸ ︷︷ ︸≥1

k! ≥ n!k!

Bemerkung 2.1.5 Da die Lipschitzbed. oft schwer nachzuweisen ist, sei nochmal anfolgendes erinnert:Ist f : [a, b]× [c, d]→ R stetig diff’bar bzgl. y, dann ist f Lipschitzsch bzgl. y.

Beweis. Seien y, η ∈ [c, d] bel. und x ∈ [a, b] bel. aber fest.

⇒ |f(x, y)− f(x, η)| MWS=∃z∈]c,d[

∣∣∣∣∂f∂y (x, z)∣∣∣∣ · |y − η| ≤ ∥∥∥∥∂f∂y

∥∥∥∥C([a,b]×[c,d])

· |y − η|

∂f∂y stetig auf dem Kompaktum [a, b]× [c, d]

Also z.B. L :=∥∥∥∂f∂y∥∥∥∞

Beispiel 2.1.6 a) y = y′, y(0) = 1, d.h. f(x, y) = y stetig in (x, y) und Lipschitzschin y.z.B. ϕ0 ≡ 1. (a und b bel. groß)

ϕ1(x) = (Aϕ0)(x) = 1 +∫ x

0f(t, ϕ0(t))dt = 1 +

∫ x

0ϕ0(t)dt = 1 +

∫ x

01 dt = 1 + x

18

2.1 Existenz und Eindeutigkeit

allgemein ϕn(x) = 1 +∫ x

0f(t, ϕn−1(t)) = 1 +

∫ x

0ϕn−1(t)dt

ϕ2(x) = 1 +∫ x

01 + t dt = 1 + x+

x2

2,

ϕ3(x) = 1 +∫ x

01 + t+

t2

2dt = 1 + x+

x2

2+x3

6

Vermutung: ϕn(x) =n∑k=0

xk

k!

Beweis. (durch vollstandige Induktion): n = 0, 1, 2 s.o.n→ n+ 1

ϕn+1(x) = 1 +∫ x

0ϕn(t)dt I.V.= 1 +

∫ x

0

n∑k=0

tk

k!dt = 1 +

n∑k=0

1k!

∫ x

0tkdt

=1 +n∑k=0

1k!xk+1

k + 1= 1 +

n+1∑k=1

xk

k!=

n+1∑k=0

xk

k!

ϕn(x) −→(n→∞)

∞∑k=0

xk

k!= ex gleichmaßig auf jedem Intervall [−α, α].

(allgemein: glm. auf jedem Intervall [A,B] ⊂ R, siehe Analysis)

Vergleiche mit anderem Anfangswert:ϕ0 = sin(x)

ϕ1(x) = 1 +∫ x

0sin t dt = 1 + (− cos t)

∣∣∣∣x0

= 1− cosx+ cos 0 = 2− cosx

ϕ2(x) = 1 +∫ x

02− cos t dt = 1 + (2t− sin t)

∣∣∣∣x0

= 1 + 2x− sinx

ϕ3(x) = 1 +∫ x

01 + 2t− sin t dt = 1 + (t+ t2 + cos t)

∣∣∣∣x0

= 1 + x+ x2 + cosx− 1

= x+ x2 + cosx

ϕ4(x) = 1 +∫ x

0t+ t2 + cos t dt = 1 +

(t2

2+t3

3+ sin t

)∣∣∣∣x0

= 1 +x2

2+x3

3+ sinx

ϕ5(x) = 1 +∫ x

01 +

t2

2+t3

3+ sin t dt = 1 +

(t+

t3

6+t4

12− cos t

)∣∣∣∣x0

= 1 + x+x3

6+x4

12− cosx+ 1 = 2− cosx+ x+

x3

6+x4

12...Trotzdem gilt ϕn →

n→∞exp. Hieran sieht man, wie wichtig die geschickte Wahl der

Anfangsnaherung ist.

b) y′ =√y, y(0) = 0, erfullt nicht die Vor. → s. U1, A4

c) y′ = xy2, y(0) = 1ϕ0 ≡ 1

ϕ1(x) = y0 +∫ x

0f(t, ϕ0(t))dt = 1 +

∫ x

0tϕ2

0(t)dt = 1 +∫ x

0t dt = 1 +

x2

2

19

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

‖ϕ1 − ϕ0‖ = maxx∈J

∣∣∣∣x2

2

∣∣∣∣, z.B. J = [−1, 1]:

‖ϕ1 − ϕ0‖C[−1,1] =12

ϕ2(x) = 1 +∫ x

0t

(1 +

t2

2

)2

dt = 1 +∫ x

0t+ t3 +

t5

4dt = 1 +

x2

2+x4

4+x6

24...

Satz 2.1.7 f : [c, d]×R→ R sei stetig in (x, y) und Lipschitzsch in y. Dann hat (AWP1)mit beliebig vorgegebenem x0 ∈ [c, d] und y0 ∈ R genau eine Losung, die auf ganz [c, d]existiert.Fur diese Losung gelten die gleiche Konvergenzaussage (auf [c, d]) und die analoge Feh-lerabschatzung wie im Satz von Picard-Lindelof, wobei α = max{x0 − c, d− x0}.

2.2 Lineare gew. Dgl. 1. Ordnung

Wir betrachten die folgende Gleichung

y′ = α(x) · y + s(x) (L1)

(als AWP: y′ = α(x)y + s(x), y(x0) = y0)

s: Inhomogenitat, Storfunktion

D.h. f(x, y) = α(x)y + s(x) stetig in (x, y) ⇐⇒ α und s stetig. Lipschitzsch in y (aufjedem Intervall, wo α stetig ist).⇒ Das zugehorige AWP ist stets eindeutig losbar, wenn α und s stetig sind.

Fixpunktiteration ϕ0 = y0

ϕ1(x) = y0 +∫ x

x0

α(t)y0 + s(t)dt usw.

zunachst der homogene Fall: s ≡ 0.

ϕ1(x) = y0 +∫ x

x0

α(t)y0dt = y0 + y0

∫ x

x0

α(t)dt

ϕ2(x) = y0 +∫ x

x0

α(t)ϕ1(t)dt = y0 +∫ x

x0

α(t) y0

(1 +

∫ t

x0

α(τ)dτ)

︸ ︷︷ ︸=ϕ1(t)

dt

= y0

(1 +

∫ x

x0

α(t)dt+∫ x

x0

∫ t

x0

α(τ)dτ dt)

Dies erscheint wenig erfolgversprechend.

Satz 2.2.1 Sei α stetig auf dem Intervall I. Dann sind alle Losungen von (man sagt auch

”alle Integrale von“)y′ = α(x)y

gegeben durchy(x) = Ce

Rα(x)dx (*)

20

2.2 Lineare gew. Dgl. 1. Ordnung

(C bel. Konstante,∫α(x)dx: bel. Stammfkt. von α)

Das AWP y′ = α(x)y, y(x0) = y0 (x0 ∈ I, y0 ∈ R bel.) hat genau eine Losung. Sie istgegeben durch

y(x) = y0 exp(∫ x

x0

α(t)dt)

Beweis. 1. Konstante: Ist y Losung, so ist Cy Losung:

(Cy)′ = Cy′ = Cαy = α(Cy)

2. (*) ist eine Losung: Sei z(x) := eRα(x)dx (

∫α(x)dx existiert nach dem HDI, da α

stetig ist.)⇒ z′(x) = e

Rα(x)dx · α(x) = α(x)z(x)

⇒ z Losung1)⇒ Cz Losung

3. Alle Losungen sehen aus wie (*): Sei y Losung von y′ = α(x)y.Wir betrachten d

dxy(x)z(x) . (beachte: z 6= 0 auf ganz I.)

d

dx

y(x)z(x)

=y′z − yz′

z2=αyz − yαz

z2= 0 auf I

⇒ yz konstant ⇒ y = Cz, C ∈ R konstant.

4. AWP: ”∃!“siehe Picard-Lindelof

Formel: einsetzen y(x0) = y0 exp∫ x0

x0

α(t)dt = y0e0 = y0

Beispiel 2.2.2 a) y′ = αy, α ∈ R konst. y(x0) = y0.

y(x) = y0 exp∫ x

x0

αdt = y0eα(x−x0)

b) y′ = (sinx)︸ ︷︷ ︸=α(x)

y :

y(x) = C exp∫α(x)dx = C exp

∫sin(x)dx = Ce− cosx

oder: y(x) = C exp∫ x

x0

α(t)dt = C exp∫ x

x0

sin t dt = Ce− cosx+cosx0 = Ce− cosxecosx0

= Ce− cosx, wobei C ∈ R bel. Konstante.

Anfangsbed.: z.B. y(0) = 1

Formel: y(x) = 1 · e− cosx+cos 0 = e− cosx+1

oder die allgemeine Formel benutzen:

y(x) = Ce− cosx, y(0) = 1

⇒ Ce− cos 0 = 1

⇔ 1 = Ce−1

⇔ C = e

Somit: y(x) = e · e− cosx = e1−cosx

21

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Nun zum inhomogenen Fall

Satz 2.2.3 Sind α und s stetig auf dem Intervall I und yp eine spezielle (”partikulare“)Losung von (L1), so hat die allgemeine Losung von (L1) die Form

y︸︷︷︸allg. inh. Lsg.

= C exp∫α(x) dx︸ ︷︷ ︸

allg. homog. Lsg.

+ yp︸︷︷︸part. inh. Lsg.

Das zugehorige AWP hat genau eine Losung (vgl. lineare Gleichungssysteme).

Beweis. Sei y eine beliebige inhomogene Losung. So gilt:

(y − yp)′ = y′ − y′p = α(x)y + s(x)− (α(x)yp + s(x)) = α(x)(y − yp)homogene Gleichung

Satz⇐⇒2.2.1.

y − yp = C exp∫α(x) dx

⇐⇒ y = yp + C exp∫α(x) dx

(und umgekehrt: y = yp + C exp∫α(x) dx ist inhomogene Losung)

Die Frage ist: Wie erhalt man eine partikulare Losung?

Satz 2.2.4 (Methode der Variation der Konstanten) Seien α und s stetig im Intervall I.Setzt man

yp(x) = C(x) exp∫α(x) dx

mit dfzb. C in die inhomogene Gleichung (L1) ein, so liefert dies stets eine partikulareinhomogene Losung yp.

Beweis. Ansatz: y(x) = C(x) exp∫α(x) dx

Einsetzen in (L1) liefert:

y′(x) = C ′(x) exp(∫

α(x) dx)

+ C(x) exp(∫

α(x) dx)· α(x)

!= α(x) · C(x) exp(∫

α(x) dx)

+ s(x)

⇐⇒ C ′(x) exp∫α(x) dx = s(x)

⇐⇒ C ′(x) = s(x)︸︷︷︸stetig

exp(−∫α(x)︸︷︷︸stetig

dx)

︸ ︷︷ ︸stetig︸ ︷︷ ︸

stetig︸ ︷︷ ︸stetig

(HDI)⇐⇒ C(x) =∫s(x) exp

(−∫α(x) dx

)dx (stets existent)

22

2.3 Exakte Differentialgleichungen

Beispiel 2.2.5 y′ = y sinx+ sinx, y(0) = 0

1. Bestimme die allg. homogene Losung: (s.o.)

y′ = y sinx⇒ y(x) = CeR

sinx dx = Ce− cosx

2. Bestime eine partikulare Losung durch Variation der Konstanten:Ansatz: yp(x) = C(x)e− cosx

Einsetzen in y′p = αyp + s ergibt:

C ′(x)e− cosx + C(x)e− cosx sinx = C(x)e− cosx sinx+ sinx⇐⇒ C ′(x)e− cosx = sinx⇐⇒ C ′(x) = ecosx sinxz.B. C(x) = −ecosx

Also: yp(x) = −ecosx · e− cosx = −1

3. allgemeine inhomogene Losung:

y(x) = Ce− cosx − 1

4. Anfangswert:Es muss y(0) = 0 gelten, also

0 = Ce− cos 0 − 1 = Ce−1 − 1

⇐⇒ 1 = Ce−1

⇐⇒ C = e

also: y(x) = e · e− cosx − 1 = e1−cosx − 1 ist die Losung des AWP.

2.3 Exakte Differentialgleichungen

Beispiel 2.3.1 E : R2 → R2 2-dim. elektrisches FeldE = (E1, E2)Aus den Maxwell-Gleichungen wissen wir: Es existiert ein Potential U mit E = −grad U .Man nennt (zu festem c ∈ R) lC := {(x, y) ∈ R2 |U(x, y) = c} Aquipotentiallinie.

Angenommen lC lasst sich durch eine Gleichung y = y(x) oder x = x(y) stuckweiseexplizit darstellen.

23

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Auf diesen Stucken gilt: U(x, y(x)) = c ∀x bzw. U(x(y), y) = c ∀y.

Ableiten:∂U

∂x(x, y(x)) +

∂U

∂y(x, y(x)) · dy

dx= 0 ∀x bzw.

∂U

∂x(x(y), y) · dx

dy+∂U

∂y(x(y), y) = 0 ∀y

=⇒E=−grad U

Die Aqupotentiallinien x 7→ y(x) bzw. y 7→ x(y) erfullen

E1(x, y) + E2(x, y)dy

dx= 0 bzw.

E1(x, y)dx

dy+ E2(x, y) = 0

→ gew. Dgl. fur y(x) bzw. x(y) (implizit, 1. Ordnung)

Defnition 2.3.2 Ist F stetig dfzb. auf einem Rechteck R im R2 und ist eine bijektiveFunktion x 7→ y(x) (⇔ y 7→ x(y)) gesucht mit

∂F

∂x(x, y(x)) +

∂F

∂y(x, y(x))

dy

dx= 0,

∂F

∂x(x(y), y)

dx

dy+∂F

∂y(x(y), y) = 0,

so spricht man von einer exakten Differentialgleichung und schreibt kurz:

∂F

∂x(x, y) dx+

∂F

∂y(x, y) dy = 0 (ED)

(auch interpretierbar im Sinne von Differentialformen)

Satz 2.3.3 Sei F stetig dfzb. auf dem Rechteck R ⊂ R2. Dann gilt:

x 7→ y(x) ist eine Losung von (ED)⇐⇒ x 7→ F (x, y(x)) ist konstant

analog: y 7→ x(y) . . .⇐⇒ y 7→ F (x(y), y) . . .

Beweis. Sehen wir uns die zugehorige Gleichung genauer an. In diesem Fall (x 7→ y(x))gilt:

∂F

∂x(x, y(x)) +

∂F

∂y(x, y(x))

dy

dx︸ ︷︷ ︸= ddxF (x,y(x))

Also gilt: x 7→y(x) Lsg. von (ED)⇔ x 7→F (x,y(x)) konstant

= 0 ∀x

(y 7→ x(y) aus Symmetriegrunden analog.)

Dieser Satz liefert eine Losungsmethode: Finde dfzb. Losungen x 7→ y(x) vonF (x, y(x)) = const.

Beispiel 2.3.4 a) 2x sin y dx+ x2 cos y dy = 0, y(1) = π4

also ∂F∂x = 2x sin y, ∂F

∂y = x2 cos y. Wenn ein solches F existiert, dann ist die Dgl.exakt.

F (x, y) =∫

2x sin y dx = x2 sin y + C1(y)

24

2.3 Exakte Differentialgleichungen

F (x, y) =∫x2 cos y dy = x2 sin y + C2(x)

Hier: C1 = C2 = const.=⇒ F existiert und somit ist die Dgl. exakt., z.B.

F (x, y) = x2 sin y

Gleichung: F (x, y) = c, c ∈ R konst., also

x2 sin y = c

⇐⇒ sin y =c

x2(fur x 6= 0!)

⇐⇒y = arcsinc

x2

y(1) =π

4=⇒ π

4= arcsin

c

1=⇒ c = sin

π

4=√

22

=⇒ y(x) = arcsin√

22x2

Die Anfangsbedingung kann auch gleich eingesetzt werden:

x2 sin y = c

Mit y(1) =π

4: 12 sin

π

4=√

22

= c

Somit

x2 sin y =√

22⇐⇒ y(x) = arcsin

√2

2x2

Definitionsbereich? Folgende Rahmenbedingungen liegen vor:

• x0 = 1

• sin ist nicht auf ganz R invertierbar, sondern nur auf Stucken [2n−12 π, 2n+1

2 π] →[−1, 1], n ∈ Z.

• Division durch x in der Herleitung → Losung in Umgebung von x = 0 separatbetrachten, aber:y(1) = π

4 ∈ [−π2 ,

π2 ], also n = 0. (also y(x) ∈ [−π

2 ,π2 ])

und −1 ≤ cx2 ≤ 1, d.h.

−1 ≤√

22x2≤ 1⇐⇒ 2x2

√2≥ 1⇐⇒ x2 ≥ 1√

2

(d.h. Losung in der Umgebung von x = 0 irrelevant)Da x0 = 1 im Definitionsbereich sein muss, reicht es aus, den positiven Ast zubetrachten. Also gilt:

y(x) = arcsin

(√2

2x2

), x ≥ 2−

14

zur Erinnerung aus der Analysis (R ⊂ R2 Rechteck):

f ∈ C(1)(R,R2) hat eine Stammfunktion

⇐⇒ ∃F ∈ C(2)(R) :∂F

∂x= f1,

∂F

∂y= f2

⇐⇒ ∂f1

∂y︸︷︷︸= ∂2F∂y∂x

=∂f2

∂x︸︷︷︸= ∂2F∂x∂y

25

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

(vgl. Satz von Schwarz), wobei der Teil ”⇐“ bei der letzten Aquivalenz nicht trivial ist.

Satz 2.3.5 Sei R ⊂ R2 ein Rechteck und seien P,Q ∈ C(1)(R). Dann ist die Dgl.

P (x, y)dx+Q(x, y)dy = 0

(Notation analog zu oben) genau dann exakt, wenn die Integrabilitatsbedingung

∂P

∂y=∂Q

∂x

auf R erfullt ist.

Beispiel 2.3.6 a) Bsp. 2.3.4. P (x, y) = 2x sin y, Q(x, y) = x2 cos y

∂P

∂y= 2x cos y,

∂Q

∂x= 2x cos y

b) 2xey︸︷︷︸=P (x,y)

dx+ (x2 + 1)ey︸ ︷︷ ︸=Q(x,y)

dy = 0, y(1) = 0

∂P

∂y= 2xey,

∂Q

∂x= 2xey

D.h. es existiert eine Stammfunktion. Suche diese Stammfunktion:

P =∂F

∂x=⇒ F (x, y) =

∫2xey dx = x2ey + C1(y)

Q =∂F

∂y=⇒ F (x, y) =

∫(x2 + 1)ey dy = (x2 + 1)ey + C2(x)

also: C2 = const, C1(y) = ey + C2

z.B. F (x, y) = (x2 + 1)ey != Cwegen y(1) = 0 ist (12 + 1)e0 = C, d.h. C = 2

Also (x2 + 1)ey = 2⇐⇒ ey =2

x2 + 1⇐⇒ y(x) = ln

2x2 + 1

Test: y(1) = ln2

12 + 1= ln 1 = 0,

2xey + (x2 + 1)eydy

dx= 2x

2x2 + 1

+ (x2 + 1)2

x2 + 1· x

2 + 12· 2 · 2x

(x2 + 1)2(−1)

=1

x2 + 1(4x− 4x) = 0

Noch eine Erinnerung an die Analysis: Es stellt sich die Frage, wann F (x, y) = c nach y auflosbar ist.

Eine Antwort liefert der Satz uber implizite Funktionen.

26

2.3 Exakte Differentialgleichungen

Satz 2.3.7 (ED) sei gegeben, R = Ix× Iy (Ix, Iy Intervalle). Existiert (x0, y0) ∈ R (x0 ∈Ix, y0 ∈ Iy) mit F (x0, y0) = c, ist F ∈ C(1) und ist ∂F

∂y 6= 0 in einer Umgebung von(x0, y0), so existiert eine Umgebung von x0, in der F (x, y) = c eindeutig in eine C(1)-Funktion x 7→ y(x) aufgelost werden kann, d.h. in einer hinreichend kleinen Umgebungvon (x0, y0) ist (ED) mit y(x0) = y0 stets eindeutig losbar.

Beispiel 2.3.8 Bsp. 2.3.4. F (x, y) = x2 sin y != c

∂F

∂y= x2 cos y 6= 0 fur y 6∈

{2n+ 1

∣∣∣∣ n ∈ Z}

und x 6= 0

(vgl. obige Betrachtungen zur Auflosbarkeit)

Korollar 2.3.9 (ED) gegeben (R und (x0, y0) wie in Satz 2.3.7., aber x0 ∈ Ix, y0 ∈ Iy)mit Anfangsbedingungen x(y0) = x0, F ∈ C(1)(R).Ist ∂F

∂x 6= 0 in einer Umgebung von (x0, y0), so hat das betrachtete Anfangswertproblemin einer hinreichend kleinen Umgebung von y0 genau eine Losung y 7→ x(y). Diese erhaltman durch Auflosen von F (x, y) = F (x0, y0) nach x.(beachte die Symmetrie von x und y)

Beispiel 2.3.10 a) Bsp. 2.3.4. 2x sin y dx+ x2 cos y dy = 0, x(π4 ) = 1

x2 sin y = 12 sin(π

4

)=√

22

nach x auflosen:

⇐⇒ ±

√ √2

2 sin y= x

existiert nur, wenn sin y > 0, d.h. y ∈ ]2nπ, (2n+ 1)π[ (n ∈ Z) erforderlich.hier (y0 = π

4 ) : n = 0, y ∈ ]0, π[Wegen x0 = 1 nur positive Losung. Also:

x(y) = 2−14

1√sin y

fur y ∈ ]0, π[

⇐⇒p

sin y = 2−14

1

x(y)⇐⇒ sin y =

1√2· 1

x2⇐⇒ y(x) = arcsin

1√2x2

, wobei

y(x) ∈ ]0, π[ ⇐⇒ 1√2x2≤ 1⇐⇒ 1√

2≤ x2 ⇐⇒ 2−

14 ≤ x

b) (2xey − 1)︸ ︷︷ ︸P

dx+ (x2ey + 1)︸ ︷︷ ︸Q

dy = 0, y(1) = 0

∂P

∂y= 2xey,

∂Q

∂x= 2xey

D.h. es existiert eine Stammfunktion. Die Gleichung ist exakt. Ein Rechteck isthier z.B. R = R2.

F (x, y) =∫

2xey − 1 dx = x2ey − x+ C1(y)

=∫x2ey + 1 dy = x2ey + y + C2(x)

27

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

=⇒ C1(y) = y + C, C2(x) = −x+ C

Damit ist F (x, y) = x2ey − x+ y Beispiel fur eine Stammfunktion.

Bestimmen der Losung: y(1) = 0, also F (1, 0) = 0.Gleichung: x2ey − x+ y = 0Auflosen nach y

∂F

∂y= x2ey + 1 6= 0

aber: Auflosung von x2ey − x+ y = 0 nach y praktisch analytisch nicht machbar.

Auflosen nach x:∂F

∂x= 2xey − 1

(= 0⇔ x =

e−y

2

)Außerhalb von x = 1

2e−y auflosbar nach x, auch praktisch:

x2ey − x+ y = 0

⇐⇒ x2 − xe−y + ye−y = 0

⇐⇒ x =e−y

2±√e−2y

4− e−yy =

12e−y

(1±

√1− 4eyy

)(Beachte: bei x = 1

2e−y ist gerade der Ubergang beider Varianten, wo auch lokal keine eindeutige

Auflosbarkeit vorliegt.)

Anfangsbedingung y(1) = 0 (also hier x(0) = 1) ergibt x = 12(1±

√1)

⇒ ”+ “-Variante benotigt.

Definitionsbereich? Es muss 1− 4eyy ≥ 0 gelten.⇒ Bestimme numerisch (z.B. mit dem Newton-Verfahren) die Losung η von 1 −4eηη = 0. Wegen der Monotonie von 1−4eyy ist der Radikand positiv fur alle y ≤ η.

Also: x(y) = 12e−y (1 +

√1− 4eyy

)∀y ≤ η(≈ 0,204)

Was macht man mit impliziten Dgl. der Form

P (x, y)dx+Q(x, y)dy = 0, (I1)

die nicht exakt sind?(wieder auf Rechtecken R ⊂ R2)

Nach Satz 2.3.5. muss ∂P∂y = ∂Q

∂x auf R gelten.Idee: Gibt es eine aquivalente Form zu (I1), die exakt ist?Ansatz: Ist M ∈ C(1)(R) mit M(x, y) 6= 0 ∀(x, y) ∈ R, so ist

(I1) ⇐⇒M(x, y)P (x, y)dx+M(x, y)Q(x, y)dy = 0 (∗)

Findet man ein M , so dass die Integrabilitatsbedingung

∂(MP )∂y

=∂(MQ)∂x

28

2.3 Exakte Differentialgleichungen

auf R gilt, dann ist die aquivalente Gleichung (∗) exakt und man nennt M integrierendenFaktor oder Euler’schen Multiplikator.

M(x, y)P (x, y)dy +M(x, y)Q(x, y)dy = 0M muss also erfullen:

∂(MP )∂y

=∂(MQ)∂x

⇐⇒ ∂M

∂yP +M

∂P

∂y=∂M

∂xQ+M

∂Q

∂x

Dies ist eine partielle Dgl. fur M . Jedoch brauchen wir nicht alle Losungen, sondern nureine. Naturlich funktioniert das nicht immer. Es gibt Gleichungen der Form (I1), derenNicht-Exaktheit nicht durch einen integrierenden Faktor ”geheilt“ werden kann.

Beispiel 2.3.11

a) 4x+ 3y2 + 2xyy′ = 0, d.h. 4x+ 3y2 + 2xy dydx = 0, d.h. (4x+ 3y2)︸ ︷︷ ︸=P

dx+ 2xy︸︷︷︸=Q

dy = 0

– Prufung auf Exaktheit

∂P

∂y= 6y,

∂Q

∂x= 2y ⇒ nicht exakt (z.B. R = R2)

– Suche nach einem integrierenden Faktor

M muss erfullen:∂(MP )∂y

=∂(MQ)∂x

hier∂M

∂y(4x+ 3y2) +M6y =

∂M

∂x2xy +M2y

⇐⇒ 4My =∂M

∂x· 2xy − ∂M

∂y(4x+ 3y2)

Nach langerem Betrachten verwenden wir den Ansatz: ∂M∂y = 0, d.h. M hangtnur von x ab. Dann erhalt man:

4My =∂M

∂x2xy

y 6=0⇐⇒ 2M =∂M

∂xx

Losung: M(x, y) = x2

Falls man es nicht direkt sieht, geht dies auch wie folgt: [zur Vereinfachung M = M(x)]

M ′ =2

xM (x 6= 0) linear, homogen, Ordnung 1

⇒ M(x) = C exp

Z2

xdx = C exp(2 ln |x|)

= C exp ln |x|2 = Cx2 (z.B.C = 1)

Ergebnis: Es existiert ein integrierender Faktor, z.B. M(x) = x2

x2(4x+ 3y2)dx+ x2 · 2xy dy = 0

⇔ (4x3 + 3x2y2)dx+ 2x3y dy = 0

29

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

ist in der Tat exakt, denn

∂y(4x3 + 3x2y2) = 6x2y,

∂x(2x3y) = 6x2y

Beachte aber: M verschwindet bei x = 0, genauer:

M(x, y) = 0 ∀(x, y) = (0, y), y ∈ R

Also muss das Rechteck ohne x = 0 gewahlt werden, z.B.

R ={

(x, y) ∈ R2 | x > 0}

Es gilt z.B. auf R2:

Ausgangsgleichung =⇒ exakte Gleichung =⇒ y(x) = . . .

Findet man Losungen, die uber x = 0 hinausgehen, so musste man hierfurdie Probe machen. (Einsetzen bei x = 0)

– Lose die aquivalente exakte Dgl.

∗ Finde eine Stammfunktion F

F (x, y) =∫

4x3 + 3x2y2 dx = x4 + x3y2 + C1(y)

undF (x, y) =

∫2x3y dy = x3y2 + C2(x)

also z.B. F (x, y) = x3y2 + x4 != C

∗ Lose die Gleichung F (x, y) = C

x3y2 + x4 = C (∗)x 6=0⇐⇒ y2 =

C

x3− x

⇐⇒ y = ±√C

x3− x (∗∗)

Definitionsbereich? Bedingung: Cx3 − x ≥ 0⇐⇒ C

x3 ≥ xFall 1 Rechteck R mit x > 0 gewahlt

C

x3− x ≥ 0 x3>0⇐⇒ C ≥ x4 x>0⇐⇒ x ≤ 4

√C, sofern C > 0

(sonst keine Losung, vgl. (∗))Fall 2 x < 0

C

x3− x ≥ 0 x3<0⇐⇒ C ≤ x4

Somit: {x ≤ − 4

√C falls C > 0

x < 0 sonst

30

2.3 Exakte Differentialgleichungen

Man muss sich hier wegen der Division durch x in (∗) eine Frage stellen:Kann hierdurch eine Losung y, die uber x = 0 hinausgeht, die also sowohlin R− als auch in R+ einen Teil ihres Definitionsbereichs hat, verlorengegangen sein?

Sei y eine solche Losung. Fur diese gilt (s.o.)

x3y(x)2 + x4 = C

speziell bei x = 00 + 0 = C ⇔ C = 0

Also muss y erfullen:

x3y(x)2 + x4 = 0

⇐⇒ x3(y(x)2 + x) = 0

Außerhalb von x = 0 ist somit

y(x) = ±√−x, x ≤ 0

Dies ist keine neue Losung. C = 0 liefert namlich in (∗∗):

y(x) = ±√

0x3− x = ±

√−x

Beachte außerdem, dass diese Funktionen nicht dfzb. bei x = 0 sind.(dadurch auch keine Probe erforderlich)Wir haben damit alle Losungen der (ursprunglichen) Dgl. fur beliebigeRechtecke im R2 gefunden.

b) xy2 + y − xy′ = 0, d.h. (xy2 + y)︸ ︷︷ ︸=P

dx −x︸︷︷︸=Q

dy = 0

∂P

∂y= 2xy + 1,

∂Q

∂x= −1⇒ nicht exakt

integrierender Faktor:

∂M

∂y(xy2 + y) +M(2xy + 1) =

∂M

∂x(−x) +M(−1)

⇐⇒ ∂M

∂y(xy2 + y) + 2M(xy + 1) = −∂M

∂xx

Wir versuchen es wieder mit ∂M∂y = 0:

2M(xy + 1) = −∂M∂x

x

Wir sehen hier, dass M doch von y abhangen musste.

Also 2. Versuch:

∂M

∂x= 0 :

∂M

∂y(xy2 + y) + 2M(xy + 1) = 0 (∗)

31

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

kurz (M = M(y)): M ′(xy2 + y) + 2M(xy + 1) = 0

⇐⇒ (M ′xy2 + 2Mxy) + (M ′y + 2M) = 0

⇐⇒ xy(M ′y + 2M) + (M ′y + 2M) = 0

⇐= M ′y + 2M = 0 (ein M reicht, also ”⇐“ O.K.)

⇐⇒ M ′ =y 6=0−2yM

M(y) = C exp∫−2ydy = C exp (−2 ln |x|) = C

1y2

(z.B. C = 1)

Also y = 0 ausschließen, entweder im Bereich y < 0 oder bei y > 0.Dort aquivalente exakte Dgl.(

x+1y

)dx− x

y2dy = 0 (beachte: y = 0 ausgeschlossen)

Stammfunktion:

F (x, y) =∫x+

1ydx =

x2

2+x

y+ C1(y)

F (x, y) =∫− x

y2dy =

x

y+ C2(x)

also istx2

2+x

y

!= C

implizite Losung der Gleichung. (trotzdem nach y auflosen, s. Ausgangsgleichung)explizite Losung:

x

y= C − x2

2

⇐⇒ y =x

C − 12x

2=

2x2C − x2

=2x

C − x2, C ∈ R konstant

Definitionsbereich? Es muss gelten:

– C 6= x2

– x 6= 0 (siehe Zwischenschritt: Kehrwertbildung bei xy )

– y 6= 0⇔ x 6= 0

Die Intervalle, die den Definitionsbereich von y bilden, durfen also nicht x = 0und, wenn C > 0, nicht ±

√C enthalten.

Wie schon bei der Herleitung des integrierenden Faktors erkannt, hat man hiereine Einschrankung auf nur positive oder nur negative x-Werte (bzw. y-Werte).

Aber beim Einsetzen der expliziten Losung in die Ausgangsgleichung sieht man,dass

x · 4x2

(C − x2)2+

2xC − x2

− x · 2(C − x2) + 2x(−2x)(C − x2)2

= 0,

32

2.4 separierbare Differentialgleichungen

insbesondere bei x = 0.

Somit ist y(x) bei x = 0 nicht nur definiert (wenn C 6= 0), sondern die Funktionerfullt auch dort die ursprungliche Dgl. und somit auf ganz R\{x | x2 = C}; imGegensatz zur exakten Dgl.

Außerdem ist y ≡ 0 eine weitere Losung der Ausgangsgleichung, nicht jedoch derexakten Dgl.

Die Verwendung eines integrierenden Faktors kann dazu fuhren, dass Losungen verlorengehen!

Dies kann entstehen, wenn fur den integrierenden Faktor der Definitionsbereich derLosung weiter eingeschrankt werden muss.

2.4 separierbare Differentialgleichungen

Eine separierbare Dgl. (Dgl. mit getrennten Variablen) hat die Form

y′ = f(x)g(y)

Methode der Separation der Variablen:

dy

dx= f(x)g(y)

1g(y)

dy = f(x)dx

(dafur muss g 6= 0 uberall gelten)∫1

g(y)dy =

∫f(x)dx

(dafur mussen g und f stetig sein)Das geht mathematisch sauber!

Satz 2.4.1 Seien Ix, Iy ⊂ R Intervalle und f : Ix → R, g : Iy → R stetige Funktionen,wobei g(y) 6= 0 ∀y ∈ Iy. Ist x0 ∈ Ix und y0 ∈ Iy, so gibt es eine Umgebung von x0, inder das AWP

y′ = f(x)g(y), y(x0) = y0

eindeutig losbar ist. Diese Losung erhalt man durch Auflosen der Gleichung∫ y

y0

1g(t)

dt =∫ x

x0

f(t) dt

nach y.Alternativ kann auch die Gleichung∫

1g(y)

dy =∫f(x) dx+ C

nach y aufgelost werden, wobei dann C aus der Anfangsbedingung y(x0) = y0 zu be-stimmen ist.

33

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Beweis.

dy

dx= f(x)g(y)

⇐⇒ 1g(y)

dy

dx− f(x) = 0

⇐⇒ 1g(y)

dy − f(x) dx = 0

ist eine exakte Dgl.:∂

∂x

(1

g(y)

)= 0,

∂y(−f(x)) = 0

−f und 1g haben Stammfunktionen, da f und g stetig sind und g(y) 6= 0 ∀y ∈ Iy.

F (x, y) := −∫f(x) dx+

∫1

g(y)dy

ist somit eine Stammfunktion der Dgl.:

∂F

∂x= −f, ∂F

∂y=

1g

siehe Satz 2.3.7.: x0 ∈ Ix, y0 ∈ Iy, F (x0, y0) = C, F ∈ C(1),∂F

∂y=

1g6= 0

⇒ ∃ Umgebung von x0, wo F (x, y) = C eindeutig in eine C(1)-Fkt. y auflosbar ist.Diese ist dort die Losung des AWP.

F (x, y) = C ⇐⇒ −∫f(x) dx+

∫1

g(y)dy = C

bzw.

F (x, y) = F (x0, y0)︸ ︷︷ ︸=C

−∫ x

x0

f(t) dt+∫ y

y0

1g(t)

dt!= C

⇐⇒ −∫ x

x0

f(t) dt+∫ y

y0

1g(t)

dt = 0

Beachte!

• Eine Probe ist daher nicht mehr notig.

• Der Definitionsbereich der Losung muss am Schluss noch geklart werden.

• Eine Auflosung y(x) (bzw. x(y)) existiert zwar theoretisch, jedoch kann es Fallegeben, wo dies praktisch nicht durchfuhrbar ist. Dann kann man die Losung nurimplizit angeben: ∫

1g(y)

dy =∫f(x) dx+ C

34

2.4 separierbare Differentialgleichungen

Beispiel 2.4.2 a) y′ = −ey, y(1) = 0, d.h. f ≡ 1, g(y) = −ey, z.B. Ix = R, Iy = Rmoglich.

dy

dx= −ey ⇐⇒ −

∫e−y dy =

∫1 dx+ C ⇐⇒ e−y = x+ C

⇐⇒ −y = ln(x+ C)⇐⇒ y = ln1

x+ C

y(1) = 0 bedeutet

0 = ln1

1 + C⇐⇒ 1

1 + C= 1⇐⇒ 1 + C = 1⇐⇒ C = 0

Also y(x) = ln 1x .

Alternative:

−∫ y

0e−t dt =

∫ x

11 dt⇐⇒ e−t

∣∣∣∣y0

= t

∣∣∣∣x1

⇐⇒ e−y − 1 = x− 1⇐⇒ e−y = x⇐⇒ −y = lnx⇐⇒ y = ln1x

Definitionsbereich: x ∈ R+

b) y′ =1

(cos2 2x)(cos2 y), y(π

8

)= 0, d.h. f(x) =

1cos2 2x

, g(y) =1

cos2 yf und g haben Singularitaten. Beachte cosx = 0⇔ x ∈

{2n+1

2 π | n ∈ Z}

.Wegen der Anfangsbedingung wahlen wir

Iy =(−π

2,π

2

), Ix =

(−π

4,π

4

)∫ y

0cos2 t dt =

∫ x

π8

1cos2 2t

dt (∗)

Es giltd

dt(sin t cos t+ t) = cos2 t− sin2 t+ 1 = 2 cos2 t

undd

dttan t =

1cos2 t

Somit gilt:

(∗)⇐⇒ 12

(sin t cos t+ t)∣∣∣∣y0

=12

tan 2t∣∣∣∣xπ8

⇐⇒ sin y cos y + y = tan 2x− tanπ

4= tan 2x− 1

⇐⇒ 12

sin 2y + y = tan 2x− 1

Zwar theoretisch aber nicht praktisch nach y auflosbar; daher Auflosung nach x.

tan 2x =12

sin 2y + y + 1

⇐⇒ x(y) =12

arctan(

12

sin 2y + y + 1)

35

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Definitionsbereich? Fur die Auflosung muss der tan invertierbar sein. Dies gilt z.B.fur tan: (−π

2 ,π2 )→ R, d.h. x ∈ (−π

4 ,π4 ) = Ix. Also ist keine weitere Einschrankung,

insbesondere auch nicht fur y, notwendig.

Da die Gleichung die Funktion x 7→ y(x) als Unbekannte hat, ist eine Auflosungnach y naturlich vorzuziehen. Wenn dies nicht geht, ist die Auflosung nach x (d.h.die Umkehrfunktion der gesuchten Funktion) sozusagen die zweite Wahl.Die dritte Wahl ware die Angabe der Losung in impliziter Form.

c) y′ =xe2x

y cos y, y(0) =

π

4. Also

f(x) = xe2x, g(y) =1

y cos y, Ix = R, Iy =

(0,π

2

)(wg. y und cos y im Nenner und y0 = π

4 )

∫ y

π4

y cos y dy =∫ x

0xe2x dx

⇐⇒ y sin y|yπ4−∫ y

π4

sin y dy = xe2x

2

∣∣∣∣x0

−∫ x

0

e2x

2dx

⇐⇒ y sin y − π

4sin

π

4+ cos y − cos

π

4=x

2e2x − 1

4e2x +

14

⇐⇒ y sin y + cos y = e2x

(x

2− 1

4

)+

14

+√

22

(π4

+ 1)

(∗)

weder nach y noch nach x praktisch auflosbar.

(∗) ist ein implizites Integral des AWPs.

2.5 Explizit vs. implizit und Geometrisches

Wir vergleichen

y′ = f(x, y), y(x0) = y0 (Exp1)

(f : D → R, D ⊂ R2)

mit

g(x, y, y′) = 0, y(x0) = y0 (Imp1)

(g : E → R, E ⊂ R3)

Naturlich ist (Exp1) ein Spezialfall von (Imp1):

y′ − f(x, y)︸ ︷︷ ︸=g(x,y,y′)

= 0

Was bedeutet eine solche Dgl. geometrisch?Seien (ξ, η) fest. Dann muss, wenn y(ξ) = η, bei (Exp1) gelten:

y′(ξ) = f(ξ, y(ξ)) = f(ξ, η)

Die Dgl. legt die Steigung des Graphen von y in allen Punkten fest. Die Dgl. alleineliefert also fur alle (x, y) ∈ D einen Richtungsvektor. Wir haben somit eine Abb. D →S1 := {(x, y) ∈ R2 | |(x, y)| = 1}.

36

2.5 Explizit vs. implizit und Geometrisches

Defnition 2.5.1 Zu (Exp1) nennt man jedes Tripel (x, y, f(x, y)), (x, y) ∈ D, Linienele-ment und {(x, y, f(x, y)) | (x, y) ∈ D} Richtungsfeld.

Beispiel 2.5.2 y′ = x2yIm Punkt (x, y) hat der Graph also die Steigung x2y, d.h. es gilt tanα = x2y fur denSteigungswinkel α, siehe auch Abbildung 2.1Losung: y(x) = Ce

Rx2 dx = Ce

13x3

z.B. y(0) = 1 : C = 1, y(x) = e13x3

Dadurch hat man einen geometrischen Weg, die Losung naherungsweise zu bestimmen.Man zeichnet das Richtungsfeld hinreichend dicht und verfolgt dann von (x0, y0) nachlinks und rechts den Graphen der Losung.

Bei (Imp1) gilt nun:g(x, y(x), y′(x)) = 0

Dadurch kann es in (x, y) mehrere Richtungen geben, d.h. es gibt Linienelemente (x, y, z)und (x, y, z) mit z 6= z.

Abbildung 2.1: Graphische Erlauterung von Beispiel 2.5.2.

Defnition 2.5.3 Zu (Imp1) nennt man alle (x, y, z) ∈ E mit g(x, y, z) = 0 Linienelementeund {(x, y, z) ∈ E | g(x, y, z) = 0} Richtungsfeld der Differentialgleichung. Ist (ξ, η, ζ)Linienelement und existiert eine Umgebung U dieses Punktes im R3, wo eine eindeutigeLosung z = ϕ(x, y), ϕ ∈ C(0), von g(x, y, z) = 0 existiert, so nennt man (ξ, η, ζ) regularesLinienelement, ansonsten singulares Linienelement.

37

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Beispiel 2.5.4 (y′)2 = x2y2, d.h. y′ = ±xy.

Abbildung 2.2: Graphische Erlauterung von Beispiel 2.5.4.

In Abbildung 2.2 steht blau fur ”+“ und grun fur ”-“.

y′ = +xy hat die allg. Losung y(x) = CeRx dx = Ce

12x2

y′ = −xy hat die allg. Losung y(x) = CeRx dx = Ce−

12x2

Beachte, dass

y(x) =

{Ce

12x2

, x ≤ 0Ce−

12x2

, x > 0

y(x) =

{Ce−

12x2

, x ≤ 0Ce

12x2

, x > 0

auch Losungen der impliziten Gleichung sind.

Satz 2.5.5 Sei (Imp1) gegeben. Seien g und ∂g∂z in einer Umgebung von (ξ, η, ζ) ∈ E

stetig und

g(ξ, η, ζ) = 0,∂g

∂z(ξ, η, ζ) 6= 0

Dann ist (ξ, η, ζ) ein regulares Linienelement.

Beweis. siehe Satz uber implizite Funktionen.

38

2.5 Explizit vs. implizit und Geometrisches

Beispiel 2.5.6 Die Voraussetzung des Satzes 2.5.5. sind nur hinreichend. Betrachte g(x, y, z) =(z − f(x, y))2, f ∈ C(0).Jedes Linienelement ist regular, denn g(x, y, z) = 0⇔ z = f(x, y).Aber die Voraussetzungen des Satzes 2.5.5. gelten nicht, weil

∂g

∂z(x, y, z)

∣∣∣∣(ξ,η,ζ)

=[2(z − f(x, y)) · 1

]∣∣∣∣∣(ξ,η,ζ)

= 0

fur Linienelemente (ξ, η, ζ).

Es gibt verschiedene Ansatze, die jeweils fur einen Teil der impliziten Dgl. geeignet sind:

Verfahren 2.5.7 (Parameterdarstellung mit y′ als Parameter) gegeben: g(x, y, y′) = 0Ansatz: Finde eine C(1)-Parameterdarstellung der Trajektorien t 7→ (x(t), y(t)) mit

y(t) = tx(t)

=⇒ y′ =dy

dx=dy

dt· dtdx

=dy

dt·(dx

dt

)−1

= t

(nach Kettenregel und Umkehrsatz) wenn x(t) 6= 0.Angenommen, es gibt eine explizite Losung von g(x, y, y′) = 0 der Form y = ϕ(x) (diesemuss fur die Durchfuhrung des Verfahrens nicht bekannt sein). Dann gilt:

t = y′ = ϕ′(x)

Ist dies nach x auflosbar (hinreichend hierfur ist, dass ϕ′′ 6= 0), so hat man eine Funktiont 7→ x(t) und damit auch y in Abhangigkeit von t:

y(t) = ϕ(x(t))

Die ergibt die gesuchte Parameterdarstellung t 7→ (x(t), y(t)), denn y = ϕ′ · x = tx.Wir haben dann

y(t) = tx(t)g(x(t), y(t), t) = 0

}bestimme hieraus

(x(t), y(t))

Beispiel 2.5.8 a) x = (y′)2 ⇔ x− (y′)2 = 0also:

y = tx (1)

x− t2 = 0⇔ x(t) = t2 (2)

(2) in (1): y = t · 2t = 2t2 ⇒ y(t) = 23 t

3 + C

Somit: y(x) =23x

32 + C, x > 0

b) allgemein: x = g(y′)⇔ x− g(y′) = 0

y = tx (1)x− g(t) = 0⇔ x(t) = g(t) (2)

Sei g ∈ C(1). Dann ergibt das Einsetzen von (2) in (1):

y = tg =⇒ y(t) =∫tg(t) dt+ C

39

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

c) y = xy′ + ey′

y = tx (1)y = xt+ et ⇒ y = tx+ x+ et (2)

(1)⇒ x(t) = −et

Einsetzen der Losung in (2) ergibt:

y(t) = −ett+ et = et(1− t)

=⇒x=−et

⇔t=ln(−x)

y(x) = −x(1− ln(−x)) = x(ln(−x)− 1), x < 0

Dies sind aber nicht alle Losungen, denn

y(x) = cx+ ec, c ∈ R

sind ebenfalls Losungen:

y′(x) = c ∀x ∈ R, y(x) = x · c+ ec

Warum wurden diese Losungen ubersehen?

In der Herleitung des Ansatzes wurde von einer Losung y = ϕ(x) ausgegangen, beider t(= y′) = ϕ′(x) nach x auflosbar ist. Bei den ubersehenen Losungen ist jedochϕ′ = const.

Insbesondere affin-lineare Losungen, d.h. Losungen y(x) = ax + b, werden beidieser Technik ubersehen.

Sehen wir uns die hergeleitete Losung y(x) = x(ln(−x)− 1) und die Geradenscharyc(x) = cx+ ec genauer an.

In der Parametrisierung ist fur t = c:

y = ec(1− c), x = −ec

undyc(−ec) = −cec + ec

D.h. der Punkt (x(c), y(c)) liegt auf der Geraden, die durch yc gegeben ist. Es liegtsogar die gleiche Steigung vor:

Steigung von t 7→ (x(t), y(t)) :y(t)x(t)

= t

Also in (x(c), y(c)): Steigung c.Gerade: Steigung c.

D.h. yc ist Tangente an (x(t), y(t)) in t = c ∀c ∈ R.

Man nennt diese Kurve t 7→ (x(t), y(t)) daher Enveloppe der Geradenschar, sieheauch Abbildung 2.3.

Allgemein hat die Clairaut-Dgl. y = xy′+g(y′), g ∈ C(2), g′′ 6= 0 nur die Losungen

”Geradenschar“ und ”Enveloppe“.

40

2.5 Explizit vs. implizit und Geometrisches

Abbildung 2.3: Ausgewahlte Losungen des Beispiels 2.5.8.

Verfahren 2.5.9 (Integration durch Differentiation) gegeben: g(x, y, y′) = 0Angenommen, es gibt wieder eine parametrisierte Losung t 7→ (x(t), y(t)) mit y(t) =tx(t), d.h.

g(x(t), y(t), t) = 0 ∀t (y′ = t, s.o.)

∂g

∂xx+

∂g

∂yy +

∂g

∂t= 0 (1)

(kurz: gx := ∂g∂x , ...)

Ferner

y − tx = 0⇔ y = tx (2)

→ ”LGS“ fur x und y

(2) in (1): (gx + gyt)x+ gt = 0⇒ Wenn gx + gyt 6= 0, dann ist x = − gt

gx + gyt(2)⇒ y = − tgt

gx + gyt

Beachte: g hangt von x, y und t ab.⇒ System von zwei Dgl.

41

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

2.6 Die Bernoulli’sche Differentialgleichung

y′ + g(x)y + h(x)yα = 0 , α ∈ R\{1} (BD)

ist eine explizite, nicht-lineare Dgl. 1. Ordnung. Wir nehmen an, dass g und h stetig aufeinem Intervall I sind.Die Bernoulli’sche Dgl. lasst sich wie folgt in eine lineare Dgl. umwandeln.

Multiplikation von (BD) mit (1− α)y−α ergibt:

(1− α)y−αy′ + (1− α)g(x)y1−α + (1− α)h(x) = 0

Die Substitution z := y1−α unter Berucksichtigung von z′ = (1− α)y−αy′ liefert:

z′ + (1− α)g(x)z + (1− α)h(x) = 0 (BD∗)

Somit gilt: Lost z die lineare Dgl. (BD∗), so ist y(x) := (z(x))1

1−α eine Losung von (BD),sofern z > 0.→ Satz 2.2.3. und Satz 2.2.4.: (BD∗) mit y(x0) = y0 stets eindeutig losbar.

Fall 1 α ∈ R+\Z :

Wg. yα in der Gleichung muss y ≥ 0 gelten. Aber die Substitution z := y1−α

erfordert y > 0 (beachte die Formel fur z′) ⇒ Die Substitution liefert nur positiveLosungen.

Jedoch ist y ≡ 0 auch eine Losung von (BD).

Positive Losungen wie bekannt als Losungen der linearen Dgl. (BD∗) bestimmenund Rucksubstitution. → prufen, ob fortsetzbar zu y ≡ 0.

Beispiel: y′ =√y ⇔ y′ + 0 · y + (−1)y

12 = 0 ist (BD) mit α = 1

2 .

z′ +12· 0 +

12

(−1) = 0

⇐⇒ z′ =12

⇐⇒ 12x+ c = z(x)

Also y(x) = (z(x))1

1− 12 = z(x)2 =

(12x+ c

)2

Bei x = −2c Beruhrung der x-Achse.

y(−2c) = 0, y′(x) = 2(

12x+ c

)· 1

2=

12x+ c

⇒ y′(−2c) = 0und y ≡ 0 weitere Losung. (vgl. Aufgabe 4)

weitere Losungen:

y(x) =

{0 , x ≤ −2c(

12x+ c

)2, x > −2c

42

2.6 Die Bernoulli’sche Differentialgleichung

y(x) =

{(12x+ c

)2, x ≤ −2c

0 , x > −2c

(C(1)-Losungen von (BD))

Fall 2 α ∈ R−\Z :

Wg. yα nur positive Losungen von (BD) moglich.⇒ Substitution z = y1−α ist Aquivalenzumformung, wobei nur nach positivenLsg’en von (BD∗) gesucht wird.⇒ ∃! Lsg. von (BD) mit y(x0) = y0 > 0. Diese erhalt man aus der eindeutigenLsg. von (BD∗) mit z(x0) = y1−α

0

Fall 3 α+ 1 ∈ 2Z, d.h. α ungerade:

Keine Einschrankungen an den Wertebereich von y (außer y 6= 0 fur neg. α).

Betrachte: Erfullt y (BD), so gilt

(−y)′ + g(x) · (−y) + (−1)α+1h(x) · (−y)α

= − (y′ + g(x)y + h(y)yα) = 0

wobei hier (−1)α+1 = 1.

D.h. y Losung von (BD) ⇐⇒ u := −y Losung von (BD).

Beachte, dass die Substitution z := y1−α nur moglich ist, wenn

1− α ≥ 0 und y bel.

oder1− α < 0 und y 6= 0

(Nach dem Zwischenwertsatz ist ”y 6= 0“ aquivalent zu ”y nur positiv oder nurnegativ“.)

Außerdem ist bei der Rucksubstitution y = z1

1−α zu beachten, dass 11−α i.A. nicht

ganzzahlig ist, so dass hierfur nur nicht-negative Losungen z von (BD∗) verwendbarsind.Also: Bestimme alle positiven Lsg’en z von (BD∗) und setze dann

y(x) := ±(z(x))1

1−α

weitere Losung: y ≡ 0 (wenn α > 0)

}alle Losungen (inkl.evtl. Kombinationen)

Fall 4 α ∈ 2Z

s.o.: (−1)α+1 = −1, d.h. y ist genau dann Losung von (BD), wenn u := −y mit−h statt h (BD) erfullt.

Somit: y negative Lsg. von (BD) ⇐⇒ v := (−y)1−α ist positive Lsg. von (BD∗) mit−h statt h, d.h.

v′ + (1− α)g(x)v − (1− α)(−h(x)) = 0⇐⇒ (−v)′ + (1− α)g(x) · (−v) + (1− α)(−h(x)) = 0

⇐⇒ z = −v (= −(−y)1−α) ist negative Losung von (BD∗)

43

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Also: Eine positive Losung z von (BD∗) ergibt y := z1

1−α als positive Losungvon (BD).Eine negative Losung z von (BD∗) ergibt y := −(−z)

11−α als negative

Losung von (BD).

Zusammen:Ist z Lsg. von (BD∗) bel. Vorzeichens, so ist

y(x) := (sgn z(x)) · |z(x)|1

1−α

Lsg. von (BD).Hier fehlen aber, wenn 1− α < 0 (⇔ α > 1) Lsg’en mit y = 0, z.B. y ≡ 0.

Beispiel 2.6.1 y′ + y1+x + (1 + x)y4 = 0, y(0) = −1 (d.h. x 6= −1), also α = 4

( Fall 4)Die Dgl. ist fur y ∈ R definiert.Substitution z = y1−α = y−3 und Multiplikation mit (1− α)y−α = −3y−4:

−3y−4y′ − 3y−3 · 11 + x

− 3(1 + x) = 0

z′ − 3z1

1 + x− 3(1 + x) = 0

(Beachte bei der Subst.: z 6= 0 erforderlich)

homogene Version: z′ = 31+xz ⇒ z(x) = Ce

R3

1+xdx = Ce3 ln |1+x| = C|1 + x|3

Wir beschranken uns auf x > −1 (beachte x 6= −1 und die Anfangsbed.)inhomogene Gleichung: Variation der Konstanten

z(x) = C(x)(1 + x)3

in die Dgl.:

C ′(x)(1 + x)3 + C(x)3(1 + x)2 − 3C(x)(1 + x3)1

1 + x− 3(1 + x) = 0

⇐⇒ C ′(x) = 3(1 + x)−2, z.B. C(x) = −3(1 + x)−1

⇒ allg. inhomogene Losung: z(x) = −3(1 + x2) + C(1 + x)3, C ∈ R

Somit (s.o., Fall 4):

y(x) = sgn[−3(1 + x)2 + C(1 + x)3

] ∣∣−3(1 + x)2 + C(1 + x)3∣∣ 1

1−4

= sgn[(1 + x)2(−3 + C(1 + x))

] ∣∣(1 + x)2(−3 + C(1 + x))∣∣− 1

3

=sgn(−3 + C(1 + x))

3√

(1 + x)2| − 3 + C(1 + x)|

sowie: y ≡ 0.(das sind alle, da keine C(1)-Zusammensetzung von y = 0 und obiger Lsg. moglich)

44

2.7 Die Riccati’sche Differentialgleichung

Anfangsbedingung y(0) = −1. Damit scheidet y ≡ 0 aus.

=⇒ −1 =sgn(−3 + C(1 + 0))

3√

(1 + 0)2| − 3 + C(1 + 0)|

=sgn(C − 3)

3√|C − 3|

⇐⇒ C − 3 < 0 und |C − 3| = 1⇐⇒ C = 2

Def’bereich?

• x 6= −1⇒ hochstens ]− 1,∞[

• Nullstellen des Nenners:x = −1x = 1

2

wg. Anfangsbedingung x ∈]− 1, 12 [. Dort 2x− 1 < 0.

y(x) = − 13√

(1 + x)2(1− 2x)

2.7 Die Riccati’sche Differentialgleichung

y′ + g(x)y + h(x)y2 = k(x) (RD)

g, h, k stetig auf Intervall I.(wie (BD) mit α = 2, aber Term k(x) neu)

Wir versuchen den Ansatz fur (BD):Substitution z = y1−α = 1

y und Multiplikation mit (1− α)y−α = − 1y2 .

− y′

y2− g(x)

1y− h(x) = −k(x)

y2

⇐⇒ z′ − g(x)z − h(x) = −k(x)z2

Wenn k ≡ 0: (BD) mit α = 2 (s.o.):

y ≡ 0, y =1z

Aber bei k 6≡ 0 kommt man so nicht zum Ziel, weil die neue Gleichung wieder nicht-linearist.Im Fall y 6≡ 0 ist i.A. keine geschlossene Darstellung der Losung moglich. Aber es gilt:

Satz 2.7.1 Ist φ Losung von (RD), so sind alle Losungen von (RD) von der Form (nebeny = φ)

y = φ+1z

wobei z allg. Lsg. der lin. Dgl.

z′ − [g(x) + 2φ(x)h(x)]z − h(x) = 0

ist.

45

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

Beweis. Seien φ und y Losungen von (RD). Dann gilt fur u := y − φ:

u′ + g(x)u+ h(x)u2 = y′ − φ′ + g(x)y − g(x)φ+ h(x)φ2 − 2h(x)yφ

= y′ + g(x)y + h(x)y2 − (φ′ + g(x)φ+ h(x)φ2) + 2h(x)φ2 − 2h(x)yφ(RD)= k − k + 2h(x)φ (φ− y)︸ ︷︷ ︸

=−u

⇐⇒ 0 = u′ + g(x)u+ h(x)u2 + 2h(x)φu

⇐⇒ 0 = u′ + (g(x) + 2h(x)φ(x))u+ h(x)u2

(BD) mit α = 2

Also Multiplikation mit (1− α)u−α = −u−2 und Substitution z := u1−α = 1u2 :

− u′

u2+ (g(x) + 2h(x)φ(x))

(− 1u

)− h(x) = 0

⇐⇒ z′ − (g(x) + 2h(x)φ(x))z − h(x) = 0

Beispiel 2.7.2 y′ − 2xy − y2 = 2

spezielle Losung: φ(x) = −1x

(φ′ − 2xφ− φ2 = 1x2 + 2x 1

x −1x2 = 2)

Gleichung fur z: z′−(−2x+ 2

(−1x

)(−1)

)z− (−1) = 0⇐⇒ z′−

(2x− 2x

)z+ 1 = 0

homogen: z′ = 2(

1x− x)z ⇐⇒ z(x) = C exp

(2∫

1x− x dx

)= C exp

(lnx2 − x2

)= C

(x2 · e−x2

)inhomogen: Variation der Konstanten:

C ′(x)x2e−x2

+ C(x)(

2xe−x2

+ x2(−2x)e−x2)−(

2C(x)xe−x2 − 2C(x)x3e−x

2)

+ 1 = 0

⇐⇒ C ′(x) = −x−2ex2

⇐⇒ C(x) = x−1ex2 −

∫x−12xex

2dx = x−1ex

2 − 2∫ex

2dx

E(x) :=∫ x

0et

2dt

allg. inh. Lsg.: z(x) = x− 2x2e−x2E(x)︸ ︷︷ ︸

partik. Lsg.

+Cx2e−x2

=⇒ allg. Lsg. der (RD):

y(x) = −1x

oder y(x) = −1x

+(x− 2x2e−x

2E(x) + Cx2e−x

2)−1

= −1x

+1

x+ x2e−x2(−2E(x) + C)

=−1− xe−x2

(C − 2E(x)) + 1x+ x2e−x2(C − 2E(x))

= − e−x2(C − 2E(x))

1 + xe−x2(C − E(x))

Wobei y(0) = −1 · (C − 2 · 0)1 + 0

= −C. Damit ist jedes AWP y(0) = y0 losbar.

46

2.8 Abhangigkeitssatze

Satz 2.7.3 Das AWP

y′ + g(x)y + h(x)y2 = k(x) y(x0) = y0

wobei g, h, k : ]−∞, x0] −→ R stetig sind und h < 0, k ≤ 0 auf ]−∞, x0], y0 ≥ 0, hatgenau eine Losung. Diese existiert (mindestens) auf ]−∞, x0].

(ohne Beweis, → Theorie der opt. Steuerungen)

Beispiel 2.7.4 a) y′−y2 = −1, y(x0) = y0 ≥ 0 hat genau eine Losung, diese ist global(d.h. sie existiert auf ganz R) fur |y0| ≤ 1, fur y0 > 1 Losung auf ]−∞, γ(y0)︸ ︷︷ ︸

>x0

[, fur

y0 < −1 Losung auf ] γ(y0)︸ ︷︷ ︸<x0

,+∞[. (siehe Ubung)

b) y′ − y2 = 1, y(0) = 0 wird gelost durch y(x) = tanx, x ∈]− π

2 ,π2

[.

c) y′ + y2 = −1, y(0) = 0 hat die Losung y(x) = − tanx, x ∈]− π

2 ,π2

[.

d) y′ − y − e−xy2 = −ex, y(0) = y0

Der Definitionsbereich der Losung hangt von y0 ab. Er ist teilweise eine Obermengevon R−0 (insb. fur y0 ≥ 0) und teilweise eine Obermenge von R+

0 . (siehe Ubung)

Eine lokale Losung hat (RD) jedoch stets nach Picard-Lindelof.

Satz 2.7.5 Unter den Voraussetzungen des Satzes 2.7.3. gilt:

a) Ist y0 ≥ 0, so ist y ≥ 0 auf ]−∞, x0].

b) Ist y0 > 0, so ist y > 0 auf ]−∞, x0].

(siehe auch die Ubungsbeispiele)

2.8 Abhangigkeitssatze

y′ = f(x, y), y(x0) = y0

Frage: Wie stark andert sich die Losung y, wenn f oder y0 leicht geandert werden?anders formuliert: Hangt die Losung y stetig von f und y0 ab?

praktische Relevanz:

• Variation von f ↔Modellungenauigkeiten (z.B. durch Vereinfachungen wie sinϕ ≈ϕ beim Fadenpendel oder ungenaue Naturgroßen (z.B. g)).

• Variation von y0 ↔ Messfehler

Satz 2.8.1 Sei R := [x0 − a, x0 + a] × [y0 − b, y0 + b] ⊂ R2 und f : R → R stetig bzgl.(x, y) und Lipschitzsch bzgl. y, d.h.

∃L > 0 : |f(x, y)− f(x, η)| ≤ L|y − η| ∀y, η ∈ [y0 − b, y0 + b] ∀x ∈ [x0 − a, x0 + a]

Ferner sei f : R→ R stetig.Hierzu seien

y : [x0 − α, x0 + α]︸ ︷︷ ︸=:J

−→ [y0 − b, y0 + b] und

47

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

y : [x0 − β, x0 + β]︸ ︷︷ ︸=:J

−→ [y0 − b, y0 + b] (0 < β < α)

Losungen vony′ = f(x, y), y(x0) = y0 bzw.

y′ = f(x, y), y(x0) = y0.

Gilt |y0 − y0| ≤ σ und∥∥∥f − f∥∥∥

C(R)≤ ω, dann gilt:

|y(x)− y(x)| ≤ σeL|x−x0| +ω

L

(eL|x−x0| − 1

)∀x ∈ J

Bemerkung. Die Voraussetzungen an f sind genau die Voraussetzungen des Satzes vonPicard-Lindelof. Damit existiert y und ist eindeutig. f erfullt lediglich die Voraussetzun-gen des Satzes von Peano. Somit existiert eine Losung

∼y. Sie muss aber nicht eindeutig

sein.

Beweis. 1. Fortsetzung von yDa y stetig auf dem abgeschlossenen Intervall [x0−β, x0 +β] ist, kann es stetig zueiner Funktion ϕ0 auf J fortgesetzt werden (mit |ϕ0(x)− y0| ≤ b ∀x ∈ J) , z.B.

ϕ0(x) :=

y(x0 − β) , x < x0 − βy(x) , x0 − β ≤ x ≤ x0 + β

y(x0 + β) , x > x0 + β

2. Ein IterationsschrittWahle ϕ0 als Anfangsnaherung, in der Iteration nach Picard-Lindelof fur y′ =f(x, y), y(x0) = y0. Dies ergibt eine Folge von Funktionen auf J , die gleichmaßiggegen die Losung y konvergiert. Insbesondere gilt fur alle x ∈ J :

ϕ1(x) = y0 +∫ x

x0

f(t, ϕ0(t)) dt = y0 +∫ x

x0

f(t, y(t)) dt,

da ϕ0 = y auf J , und

y′ = f(x, y), y(x0) = y0

⇐⇒ y(x)︸︷︷︸=ϕ0(x)

= y0 +∫ x

x0

f(t, y(t)) dt

Also gilt fur alle x ∈ J :

|ϕ1(x)− ϕ0(x)| ≤ |y0 − y0|+∣∣∣∣∫ x

x0

|f(t, y(t))− f(t, y(t))| dt∣∣∣∣ Vor.≤ σ + ω|x− x0|

3. IterationDesweiteren ist ϕk(x) = y0 +

∫ x

x0

f(t, ϕk−1(t)) dt ∀k ∈ N\{0} und somit fur alle

x ∈ J :

|ϕk(x)− ϕk−1(x)| ≤∣∣∣∣∫ x

x0

|f(t, ϕk−1(t))− f(t, ϕk−2(t))| dt∣∣∣∣

48

2.8 Abhangigkeitssatze

Lipsch.≤ L

∣∣∣∣∫ x

x0

|ϕk−1(t)− ϕk−2(t)| dt∣∣∣∣

Also gilt fur alle x ∈ J :

|ϕk(x)− ϕk−1(x)| ≤ Lk−1

∣∣∣∣ ∫ x

x0

k−2︷ ︸︸ ︷∫ tk−2

x0

. . .

∫ t1

x0

|ϕ1(t)− ϕ0(t)| dt dt1 . . . dtk−2

∣∣∣∣2.≤ Lk−1

∣∣∣∣∫ x

x0

∫ tk−2

x0

. . .

∫ t1

x0

σ + ω|t− x0| dt dt1 . . . dtk−2

∣∣∣∣= Lk−1

(σ|x− x0|k−1

(k − 1)!+ ω|x− x0|k

k!

)Induktion:I.A. k = 1 klar.I.V. Behauptung gelte bis k.I.S. (k → k + 1)

|ϕk+1(x)− ϕk(x)| ≤ L∣∣∣∣∫ x

x0

|ϕk(t)− ϕk−1(t)| dt∣∣∣∣

I.V.≤ Lk

∣∣∣∣∫ x

x0

σ|t− x0|k−1

(k − 1)!+ ω|t− x0|k

k!dt

∣∣∣∣4. Grenzubergang

Da ϕn → y in ‖ · ‖C(J), ergibt in

|ϕk+l(x)− ϕk(x)| ≤l∑

j=1

|ϕk+j(x)− ϕk+j−1(x)|

3.≤

l∑j=1

Lk+j−1

(σ|x− x0|k+j−1

(k + j − 1)!+ ω|x− x0|k+j

(k + j)!

)∀x ∈ J

der Grenzubergang l→∞ (k = 0), dass

|y(x)− ϕ0(x)︸ ︷︷ ︸=y(x)

| ≤∞∑j=1

Lj−1

(σ|x− x0|j−1

(j − 1)!+ ω|x− x0|j

j!

)

=∞∑j=0

Lj(σ|x− x0|j

j!+ω|x− x0|j+1

(j + 1)!

)

=∞∑j=0

(L|x− x0|)j

j!+ω

L

(L|x− x0|)j+1

(j + 1)!

)= σeL|x−x0| +

ω

L

(eL|x−x0| − 1

)∀x ∈ J

Der Satz sagt zwei Dinge aus:

• Kleine Veranderungen beim Anfangswert (kleines σ) oder kleine Veranderungender Gleichung (kleines ω) bewirken auch nur kleine Anderungen bei der Losung.

49

2 Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

• Aber: weit weg von der Anfangsbedingung (|x − x0| groß) kann der Unterschiedgewaltig groß werden.

Beispiel 2.8.2 f(x, y) = f(x, y) = λy (λ > 0), y(x0) = 0, y(x0) = y0 6= 0=⇒ y ≡ 0, y(x) = y0e

λ(x−x0), x ∈ RVergleiche die Abschatzungen im Satz: L = λ, ω = 0, σ = |y0|=⇒ |y(x)− y(x)| ≤ |y0|eλ|x−x0|

Fur x > x0 ist die Fehlerabschatzung hier also scharf!

50

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnungmit konstanten Koeffizienten

3.1 Ordnung 2

homogen, linear, 2. Ordnung, a, b konstant

y′′ + ay′ + by = 0 (L2kh)

inhomogen

y′′ + ay′ + by = s(x) (L2ki)

Anwendung: Schwingungenx+ αx+ βx = f(t)

αx: Dampfung/Reibungf(t): Erregungmf : außere Kraftm: Masse

x+ βx = 0

Gleichung des (ungedampften) harmonischen Oszillators.

Satz 3.1.1 (Superpositionsprinzip) Sind y1, . . . , ym Losungen von (L2kh), so ist jede Li-

nearkombinationm∑j=1

λjyj Losung von (L2kh).

Beweis. folgt direkt aus der Linearitat und der Homogenitat.

Satz 3.1.2 Die allgemeine Losung von (L2kh) ist gegeben durch (D := a2 − 4b, ”Diskri-minante“):

a) Falls D > 0:

y(x) = C1eλ1x + C2e

λ2x; λ1,2 =−a±

√D

2

b) Falls D = 0:y(x) = (C1 + C2x)e−

a2x

c) Falls D < 0:

y(x) = eαx (C1 cos(βx) + C2 sin(βx)) ; α := −a2, β :=

√−D2

jeweils mit C1, C2 ∈ R bel.Mit der Anfangsbedingung y(x0) = y0, y

′(x0) = y′0 gibt es genau eine Losung.

51

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Beweis. 1. Euler’scher Ansatzy(x) = eλx liefert

λ2eλx + aλeλx + beλx = 0

⇐⇒ λ2 + aλ+ b = 0

⇐⇒ λ1,2 = −a2±√a2

4− b =

12

(−a±√D)

also

a) D > 0⇒ zwei reelle Losungen

b) D = 0⇒ genau eine reelle Losung

c) D < 0⇒ zwei imaginare Losungen: λ1,2 = 12(−a± i

√−D)

2. Fall a) D > 0Superpositionsprinzip:

y(x) = C1eλ1x + C2e

λ2x

Losung mit bel. C1, C2 ∈ RAWP: y(x0) = C1e

λ1x0 + C2eλ2x0

!= y0

y′(x0) = C1λ1eλ1x0 + C2λ2e

λ2x0!= y′0

Da λ1 6= λ2, gibt es genau eine Losung.

3. Fall b) D = 0⇔ a2 = 4b

λ = −a2

=⇒ y(x) = eλx = e−a2x ist Losung

weitere Losung: y(x) = xeλx, denn

y′′ + ay′ + by = (2λeλx + xλ2eλx) + a(eλx + xλeλx) + bxeλx

= −aeλx +a2

4xeλx + aeλx − a2

2xeλx +

a2

4xeλx = 0

Superpositionsprinzip:

y(x) = C1eλx + C2xe

λx, C1, C2 ∈ R bel.

Mit der Anfangsbedingung erhalt man:

y(x0) = C1eλx0 + C2e

λx0x0!= y0

y′(x0) = C1λeλx0 + C2e

λx0(1 + x0λ) != y′0

Zugehorige Determinante:

e2λx0(1 + x0λ− λx0) = e2λx0 6= 0

⇒ Es gibt genau eine Losung.

4. Fall c) D < 0

λ1,2 =12

(−a± i√−D)

52

3.1 Ordnung 2

y(x) = exp[

12

(−a± i√−D)x

]= e−

a2x · e±i

√−D2

x

= e−a2x

[cos(√−D2

x

)± i sin

(√−D2

x

)]komplexe Losung der Differentialgleichung.

⇐⇒ y1(x) = e−a2x cos

(√−D2

x

)und

y2(x) = e−a2x sin

(√−D2

x

)reelle Losungen.

Beweis hierzu:allgemein: y = v + iw komplexe Losung von (L2kh), wobei v und w reell⇔ v und w reelle Losungen von (L2kh), denn:

0 = y′′ + ay′ + by = v′′ + av′ + bv + i(w′′ + aw′ + bw)

⇐⇒ v′′ + av′ + bv = 0 und w′′ + aw′ + bw = 0

Somit hat man

y(x) = C1eαx cos(βx) + C2e

αx sin(βx), α = −a2, β =

√−D2

Anfangsbedingung:

y(x0) = C1eαx0 cos(βx0) + C2e

αx0 sin(βx0) != y0

y′(x0) = C1eαx0(α cos(βx0)− β sin(βx0)) + C2e

αx0(α sin(βx0) + β cos(βx0)) != y′0

Determinante:

e2αx0(α sin(βx0) cos(βx0) + β cos2(βx0)− α sin(βx0) cos(βx0) + β sin2(βx0)

)= βe2αx0 6= 0

=⇒ genau eine Losung

5. Es gibt keine weiteren Losungenz.z.: Das AWP hat hochstens eine Losung: Waren die obigen Formeln nicht dieallgemeine Losung, so musste es nach dem Superpositionsprinzip noch (mind.)einen Freiheitsgrad geben und das AWP hatte mehr als eine Losung.

Der Beweis folgt spater.

Satz 3.1.3 Ist yp partikuklare Losung von (L2ki), so ist die allgemeine Losung von (L2ki)von der Form

y = yp + yh,

wobei yh jede beliebige Losung der zugehorigen homogenen Gleichung sein kann.

Beweis. wie ublich.

53

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Beispiel 3.1.4 a) y + ay + by = Aeiωt, A 6= 0, ω 6= 0(behandelt die Falle s(t) = A cos(ωt) und s(t) = A sin(ωt))

homogene Losung → s.o.

partikulare inhomogene Losung?Ansatz: yp(t) = Beiωt in die Gleichung einsetzen:

B(−ω2)eiωt +Baiωeiωt +Bbeiωt = Aeiωt

⇐⇒ B (−ω2 + aiω + b)︸ ︷︷ ︸=p(iω)

= A

wobei p(λ) = λ2 + aλ+ b ”charakteristisches Polynom“ der Dgl.

Fall 1: Wenn p(iω) 6= 0, dann ist B = Ap(iω) und

yp(t) ={

ReIm

}(A

p(iω)eiωt)

ist partikulare Losung.

Fall 2: Wenn p(iω) = 0, dann geht der Ansatz nicht.

Alternativansatz: yp(t) = Bteiωt

einsetzen:

y + ay + by = B(2iωeiωt + (iω)2teiωt) + aB(eiωt + iωteiωt) + bBteiωt!= Aeiωt

⇔ B[eiωtt

((iω)2 + aiω + b

)︸ ︷︷ ︸=p(iω)=0

+eiωt(2iω + a)]

= Aeiωt

⇔ B =A

2iω + a(2iω + a 6= 0, da a ∈ R und ω 6= 0)

Also yp(t) ={

ReIm

}(A

2iω + ateiωt

)Jeweils ”Re“ bei s(t) = cos(ωt) und ”Im“ bei s(t) = sin(ωt).

b) schwingende Feder

x: Auslenkung; k: Federkonstante; m: Masse

Auslenkung x erzeugt Ruckstellkraft −kx (Hooke’sches Gesetz)Reibung: −rx, r > 0Newton’sches Gesetz: mx = −rx− kx

x+r

mx+

k

mx = 0, x(0) = x0 6= 0, x(0) = 0

54

3.1 Ordnung 2

Diskriminante: D =r2

m2− 4

k

m

i) starke Reibung (oder schwache Feder):

D > 0⇔ r2 > 4km

=⇒ x(t) = C1eλ1t + C2e

λ2t

λ1,2 = − r

2m± 1

2

√r2

m2− 4

k

m

λ > 0: ”Ausleiern“, λ < 0: nur Ruckstellung auf Nullstellung

Anfangsbedingung:x(0) = C1 + C2

!= x0

x(0) = C1λ1 + C2λ2!= 0

}losen

ii) ”normaler“ Fall:r2 < 4km⇒ D < 0

=⇒ x(t) = e−r

2mt︸ ︷︷ ︸

Amplitudenimmt ab

(C1 cos

(12

√4k

m− r2

m2t

)+ C2 sin

(12

√4k

m− r2

m2t

))

reibungsfrei:

x(t) = C1 cos

(12

√4k

mt

)+ C2 sin

(12

√4k

mt

)

= C1 cos

(√k

mt

)+ C2 sin

(√k

mt

)

x(0) = C1!= x0

x(0) = C2

√k

m

!= 0

=⇒ x(t) = x0 cos

(√k

mt

)

c) Schwingkreis (Schaltkreis mit einer Spule der Induktivitat L, einem Kondensatormit Kapazitat C und einem Ohm’schen Widerstand R)

U : angelegte Spannung Q: Ladung

LQ+RQ+1CQ = U

alsoQ+

R

LQ+

1LC

Q =U

L

55

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

homogen: U = 0, Q(0) 6= 0 (Spannung wird abgeklemmt und Kurzschluss)

Diskriminante: D =R2

L2− 4LC

; keine Schwingung, wenn

D ≥ 0⇐⇒ R2

L2≥ 4LC

⇐⇒ R2 ≥ 4L

C

⇐⇒ R ≥ 2

√L

C

”Kriechfall“, Widerstand zu groß

sonst: Q(t) = e−R2Lt (C1 cosωt+ C2 sinωt) mit der Kreisfrequenz

ω =√−D2

=12

√4LC− R2

L2=

√1LC− R2

4L2

Dies ist die Eigenfrequenz des Schwingkreises.

Spezialfall ohne Ohm’schen Widerstand (supraleitender Schwingkreis)

Q(t) = C1 cos(ωt) + C2 sin(ωt), ω =

√1LC

Ein Ohm’scher Widerstand senkt also die Frequenz.Da fur die Schwingungsdauer T gilt (f : Frequenz)

ω = 2πf = 2π1T,

ergibt sich

T =2πω⇐⇒ T = 2π

√LC

Thomson-Gleichung

jetzt inhomogen, d.h. mit Spannungsquelle:

Q+R

LQ+

1LC

Q =U0

Lcos(ωt) ”erzwungene Schwingung“

charakteristisches Polynom:

p(λ) = λ2 +R

Lλ+

1LC

Sonderfall: p(iω) = 0, d.h. −ω2 + RL iω + 1

LC = 0 ⇔ R = 0 und ω2 = 1LC , also

im Fall ohne Ohm’schen Widerstand, wenn mit der Eigenfrequenz selbst angeregtwird (ω = ω). Dann ist folgendes eine partikulare Losung (s.o.):

Qp(t) = Re(

U0

L(2iω + 0)teiωt

)= Re

(U0

L2ω(−i)t(cosωt+ i sinωt)

)=

U0

2Lωt sinωt

56

3.2 n-te Ordnung

⇒ allgemeine inhomogene Losung:

Q(t) =U0

2Lωt sinωt+ C1 cosωt+ C2 sinωt

zum Beispiel:

Q(0) = 0⇒ C1 = 0

Q(0) = Q′0 ⇒ Q(t) =U0

2Lω(sinωt+ tω cosωt) + C2ω cosωt

∣∣∣∣t=0

= Q′0

⇒ C2ω = Q′0

⇒ Q(t) =(U0

2Lωt+

Q′0ω

)︸ ︷︷ ︸→∞ (t→∞)

U0>0

sinωt Resonanzkatastrophe

sonst (p(iω) 6= 0):

Qp(t) = Re

(U0

L(−ω2 + R

L iω + 1LC

)eiωt)

ohne Ohm’schen Widerstand ergibt dies

Qp(t) =U0

−Lω2 + 1C

cos ωt =U0

L(− ω2 +

1LC︸︷︷︸ω2

) cos ωt

Je weiter ω von der Eigenfrequenz entfernt ist, desto geringer ist die Amplitude.

3.2 n-te Ordnung

y(n) + an−1y(n−1) + . . .+ a1y

′ + a0y = 0 (Lnkh)

y(n) + an−1y(n−1) + . . .+ a1y

′ + a0y = s(x) (Lnki)

an−1, . . . , a0 ∈ R konstant

zunachst homogen:Offensichtlich gilt wieder...

Satz 3.2.1 (Superpositionsprinzip) Jede Linearkombination von Losungen der Gleichung(Lnkh) ist wieder eine Losung von (Lnkh).

Satz 3.2.2 y ist genau dann komplexwertige Losung von (Lnkh), wenn Re(y) und Im(y)reellwertige Losungen von (Lnkh) sind.

Außerdem gilt:

Satz 3.2.3 Ist y ∈ C(n)(I) (I ⊂ R Intervall) Losung von (Lnkh), so ist y ∈ C(∞)(I).

57

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Beweis. Induktion fur die Behauptung y ∈ C(k)(I) ∀k ≥ n.k = n Voraussetzung des Satzes.

k → k + 1 Gleichung: y(n) = −n−1∑j=0

ajy(j)

(k − n+ 1)-faches Ableiten liefert:

y(k+1) = −n−1∑j=0

ajy(j+k+1−n)

︸ ︷︷ ︸stetig nach I.V.

, wobei j + k + 1− n ∈ {k + 1− n, . . . , k}

existiert, da y(k) = −n−1∑j=0

ajy(j+k−n)

︸ ︷︷ ︸diff’bar nach I.V.

⇒ y ∈ C(k+1)

Defnition 3.2.4 Der Differentialoperator D : C(∞)(I) → C(∞)(I), I ⊂ R Intervall, seidefiniert durch:

Df := f ′, f ∈ C(∞)(I)

Satz 3.2.5 D ist linear.

Ist p das char. Polynom der Dgl., d.h.

p(λ) = λn +n−1∑j=0

ajλj

so lassen sich die Dgl’en formal schreiben als

p(D)y =

{0 (Lnkh)s(x) (Lnki)(

n−1∑j=0

ajy(j) + y(n) =

n−1∑j=0

ajDjy +Dny

)z.B. D3y = D(D(D(y))) = y(3) usw.

Satz 3.2.6 Sind λ1, . . . , λm ∈ C die Nullstellen des charakteristsichen Polynoms zu(Lnkh), jeweils mit Vielfachheiten ν1, . . . , νm, dann hat die allgemeine Losung von (Lnkh)die Form

y =m∑k=1

yk

wobei jeweils yk die allgemeine Losung von (D − λk)νkyk = 0 ist.

Beweis. Das charakteristische Polynom hat also die Form

p(λ) =m∏j=1

(λ− λj)νj (1)

58

3.2 n-te Ordnung

mitm∑j=1

νj = n. Mit Methoden der Partialbruchzerlegung kann man 1p(λ) umformen zu

1p(λ)

=m∑k=1

qk(λ)(λ− λk)νk

(2)

mit Polynomen q1, . . . , qm. Multiplikation von (2) mit (1) ergibt:

1 =m∑k=1

qk(λ)(λ− λk)νk

m∏j=1

(λ− λj)νj =m∑k=1

qk(λ)m∏j=1j 6=k

(λ− λj)νj

︸ ︷︷ ︸=:pk(λ)

(3)

In diese Zerlegung der Eins setzen wir den Differentialoperator D ein:

Id =m∑k=1

qk(D)pk(D)

Somit gilt fur alle y ∈ C(∞)(I):

y =m∑k=1

[qk(D)pk(D)

]y︸ ︷︷ ︸

=:yk

speziell fur Losungen y von (Lnkh), d.h. wenn p(D)y = 0, erhalt man:

(D − λk)νkyk = (D − λk)νkqk(D)pk(D)y= qk(D)(D − λk)νkpk(D)y = 0,

da

(D − λk)νkpk(D)(3)=

m∏j=1

(D − λj)νj = p(D)

Wir haben bisher gezeigt, dass jede Losung y von (Lnkh) als y =m∑k=1

yk mit

(D − λk)νkyk = 0 geschrieben werden kann.

Fur die Umkehrung betrachten wir

p(D)yk(1)=

m∏j=1

(D − λj)νjyk(3)= pk(D) (D − λk)νkyk︸ ︷︷ ︸

=0

= 0

Wegen des Superpositionsprinzips gilt damit stets

p(D)y = p(D)m∑k=1

yk = 0

Wie lost man also nun (D − λ)νy = 0 mit λ ∈ C, ν ∈ N?

59

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Lemma 3.2.7 Die Funktion Eα : R→ C, t 7→ eαt fur festes α ∈ C erfullt:

Dm(Eαf) = Eα(D + α)mf

∀f ∈ C(∞)(I), I ⊂ R Intervall, ∀m ∈ N0.

Beweis. Mit der Leibniz-Regel und dem Binomischen Lehrsatz erhalt man

Dm(Eαf) =m∑j=0

(mj

)E(j)α f (m−j) =

m∑j=0

(mj

)αjEαD

m−jf = Eα(D + α)mf

Lemma 3.2.8 y ∈ C(∞)(I) (I ⊂ R Intervall) ist Losung von (D − λ)νy = 0 genau dann,wenn

Dν(E−λy) = 0

Beweis. Mit der Leibniz-Regel und dem Binomischen Lehrsatz erhalt man

(D − λ)νy = 0⇐⇒ E−λ(D − λ)νy = 0

Lemma⇐⇒3.2.7.

Dν(E−λy) = 0

Lemma 3.2.9 Dνf = 0, ν ∈ N, wird genau von den Polynomen vom Grad ≤ ν − 1gelost.

Wir fassen zusammen:

Satz 3.2.10 Sind λ1, λ2, . . . , λm die Nullstellen des charakteristischen Polynoms zu (Lnkh),jeweils mit den Vielfachheiten ν1, ν2, . . . , νm, dann ist dieallgemeine komplexeLosung von(Lnkh) von der Form

y =m∑j=1

yj

wobei yj(x) = Pj(x)eλjx mit beliebigen Polynomen Pj (mit komplexen Koeffizienten)vom Grad ≤ νj − 1. Die Losungen existieren auf ganz R.

Wie kommen wir nun zu den reellen Losungen?Ein Problem tritt nur auf, wenn λk ∈ C\R ist. Da die Koeffizienten a, b des charak-teristischen Polynoms reellwertig sind, sind die imaginaren Nullstellen von der Formξ ± iη, ξ, η ∈ R, wobei die Vielfachheiten von ζ := ξ + iη und ζ = ξ − iη gleich sind.Sind λ1 = ζ und λ2 = ζ, so ist ihr Anteil an der allgemeinen Losung (mit beliebigenPolynomen P1 und P2 vom Grad < ν1 = ν2)

P1(x)eλ1x + P2(x)eλ2x

= P1(x)eζx + P2(x)eζx

= eξx[P1(x)eiηx + P2(x)e−iηx

]= eξx [P1(x)(cos ηx+ i sin ηx) + P2(x)(cos(−ηx)− i sin ηx)]

= (P1(x) + P2(x))eξx cos ηx+ i(P1(x)− P2(x))eξx sin ηx

= P1(x)eξx cos ηx+ iP2(x)eξx sin ηx

60

3.2 n-te Ordnung

mit beliebigen Polynomen P1 und P2 vom Grad < ν1 = ν2.

Satz 3.2.11 Das charakteristische Polynom zu (Lnkh) habe genau die reellen Nullstellenλ1, . . . , λr mit Vielfachheiten ν1, . . . , νr, und die komplexen, nichtreellen Nullstellenpaareα1 ± iβ1, . . . , αm ± iβm mit Vielfachheiten µ1, . . . , µm (pro Nullstelle, also entweder ”+“oder ”-“). Dann ist die allgemeine reelle Losung von (Lnkh) gegeben durch

y(x) =r∑j=1

Pj(x)eλjx +m∑k=1

(Qk(x) cos(βkx) +Rk(x) sin(βkx)

)eαkx

mit beliebigen reellen Polynomen Pj , Qk, Rk, wobei degPj ≤ νj − 1, degQk, degRk ≤µk − 1.

Beispiel 3.2.12 a) y′′ + ay′ + b = 0 (siehe oben)charakteristisches Polynom

p(λ) = λ2 + aλ+ b!= 0

⇐⇒ λ1,2 = −a2±√a2

4− b =

12

−a±√a2 − 4b︸ ︷︷ ︸=D

1. Fall D > 0 (reelle Nullstellen):

λ1,2 =12

(−a±

√D)

mit ν1 = ν2 = 1

⇒ y(x) = P1eλ1x + P2e

λ2x

wobei P1, P2 Polynome vom Grad 0, also konstant, sind.

2. Fall D = 0 (eine reelle Nullstelle)λ = −a

2 mit Vielfachheit ν = 2⇒ y(x) = (C1 + C2x)eλx mit beliebigen C1, C2 ∈ R.

3. Fall D < 0 (zwei nicht-reelle Nullstellen) komplexes Nullstellenpaar

− a

2± i√−D2

, α = −a2, β =

√−D2

=⇒ y(x) =(Q cos(βx) +R sin(βx)

)eαx

mit beliebigen Konstanten Q,R ∈ R. (vgl. Satz 3.1.2.)

b) y(3) − 2y′′ + y′ = 0charakteristisches Polynom

p(λ) = λ3 − 2λ2 + λ

= λ(λ2 − 2λ+ 1)

= (λ− 0)(λ− 1)2

⇒ allgemeine Losung

y(x) = C1e0·x + (C2 + C3x)e1·x

= C1 + (C2 + C3x)ex

61

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Wenden wir uns nun dem AWP zu. Die Anzahl der Freiheitsgrade ist durch die Anzahlder Koeffizienten in den Polynomen gegeben. Man erhalt bei der komplexen Losung

m∑j=1

νj = n

und bei der reellen Losungr∑j=1

νj + 2m∑k=1

µk = n

zu bestimmende Koeffizienten in C bzw. in R.

Satz 3.2.13 Das AWP

y(n) +n−1∑j=0

ajy(j) = 0

y(x0) = y0, y′(x0) = y′0, . . . , y

(n−1)(x0) = y(n−1)0

hat fur jede Wahl von x0 ∈ R und y0, y′0, . . . , y

(n−1)0 ∈ R (C) genau eine reelle (komplexe)

Losung.

Beweis. Wegen der bekannten Form der allgemeinen Losung sind alle Losungen analy-tisch (holomorph), d.h. in eine Potenzreihe entwickelbar.

y(x) =∞∑k=0

y(k)(x0)k!

(x− x0)k ∀x ∈ R (sogar ∀x ∈ C)

=n−1∑k=0

y(k)(x0)k!

(x− x0)k︸ ︷︷ ︸durch die Anfangs-

bedingung festgelegt

+∞∑k=n

y(k)(x0)k!

(x− x0)k

Wir haben bereits zuvor gezeigt, dass aus der Dgl. folgt:

y(n+m) = −n−1∑j=0

ajy(j+m) ∀m ∈ N0 (∗)

Daher legen y(x0), . . . , y(n−1)(x0) den Wert y(n)(x0) fest, das wiederum legt y(n+1)(x0)fest und (induktiv) weiter: y(x0), . . . , y(n−1)(x0) legen y(n+m)(x0) ∀m ∈ N0 und damitdie Funktion y, d.h. ihre Potenzreihe, fest.Daran sieht man, dass es hochstens eine Losung geben kann. (Damit ist der Rest vonSatz 3.1.2. auch bewiesen.) Somit ist nur noch die Existenz zu zeigen.Aus y0, . . . , y

(n−1)0 kann man mittels (∗) eine rekursive Folge (ck) definieren:

c0 := y0, . . . , cn−1 := y(n−1)0

cn+m := −n−1∑j=0

ajcj+m

Sei M := maxj=0,...,n−1

|cj |, A := max(|a0|, . . . , |an−1|, 1n). Dann ist |ck| ≤ (nA)kM ∀k ∈ N0

62

3.2 n-te Ordnung

Induktion: k < n : |ck| ≤M(nA)k (da 1n≤ A⇒ 1 ≤ nA)

k → k + 1 : (k + 1 ≥ n) Sei k + 1 = n+m⇔ m = k + 1− n

⇒ |ck+1| =

˛˛n−1Xj=0

ajcj+m

˛˛ ≤

n−1Xj=0

|aj ||{z}≤A

|cj+m|| {z }≤k

I.V.

≤n−1Xj=0

A(nA)j+mM ≤ nkAk+1M

n−1Xj=0

1 = (nA)k+1M

Damit ist die Reihe∞∑k=0

(nA)kMk!

(x − x0)k = M exp(nA(x − x0)) eine konvergente Ma-

jorante der Potenzreihe∞∑k=0

ckk!

(x− x0)k fur alle x ∈ R.

⇒ y(x) :=∞∑k=0

ckk!

(x− x0)k definiert eine C(∞)-Funktion auf ganz R, die somit beliebig

oft gliedweise differenzierbar ist. Wegen der Konstruktion der ck erfullt damit y die Dgl.und die Anfangsbedingungen.

und nun der inhomogene Fall:Auch hier gilt wieder, wie bei allen linearen Gleichungen:

Satz 3.2.14 Die allgemeine Losung von (Lnki) hat die Form:

part. inh. Lsg. + allg. hom. Lsg.

Wie erhalt man nun eine partikulare Losung? Variation der Konstanten?Wir nehmen aus dem homogenen Fall die Basis:{

eλjx, xeλjx, . . . , xνj−1eλjx}rj=1

∪{

cos(βkx), x cos(βkx), . . . , xµk−1 cos(βkx)}mk=1

∪{

sin(βkx), x sin(βkx), . . . , xµk−1 sin(βkx)}mk=1

”kanonische Integralbasis der homogenen Dgl.“ (insgesamt n Funktionen)

Satz 3.2.15 Gegeben sei (Lnki) mit s ∈ C(I), I ⊂ R Intervall.

a) Man erhalt stets eine partikulare Losung auf I durch Variation der Konstanten,d.h. den Ansatz

y(x) =n∑j=1

Cj(x)yj(x)

wobei {y1, . . . , yn} die kanonische Integralbasis der homogenen Gleichung darstellt.

b) In Kombination mit den Anfangsbedingungen

y(x0) = y0, y′(x0) = y′0, . . . , y

(n−1)(x0) = y(n−1)0

fur beliebig gewahlte x0 ∈ I und y0, y′0, . . . , y

(n−1) ∈ R, gibt es genau eine Losungauf I.

63

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Beweis. ohne

Beispiel 3.2.16 y′′ + 4y′ = cos(2x), y(0) = 0, y′(0) = 1

• homogene Gleichungcharakteristisches Polynom:

p(λ) = λ2 + 4λ = λ(λ+ 4) != 0⇔ λ = 0 ∨ λ = −4

(jeweils Vielfachheit 1)=⇒ allgemeine homogene Losung: y(x) = C1e

0·x + C2e−4x = C1 + C2e

−4x

• partikulare inhomogene Losung (Variation der Konstanten)Ansatz:

y(x) = C1(x) + C2(x)e−4x (1)

Um die Auswirkungen der Produktregel zu lindern, versuchen wir folgenden An-satz:

C ′1(x) + C ′2(x)e−4x = 0 (a)

=⇒ y′(x) = −4C2(x)e−4x (2)

=⇒ y′′(x) = −4C ′2(x)e−4x + 16C2(x)e−4x (3)((1),

)(2) und (3) in die Gleichung:

y′′ + 4y′ = −4C ′2(x)e−4x + 16C2(x)e−4x − 16C2(x)e−4x

= −4C ′2(x)e−4x != cos(2x)

sowie (a): C ′1(x) + C ′2(x)e−4x = 0LGS fur C ′1 und C ′2 mit eindeutiger Losung:

C ′2(x) = −14

cos(2x)e4x

C ′1(x) =14

cos(2x)

z.B. C2(x) = − 140

(2 cos(2x) + sin(2x)) e4x, C1(x) =18

sin(2x)

(1)=⇒ partikulare inhomogene Losung

yp(x) =18

sin(2x)− 140

(2 cos(2x) + sin(2x))

=110

sin(2x)− 120

cos(2x)

• allgemeine inhomogene Losung

y(x) =110

sin(2x)− 120

cos(2x) + C1 + C2e−4x, C1, C2 ∈ R bel.

64

3.2 n-te Ordnung

• Losung des AWP y′(x) = 15 cos(2x) + 1

10 sin(2x)− 4C2e−4x

0 = 0− 120

+ C1 + C2 (I)

1 =15

+ 0− 4C2 ⇐⇒45

= −4C2 ⇐⇒ −15

= C2 (II)

(II) in (I):120

= C1 −15⇐⇒ C1 =

14

Der ”Trick“ der hier bei der Variation der Konstanten im Beispiel angewandt wurde,funktioniert immer:

Der Ansatz y(x) =n∑k=1

ck(x)yk(x) fuhrt zu

y′(x) =n∑k=1

ck(x)y′k(x) +n∑k=1

c′k(x)yk(x)

Setzt man nun (das ist der ”Trick“)

n∑k=1

c′k(x)yk(x) = 0,

so dass

y′′(x) =n∑k=1

ck(x)y′′k(x) +n∑k=1

c′k(x)y′k(x)

und macht dies immer wieder, d.h.

n∑k=1

c′k(x)y′k(x) = 0

usw. bis einschließlich zur (n− 1)-ten Ableitung von y, so erhalt man die Gleichungen:

y(j)(x) =n∑k=1

ck(x)y(j)k (x), j = 0, . . . , n− 1

n∑k=1

c′k(x)y(j−1)k (x) = 0, j = 1, . . . , n− 1

y(n)(x) =n∑k=1

ck(x)y(n)k (x) +

n∑k=1

c′k(x)y(n−1)k (x)

65

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Setzt man das in die Dgl. ein, so ergibt sich:

y(n)(x) +n−1∑j=0

ajy(j)(x) =

n∑k=1

ck(x)y(n)k (x) +

n∑k=1

c′k(x)y(n−1)k (x)

+n−1∑j=0

aj

n∑k=1

ck(x)y(j)k (x) != s(x)

⇐⇒n∑k=1

ck(x)

[y

(n)k (x) +

n−1∑j=0

ajy(j)k (x)︸ ︷︷ ︸

=0homogene Gleichung

]+

n∑k=1

c′k(x)y(n−1)k (x) = s(x)

⇐⇒n∑k=1

c′k(x)y(n−1)k (x) = s(x)

Dies ergibt:n∑k=1

c′k(x)y(j−1)k (x) =

{0 , j = 1, . . . , n− 1s(x) , j = n

homogen: y(x) =Xk

ckyk(x)

y(j)(x0) =Xk

cky(j)k (x0) (j = 0, . . . , n− 1)

Die ist ein LGS fur (c′1(x), . . . , c′n(x)) mit der gleichen Matrix wie beim homogenen AWP.Wir wissen, dass diese regular ist.Somit ist das LGS eindeutig losbar. Also findet man stets geeignete c′1(x), . . . , c′n(x) unddamit auch c1(x), . . . , cn(x).

Satz 3.2.17 Ist (Lnki) von der Form

p(D)y =m∑j=1

sj (∗)

und yk (k = 1, . . . ,m) Losung von p(D)yk = sk, so ist y =m∑k=1

yk Losung von (∗).

Beweis. folgt direkt aus der Linearitat von p(D).

Uberlagerung von angeregten Schwingungen (Radio, TV)

3.3 Laplacetransformation

Voruberlegung: Sei f : R+0 → R lokal integrierbar, d.h. auf jedem kompakten Intervall

⊂ R+0 integrierbar, so dass mindestens ein s ∈ R existiert, so dass∫ ∞

0e−stf(t)dt

konvergiert. Aus Monotoniegrunden gibt es dann ein σ ∈ R, so dass∫ ∞0

e−stf(t)dt

66

3.3 Laplacetransformation

entweder genau fur alle s ∈ [σ,+∞) oder genau fur alle s ∈ (σ,+∞) konvergiert.

Defnition 3.3.1 Fur jede lokal integrierbare Funktion f : R+0 → R, fur die ein s ∈ R

existiert, so dass ∫ ∞0

e−stf(t)dt (∗)

konvergiert, nennt man

• Kf :={s ∈ R

∣∣∣∣ ∫ ∞0

e−stf(t)dt konvergiert}

den Konvergenzbereich von (∗),

• σf := int(Kf ) die Konvergenzabszisse von (∗),

• (Lf)(s) :=∫ ∞

0e−stf(t)dt, s ∈ Kf , die Laplacetransformierte von f . (andere

Bezeichnung: L{f(t)})Die Abbildung f 7→ Lf heißt L-Transformation. Man nennt f die Originalfunktion undLf die Bildfunktion.

Satz 3.3.2 Die L-Transformierte ist linear.

Die Laplace-Transformation hilft, Differentialgleichungen zu losen, indem sie sie in alge-braische Gleichungen umwandelt, wie der folgende Satz zeigt:

Satz 3.3.3 (Differentiationssatz)(L(f (k)

))(s) = sk(Lf)(s)−

k−1∑j=0

sjf (k−1−j)(0)

fur alle s ∈k⋂j=0

Kf (j) , k ∈ N0

Beweis. durch Induktionk = 0

L(f (0)

)(s) = s0 (Lf) (s)

k → k + 1

L(f (k+1)

)(s) =

∫ ∞0

e−stf (k+1)(t)dt

= e−stf (k)(t)∣∣∣t→∞t=0

−∫ ∞

0−se−stf (k)(t)dt

= −f (k)(0) + s(L(f (k)

))(s)

I.V.= −f (k)(0) + sk+1(Lf)(s)−k−1∑j=0

sj+1f (k−1−j)(0)

= −f (k)(0)−k∑j=1

sjf (k−j)(0) + sk+1(Lf)(s)

= −k∑j=0

sjf (k−j)(0) + sk+1(Lf)(s)

67

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Satz 3.3.4 Der Nullraum der Laplace-Transformation ist gegeben durch

kerL :={f : R+

0 → R∣∣∣∣ f lokal integrierbar und

∫ τ

0f(t)dt = 0 ∀τ > 0

}Beweis. zur Ubung.

Korollar 3.3.5 Betrachtet man die Laplace-Transformation nur fur stetige Funktionen,fur die sie definiert ist, so ist sie invertierbar. Die Inverse wird mit L−1 bezeichnet. Sieist (wie jede Inverse einer linearen Abbildung) linear.

Beweis. ∫ τ

0f(t)dt = 0 ∀τ > 0, f stetig ⇐⇒ f ≡ 0

⇐ trivial.⇒ Beweisvariante 1: Angenommen es gibt ein x, wobei f(x) 6= 0. O.B.d.A. f(x) > 0.

f stetig=⇒ ∃ε > 0 : f(ξ) > 0 ∀ξ ∈ [x− ε, x+ ε] (x− ε ≥ 0)

=⇒ 0 =∫ x+ε

0f(t) dt =

∫ x−ε

0f(t) dt︸ ︷︷ ︸

=0nach Vor.

+∫ x+ε

x−εf(t) dt

=⇒∫ x+ε

x−εf(t)︸︷︷︸>0

dt = 0

d.h. f ≡ 0.Beweisvariante 2: HDI (f stetig)

f(τ) =d

∫ τ

0f(t)dt︸ ︷︷ ︸=0

= 0

Beispiel 3.3.6 a) f(t) = 1 ∀t

∫ ∞0

e−st · 1 dt = −1se−st

∣∣∣∣t→∞t=0

=

{1s , s > 0+∞ , s < 0∫ ∞

0e0·t · 1 dt = +∞

=⇒ Kf = R+, σf = 0

L{1} =1s

b) L{eat} = 1s−a , s > a (siehe Ubung)

68

3.3 Laplacetransformation

c) L{cosh(at)} = 12L{e

at}+ 12L{e

−at} = 12

1s−a + 1

21s+a = 1

2s+a+(s−a)s2−a2 = s

s2−a2

fur s > max{−a, a} (⇔ s > |a|)Mit dem Differentiationssatz:

L{d

dtcosh(at)

}= sL{cosh(at)} − s0 d

0

dt0(cosh(at))

∣∣∣∣∣t=0

=s2

s2 − a2− cosh(0)︸ ︷︷ ︸

=1

=a2

s2 − a2, s > |a|

=⇒ L{sinh(at)} =1aL{d

dtcosh(at)

}=

a

s2 − a2, s > |a|

Vergleich:

L{d

dtcosh(at)

}= aL{sinh(at)}

=a

2L{eat} − a

2L{e−at}

=a

21

s− a− a

21

s+ a

=a

2s+ a− (s− a)

s2 − a2

=a

22a

s2 − a2=

a2

s2 − a2

s > max{−a, a} = |a|

d) Heaviside-Funktion

H(t) =

{0 , t < 01 , t ≥ 0

allgemeine Sprungstelle bei t = a mit H(t− a) (wg. R+0 als Def’bereich nur a ≥ 0

sinnvoll)

L{H(t− a)} =∫ ∞

0e−stH(t− a)dt =

∫ ∞a

e−stdt = −1se−st

∣∣∣∣t→∞t=a

=1se−as

fur s > 0. (Kf = R+, σf = 0)

Satz 3.3.7 (Ahnlichkeitssatz) (i) L{f(at)}(s) =1aL{f(t)}

(sa

)∀a > 0

(ii) L−1{F(sa

)}(t) = aL−1{F (s)}(at) ∀a > 0

69

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Beweis. (i)∫ ∞

0e−stf(at) dt τ=at=

∫ ∞0

e−sτa f(τ)

1adτ =

1a

∫ ∞0

e−saτf(τ) dτ

(ii) folgt aus (i)

Satz 3.3.8 (Dampfungssatz) (i) L{eatf(t)

}(s) = L{f(t)}(s− a)

(ii) L−1{F (s− a)}(t) = eatL−1{F (s)}(t)

Beweis. (i)∫ ∞

0e−steatf(t) dt =

∫ ∞0

e−(s−a)tf(t) dt

(ii) folgt aus (i)

Satz 3.3.9 (Verschiebungssatz) (i) L{f(t− a)H(t− a)}(s) = e−asL{f(t)}(s) ∀a > 0

(ii) L−1{e−asF (s)

}(t) = L−1{F (s)}(t− a)H(t− a) ∀a > 0

(H: Heaviside-Funktion)

Beweis. ∫ ∞0

e−stf(t− a)H(t− a) dt =∫ ∞a

e−stf(t− a) dt

τ=t−a=∫ ∞

0e−s(τ+a)f(τ) dτ = e−as

∫ ∞0

e−sτf(τ) dτ

Defnition 3.3.10 Seien f, g : R+0 → R lokal integrierbar. Dann heißt f ∗ g : R+

0 → R,definiert durch

(f ∗ g)(t) :=∫ t

0f(τ)g(t− τ)dτ

Faltung von f und g.(Die ist nicht die ”ubliche“ Faltung!)

Satz 3.3.11 (Faltungssatz) (i) L(f ∗ g) = (Lf)(Lg)

(ii) L−1(FG) =(L−1F

)∗(F1G

)Beweis. ohne

Es gibt in den Standard-Nachschlagewerken, z.B. Bronstein, Semendjajew Magnus, Oberhettinger (, Soni)

Tabellen von Laplacetransformierten.

Mit den obigen Satzen kann man daraus weitere Formeln ableiten. Hier ist eine kleineAuswahl:

70

3.3 Laplacetransformation

f(t) L{f(t)}(s)

1 = H(t− 0)1s

eat1

s− a

H(t− a) e−as1s

te−at1

(s+ a)2

f(t) L{f(t)}(s)

−e−at − e−bt

a− b(a 6= b)

1(s+ a)(s+ b)

sin(ωt)ω

s2 + ω2

cos(ωt)s

s2 + ω2

(1− αt)e−αt s

(s+ α)2

Damit ist z.B. nach dem Dampfungssatz

L{eat cosωt

}(s) =

s− a(s− a)2 + ω2

usw.

Der Nutzen fur (Lnki) ist wie folgt: Durch Anwendung der Laplace-Transformation aufdas AWP

y(n) +n−1∑j=0

ajy(j) = s(x), y(0) = y0, . . . , y

(n−1)(0) = y(n−1)0

erhalt man wegen der Linearitat von L

L(y(n)

)+n−1∑j=0

ajL(y(j))

= L(s)

Mit dem Differentiationssatz (Satz 3.3.3.) wird hieraus eine algebraische Gleichung furL(y). Erhalt man hieraus eine Losung L(y) und kann hiervon die inverse Transformierteberechnen, so erhalt man einen Kandidaten. Eine anschließende Probe ist unerlasslich!

Beispiel 3.3.12y′′ − 6y′ + 9y = 0, y(0) = 1, y′(0) = 0

Laplace-TransformationL(y′′)− 6L(y′) + 9L(y) = 0

Setze Y := L(y). Mit dem Differentiationssatz erhalten wir

s2Y (s)− s0 · 0− s1 · 1︸ ︷︷ ︸L(y′′)(s)

−6 (s1Y (s)− s0 · 1)︸ ︷︷ ︸L(y′)(s)

+9Y (s) = 0

=⇒ Y (s) =s− 6

s2 − 6s+ 9=

s− 6(s− 3)2

=s

(s− 3)2− 6

(s− 3)2

=⇒ y(t) = (1 + 3t)e3t − 6te3t = (1− 3t)e3t ist Kandidat.

71

3 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit konstanten Koeffizienten

Probe: y(0) = 1

y′(t) = −3e3t + (1− 3t) · 3e3t = e3t(−9t)y′(0) = 0

y′′(t) = 3e3t(−9t)− 9e3t = (−27t− 9)e3t

Einsetzen in die Differentialgleichung:

y′′ + 6y′ + 9y = e3t(−27t− 9 + 54t+ 9− 27t) = e3t · 0 = 0

=⇒ y(t) = (1− 3t)e3t ist (wegen der Eindeutigkeit) die Losung des AWP.

72

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnungmit variablen Koeffizienten

4.1 Generelles

Satz 4.1.1 (Existenz- und Eindeutigkeitssatz) Gegeben sei die Differentialgleichung

y(n) +n−1∑j=0

aj(x)y(j) = s(x) (Lnvi)

mit den Anfangsbedingungen

y(x0) = y0, y′(x0) = y′0, . . . , y

(n−1)(x0) = y(n−1)0 (Abn)

fur bel. gewahlte x0 ∈ I (I ⊂ R Intervall), y0, ..., y(n−1)0 ∈ R. Sind s, a0, ..., an−1 stetig

auf I, dann hat das AWP genau eine Losung, die auf ganz I existiert.

Beweis. wieder uber eine Integralgleichung und funktionalanalytische Betrachtungen.

Offensichtlich gilt wieder:

Satz 4.1.2 (Superpositionsprinzip) Jede Linearkombination von Losungen von

y(n) +n−1∑j=0

aj(x)y(j) = 0 (Lnvh)

lost (Lnvh).

Satz 4.1.3 Die allgemeine Losung von (Lnvi) hat die Form

partikulare inhomogene Losung + allgemeine homogene Losung

Defnition 4.1.4 Sind v1, ..., vn die Losung von (Lnvh) auf dem Intervall I, so dass dieWronski-Determinante

W (v1, ..., vn) :=

∣∣∣∣∣∣∣∣∣v1 v2 . . . vnv′1 v′2 . . . v′n...

.... . .

...v

(n−1)1 v

(n−1)2 . . . v

(n−1)n

∣∣∣∣∣∣∣∣∣an mindestens einer Stelle x0 ∈ I von Null verschieden ist, so heißt {v1, ..., vn} Integral-basis (Fundamentalsystem, Hauptsystem von Losungen) von (Lnvh).

Satz 4.1.5 Sind die Funktionen a0, ..., an−1 in (Lnvh) stetig auf dem Intervall I, sobesitzt (Lnvh) ein Fundamentalsystem von Losungen. Jede Losung von (Lnvh) ist injedem Fundamentalsystem eindeutig als Linearkombination darstellbar.

73

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

Beweis. 1. Sei x0 ∈ I. Nach Satz 4.1.1. existieren (eindeutige) Funktionen v1, ..., vn,die (Lnvh) losen und die Anfangsbedingungen v

(k)j (x0) = δj−1,k ∀j = 1, ..., n ∀k =

0, ..., n− 1 erfullen. Die Wronski-Determinante bei x0 ist damit die Determinanteder Einheitsmatrix und somit 1 6= 0.⇒ {v1, ..., vn} ist Fundamentalsystem (per definitionem).

2. Sei nun {v1, ..., vn} irgendein Fundamentalsystem und x0 ∈ I eine Stelle, wo dieWronski-Determinante 6= 0 ist. Sei ferner y eine bel. Losung von (Lnvh). Wirsuchen

η :=n∑j=1

Cjvj

(d.h. wir suchen C1, ..., Cn), so dass

η(k)(x0) = y(k)(x0) ∀k = 0, ..., n− 1

Beachte: Wegen des Superpositionsprinzips ist η eine Losung von (Lnvh).

Die Anfangsbedingungen fur η fuhren zu einem LGS:

n∑j=1

Cj v(k)j (x0)︸ ︷︷ ︸

Wronski-Matrix beix0, regular

!= y(k)(x0) ∀k = 0, ..., n− 1

⇒ C1, ..., Cn existieren eindeutig.

Da es nur eine Losung des AWPs geben kann, muss y = η sein.

Satz 4.1.6 Seien v1, ..., vn beliebige Losungen von (Lnvh) auf dem Intervall I, wobeia0, ..., an−1 stetig auf I sind. Dann gilt fur jedes beliebige x0 ∈ I

W (v1, ..., vn)(x0) = 0 ⇐⇒ W (v1, ..., vn)(x) = 0 ∀x ∈ I

(Somit ist die Wronski-Determinante eines Fundamentalsystems uberall 6= 0.)

Beweis. ⇐ trivial.⇒ Sei W (v1, ..., vn)(x0) = 0.

⇒ ∃(C1, ..., Cn) 6= (0, ..., 0) :n∑j=1

Cj v(k)j (x0)︸ ︷︷ ︸

singulareMatrix

= 0 ∀k = 0, ..., n− 1

Damit ist

y :=n∑j=1

Cjvj

eine Losung von (Lnvh), nach dem Superpositionsprinzip, mit den Anfangsbedingungeny(k)(x0) = 0 ∀k = 0, ..., n − 1. Wegen Satz 4.1.1. (Eindeutigkeit der Losung) ist damit

74

4.2 Die Euler’sche Differentialgleichung

y ≡ 0, d.h.

n∑j=1

Cjvj(x) = 0 ∀x ∈ I

ableiten=⇒n∑j=1

Cjv(k)j (x) = 0 ∀x ∈ I ∀k = 0, ..., n− 1

mit (C1, ..., Cn) 6= (0, ..., 0)=⇒ W (v1, ..., vn)(x) = 0 ∀x ∈ I

Korollar 4.1.7 Seien a0, ..., an−1 in (Lnvh) stetig auf dem Intervall I und v1, ..., vn seienn Losungen von (Lnvh) auf I. Dann gilt:

v1, .., vn sind linear unabhangig⇐⇒ W (v1, ..., vn)(x) 6= 0 ∀x ∈ I⇐⇒ v1, ..., vn Fundamentalsystem

4.2 Die Euler’sche Differentialgleichung

n∑j=0

ajxjy(j) = s(x), x > 0, ak ∈ R ∀k, an 6= 0 (ED)

Satz 4.2.1 Die allg. Lsg. y ∈ C(n)(R+) von (ED) ist von der Form

y(x) = u(lnx)

wobei u die allg. Lsg. von

n∑k=0

k! ak

(D

k

)u = s(et) (ED*)

ist.Ist s ∈ C(∞)(R+) (insb. im homogenen Fall), so sind alle Losungen in C(∞)(R+). Hierbeiist (

D

k

)=

1k!D(D − 1)...(D − k + 1)

und D der Differentialoperator.

Beachte: (ED*) ist vom Typ (Lnki). Die allg. Losung kann also im homogenen Fallexplizit angegeben werden.

Beweis. 1. Sei y Losung von (ED). Wegen x > 0 kann man t := lnx mit u(t) =y(x) = y(et) schreiben.

75

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

a) y ∈ C(∞) (⇔ u ∈ C(∞)) analog zum Fall konstanter Koeffizienten.

Dk

n∑j=0

ajxjy(j)

= s(k)Linearitat

⇐⇒von D

n∑j=0

ajDk(xjy(j)) = s(k)

Leibniz⇐⇒ an

k∑l=0

(k

l

)(Dlxn)y(n+k−l) +

n−1∑j=0

ajDk(xjy(j)) = s(k)

⇐⇒ anxny(n+k) = s(k) − an

k∑l=1

(k

l

)(Dlxn)y(n+k−l) −

n−1∑j=0

ajDk(xjy(j))︸ ︷︷ ︸

Terme in y(0),...,y(n+k−1) mit stet. Koeff.

b) y′ = dudt ·

dtdx = (Du) 1

x = (Du)e−t (mit t = lnx, dtdx = 1

x = 1et = e−t)

=⇒ y′′ =d

dt

((Du)e−t

)e−t

= (D2u)e−t +((Du)(−e−t)

)e−t

= e−2t(D2u−Du

)︸ ︷︷ ︸D(D−1)u

Vermutung: y(k)(t) = e−ktk!(D

k

)u(t)

Beweis der Vermutung durch vollstandige Induktion:k → k + 1:

y(k+1) I.V.=d

dt

(e−ktk!

(D

k

)u

)e−t

= −ke−ktk![(D

k

)u

]e−t + e−ktk!

[D

(D

k

)u

]e−t

= e−(k+1)tk!(−k(D

k

)u+D

(D

k

)u

)= e−(k+1)tk!

(D

k

)(D − k)u

= e−(k+1)tD(D − 1) . . . (D − (k + 1)− 1)u

= e−(k+1)t(k + 1)!(

D

k + 1

)u

Einsetzen in (ED) ergibt:

n∑j=0

ajejte−jtj!

(D

j

)u = s

(et)

⇐⇒n∑j=0

ajj!(D

j

)u = s

(et)

⇐⇒ (ED*)

76

4.3 Potenzreihenansatz

2. Sei u ∈ C(n)(R+) Losung von (ED*), dann gilt u ∈ C(∞)(R+) (mit Satz 2.3.2. undden Ubungen).

wie oben: s(et) =n∑j=0

ajy(j)xj =

n∑j=0

ajj!(D

j

)u

Beispiel 4.2.2 x2y′′ − 7xy′ + 15y = x, y(1) = y′(1) = 0

(ED*): a22!(D

2

)u+ a11!

(D

1

)u+ a00!

(D

0

)u = et

⇐⇒ 1 ·D(D − 1)u+ (−7)Du+ 15u = et

⇐⇒ u− u− 7u+ 15u = et

⇐⇒ u− 8u+ 15u = et

homogen: charakteristisches Polynom

p(λ) = λ2 − 8λ+ 15 != 0⇐⇒ λ1,2 = 4±√

16− 15⇐⇒ λ ∈ {3; 5} (Vielfachheit je 1)

⇒ allgemeine homogene Losung: u(t) = C1e3t + C2e

5t

inhomogen: partikulare Losung (siehe Aufgabe 25a)

up(t) =1

5− 3

(e5t

∫ t

0e−5τeτ dτ − e3t

∫ t

0e−3τeτ dτ

)=

12

(e5t 1−4(e−4t − 1

)− e3t 1

−2(e−2t − 1

))=

12

(14et +

14e5t − 1

2e3t)

=18et +

18e5t − 1

4e3t

allgemeine inhomogene Losung:

u(t) =18et +

18e5t − 1

4e3t + C1e

3t + C2e5t, C1, C2 ∈ R bel.

=⇒ u(t) =18et + C1e

3t + C2e5t

⇒ allgemeine Losung der Euler’schen Differentialgleichung

y(x) =18x+ C1x

3 + C2x5

y(1) != 18 +C1+C2 = 0 und y′(1) != 1

8 +3C1+5C2 = 0 wird gelost durch C1 = −14 , C2 = 1

8 .

4.3 Potenzreihenansatz

Satz 4.3.1 Gegeben sei das AWP

y(n) +n−1∑j=0

aj(t)y(j) = s(t), y(j)(t0) = bj , j = 0, . . . , n− 1 (1)

77

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

Wenn es ein ε > 0 gibt, so dass die Funktionen a0, . . . , an−1, s auf dem Intervall I :=(t0 − ε, t0 + ε) in eine Potenzreihe entwickelbar sind, dann gilt das selbe auch fur dieLosung y von (1).

Beweis. ohne

Beispiel 4.3.2 (Legendre’sche Differentialgleichung)

(1− t2)y′′ − 2ty′ + αy = 0(⇔ d

dt[(1− t2)y′] = −αy

)(2)

Wir bringen (2) auf die Form (1):

y′′ − 2t1− t2

y′ − α

1− t2y = 0

Hier ist also Satz 4.3.1. mit t0 = 0 und ε = 1 anwendbar. Wir suchen also eine Losungvon (2) der Form

y(t) =∞∑k=0

ak(t− t0)k =∞∑k=0

aktk (3)

Zur Erinnerung: Potenzreihen sind im Inneren ihres Konvergenzbereichs beliebig oftgliedweise differenzierbar (hier auf ]− 1, 1[).

(3) in (2):

(1− t2)∞∑k=2

ckk(k − 1)tk−2 − 2t∞∑k=1

ckktk−1 − α

∞∑k=0

cktk = 0

=⇒∞∑k=2

ckk(k − 1)tk−2 −∞∑k=0

ckk(k − 1)tk − 2∞∑k=0

ckktk + α

∞∑k=0

cktk = 0

⇐⇒∞∑k=0

ck+2(k + 2)(k + 1)tk −∞∑k=0

ckk(k − 1)tk − 2∞∑k=0

ckktk + α

∞∑k=0

cktk = 0

⇐⇒∞∑k=0

tk[ck+2(k + 2)(k + 1)−ckk(k − 1)− 2ckk + αck︸ ︷︷ ︸

=−ck(k2−k+2k−α)=−ck(k(k+1)−α)

]= 0

Koeffizientenvergleich (s. Identitatssatz fur Potenzreihen):

Fur alle k ≥ 0: ck+2 = ckk(k + 1)− α

(k + 2)(k + 1)

weiteres Vorgehen: Auflosen der Rekursion

c0 → c2 → c4 → c6 → . . .

c1 → c3 → c5 → c7 → . . .

Zwei linear unabhangige Losungen:

yg(t) =∞∑j=0

c2jt2j , yu(t) =

∞∑j=0

c2j+1t2j+1

(”gerade und ungerade Losung“)

78

4.3 Potenzreihenansatz

c0 legt yg fest, c1 legt yu fest.

yu(t) = −yu(−t), yg(t) = yg(−t), yu(0) = 0

Spezialfall: ∃ k ∈ N0 : α = k(k + 1). Dann bricht die Rekursion ab. Fur jedes n ∈ N0

erhalt man somit ein Polynom Pn, das (2) lost mit α = n(n + 1) und vom Grad n ist.Mit Pn(1) = 1 wird dieses eindeutig. Legendre-Polynome (Legendre 1785)

cn+2 = cnn(n+ 1)− α

(n+ 2)(n+ 1)= 0

Ist n gerade, so ist yg polynomial. Ist n ungerade, so ist yu polynomial.

n = 0 : P0 = const. ⇒ P0 ≡ 1

n = 1 : P1(t) = c1tP1(1)=1

=⇒ P1(t) = t

n = 2 : P2(t) = c0 + c2t2

c0 + c2 = 1c2 = c0

0(0+1)−2(2+1)(0+2)(0+1) = −3c0

=⇒ −c0 · 2 = 1 ⇒ c0 = −12

=⇒ c2 = 32

=⇒ P2(t) = 32 t

2 − 12

∫ 1

−1P1(t)P2(t) dt =

∫ 1

−1−1

2t+

32t3 dt = 0

∫ 1

−1P0(t)P2(t) dt =

∫ 1

−1−1

2+

32t2 dt = −1

2t+

12t3∣∣∣∣1−1

= 0

allgemein∫ 1

−1Pn(t)Pm(t) dt = 0 fur n 6= m.

”Orthogonalpolynome“{Pn

(∫ 1

−1Pn(t)2 dt

)− 12

}n∈N0

ist eine Orthonormalbasis von L2[−1, 1].

Anwendungen: Wellenphanomene, Gravitationsfeld, spharische Analysis

Bei der allgemeineren impliziten Form

n∑j=0

aj(t)y(j) = s(t)

79

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

reicht es nicht, einfach zu fordern, dass auch an auf (t0 − ε, t0 + ε) in eine Potenzreiheum t0 entwickelbar ist. Bringt man die Gleichung auf die Form (1), so hat man

y(n) +n−1∑j=0

aj(t)an(t)

y(j) =s(t)an(t)

Ein Problem liegt also vor, wenn die Gleichung ”echt implizit“ ist, also an(t0) = 0 gilt,wie auch das folgende Beispiel zeigt:

Beispiel 4.3.3 x2y′′ − xy′ + y = 0

Potenzreihenansatz: y(x) =∞∑k=0

ckxk

=⇒∞∑k=2

ckk(k − 1)xk−2+2 −∞∑k=1

ckkxk−1+1 +

∞∑k=0

ckxk = 0

Koeffizientenvergleich:⇐⇒ c0 = 0, −c1 + c1 = 0, ck (k(k − 1)− k + 1)︸ ︷︷ ︸

(k−1)2 6=0

= 0 ∀k ≥ 2

⇐⇒ ck = 0 ∀k 6= 1 und c1 beliebig⇐⇒ y(x) = cx

bekannterAnsatz−→

Satz 4.2.1.y(x) = u(lnx) als allgemeine Losung mit

2∑k=0

k!ak

(D

k

)u = 0 (a2 = 1, a1 = −1, a0 = 1)

⇐⇒ D2u− 2Du+ u = 0

charakteristisches Polynom: p(λ) = λ2 − 2λ+ 1 = 0 ⇔ λ1,2 = 1

=⇒ allgemeine Losung: u(t) = (C1 + C2t)

=⇒ y(x) = (C1 + C2 lnx)x

−→ Der Potenzreihenansatz hat also nicht alle Losungen geliefert, da in y′′− 1xy′+ 1

x2 y = 0die Vorfaktoren um 0 nicht in eine Potenzreihe entwickelbar sind.

Beachte: C2x lnx ist auch nicht um 0 entwickelbar.

Satz 4.3.4 Gegeben sei

P (x)y′′ +Q(x)y′ +R(x)y = 0 (4)

mit reellen Funktionen P,Q und R. Es gelte:

1. 0 ist eine schwach singulare Stelle, d.h. P (x0) = 0 und es existiert ein % > 0, sodass die Potenzreihenentwicklungen

xQ(x)P (x)

=∞∑n=0

anxn, x2R(x)

P (x)=∞∑n=0

bnxn ∀x ∈ (−%, %)

80

4.4 Die Bessel’sche Differentialgleichung

moglich sind.

2. r ∈ C ist exponierter Index der Gleichung, d.h.

F0(r) := r(r − 1) + a0r + b0 = 0, F0(r + n) 6= 0 ∀n ∈ N

Dann hat (4) auf (−%, %) eine Losung der Form

y(x) = xr∞∑n=0

cnxn mit c0 6= 0. (5)

Die cn erhalt man durch Einsetzen von (5) in (4) und Koeffizientenvergleich.Ist y komplexwertig, so sind Re(y) und Im(y) reellwertige Losungen von (4).

Beweis. ohne

Satz 4.3.5 Voraussetzungen wie in Satz 4.3.4.; r1, r2 ∈ C (nicht zwingend verschiedene)Indizes, d.h. F0(rj) = 0 (j = 1, 2). Sind r1 und r2 reell, so sei r1 ≥ r2 (d.h. r1 istexponiert).Dann hat (4) auf (−%, %) zwei linear unabhangige Losungen

y1(x) = xr1∞∑n=0

cnxn (mit c0 6= 0)

und

y2 =

xr2∞∑n=0

dnxn mit d0 6= 0 , r1 − r2 6∈ N

y1(x) lnx+ xr1∞∑n=1

dnxn , r1 = r2

Ay1(x) lnx+ xr2∞∑n=0

dnxn mit d0 6= 0 , r1 − r2 ∈ N

4.4 Die Bessel’sche Differentialgleichung / schwingende Saite

Beispiel 4.4.1 (schwingende Saite und Membran) Eine Saite mit konstanter Dichte ρwird an zwei Punkten x = 0 und x = L starr befestigt. Dabei herrscht an allen Stellender Saite die gleiche Spannung S = S0 (Ausgangsspannung, rein horizontal). Nun wirddie Saite in z-Richtung ausgelenkt, was eine Ruckstellkraft FR bewirkt.⇒ Die Spannung S ist nicht mehr konstant bzgl. x.

Newton’sches Gesetz: Masse · Beschleunigung = Summe der wirkenden Krafte

Auf einem kleinen Stuck ∆x gilt:

FR = (ρ ·∆x)︸ ︷︷ ︸Masse

·z, z =∂2z

∂t2

Ausschnitt:

81

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

S(x): tangentiale Spannung bei xS(x+ ∆x): tangentiale Spannung bei x+ ∆x

Die horizontale Spannung bleibt erhalten

S0 = S(x+ ∆x) cosβ = S(x) cosα

und fur die vertikale Spannung gilt:

S(x+ ∆x) sinβ − S(x) sinα = FR = (ρ∆x)z

=⇒ S(x+ ∆x) sinβS(x+ ∆x) cosβ

− S(x) sinαS(x) cosα

ρ0∆xz

=⇒ tanβ − tanα =ρ

ρ0∆xz

Da die Saite als Graph von x 7→ z(t, x) interpretiert werden kann, gilt fur die Neigungs-winkel:

tanβ =∂z

∂x(x+ ∆x), tanα =

∂z

∂x(x)

=⇒ z =S0

ρ∆x

(∂z

∂x(x+ ∆x)− ∂z

∂x(x))

∆x→0=⇒ ∂2z

∂t2=S0

ρ

∂2z

∂x2(x)

=⇒ ∂2z

∂t2= α2 ∂

2z

∂x2, α =

√S0

ρ0

(Dgl. der schwingenden Saite,d’Alembert, 1746)

Eine 2D-Membran wird in der xy-Ebene am Rand fest eingespannt.

analog−→zu oben

Wellengleichung:∂2z

∂t2= α2

(∂2z

∂x2+∂2z

∂y2

)= α2∆z,

wobei ∆ der Laplace-Operator ist.

82

4.4 Die Bessel’sche Differentialgleichung

Separationsansatz: z(t, x, y) = u(t)v(x, y)

=⇒ uv = α2u∆vu,v 6=0⇐⇒ 1

α2

u

u=

∆vv

=⇒ beide Seiten konstant (da die linke Seite nur von t abhangt und die rechte nurvon x, y)

⇐⇒ 1α2

u

u=

∆vv

= −λ, λ ∈ R konstant

⇐⇒ u+ α2λu = 0, ∆v + λv = 0︸ ︷︷ ︸Helmholtz-Gleichung

(Amplitudengleichung)

, λ ∈ R konstant

Sei die Membran kreisformig und durch x2 + y2 ≤ R2 gegeben.→ Polarkoordinaten: x = r cosϕ, y = r sinϕ, r ∈ [0, R], ϕ ∈ [0, 2π)Fur die Helmholtz-Gleichung benotigen wir den Laplace-Operator in Polarkoordinaten.Sei F (x(r, ϕ), y(r, ϕ)) gegeben. (Fr := ∂F

∂r usw.)

=⇒ (Fr, Fϕ) Ketten-=regel

(Fx, Fy)(xr xϕyr yϕ

)⇐⇒ (Fr, Fϕ)

(xr xϕyr yϕ

)−1

= (Fx, Fy),

wobei(xr xϕyr yϕ

)=(

cosϕ −r sinϕsinϕ r cosϕ

)mit det = r

=⇒ (∇F )T = (Fx, Fy) = (Fr, Fϕ)1r

(r cosϕ r sinϕ− sinϕ cosϕ

)=

(cosϕ ∂

∂r −1r sinϕ ∂

∂ϕ

sinϕ ∂∂r + 1

r cosϕ ∂∂ϕ

)F

=⇒ ∆F = ∇ · ∇F = 1 · ∂2F

∂r2+

1r2

∂2F

∂ϕ2+ 0 · ∂F

2

∂ϕ∂r+

1r

∂F

∂r+ 0 · ∂F

∂ϕ

Also wird aus der Helmholtz-Gleichung

∂2V

∂r2+

1r

∂V

∂r+

1r2

∂2V

∂ϕ2+ λV = 0

mit V (r, ϕ) := v(x(r, ϕ), y(r, ϕ)) und aus der Randbedingung:

V (R,ϕ) = 0 ∀ ϕ ∈ [0, 2π)

Separationsansatz V (r, ϕ) = f(r) · g(ϕ) in der Helmholtz-Gleichung:

(f ′′ +1rf ′ + λf)g +

1r2fg′′ = 0

∣∣∣ · r2

fg

=⇒ r2

f

(f ′′ +

1rf ′ + λf

)︸ ︷︷ ︸

hangt nur von r ab

+g′′

g︸︷︷︸hangt nurvon ϕ ab

= 0

⇐⇒ r2

f

(f ′′ +

1rf ′ + λf

)= −g

′′

g= const. =: µ

⇐⇒ r2f ′′ + rf ′ + (λr2 − µ)f = 0 (1)g′′ + µg = 0 (2)

83

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

Aus der Modellierung (u.a. den Randbedingungen) erhalten wir die Forderungen:

• f(R) = 0

• f(r) fur r → 0 beschrankt

• g muss 2π-periodisch sein(2)⇒ µ > 0 und g(ϕ) = A cos(

√µϕ) + B sin(

√µϕ). Setze

ν :=√µ, wg. 2π-Periodizitat muss ν ∈ N0 gelten.

• u sollte (aus physikalischen Erwartungen heraus) auch periodisch sein. Wegen u+α2λu = 0 muss also auch λ > 0 gelten:

u(t) = C · cos(α√λt) +D sin(α

√λt)

in (1): r2f ′′ + gf ′ + (λr2 − ν2)f = 0, ν ∈ N0, f(R) = 0, f beschrankt

Substituiere: r =ρ√λ, J(ρ) := f

( ρ√λ

),

d

dr

Ketten-=regel

dr· ddρ

=√λd

=⇒ ρ2

λ2λ2J ′′ +

ρ√λ

√λJ ′ +

(λρ

λ− ν2

)J = 0

Defnition 4.4.2 Eine Gleichung der Form

x2y′′ + xy′ + (x2 − ν2)y = 0 (BD)

wobei ν ∈ R konstant ist, heißt Bessel’sche Differentialgleichung der Ordnung ν.

Oft werden — wie in obigem Beispiel — nur Losungen auf R+ gesucht.

Die Bessel’sche Differentialgleichung ist schwach singular. Wir bestimmen die Indizesder Gleichung:

xx

x2= 1 =⇒ an = δn0

x2 x2 − ν2

x2= x2 − ν2 =⇒ b2 = 1, b0 = −ν2, alle anderen = 0

Indexgleichung: r(r − 1) + 1 · r − ν2 = 0⇔ r1,2 = ±νO.B.d.A. ν ≥ 0, r1 = +ν exponierter IndexSatz 4.3.4.−→ Ansatz: y(x) = xν

∞∑n=0

cnxn, ν ≥ 0

=⇒ y(k)(x) =∞∑n=0

cn(n+ ν)(n+ ν − 1) · · · (n+ ν − k + 1)xn+ν−k, k > 0

x2y′′ + xy′ + (x2 − ν2)y = 0 bedeutet also

∞∑n=0

xn+ν[cn(n+ ν)(n+ ν − 1) + cn(n+ ν)− ν2cn

]+∞∑n=0

cnxn+ν+2 = 0

⇐⇒∞∑n=0

xn+νcn[(n+ ν)2 − ν2

]+∞∑n=2

cn−2xn+ν = 0

Koeffizientenvergleich: c0(ν2 − ν2) = 0c1[(1 + ν2)ν2] = 0 ⇔ c1 = 0

84

4.4 Die Bessel’sche Differentialgleichung

cn(n2 + 2nν) = −cn−2 ∀n ≥ 2 ⇔ cn = − cn−2

n(n+2ν)Damit c2k+1 = 0 ∀k ∈ N0

Mit Induktion findet man c2k = c0(−1)k

k!2k12k[

(k + ν) . . . (1 + ν)︸ ︷︷ ︸=

Γ(k+ν+1)Γ(ν+1)

]−1, k ∈ N0, wobei

Γ fur die Gamma-Funktion steht (Γ(x + 1) = xΓ(x) ∀x ∈ R+ (aber erweiterbar),Γ(1) = 1, Γ(n+ 1) = n! ∀n ∈ N0), siehe Analysis

Also ist

y(x) = c0

∞∑k=0

(−1)k

22kk!Γ(ν + 1)

Γ(k + ν + 1)x2k+ν

Setze c0 =1

Γ(ν + 1)2ν. Dann ist die erste linear unabhangige Losung

y1(x) =∞∑k=0

(−1)k

22k+νk!Γ(ν + k + 1)x2k+ν

Defnition 4.4.3

Jν(x) :=∞∑k=0

(−1)k

k!Γ(k + ν + 1)

(x2

)2k+ν, x > 0

heißt Bessel’sche Funktion erster Art der Ordnung ν. (Ist ν ∈ N0, so kann Jν auf Rerweitert werden.)

Wir haben einen weiteren Index r = −ν. Nach Satz 4.3.5. gibt es drei Moglichkeiten:

(1) ν − (−ν) 6∈ Z ⇔ 2ν 6∈ Z

y2(x) =∞∑n=0

dnxn−ν analog zu oben, ersetze jedoch ν durch −ν, d.h.

y2(x) =∞∑k=0

(−1)k

k!Γ(k − ν + 1)

(x2

)2k−ν

Dies funktioniert auch, wenn 2ν ∈ Z, ν 6∈ Z.

(2) und (3): ν − (−ν) = 2ν ∈ N0. Wir beschranken uns auf ν ∈ N0.

y2(x) = Ay1(x) lnx+ y−ν∞∑n=0

dnxn mit A = 1 bei ν = 0

einsetzen=⇒ . . . =⇒ y2(x) = Jν(x) lnx− 12

ν−1∑k=0

(ν − k − 1)!k!

(x2

)2k−ν

− 12

∞∑k=0

(−1)k(hk + hk+ν)k!(k + ν)!

(x2

)2k+ν

hk :=k∑j=1

1j

Statt y2 ”bastelt“ man sich ublicherweise aus y1 und y2 eine andere zu y1 linear un-abhangige Losung.

85

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

Defnition 4.4.4

Yν(x) := 2π[(C + lnx− ln 2)Jν(x)− 1

2

ν−1∑k=0

(ν − k − 1)!k!

(x2

)2k−ν

− 12

∞∑k=0

(−1)k(hk + hk+ν)k!(k + ν)!

(x2

)2k+ν]

x ∈ R+, ν ∈ N, hk :=k∑j=0

1j, C := lim

k→∞(hk − ln k)

heißt Bessel’sche Funktion zweiter Art der Ordnung ν oder Neumann’sche Funktion derOrdnung ν.(C heißt Euler-Mascheroni’sche Konstante)

Also gilt:

Satz 4.4.5 Die allgemeine Losung von (BD) der Ordnung ν ≥ 0 ist auf R+

a) y(x) = C1Jν(x) + C2J−ν(x), C1, C2 ∈ R beliebige Konstanten, falls ν 6∈ N0.

b) y(x) = C1Jν(x) + C2Yν(x), C1, C2 ∈ R beliebige Konstanten, falls ν ∈ N0.

”spezielle Funktionen der mathematischen Physik“

Beispiel 4.4.6 (wieder schwingende Membran)

z(t, x, y) = u(t)J(r√λ)g(ϕ)

mit u+ α2λu = 0, ρ2J ′′ + ρJ ′ + (ρ2 − ν2)J = 0, g′′ + µg = 0, µ = ν2, ν ∈ N0

Beachte: Yν , ν > 0, ist nicht beschrankt.α war durch das Problem selbst gegeben.

=⇒ z(t, r, ϕ) =(C1 sin(α

√λt) + C2 cos(α

√λt))·C3Jν(

√λr) · (C4 sin(νϕ) + C5 cos(νϕ))

mit z(t, R, ϕ) = 0 ∀t ∀ϕ, d.h. Jν(√λR) = 0

Dies ist eine Bedingung an λ.

Sind ξj,ν , j = 1, . . . , nν , die positiven Nullstellen von Jν , so ist nur λj =(ξj,νR

)2moglich.

Die allgemeine Losung kann dann dargestellt werden als

z(t, r, ϕ) =∞∑ν=0

nν∑j=1

Aν,j

(C1 sin

(αξj,νRt

)+ C2 cos

(αξj,νRt

))

· C3Jν

(ξj,νRt

)(C4 sin(νϕ) + C5 cos(νϕ))

Die Schwingung ist also die Uberlagerung einzelner Grundschwingungen mit unterschied-lichen Eigenfrequenzen. Die Konstanten hangen hier z.B. von der Anfangsauslenkungz(t0, r, ϕ) ab.

Beispiel 4.4.7 (zuruck zur schwingenden Saite)

∂2

∂t2z = α2 ∂

2z

∂x2(3)

86

4.4 Die Bessel’sche Differentialgleichung

α ∈ R+ konstant, z(t, 0) = z(t, L) = 0Das ist ein Randwertproblem.

Separationsansatz: z(t, x) = u(t)v(x)aus (3) wird

uv = αuv′′u,v 6=0⇐⇒ u

u︸︷︷︸hangt nurvon t ab

= α2 v′′

v︸ ︷︷ ︸hangt nurvon x ab

⇐⇒ v′′

v= −λ, u

u= −α2λ, λ ∈ R konstant

⇐⇒ v′′ + λv = 0, u+ α2λu = 0, λ ∈ R konstant

Losung fur u: u(t) = A sin(α√λt) +B cos(α

√λt)

Losung fur v: v(x) = C1 sin(√λx) + C2(

√λx)

Die Randbedingungen wirken sich auf v aus:

z(t, 0) = 0 ∀t ⇐⇒ v(0) = 0 ⇐⇒ C2 = 0

z(t, L) = 0 ∀t ⇐⇒ v(L) = 0 ⇐⇒ C1 sin(√λL) = 0

C1 6=0⇐⇒ λ =(nπL

)2, n ∈ N0 Eigenwerte des Problems

vn(x) = sin(nπLx)

Eigenfunktionen

Eigenschwingungen:

un(t, x) =[An sin

(αnπ

Lt)

+Bn cos(αnπ

Lt)]· sin

(nπLx)

u1: Grundschwingung, un, n ≥ 2: Oberschwingungen/-toneEigenfrequenzen:

ν = αnπ

L

12π

= αn

2L(α =

√S0ρ , S0 : Anfangsspannung, % : Dichte

)Durch die Anfangsspannung der Saite wird damit die Frequenz der Tone beeinflusst, diedie Saite erzeugt.Fur den Ort hatten wir die Randbedingungen:

z(t, 0) = z(t, L) = 0 ∀t

Fur die Zeit ergeben sich Anfangsbedingungen aus der anfanglichen Auslenkung (g, hgegeben):

z(0, x) = g(x) (Ort der Auslenkung)∂z

∂t(0, x) = h(x) (Geschwindigkeit der Auslenkung)

Ansatz: z(t, x) =∞∑n=1

un(t, x) (vgl. Superpositionsprinzip)

Annahme: gleichmaßige Konvergenz, zwei Mal gliedweise differenzierbar

87

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

⇒ z erfullt die Differentialgleichung und die Randbedingungen

Anfangsbedingungen:

g(x) =∞∑n=1

un(0, x) =∞∑n=1

Bn sin(nπLx)

(4)

h(x) =∞∑n=1

∂un∂t

(0, x) =∞∑n=1

Anαnπ

Lsin(nπLx)

(5)

{sin(nπL·)}

n∈NOrthogonalsystem in L2[0, L], nicht vollstandig (da

{cos(nπL·)}

n∈Nfehlt).

Sind (4),(5) losbar, so ist

Bn =∫ L

0g(x) sin

(nπLx)dx ·

(∫ L

0sin2

(nπLx)dx

)− 12

An =L

αnπ

∫ L

0h(x) sin

(nπLx)dx ·

(∫ L

0sin2

(nπL

)dx

)− 12

4.5 Die Sturm’sche Randwertaufgabe

Defnition 4.5.1 Unter einer Sturm’schen Randwertaufgabe versteht man das Problem

Lu := (p(x)u′)′ + q(x)u = f(x), x ∈ [a, b],R1u := α1u(a) + α2u

′(a) = 0,R2u := β1u(b) + β2u

′(b) = 0,

wobei alle Großen reell sind, p > 0 und C(1) auf [a, b], q und f stetig auf [a, b] sowie(α1, α2), (β1, β2) 6= (0, 0).

Beachte:Lu = p′u′ + pu′′ + qu

Eine Differentialgleichung der Form

u′′ + a1(x)u′ + a0(x)u = g(x)

(a1 stetig) lasst sich auf die Form Lu = f bringen, indem man sie mit p(x) := exp(∫a1(x) dx)

multipliziert:p(x)u′′ + p′(x)︸ ︷︷ ︸

=p(x)a1(x)

u′ + (p(x)a0(x))u = p(x)g(x)

Allgemein geht das auch mit inhomogenen Randbedingungen:

Satz 4.5.2 Sei (u1, u2) eine Integralbasis von Lu = 0. Dann gilt: Das Randwertproblem(RWP)

Lu = f, R1u = ρ1, R2u = ρ2

ist genau dann eindeutig losbar, wenn∣∣∣∣R1u1 R1u2

R2u1 R2u2

∣∣∣∣ 6= 0

88

4.5 Die Sturm’sche Randwertaufgabe

Beweis. allgemeine Losung von Lu = f :

u = up + C1u1 + C2u2; C1, C2 ∈ R bel.

mit Lup = f .Es gilt somit:

RWP ist eindeutig losbar

⇐⇒ Rku = Rkup + C1Rku1 + C2Rku2!= ρk, k = 1, 2, eindeutig losbar

⇐⇒ LGS: C1Rku1 + C2Rku2 = ρk −Rkup, k = 1, 2, eindeutig losbar

⇐⇒∣∣∣∣R1u1 R1u2

R2u1 R2u2

∣∣∣∣ 6= 0

Satz 4.5.3 Das RWPLu = f, Rku = ρk, k = 1, 2

ist genau dann eindeutig losbar, wenn das zugehorige homogene Problem

Lu = 0, Rku = 0, k = 1, 2

nur trivial losbar ist (d.h. u ≡ 0 ist die einzige Losung).

Beweis. u ≡ 0 ist stets Losung des homogenen RWP. Es gilt:

homogenes Problem eindeutig (also nur trivial) losbar

Satz 4.5.2.⇐⇒∣∣∣∣R1u1 R1u2

R2u1 R2u2

∣∣∣∣ 6= 0 (fur irgendeine Integralbasis {u1, u2} von Lu = 0)

Satz 4.5.2.⇐⇒ Lu = f, Rku = ρk, k = 1, 2 eindeutig losbar

Wir ziehen uns daher beim Sturm’schen Problem auf Rku = 0 bei trotzdem Lu = fzuruck (”halbhomogenes Randwertproblem“).

Satz 4.5.4 Ein Sturm’sches RWP sei gegeben, so dass die zugehorige homogene AufgabeLu = 0, Rku = 0, k = 1, 2 nur trivial losbar ist, wobei {v1, v2} ein Fundamentalsystemvon Lu = 0 mit Rkvk = 0, k = 1, 2 sei.Dann sei die Green’sche Funktion G definiert durch

G(x, t) :=1

p(a)W (a)·

{v1(x)v2(t) , a ≤ x ≤ t ≤ bv1(t)v2(x) , a ≤ t ≤ x ≤ b

wobei W die Wronski-Determinante

W (x) :=∣∣∣∣v1(x) v2(x)v′1(x) v′2(x)

∣∣∣∣ist.Dann ist die eindeutig bestimme Losung u des Sturm’schen Problems gegeben durch

u(x) =∫ b

aG(x, t)f(t) dt, a ≤ x ≤ b

89

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

Beweis. Zu zeigen: Obiges u ist Losung.

u(x) =∫ x

aG(x, t)f(t) dt+

∫ b

xG(x, t)f(t) dt, x ∈ [a, b]

a) Wir berechnen u′:

u(x+ h) =∫ x+h

aG(x+ h, t)f(t) dt+

∫ b

x+hG(x+ h, t)f(t) dt,

1h

(u(x+ h)− u(x))

=1h

(∫ x+h

xG(x+ h, t)f(t) dt+

∫ x

a

(G(x+ h, t)−G(x, t)

)f(t) dt

−∫ x+h

xG(x, t)f(t) dt+

∫ b

x+h

(G(x+ h, t)−G(x, t)

)f(t) dt

)=⇒h→0

u′(x) = G(x, x)f(x) +∫ x

a

∂G

∂x(x, t)f(t) dt

−G(x, x)f(x) +∫ b

x

∂G

∂x(x, t)f(t) dt

=∫ b

a

∂G

∂x(x, t)f(t) dt

analog (setze oben ∂G∂x statt G):

u′′(x) = limξ→x+

∂G

∂x(ξ, x)f(x) +

∫ x

a

∂2G

∂x2(x, t)f(t) dt

− limξ→x−

∂G

∂x(ξ, x)f(x) +

∫ b

x

∂2G

∂x2(x, t)f(t) dt

b) 2 Nebenrechnungen:

(i)∂G

∂x(x, t) =

1p(a)W (a)

{v′1(x)v2(t) , x < t

v1(t)v′2(x) , x > t

(ii)

W ′(x) =d

dx(v1v

′2 − v2v

′1) = v′1v

′2 + v1v

′′2 − v′2v′1 − v2v

′′1

= v1v′′2 − v2v

′′1

=v1

p(−p′v′2 − qv2) +

v2

p(p′v′1 + qv1)

=p′

p(−v1v

′2 + v2v

′1)

= −p′

pW

=⇒ pW ′ + p′W = 0 ⇒ (pW )′ = 0=⇒ p(x)W (x) = p(a)W (a) ∀x ∈ [a, b]

90

4.5 Die Sturm’sche Randwertaufgabe

c) Berechne u′′:

u′′(x) =∫ b

a

∂2G

∂x2(x, t)f(t) dt+

v1(x)v′2(x)p(x)W (x)

f(x)− v′1(x)v2(x)p(x)W (x)

f(x)

=∫ b

a

∂2G

∂x2(x, t)f(t) dt+

f(x)p(x)

gilt fur alle x ∈ [a, b]

d) Lost u die Gleichung Lu = f?

(Lu)(x) = (pu′′ + p′u′ + qu)(x)

= f(x) +∫ b

a

[p(x)

∂2G

∂x2(x, t) + p′(x)

∂G

∂x(x, t) + q(x)G(x, t)

]︸ ︷︷ ︸

=LxG(x,t)

f(t) dt

(Der Index x bei Lx bedeutet hierbei, dass der Operator auf G als Funktion vonx angewandt wird.)

Auf [a, t) und auf (t, b] ist x 7→ G(x, t) jeweils nur ein Vielfaches einer homogenenLosung. Also ist LxG(x, t) = 0 fur x 6= t und somit LxG = 0 fast uberall.⇒ Lu = f .

e) Randbedingungen

Rku = cku(xk) + dku′(xk) (x1 = a, x2 = b, c1 = α1, . . .)

=∫ b

a

(ckG(xk, t) + dk

∂G

∂x(xk, t)︸ ︷︷ ︸

)f(t) dt

= (Rk)xG(x, t)︸ ︷︷ ︸=

1p(a)W (a)

{(R1v1)v2(t) , k = 1H(R2v2)v1(t) , k = 2

}= 0

= 0

Beispiel 4.5.5 u′′ = t3 =: F (t), also

p′u′ + pu′′ + qu = F

p ≡ 1, q ≡ 0, F (t) = t3

u(0) = 0, u(1) + u′(1) = 0

homogenes Problem: Lu = 0, Rku = 0 ∀k = 1, 2u′′ = 0 ⇒ u(t) = ct+ d (char. Polynom: p(λ) = λ2)

R1u = 0 ⇔ u(0) = 0 ⇔ d = 0R2u = 0 ⇔ c+ c = 0 ⇔ c = 0

}nur trivial losbar

⇒ Voraussetzung erfullt

91

4 Lineare Differentialgleichungen hoherer Ordnung mit variablen Koeffizienten

gesucht: Fundamentalsystem {v1, v2} mit

Lvk = 0 (⇔ v′′k = 0)und Rkvk = 0 ∀k = 1, 2

v′′1 = 0, v1(0) = 0 =⇒ v1(t) = ct

v′′2 = 0, v2(1) + v′2(1) = 0 =⇒ v2(t) = ct+ d, v2(1) + v′2(1) = 1=⇒ c+ d+ c ⇔ 2c = −d

z.B. v1(t) = t, v2(t) = t− 2 sind linear unabhangig.

W (x) =∣∣∣∣x x− 21 1

∣∣∣∣ = x · 1− 1 · (x− 2) = 2 6= 0

(Beachte: pW ist konstant.)

=⇒ G(x, t) =12

{x(t− 2) , x ≤ tt(x− 2) , t ≤ x

=⇒ u(x) =∫ 1

0G(x, t)t3 dt

=12

(∫ 1

xx(t− 2)t3 dt+

∫ x

0t(x− 2)t3 dt

)

=12

x(15t5 − 1

2t4) ∣∣∣∣∣

1

x

+ (x− 2)15t5

∣∣∣∣∣x

0

=

12

(−3x

10− x6

5+x5

2+x6

5− 2x5

5

)=

120x5 − 3

20x

92

5 Systeme von Differentialgleichungen

5.1 Lineare Gleichungen mit konstanten Koeffizienten

Wir betrachten Systeme der Form

y′ = Ay + s, y(x0) = y0 (LSk)

y : [a, b]→ Rn, A ∈ Rn×n konstant, y0 ∈ Rn, x0 ∈ [a, b], s : [a, b]→ Rn

zunachst homogen: y′ = Ay, y(x0) = y0

y(x) = e(x−x0)Ay0

Gibt es so etwas wie die obige Gleichung?

Defnition 5.1.1 Fur B ∈ Rn×n sei definiert:

eB :=∞∑k=0

Bk

k!.

(Matrixexponentialfunktion)

Was bedeutet Konvergenz von Matrizen und liegt sie hier vor?Zur Erinnerung: In endlichdimensionalen Vetorraumen X sind alle Normen aquivalent,d.h. sind ‖ · ‖a, ‖ · ‖b Normen auf X, dann existieren Konstanten γ, δ ∈ R+, so dass

γ‖x‖a ≤ ‖x‖b ≤ δ‖x‖a

Konvergenz (xn → ξ ⇐⇒ ‖xn − ξ‖ → 0) ist also unabhangig von der Wahl der Norm.

Wir wahlen folgende:

Defnition 5.1.2 Fur B = (bij)i,j=1,...,n ∈ Rn×n sei

‖B‖1 =n∑

i,j=1

|bij |.

Satz 5.1.3 a) Seien (Bk) =((b(k)ij

)i,j=1,...,n

)k⊂ Rn×n und B = (bij)i,j=1,...,n ∈ Rn×n.

Dann giltBk −→

k→∞B ⇐⇒ b

(k)ij −→

k→∞bij ∀ i, j = 1, . . . , n

b) Mit der ”l1-Norm“ ‖x‖1 =

n∑j=1|xj | gilt

∀B,C ∈ Rn×n ∀x ∈ Rn :‖B · C‖1 ≤ ‖B‖1 · ‖C‖1‖B · x‖1 ≤ ‖B‖1 · ‖x|1

93

5 Systeme von Differentialgleichungen

Satz 5.1.4 Die Exponentialreihe fur eB konvergiert fur alle B ∈ Rn×n.

Beweis. Betrachte die Partialsummen

Sk :=k∑j=0

Bj

j!

Fur k > l ist (mit der Dreiecksungleichung und der Homogenitat der Norm)

‖Sk − Sl‖ =

∥∥∥∥∥∥k∑

j=l+1

Bj

j!

∥∥∥∥∥∥ ≤k∑

j=l+1

1j!‖Bj‖

Satz 5.1.3.≤

k∑j=l+1

1j!‖B‖j

Da die Exponentialreihe fur e‖B‖ stets konvergiert, ist (sk)k eine Cauchy-Folge in Rn×n.Da R vollstandig ist, gilt dies auch fur Rn×n. Folglich konvergiert (Sk)k.

Damit konvergiert die Reihe absolut, also

∞∑k=0

‖Bk‖k!

< +∞

Folglich kann man das Cauchy-Produkt bilden:

eBeC =

∞∑j=0

Bj

j!

∞∑j=0

Cj

j!

=∞∑j=0

(j∑

k=0

Bk

k!Cj−k

(j − k)!

)

=∞∑j=0

1j!

j∑k=0

(j

k

)BkCj−k︸ ︷︷ ︸

=(B+C)j , wennB und C kommutieren,

d.h. BC=CB.

Satz 5.1.5 Seien B,C ∈ Rn×n mit BC = CB. Dann ist

eB+C = eB · eC

(·: Matrixprodukt)

Korollar 5.1.6 Fur jedes B ∈ Rn×n ist eB invertierbar mit(eB)−1 = e−B

Satz 5.1.7 Die Funktion R 3 t 7→ etA, A ∈ Rn×n ist auf ganz R differenzierbar und esgilt

d

dtetA = AetA

Beweis. siehe Ubung (Aufgabe 42a)

Satz 5.1.8 Sei u ∈ C(1)([a, b],Rn) und A ∈ Rn×n. Dann ist

d

dt

(etAu(t)

)= AetAu(t) + etAu′(t)

94

5.1 Lineare Gleichungen mit konstanten Koeffizienten

Beweis. siehe Ubung (Aufgabe 42b)

Satz 5.1.9 Das homogene AWP

y′ = Ay, y(x0) = y0

besitzt fur jede Wahl von x0 ∈ R, y0 ∈ Rn, A ∈ Rn×n genau eine Losung. Diese existiertauf ganz R und sie ist gegeben durch

y(x) = e(x−x0)Ay0.

Beweis. Losung (siehe oben)

y(x) = exA−x0Ay0Satz=5.1.5.

exA(e−x0Ay0

)Satz=⇒5.1.8.

y′(x) = AexA(e−x0Ay0

)= Ay(x)

y(x0) = e(x0−x0)Ay0 = e0y0 = Eny0 = y0 (En : n× n-Einheitsmatrix)

Eindeutigkeit: Angenommen, v ist eine weitere Losung.

=⇒ d

dt

[e−(x−x0)Av(x)

]=

d

dt

[e−xAex0Av(x)

]= −Ae−(x−x0)Av(x) + e−(x−x0)A v′(x)︸ ︷︷ ︸

=Av(x)

= 0

da e−(x−x0)A und A kommutieren:

e−(x−x0)AA =∞∑k=0

[−(x− x0)A]k

k!A

=∞∑k=0

[−(x− x0)]k

k!AkA

= A∞∑k=0

[−(x− x0)]k

k!Ak

= Ae−(x−x0)A

⇐⇒ e−(x−x0)Av(x) = c = const. (∈ Rn)

⇐⇒ v(x) = e(x−x0)A · c

mit v(x0) = y0 also v(x) = e(x−x0)Ay0.

Satz 5.1.10 Sei s stetig auf dem Intervall I. Dann hat das (inhomogene) AWP (LSk) zujeder Wahl von x0 ∈ I, y0 ∈ Rn und A ∈ Rn×n genau eine Losung. Diese ist gegebendurch die Formel

y(x) = e(x−x0)Ay0 +∫ x

x0

e(x−t)As(t) dt, x ∈ I

Beweis.

y′(x) = Ae(x−x0)Ay0 +d

dx

[exA

∫ x

x0

e−tAs(t) dt]

= Ae(x−x0)Ay0 +AexA∫ x

x0

e−tAs(t) dt+ exA e−xAs(x)︸ ︷︷ ︸HDI

= Ay(x) + s(x), y(x0) = y0 + 0 = y0

95

5 Systeme von Differentialgleichungen

Sei v eine weitere Losung des AWPs. Dann gilt:

d

dx(v − y) = Av + s− (Ay + s) = A(v − y), (v − y)(x0) = y0 − y0 = 0

Da die Losung des homogenen Anfangswertproblems stets eindeutig ist (Satz 5.1.9.),muss also v − y ≡ 0 (⇔ v ≡ y) gelten.

Satz 5.1.11 a) Jede Linearkombination von Losungen von y′ = Ay ist wieder eineLosung von y′ = Ay.

b) Die allgemeine Losung von y′ = Ay + s(x) ist von der Form

y(x) = yp(x) + exAv, v ∈ Rn bel.

wobei yp eine feste partikulare Losung von y′ = Ay + s(x) ist.

Was kann man nun mit exA anfangen? −→ Ubung (Blatt 11).

5.2 Lineare Gleichungen mit variablen Koeffizienten

Wir betrachten nun

y′ = A(x)y + s(x), y(x0) = y0 (LSv)

y, s : [a, b]→ Rn, A : [a, b]→ Rn×n, x0 ∈ I := [a, b], y0 ∈ Rn

Satz 5.2.1 (Existenz- und Eindeutigkeitssatz) Sind A und s stetig, dann hat (LSv) furjede Wahl von x0 ∈ I und y0 ∈ Rn genau eine Losung auf ganz I.

Beweis. (Beweisskizze)

y′(x) = A(x)y(x) + s(x) ∀x ∈ I

y(x0) = y0

HDI⇐⇒ y(x) =∫ x

x0

A(t)y(t) + s(t) dt+ y0︸ ︷︷ ︸=:(Ty)(x)

, x ∈ I Fixpunktproblem

Wir verwenden wieder den Weissinger’schen Fixpunktsatz. (C(I), ‖ · ‖∞) ist ein Banach-raum, T : C(I)→ C(I) eine Selbstabbildung.Seien y, z ∈ C(I). Dann kann man zeigen, dass

‖T ky − T kz‖∞ ≤Mk(b− a)k

k!‖y − z‖∞ mit M = max

x∈I‖A(x)‖

=⇒ ∃! Fixpunkt=⇒ AWP eindeutig losbar

Naturlich gelten hier wieder das Superpositionsprinzip und die Formel

”allg. inh. Lsg. = part. inh. Lsg. + allg. hom. Lsg.“.

96

5.2 Lineare Gleichungen mit variablen Koeffizienten

Satz 5.2.2 Sei A : I → Rn×n stetig und y(1), . . . , y(n) seien n linear unabhangigeLosungen der homogenen Gleichung y′ = A(x)y. Dann hat die allgemeine Losung vony′ = A(x)y die Form

y(x) =n∑j=1

Cjy(j)(x), x ∈ I

Beweis. Sei y =: y(0) eine beliebige Losung von y′ = A(x)y. Betrachte das LGS

n∑j=0

αjy(j)(x0) = 0, x0 ∈ I fest

Da hier n Gleichungen fur n+ 1 Unbekannte stehen, muss es eine nicht-triviale Losung(α0, . . . , αn) geben.

Sei z :=n∑j=0

αjy(j). Wegen des Superpositionsprinzips ist z Losung von y′ = A(x)y,

wobei z(x0) = 0.Wegen des Existenz- und Eindeutigkeitssatzes (Satz 5.2.1.) muss somit z ≡ 0 gelten, d.h.

n∑j=0

αjy(j)(x) = 0 ∀x ∈ I

=⇒ α0 y(0)(x)︸ ︷︷ ︸=y(x)

= −n∑j=1

αjy(j)(x) ∀x ∈ I (∗)

Angenommen, α0 = 0. Nach Konstruktion der αj muss mindestens ein αj 6= 0 sein (furein j ∈ {1, . . . , n}). Dann ist aber (−α1, . . . ,−αn) nicht-triviale Losung (siehe (∗)) von

0 =n∑j=1

(−αj)y(j)(x) ∀x ∈ I

Dies ist ein Widerspruch zur linearen Unabhangigkeit der y(j), j = 1, . . . , n. Folglich istα0 6= 0 und (∗) ergibt:

y(x) =n∑j=1

(−αjα0

)y(j)(x) ∀x ∈ I

Defnition 5.2.3 Sei A : I → Rn×n stetig. Jedes System {y(1), . . . , y(n)} von n linear un-abhangigen Losungen von y′ = A(x)y heißt Integralbasis oder auch Fundamentalsystem.

Satz 5.2.4 Sei A : I → Rn×n stetig. Dann gibt es stets eine Integralbasis fur y′ = A(x)y.

Beweis. Sei y(j) die (nach dem Existenz- und Eindeutigkeitssatz existierende und ein-deutige) Losung eines AWPs

y′ = A(x)y, y(x0) = ej ,

97

5 Systeme von Differentialgleichungen

j = 1, . . . , n, x0 ∈ I fest, ej = (δij)i=1,...,n. Dan∑j=1

αjy(j)(x0) =

n∑j=1

αjej genau dann der

Nullvektor ist, wenn α1 = . . . = αn = 0, gilt erst recht, dass

n∑j=1

αjy(j)(x) = 0 ∀x ∈ I ⇐⇒ α1 = . . . = αn = 0

Damit sind {y(1), . . . , y(n)} linear unabhangig.

Satz 5.2.5 Seien A : I → Rn×n stetig und y(1), . . . , y(n) Losungen von y′ = A(x)y. Danngilt:

y(1), . . . , y(n) Integralbasis

⇐⇒ ∃ ξ ∈ I : W (ξ) := det(y(1), . . . , y(n)

)(ξ) 6= 0

⇐⇒ ∀ x ∈ I : W (x) 6= 0

Beweis. A⇐ B (Wir zeigen: ¬A⇒ ¬B)Seien y(1), . . . , y(n) linear abhangig =⇒ ∃ (α1, . . . , αn) 6= 0 mit

n∑j=1

αjy(j)(x) = 0 ∀x ∈ I

Komponentenweise betrachtet hat man ein LGS

n∑j=1

αj y(j)k (x)︸ ︷︷ ︸Matrix

= 0 ∀k = 1, . . . , n (x bel. aber fest) (∗)

Da dieses LGS eine nicht-triviale Losung (α1, . . . , αn) hat, muss

0 = det(y

(j)k (x)

)k=1,...,nj=1,...,n

= W (x)

gelten. Da x ∈ I beliebig gewahlt werden kann, ist also W (x) = 0 ∀x ∈ I. (”¬B“)

Damit gilt auch ”¬C“, d.h. C ⇒ A

A⇒ C (Wir zeigen: ¬C ⇒ ¬A)Sei ξ ∈ I mit W (ξ) = 0. =⇒ Das LGS (∗) hat fur x ∈ ξ eine nicht-triviale Losung(α1, . . . , αn).

Sei y :=n∑j=1

αjy(j). y ist nach dem Superpositionsprinzip Losung von y′ = A(x)y. Ferner

ist y(ξ) = 0. Nach dem Existenz- und Eindeutigkeitssatz muss somit y ≡ 0 gelten.

=⇒ y(x) =n∑j=1

αjy(j)(x) = 0 ∀x ∈ I mit (α1, . . . , αn) 6= (0, . . . , 0)

=⇒ y(1), . . . , y(n) linear abhangig

C ⇒ B trivial.

98

5.2 Lineare Gleichungen mit variablen Koeffizienten

Beispiel 5.2.6 y = −4t2y + 1t y kann man wie folgt als System schreiben:

u := y, v := y :u = v

v = −4t2u+1tv

Wir verwenden/versuchen einen Potenzreihenansatz

y(t) =∞∑k=0

aktk

in die Differentialgleichung:

∞∑n=2

ann(n− 1)tn−2 + 4t2∞∑n=0

antn − 1

t

∞∑n=1

anntn−1 = 0

⇐⇒∞∑n=0

an+2(n+ 2)(n+ 1)tn +∞∑n=2

an−24tn +∞∑

n=−1

an+2(−n− 2)tn = 0

⇐⇒ a1(−1) = 0 und [(n+ 2)(n+ 1)− (n+ 2)]an+2 = 0 fur n = 0 und n = 1und an+2(n+ 2)(n+ 1) + 4an−2 − an+2(n+ 2) = 0 ∀n ≥ 2

⇐⇒ a1 = a3 = 0, a0 und a2 bel. wahlbar und an+2 = − 4an−2

(n+ 2)n∀n ≥ 2

Also gilt: an = 0 fur alle ungeraden n.

Sei n = 2k, k ∈ N0, a2k =: bk. Dann wird aus der Rekursionsformel:

bk+1 = − 4(2k + 2)2k

bk−1 ∀k ≥ 1

⇐⇒ bk+1 = − 1(k + 1)k

bk−1 ∀k ≥ 1

=⇒

{bk = (−1)

k2

1k!b0 = (−1)

k2

1k!a0 fur gerade k

bk = (−1)k−1

21k!a2 fur ungerade k

Beweis durch vollst. Induktion:Der Induktionsanfang (k = 0 bzw. k = 1) ist trivial. Nun zum Induktionsschluss:

b2ν = (−1)ν1

(2ν)!a0

=⇒ b2ν+2 = − 1(2ν + 2)(2ν + 1)

(−1)ν1

(2ν)!a0

= (−1)ν+1 1(2ν + 2)!

a0

b2ν+1 = (−1)ν1

(2ν + 1)!a2

=⇒ b2ν+3 = − 1(2ν + 3)(2ν + 2)

(−1)ν1

(2ν + 1)!a2

= (−1)ν+1 1(2ν + 3)!

a2

99

5 Systeme von Differentialgleichungen

Damit ist die Induktion beendet. Somit gilt:

y(t) = a0

∞∑ν=0

(−1)ν1

(2ν)!︸ ︷︷ ︸= 1a0b2ν

t4ν + a2

∞∑ν=0

(−1)ν1

(2ν + 1)!︸ ︷︷ ︸=a−1

2 b2ν+1

t4ν+2

= a0 cos t2 + a2 sin t2

Fundamentalsystem furd

dt

(u

v

)=(

0 1−4t2 1

t

)(u

v

)ist somit(

cos t2

−2t sin t2

),

(sin t2

2t cos t2

)(beachte: v = u)

Satz 5.2.7 Sei (LSv) mit stetiger Funktion A und stetiger Funktion s gegeben. Dannfuhrt ausgehend von einer Integralbasis (y(1), . . . , y(n)) fur y′ = A(x)y der Ansatz derVariation der Konstanten stets zu einer partikularen Losung von y′ = A(x)y + s(x).

Beweis. Sei (y(1), . . . , y(n)) eine Integralbasis. Der Ansatz

y(x) :=n∑j=1

Cj(x)y(j)(x)

in y′ = A(x)y + s(x) fuhrt zu:n∑j=1

C ′j(x)y(j)(x) +n∑j=1

Cj(x) y(j+1)(x)︸ ︷︷ ︸A(x)y(j)(x)

=n∑j=1

Cj(x)A(x)y(j)(x) + s(x)

⇐⇒n∑j=1

C ′j(x)y(j)(x) = s(x)

Dies ist (fur jedes feste x) ein LGS fur(C ′1(x), . . . , C ′n(x)

)mit der Matrix(

y(j)k (x)

)k,j=1,...,n

=: B(x).

Da eine Integralbasis vorliegt, muss fur alle x gelten:

detB(x) 6= 0 (Wronski-Det.)[C ′(x) = (C ′1(x), . . . , C ′n(x))

]=⇒ C ′(x) =

(B(x)

)−1s(x)

=⇒ C(x) =∫ (

B(x))−1

s(x) dx

einsetzen in y′(x) = A(x)y + s(x):n∑j=1

C ′j(x)y(j)(x) = s(x)

⇐⇒ B(x)C ′(x) = s(x)

⇐⇒ B(x)(B(x)

)−1s(x) = s(x)

Beispiel siehe Ubung.

100

5.3 allgemeine Systeme

5.3 allgemeine Systeme

Analog zum skalaren Fall lasst sich folgendes beweisen:

Satz 5.3.1 (Satz von Peano) Sei f : Q := {(x, y) ∈ Rn∣∣ |x−x0| ≤ a, ‖y−y0‖∞ ≤ b} → Rn

stetig, a, b > 0, x0 ∈ R, y0 ∈ Rn, wobei ‖y‖∞:= max1≤j≤n

|yj | fur y ∈ Rn. Setzt man

µ := ‖f‖C(Q,Rn), α := min(a,b

µ

)dann gibt es (mindestens eine) auf [x0 − α, x0 + α] existierende Losung des AWPs

y′ = f(x, y), y(x0) = y0 (SysAWP)

Satz 5.3.2 (Satz von Picard-Lindelof) f erfulle die Voraussetzungen des Satzes von Peano(Satz 5.3.1.). Zusatzlich sei f Lipschitzsch bzgl. y, d.h.

∃ L > 0 : ‖f(x, y)− f(x, η)‖∞ ≤ L‖y − η‖∞ ∀ (x, y), (x, η) ∈ Q.

Dann hat (SysAWP) genau eine auf [x0 − α, x0 + α] =: J definierte Losung y. IhreKomponenten sind gleichmaßiger Limes der Folge (jeweils ν = 1, . . . , n):

ϕν,0(x) := (y0)ν ,

ϕν,j(x) = (y0)ν +∫ x

x0

fν(t, ϕ1,j−1(t), . . . , ϕn,j−1(t)) dt, j ∈ N, x ∈ J

d.h.‖ϕν,j − yν‖C(J,R) −→

j→∞0 ∀ν = 1, . . . , n

Wie schon in Beispiel 5.2.6. angedeutet, kann man (skalare) explizite Differentialglei-chungen n-ter Ordnung in ein System 1. Ordnung aus n Gleichungen umschreiben.Aus

y(n) = f(x, y, y′, . . . , y(n−1))

wird mit yj := y(j−1), j = 1, . . . , n, das System

y′1 = y2

...y′n−1 = yn

y′n = f(x, y1, . . . , yn)

oder kurz: y′ = f(x, y) mit y = (y1, . . . , yn)T .

Beides ist offensichtlich aquivalent. Entsprechend wird aus den Anfangsbedingungen

y(j)(x0) = y(j)0 , y

(0)0 , . . . , y

(n−1)0 ∈ R

nunyj(x0) = y

(j−1)0 , j = 1, . . . , n

101

5 Systeme von Differentialgleichungen

Die Lipschitz-Bedingung fur das System ist nun

(∃ L > 0 : ∀ (x, y), (x, η) ∈ Q :) ‖f(x, y)− f(x, η)‖∞ ≤ L‖y − η‖∞

⇐⇒ max1≤j≤n

|fj(x, y)− fj(x, η)| ≤ L max1≤j≤n

|yj − ηj |

⇐⇒ max(

max1≤j≤n−1

|yj+1 − ηj+1| , |f(x, y1, . . . , yn)− f(x, η1, . . . , ηn)|)

≤ L max1≤j≤n

|yj − ηj |

o.B.d.A.⇐⇒L>1

|f(x, y1, . . . , yn)− f(x, η1, . . . , ηn)| ≤ L‖y − η‖∞

Dies ist die Lipschitz-Bedingung der skalaren Gleichung n-ter Ordnung. Damit erhaltenwir die folgenden Resultate:

Satz 5.3.3 (Satz von Peano) Sei Q wie in Satz 5.3.1. und f : Q → R stetig. Dann hatdas AWP

y(n) = f(x, y, y′, . . . , y(n−1)), y(j)(x0) = y(j)0 (j = 0, . . . , n− 1)

mindestens eine lokale Losung (d.h. auf einem hinreichend kleinen Intervall um x0).

Satz 5.3.4 (Satz von Picard-Lindelof) f wie in Satz 5.3.3. und zusatzlich Lipschitzschbzgl. y, d.h.

∃ L > 0 : ∀ (x, y), (x, η) ∈ Q : |f(x, y)− f(x, η)| ≤ L‖y − η‖∞

Dann hat das AWP aus Satz 5.3.3. genau eine (lokale) Losung, die gleichmaßiger Limeseiner rekursiven Folge ist (analog zu oben).

Die meisten nicht-linearen Systeme lassen sich nur numerisch losen.

102

6 Stabilitat

6.1 Das Rauber-Beute-Modell

y : Beutepopulation (mit unbegrenztem Nahrungsvorrat)x : Rauberpopulation, ernahrt sich nur von obiger Beute

Es gilt:x = −α1x︸ ︷︷ ︸

”naturliches

Abnahmegesetz“

+ β1xy︸ ︷︷ ︸Wachstum durch Beute-

fang prop. zu Rauber- undBeutepopulation (bei β1=0 exp.

Abfall wg. Nahrungsmangel)

y = α2y︸︷︷︸exp. Wachstum

ohne Rauber

- β2xy︸ ︷︷ ︸Populationsverlustdurch Erbeutung

Dies sind die so genannten Lotka-Volterra’schen Gleichungen mit den Proportionalitats-konstanten α1, α2, β1, β2 ∈ R+.

f(t, x, y) =(−α1y + β1xy

α2x− β2xy

)autonom (d.h. zeitunabhangig), nicht-linear, f ∈ C(∞) ⇒ Lipschitzsch.Nach dem Satz von Picard-Lindelof (Satz 5.3.2.) hat damit das System zu gegebenenAnfangswerten x(0), y(0) genau eine lokale Losung.Das System ist aber nicht analytisch losbar. Trotzdem kann man Eigenschaften derLosung herleiten. Wir fassen hierfur die Losung als Kurve

t 7→(x(t)y(t)

)in der Ebene auf. Man nennt dies allgemein eine Phasenkurve oder Trajektorie desDgl’systems.

1. Gibt es konstante Losungen?

D.h. ist es moglich, dass die Populationen sich nicht andern?

Dies fuhrt zu:

0 = −α1x+ β1xy ⇔ 0 = x(−α1 + β1y) (1)0 = α2x− β2xy ⇔ 0 = y(α2 − β2x) (2)

1. Moglichkeit: x = 0(2)⇒ y = 0 trivialer Fall

2. Moglichkeit: −α1 + β1y = 0(2)⇒ α2 − β2x = 0, d.h. y ≡ α1

β1und x ≡ α2

β2

Man nennt dies eine stationare Losung oder einen Gleichgewichtspunkt (die Tra-jektorie ist ein Punkt).

103

6 Stabilitat

Es gilt: Existiert ein t0 mit x(t0) = 0 = y(t0), so ist dort x(t0) = α2β2

und y(t0) = α1β1

.Wegen Picard-Lindelof kann dies aber nur die stationare Losung sein.

Nicht-stationare Losungen haben also stets Trajektorien mit (x(t), y(t)) 6= (0, 0) ∀ t.

2. Die Trajektoriengleichung

a) Wir nehmen x(t0) 6= 0 fur ein t0 an. Da wir von x ∈ C(1) ausgehen, gibt esein Intervall (t0− ε, t0 + ε), ε > 0, auf dem entweder stets x(t) > 0 oder stetsx(t) < 0 gilt.=⇒ t 7→ x(t) ist lokal invertierbar zu t(x).=⇒ Wir konnen y als y(t(x)) auffassen.

Es gilt nun

dy

dx=dy

dt· dtdx

=dy

dt

(dx

dt

)−1

=y

x=

α2y − β2xy

−α1x+ β1xy=α2 − β2x

x

y

−α1 + β1y

Dies ist eine separable Dgl.∫−α1 + β1y

ydy =

∫α2 − β2x

xdx

⇐⇒ − α1

∫1ydy + β1

∫1 dy = α2

∫1xdx− β2

∫1 dx

⇐⇒ − α1 ln |y|+ β1y + C = α2 ln |x| − β2x (∗)

implizite Trajektoriengleichung (x, y > 0 aus der Anwendung)

b) Sei y(t0) 6= 0 fur ein t0 t(y) x(t(y)) dxdy = dx

dt ·dtdy = dx

dt

(dydt

)−1= x

y

mit Separation der Variablen genau wie oben.

=⇒ Alle nicht-degenerierten (d.h. nicht nur aus einem Punkt bestehenden) Tra-jektorien gehorchen (∗).

Wir vereinfachen zunachst:

(∗) ⇐⇒ C = ln yα1 + lnxα2 − β1y − β2x

⇐⇒ C = ln(xα2yα1

)− β1y − β2x

⇐⇒ C =xα2yα1

eβ2xeβ1y(x, y > 0, C ∈ R konstant ⇔ C > 0)

3. Behauptung: Die Losungen sind periodisch

Sei f(x) :=xα2

eβ2x, g(y) :=

yα1

eβ1y

f ′(x) =α2x

α2−1eβ2x − xα2β2eβ2x

e2β2x

!= 0

⇐⇒ α2xα2−1 − xα2β2 = 0

⇐⇒ α2 − xβ2 = 0

⇐⇒ x =α2

β2

104

6.1 Das Rauber-Beute-Modell

Vorzeichenwechsel von f ′ in x = α2β2

von + nach -

⇒ lokales Maximum f(α2β2

)=: Mf , links davon ist f streng monoton wachsend

und rechts davon ist f streng monoton fallend.

limx→0

f(x) = 0, limx→+∞

f(x) = 0

Damit ist Mf globales Maximum von f . Analog ist Mg := g(α1β1

)globales Maxi-

mum von g.

Fur die Trajektoriengleichung C = f(x)g(y) heißt das, dass fur Konstanten C mitC > Mf ·Mg keine Losung existiert. Bei C = MfMg muss x = α2

β2und y = α1

β1

gelten (stationare Losung!).

Sei also 0 < C < Mf ·Mg. Betrachte g(y) = Cf(x) . f darf nicht zu klein werden. Ge-

nauer muss Cf(x) ≤Mg gelten. Wegen der Form des Graphen gibt es ein maximales

Intervall [x1, x2] mit x1 <α2β2< x2, in dem sich die Werte von x bewegen mussen.(

Cf(x) ≤Mg ⇔ C

Mg≤ f(x)

)x1 und x2 sind gerade so bemessen, dass

C

Mg= f(xj) (j = 1, 2)

=⇒ y =α1

β1

(d.h. es muss g(y) = Mg gelten)

Fur x ∈ (x1, x2) ist Cf(x) < Mg.

Es gibt dann zwei Losungen y1, y2 (mit y1 <α1β1< y2).

Beachte, dass x→ xj (j = 1, 2) zu y = α1β1

fuhrt.⇒ Die Trajektorie ist eine geschlossene Kurve uber x ∈ [x1, x2] und um den stati-onaren Punkt

(α2β2, α1β1

).

Beim Durchlaufen der Trajektorie gilt: ”Umdrehen ist nicht moglich“, da x 6= 0außerhalb von y = α1

β1und y 6= 0 außerhalb von x = α2

β2gilt. Wenn die Trajektorie

zur Zeit t1 einen Punkt wieder trifft, der schon zur Zeit t0 erreicht wurde, so hatdas AWP (

x

y

)= f(x, y), x(t1) = x(t0), y(t1) = y(t0)

genau eine Losung (x, y). Wegen der Autonomie der Dgl. ist dies die gleiche wieim AWP mit gegebenen Werten bei t0, d.h. nur um die Zeit t1 − t0 verschoben:(

x

y

)(t) =

(x

y

)(t− t1 + t0)

Damit sind die Losungen periodisch.

105

6 Stabilitat

4. durchschnittliche Populationsgroßen

Sei T die Periodendauer. Dann sind die Durchschnittspopulationen

x :=∫ T

0x(t) dt · 1

T

y :=∫ T

0y(t) dt · 1

T

gegeben durch

x =1T

∫ T

0x(t) dt =

1T

∫ T

0

α2y(t)− y(t)β2y(t)

dt

=1T

(α2

β2

∫ T

01 dt− 1

β2

∫ T

0

y(t)y(t)

dt

)=

1β2T

(α2T − ln |y(t)|

∣∣∣∣T0

) ∣∣∣∣∣ y(0) = y(T )wg. Periodizitat

=α2

β2

y =α1

β1analog

Die durchschnittlichen Populationsgroßen entsprechen also den stationaren Punk-ten.

5. Ein Naherungszustand

Seien p := α2β2, q := α1

β1, u := x− p, v := y − q.

Naherung fur kleine Terme∣∣up

∣∣ und∣∣vq

∣∣:Mit f(x) := lnx, f (n)(x) = (−1)n−1(n − 1)!x−n erhalt man mit dem Satz vonTaylor

lnx = ln p+∞∑n=1

(−1)n−1 1np−n(x− p︸ ︷︷ ︸

=u

)n

d.h. lnx ≈ ln p+u

p− 1

2u2

p2

analog: ln y ≈ ln q +v

q− 1

2v2

q2

Die Trajektoriengleichung ist

C = lnxα2 + ln yα1 − β2x− β1y

⇐⇒ C = α2 lnx+ α1 ln y − β2x− β1y

106

6.1 Das Rauber-Beute-Modell

Mit der Naherung erhalt man

C = α2

(ln p+

u

p− 1

2u2

p2

)+ α1

(ln q +

v

q− 1

2v2

q2

)− β2x− β1y

p=α2β2⇐⇒

q=α1β1

C = α2 ln p+ β2u−12β2

2

α2u2 + α1 ln q + β1v −

12β2

1

α1v2−β2x− β1y︸ ︷︷ ︸

=−β2u−β2p−β1v−β1q

⇐⇒ −2(C − α2 ln p− α1 ln q + β2p+ β1q︸ ︷︷ ︸konstant

=β2

2

α2u2 +

β21

α1v2

Damit gilt: Verlauft eine Trajektorie in der Nahe des stationaren Punkts, so hatsie naherungsweise Ellipsenform.

4 Beispiele: jeweils: α1 = 8 · 10−3, β1 = 10−5, α2 = 1, β2 = 2 · 10−3

⇒ stationare Losung (500,800)

Fall 1: x0 = 500, y0 = 7000 Fall 2: x0 = 500, y0 = 700

Fall 3: x0 = 300, y0 = 700 Fall 4: x0 = 1000, y0 = 700

107

6 Stabilitat

6.2 Definitionen und Grundlagen

Wir betrachten das autonome System

x = F (x, y)y = G(x, y)

(Aut)

wobei F,G ∈ C(1)(R2).Wir wissen: Zu jedem Anfangswert x(t0), y(t0) gibt es genau eine Losung.

Defnition 6.2.1 Jede Losung t 7→(x(t)y(t)

)von (Aut) definiert eine Kurve im R2, die Tra-

jektorie oder Phasenkurve genannt wird. Die xy-Ebene heißt in diesem Zusammenhangauch Phasenraum. Die Menge alle Trajektorien von (Aut) heißt Phasenportrait.

Satz 6.2.2 Durch jeden Punkt des Phasenraumes verlauft genau eine Phasenkurve.

Beweis. ”mindestens eine“: folgt aus der Losbarkeit des AWP (Satz von Peano)

”hochstens eine“: folgt aus der eindeutigen Losbarkeit (Satz von Picard-Lindelof) undder Autonomie:Seien (x, y) und (x, y) zwei Trajektorien mit der Eigenschaft, dass x(t0) = ξ = x(t1) undy(t0) = η = y(t1).⇒ (x, y)(t) := (x, y)(t− t0 + t1) lost (Aut) wegen der Autonomie mit

(x, y)(t0) = (x, y)(t1) = (ξ, η)Eind’keit=⇒ (x, y) = (x, y)

=⇒ (x, y)(t) = (x, y)(t− t0 + t1)︸ ︷︷ ︸gleiche Trajektorie

Defnition 6.2.3 Konstante Losungen von (Aut) heißen stationare Losungen. Die zu-gehorigen konstanten Werte (x0, y0) heißen kritische Punkte oder Gleichgewichtspunktevon (Aut).

Satz 6.2.4 Außerhalb von Gleichgewichtspunkten lasst sich (Aut) lokal als eine Dgl. fury(x) oder fur x(y) schreiben. Genauer gilt:Ist (ξ, η) ein Gleichgewichtspunkt, so existiert eine Umgebung von (ξ, η) im R2, in derdie Trajektorie durch (ξ, η) eindeutig als Losung mindestens eines der folgenden AWPsdargestellt werden kann:

dy

dx=G(x, y)F (x, y)

, y(ξ) = η

bzw.dx

dy=F (x, y)G(x, y)

, x(η) = ξ

Beweis. Da (ξ, η) kein Gleichgewichtspunkt ist, muss F (ξ, η) 6= 0 oderG(ξ, η) 6= 0 gelten.F,G∈C(1)⊂C(0)

=⇒ ∃ Umgebung von (ξ, η), wo F 6= 0 oder G 6= 0.O.B.d.A. F (ξ, η) 6= 0 (anderer Fall analog).=⇒ F hat in dieser Umgebung keinen Vorzeichenwechsel=⇒ dx

dt entweder positiv in der ganzen Umgebung oder negativ

108

6.3 Lineare Systeme mit konstanten Koeffizienten

=⇒ in dieser Umgebung existiert eine Umkehrung t(x) und damit x 7→ y(t(x))Es gilt:

dy

dx=dy

dt· dtdx

=dy

dt

(dx

dt

)−1

=y

x=G(x, y)F (x, y)

Defnition 6.2.5 Eine stationare Losung (x ≡ x0, y ≡ y0) von (Aut) heißt

a) stabil :⇐⇒ ∀ ε > 0 ∃ δ > 0 :((x, y) Lsg. von (Aut), so dass

∥∥∥∥(xy)

(t1)−(x0

y0

)∥∥∥∥2

< δ fur mind. ein t1

=⇒∥∥∥∥(xy

)(t)−

(x0

y0

)∥∥∥∥2

< ε ∀ t ≥ t1

)

(‖ · ‖2: Eukl. Norm)

b) asymptotisch stabil :⇐⇒ (x0, y0) stabil und ∃ δ > 0 :((x, y) Lsg. von (Aut), so dass

∥∥∥∥(xy)

(t1)−(x0

y0

)∥∥∥∥2

< δ fur mind. ein t1

=⇒ limt→∞

(x

y

)(t) =

(x0

y0

))

c) instabil :⇐⇒ (x0, y0) nicht stabil.

6.3 Lineare Systeme mit konstanten Koeffizienten

Wir betrachten wieder (LSk), jedoch mit n = 2 und s ≡ 0.

y = Ay, y(x0) = y0 (LSkh)

Es sei det(A) 6= 0. Dann folgt sofort:

Satz 6.3.1 Der einzige Gleichgewichtspunkt von (LSkh) ist(

00

).

Wir wissen, wie die allg. Losung von y = Ay aussieht:

y(x) = exAz, z ∈ R2 konstant.

Fur das AWP (LSkh) hat man die eindeutige Losung

y(x) = e(x−x0)Ay0.

Die Eigenwerte λ1 und λ2 (moglicherweise mit λ1 = λ2) haben entweder die Eigenschaft,dass beide λ1, λ2 ∈ R oder λ1 = λ2 ∈ C\R︸ ︷︷ ︸

⇒λ1 6=λ2

.

Fur λ1 6= λ2 ist A sicher diagonalisierbar, wahrend im Fall λ1 = λ2 dies nur geht, wennEig(λ1) = {x ∈ R2

∣∣ Ax = λ1x} 2-dimensional ist (→ LA).

109

6 Stabilitat

Wir gehen zunachst vom Fall der Diagonalisierbarkeit aus. Dann kann man eine Basis(v(1), v(2)) des R2 aus Eigenvektoren finden (Av(j) = λjv

(j)). Damit lasst sich z ∈ R2 indieser Basis eindeutig darstellen:

z =2∑j=1

αjv(j) =⇒ y(x) =

2∑j=1

αjexAv(j),

wobei

exAv(j) =

[ ∞∑n=0

xn

n!An

]v(j) =

∞∑n=0

xn

n!Anv(j) =

∞∑n=0

xn

n!λnj v

(j) = exλjv(j)

=⇒ y(x) = exAz =2∑j=1

αjexλjv(j)

α1 und α2 sind die Freiheitsgrade.Fur λ1 = λ2 ∈ C\R erhalt man hieraus (wie gehabt) die reelle Losung

y(x) = eax(α1 sin(bx)v(1) + α2 cos(bx)v(2)

)a=Re(λ1), b=Im(λ1)

Nun zur Nicht-Diagonalisierbarkeit:Seit λ := λ1 = λ2. Nach dem Satz von Cayley-Hamilton gilt fur das char. Polynom pvon A, dass p(A) = 0 (Nullmatrix) (→ LA). In diesem Fall ist also p(x) = (x− λ)2, d.h.(A− λE2)2 = 0. Dann ist

y(x) = exAz = exλE2ex(A−λE2)z = exλ∞∑n=0

xn

n!(A− λE2)n︸ ︷︷ ︸

=0 fur n≥2

z = exλ(z + x(A− λE2)z

)=⇒ y(x) = exλP (x) (P : R→ R2 Polynom vom Grad ≤ 1)(

Beachte, dass P 4 Freiheitsgrade hat, die de facto nur 2 sind:Im allgemeinen Ansatz P (x) = αx+β, α, β ∈ R2 konstant, ist β = z und α = (A−λE2)z,d.h. α = (A− λE2)β.Startet man also mit y(x) = exλP (x), P bel. vektorielles Polynom vom Grad ≤ 1, somuss dieser Ansatz noch in die Dgl. eingesetzt werden.

)Wir erhalten hiermit:

Satz 6.3.2 Seien λ1, λ2 ∈ C die Eigenwerte von A in (LSkh) mit det(A) 6= 0, gezahltnach algebraischer Vielfachheit. Dann ist der Gleichgewichtspunkt

a) asymptotisch stabil genau dann, wenn

Re(λ1) < 0 und Re(λ2) < 0

b) stabil und nicht asymptotisch stabil genau dann, wenn

Re(λ1) = Re(λ2) = 0

c) instabil in allen anderen Fallen.

Bemerkung. (i) Dies beinhaltet auch die Falle reeller Eigenwerte.

(ii) Fall b) tritt wg. detA 6= 0 nur bei imaginaren Eigenwerten auf.

110

6.4 Ljapunoff-Theorie (ein Einblick)

6.4 Ljapunoff-Theorie (ein Einblick)

Defnition 6.4.1 E heißt Ljapunoff-Funktion fur (Aut), wenn es eine offene UmgebungU von (0, 0) gibt, so dass folgendes gilt:

1. E ∈ C(1)(U,R)

2. E(0, 0) = 0 und E(x, y) > 0 ∀ (x, y) ∈ U\{(0, 0)}

3. H :=∂E

∂xF +

∂E

∂yG

{= 0 in (0, 0)≤ 0 in U\{(0, 0)}

Gilt ”<“ und nicht nur ”≤“ in 3., so heißt E strenge Ljapunoff-Funktion.

Satz 6.4.2 (Stabilitatskriterium) Sei (Aut) mit folgenden Eigenschaften gegeben:

a) (x0, y0) ist ein isolierter Gleichgewichtspunkt :⇐⇒ (x0, y0) ist ein Gleichgewichts-punkt, wobei es ein ε > 0 gibt, so dass alle (x, y) mit ‖(x, y)− (x0, y0)‖ < ε keineGleichgewichtspunkte sind.

b) Es existiert eine (strenge) Ljapunoff-Funktion (E(x− x0, y − y0)).

Dann ist (x0, y0) (asymptotisch) stabil.

Beweis. O.B.d.A. sei (0, 0) der betrachtete Gleichgewichtspunkt.

Mit (x, y)(t) := (x, y)(t)− (x0, y0) erhalt man die Differentialgleichung

d

dt(x, y) = (x, y) = (F (x, y), G(x, y))

= (F (x+ x0, y + y0), G(x+ x0, y + y0))

=: (F (x, y), G(x, y))

Stabilitatsaussagen sind fur beide Systeme aquivalent.

Sei ε > 0 gewahlt; o.B.d.A. sei ε hinreichend klein (vgl. Definition der Stabilitat), sodass

∂Kε(0) = {(x, y) ∈ R2∣∣ ‖(x, y)‖2 = ε} ⊂ U

Da E stetig ist, besitzt es ein Minimum m > 0 auf ∂Kε(0). Nach Bedingung 2 istaußerdem E(0, 0) = 0E stetig

=⇒ ∃ δ > 0 (δ < ε) : E < m auf ∂Kδ(0)

• Wir zeigen hierfur nun die Stabilitat:

Sei t 7→ (x(t), y(t)) = (x, y)(t) Trajektorie und t1 Parameter mit ‖(x, y)(t1)‖2 < δ

Dann gilt, wenn man E langs der Trajektorie auswertet:

d

dtE(x(t), y(t)) =

∂E∂x

x︸︷︷︸=F

+∂E

∂yy︸︷︷︸

=G

∣∣∣∣∣∣(x(t),y(t))

= H ≤ 0 (bzw. < 0) (∗)

Da (x, y)(t1) ∈ Kδ(0), ist E(x(t1), y(t1)) < m. Da wegen (∗) E langs der Trajektorie(streng) monoton fallt, ist E(x(t), y(t)) < m ∀ t ≥ t1.Da auf δKε(0) gilt, dass E ≥ m, kann die Trajektorie ∂Kε(0) nicht mehr erreichenund muss in Kε(0) verbleiben ⇒ Stabilitat

111

6 Stabilitat

• asymptotische Stabilitat

Trajektorie wie oben.z.z.: lim

t→∞(x(t), y(t)) = (0, 0).

Da E nur in (0, 0) verschwindet, reicht es zu zeigen, dass limt→∞

E(x(t), y(t)) = 0.Wegen der oben hergeleiteten Monotonie gilt folgendes:

E(t) := E(x(t), y(t)) ≥ limτ→∞

E(x(τ), y(τ)) =: λ

Wegen Bedingung 2 ist λ ≥ 0. Angenommen, λ > 0.E stetig

=⇒E(0,0)=0

∃ ρ > 0 (ρ < δ < ε) : E < λ auf Kρ(0) (∗∗)

Betrachte den Kreisring R := {(x, y) ∈ R2∣∣ ρ ≤ ‖(x, y)‖2 ≤ ε} = Kε(0)\Kρ(0). R

ist kompakt und H ist stetig ⇒ ∃ M < 0 : H ≤M auf R.

Wegen des obigen Stabilitatsbeweises ist die Trajektorie ab t1 in Kε(0) und wegen(∗∗) nicht in Kρ(0), also in R.

=⇒ ∀t ≥ t1 : E(t) HDI= E(t1) +∫ t

t1

dE(τ)dτ︸ ︷︷ ︸

=H(x(τ),y(τ))

≤ E(t1) +M(t− t1)=⇒ E(t) −→

t→∞−∞, da M < 0

=⇒ λ = 0

Beispiel 6.4.3 x = −x3 + y, y = −x− y5

Gleichgewichtspunkt:

0 = −x3 + y, 0 = −x− y5 =⇒ x0 = 0 = y0

Ljapunoff-Funktion E(x, y) = x2 + y2, denn

1) E ∈ C(1)

2) E(0, 0) = 0 und E(x, y) > 0 sonst

3) H = ∂E∂x F + ∂E

∂yG = 2x(−x3 + y) + 2y(−x− y5) = −2x4 − 2y6 < 0fur (x, y) 6= (0, 0)

und H = 0⇔ x = 0 = ystrenge Ljapunoff-Funktion

=⇒ (0, 0) asymptotisch stabil

Satz 6.4.4 Sei (x0, y0) Gleichgewichtspunkt von (Aut) und

A :=

∂F

∂x

∂F

∂y

∂G

∂x

∂G

∂y

(x0, y0)

Wenn beide (nach Vielfachheiten gezahlte) Eigenwerte von A

112

6.4 Ljapunoff-Theorie (ein Einblick)

a) positive Realteile haben, so ist der Gleichgewichtspunkt isoliert und instabil.

b) negative Realteile haben, so ist der Gleichgewichtspunkt asymptotisch stabil.

Beweis. ohne

(vgl. linearen Spezialfall)

113

6 Stabilitat

114

Bibliographie

• H. Heuser: Gewohnliche Differentialgleichungen: Eine Einfuhrung in Leh-re und Gebrauch, Teubner, Wiesbaden, 2006.

• W. Walter: Gewohnliche Differentialgleichungen: Eine Einfuhrung, Sprin-ger, Berlin, 2000.

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