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Hessisches Kultusministerium Amt für Lehrerbildung Über Literatur sprechen lernen Das literarische Lesegespräch im Unterricht Reihe Unterrichtsentwicklung

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Hessisches KultusministeriumAmt für Lehrerbildung

Über Literatur sprechen lernen Das literarische Lesegespräch im Unterricht

Reihe Unterrichtsentwicklung

HessischesKultusministerium

Amt für Lehrerbildung

Stuttgarter Straße 18-2460329 Frankfurt am Main

www.afl.hessen.de

Der Autor Christoph Bräuer:

Dr. phil., Jahrgang 1973. Studium der Fächer Germanistik und Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt, Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien 2001, danach Mitarbeit in verschie- denen deutschdidaktischen Forschungsprojekten an der Goethe- Universität Frankfurt und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Von Christoph Bräuer liegen Veröffentlichungen zu sprachlich- literarischer Bildung und Lesestrategien vor. Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Arbeit zu „Könnerschaft und Kompetenz im Lesen und in der Leseausbildung“, für die er 2008 mit dem Förderpreis Deutschdidaktik des Symposion Deutschdidaktik ausgezeichnet wurde. Von 2007 bis 2009 absolvierte er den Vor- bereitungsdienst am Studienseminar für Gymnasien in Offenbach. Zweites Staatsexamen 2009.

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Impressum:

Herausgeber: Amt für Lehrerbildung Stuttgarter Straße 18-24 60329 Frankfurt/Main

Verantwortlich: Helga Kennerknecht

Redaktion: Susanne Nordhofen, Heike Wirthwein

Lektorat: Rolf Engelke

Gestaltung: www.sixfeetone.de, Frankfurt/Main

Titelfoto: iStockphoto

Druck: Druckerei des Amtes für Lehrerbildung, Fuldatal

1. Auflage: Oktober 2009

Hinweis: Für die Veröffentlichung wurden die Pädagogischen Prüfungsarbeiten (schriftlichen Arbeiten) dem Publikationsformat angepasst und gekürzt. Insbesondere wurden aus Datenschutzgründen die Namen der Schülerinnen und Schüler verändert und alle Hinweise auf konkrete Lerngruppen getilgt.

Vertrieb: Diese Publikation können Sie bestellen bei: Amt für Lehrerbildung/Publikationen Rothwestener Straße 2-14 34233 Fuldatal Telefax: 0049 561 8101 139 [email protected] Preis: 4,- €

Best.Nr.: 03171

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Über Literatur sprechen lernen Das literarische Lesegespräch im Unterricht

Reihe Unterrichtsentwicklung

Christoph Bräuer

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Über Literatur sprechen lernen Über Literatur sprechen lernenVorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Zukunft gestalten durch Entwicklung und Innovation! – Gegenwärtig unterliegt die Bildungsland-schaft in Hessen einer starken Veränderung. Die Stärkung der Eigenverantwortung der Schule bedeutet, Entwicklungsprozesse voranzutreiben. Das Hauptaugenmerk richtet sich vornehmlich auf folgende Schwerpunkte: Wandlung der Lehrerrolle, Erweiterung der Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern, Gestaltung einer neuen Unterrichtskultur, Orientierung des Unterrichtens an Bildungsstandards und Kompetenzen.

Das AfL möchte im Rahmen der schon bestehenden Heftreihe zur „Unterrichtsentwicklung“ gelungene Pädagogische Prüfungsarbeiten vorstellen, die in besonderer Weise den Anspruch des hessischen Schulgesetzes erfüllen, indem sie

• eine typischepädagogische Fragestellung, die sich ausderOrientierung anBildungsstan-dards und Kompetenzen ergibt, aufgreifen und eingrenzen

•dieseimHorizontdereinschlägigen,aktuellentheoretischenFachliteraturreflektieren• fürdenSchulalltagtragfähigeLösungsansätzeentwickeln• aussagekräftigeEvaluationsinstrumenteauswählenundeinsetzen.

Wir hoffen, Publikationen vorzulegen, die für unterschiedliche Leser und Leserinnen interessant sind:

• LehrerinnenundLehrerkönneneineOrientierungdahingehendgewinnen,wiesichKompetenz- orientierung konkret im Unterricht umsetzen lässt.

•DidaktikerinnenundDidaktikerkönnenempirischesMaterialunderprobteKonzeptefürihreAus-undFortbildungnutzen.

DieVeröffentlichungmöchteeinenBeitragzumVerständnisdesvielzitiertenBegriffs„reflektiertePraxis“ leisten, weil diese Examensarbeiten an der Schnittstelle zwischen didaktischer Theorie- bildung und konkretem Unterricht angesiedelt sind und daher interessante innovative Impulse für die Unterrichtsentwicklung geben.

Als zweites Heft der Reihe erscheint die Arbeit von Christoph Bräuer, die sich mit dem litera- rischen Lesen und dem literarischen Unterrichtsgespräch beschäftig.

Helga Kennerknecht Ständige Vertreterin des Direktors

Vorwort

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Über Literatur sprechen lernen

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Über Literatur sprechen lernen Inhaltsverzeichnis

Vorwort ........................................................................................................................................... 2

Helga Kennerknecht 2

Abstract .......................................................................................................................................... 4

1 Friedrich Christian Delius‘ Erzählung Spaziergang von Rostock nach Syrakus als Grundlage für literarische Gespräche .......................................................................... 5

2 Offene Gespräche im Deutschunterricht ........................................................................... 6

2.1 Das literarische Gespräch als literaturdidaktisches Prinzip 6

2.2 Das literarische Gespräch als pädagogisches Problem 10

3 Die Bearbeitung des pädagogischen Problems: Lesegespräch und Lese-Portfolio ...................................................................................... 12

3.1 DieFragestellungundZielsetzungderArbeit 12

3.2 Das Konzept eines gesprächsförmigen Unterrichts 13

4 Die praktische Umsetzung eines gesprächsförmigen Literaturunterrichts ............... 18

5 Die Auswertung der Lese-Portfolios ................................................................................ 20

5.1 Die Effektivität des durchgeführten Unterrichtskonzepts 24

5.2 Die Umsetzung des gesprächsförmigen Unterrichtskonzepts 27

5.3 Resümee 28

Arbeitsblätter ............................................................................................................................. 30

Anhang ........................................................................................................................................ 34

Kurzprofile der Redakteurinnen und des Autors 34

Literaturverzeichnis 35

Inhaltsverzeichnis

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Über Literatur sprechen lernen Über Literatur sprechen lernenAbstract

Der Literaturunterricht kranke häufig daran, dass die Lehrkraft „rigide“ an der eigenen Interpretation festhalte und die individuellen Assoziationen und Deutungsansätze der Schülerinnen und Schüler übergangen würden; Interpretieren werde so zu einem immergleichenThema– „Erörterung, Interpretation,SchemaF“ –, literari-sche Texte würden „kaputt geredet“ oder durch zu hohe Erwartungen und hohen Druck „erstickt“.1

Solche und ähnliche Klagen der Schülerinnen und Schüler stehen nicht nur einem erfolgreichen literarischen Lernen entgegen, sondern auch dem Gegenstand Literatur. Um den Unterricht schüler- und problemorientiert und zugleich dem Gegenstand angemessen zu gestalten, bedarf es offensichtlich alternativer Unter-richtskonzepte.EinedidaktischeMöglichkeitversprechenoffeneGesprächsformenwie etwa das literarische Unterrichtsgespräch.

Inwieweit sich solche alternativen Unterrichtskonzepte im regulären Unterricht überhaupt umsetzen lassen und inwieweit sie sich bewähren, ist unter ‚Theoreti-kern’ wie ‚Praktikern’ gleichermaßen umstritten.

In dieser Arbeit wird ein didaktisches Konzept entwickelt und auf dessen Grund- lage die Lernchancen eines gesprächsförmigen Literaturunterrichts untersucht. Im Zentrum steht unter der unterrichtsleitenden Thematik ‚Lebensentwürfe’ in Klassen- stufe 11 die Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach SyrakusvonF.C.Delius.Die tragenden und strukturierenden Elemente der Einheit bildeten zwei literari-sche Gespräche zu Anfang und zu Ende der Einheit.

ImFokusderwissenschaftlichenArbeitstehennundieAuswertungunddieReflexion dieserbeidenGesprächeinBezugaufdieFragenachdenindividuellenLernzuwäch-sen der Schülerinnen und Schüler aufgrund der beiden literarischen Gespräche: Inwieweit profitieren die einzelnen Schülerinnen und Schüler in der Deutung der Erzählung von den offenen Gesprächen in der Gruppe? Die Auswertung erfolgt anhand so genannter Lese-Portfolios, in denen die Schülerinnen und Schüler ihren Lernprozess über die Vor- und Nachbereitung der beiden Gespräche dokumentieren.

1 DieanonymisiertenZitatestammenauseinemGesprächderLerngruppezuBeginndesSchuljahres2008/09.

Abstract

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Über Literatur sprechen lernen

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Über Literatur sprechen lernen

FriedrichChristianDelius’ErzählungDer Spa-ziergang von Rostock nach Syrakus, erschie-nen 1998, bietet ein Bedeutungspotential,welches den Schülerinnen und Schülern einen weiten Raum für Erfahrungen im und mit dem Literarischen eröffnet.

Delius erzählt, so der Klappentext, „die span-nende und komische Geschichte eines kri-tischen DDR-Bürgers, der einmal etwas von der Welt sehen wollte, Italien sehen, um dann heimzukehren – und dem es gelang, so wie SchwejkoderdemHauptmannvonKöpenick Großes gelungen ist“. Die Rhein-Neckar- Zeitung ergänzt in ihrer Besprechung: „Die tragikkomische Geschichte seines Helden, der reisen wollte, um bleiben zu können … Es geht um den – auch skurrilen – Behauptungswillen von Sehnsüchten gegen alle gesellschaftliche und staatliche Bevormundung“.

Erzählt wird, wie der Kellner Paul Gompitz mit einer bewundernswerten Beharrlichkeit und Energie seine Reise vorbereitet, antritt und an deren Ende er wieder in die DDR zurückkehrt; eine Reise, die ihn auf den Spuren klassischer Bildungsreisender nach Syrakus führen sollund die für ihn unter der Hand selbst zu einer Bildungsreise gerät. Delius erzählt, wie sein HeldaufdieserReisenachSyrakuswieaufderReisezusichselbstmitseinerFreundinHelga,mit seinem sozialistischen Heimatstaat, mit

Land und Landsleuten im Westen und auch mitsichselbstinKonfliktgerätundwieerden-noch zurück in seine Heimat findet und wie er zu sich findet.

Auch die sprachliche Gestaltung enthält ein weites Erfahrungspotential: so spielt der Titel der Erzählung auf die Reisebeschreibung J.G. Seumes Spaziergang nach Syrakus an. Dieser intertextuelle Verweis zieht sich durch die ge-samte Erzählung, Gompitz folgt der Reiserou-te Seumes. Die Erzählung, die eine wahre Be-gebenheit literarisch gestaltet, spielt gekonnt mitSymbolik (Schiff –offenesMeer –Hafen),mit sprachlichem Witz und Ironie und bezieht die Lesenden durch kursiv gesetzte Dialoge in die Erzählung ein.

Das bestimmende Thema – Reisen und der Aufbruch oder Ausbruch zu Neuem oder Un-bekanntem – schließt an die Erfahrung der Schülerinnen und Schüler an: Die Erzählung ermöglicht sowohl literarische Erfahrungen mit der Identitätsfindung im Sinne einer Bil-dung und Selbstfindung als auch im Sinne der AuseinandersetzungmitEigenemundFrem-dem. Darüber hinaus stellen sich neben aktu-ellen Bezügen zur deutschen Gegenwart auch solche zur jüngeren deutschen Geschichte(BRD –DDR) sowie zur deutschenGeistesge-schichte her.

1 Friedrich Christian Delius‘ Erzählung Spaziergang von Rostock nach Syrakus als Grundlage für literarische Gespräche

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Über Literatur sprechen lernen Über Literatur sprechen lernen

2 Offene Gespräche im Deutschunterricht

2.1 Das literarische Gespräch als literaturdidaktisches Prinzip

Dem Gespräch kommt traditionell eine zent-rale Bedeutung in der Rezeption von Literatur zu, sei es außerschulisch, sei es im Literaturun-terricht(vgl.Mayer2006:457).Der‚methodi-sche’UmgangimLiteraturunterricht(LU)lässtsichnachJoachimFritzscheprinzipielldanachunterscheiden, „ob über die Texte nachge-dacht und gesprochen bzw. geschrieben wird oder mitdenTextengehandeltwird“(Fritzsche2004:227;HervorhebungimOriginal).Werdeüber die Texte nachgedacht, so würden die Texteanalysiertundinterpretiert,unddiesge-schehe in der Unterrichtsöffentlichkeit meis-tens in Form des sogenannten ‚Unterrichts- gesprächs’, „einer didaktisch äußerst unbefrie-digenden Form der ‚Anschlusskommunika-tion’“ (vgl.Fritzsche2004:227f.).SchonzehnJahrezuvorhatteFritzsche in seinerDidaktikundMethodik desDeutschunterrichts in derEinleitung seines Methoden-Kapitels zumfragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch sowohl die geringe „Effektivität von Literatur-unterricht“ als auch die Stagnation in der Ent-wicklung der Unterrichtspraxis konstatiert und das gleich bleibende Erscheinungsbild spe-ziell des Literaturunterrichts folgendermaßen geschildert:„Manübertreibtwohlnicht,wennman feststellt, dass der größte Teil des LU von der ersten bis zur letzten Klasse heute noch in der Form eines Unterrichtsgesprächs in derGesamtklasse abläuft, das der Lehrer durch Themasetzung bzw. Leitfragen oder ‚Impulse’ untergliedert und als Gesprächsleiter durch zusätzlicheFragen(unddurchTafelanschrieb)lenkt“ – Fritzsche unterscheidet dabei einenallerdings als selten markierten „Idealfall“, ei-nen „Normalfall“ und einen „Extremfall“ (vgl.Fritzsche1994:176f.).Im‚Idealfall’könnesich(auchimUnterricht)einliterarischesGesprächentfalten, „bei dem der im Zuge der Lektüre evozierteProzesssubjektiver literarischerBe-

deutungskonstitution im Rückgriff auf die jeeigene (lebensgeschichtlichgeprägte)Wahr-nehmung von realer und fiktiver Wirklichkeit unbefangen ‚zur Sprache gebracht’ und mit anderen Deutungen konfrontiert wird, so dass sich das identitätsbildende Potenzial literari-scherVerständigung – im Sinneder (Selbst-)Vergewisserung über eigene und fremde Verstehensschemata – entfalten kann“ (Wie-ler1998:28); im‚Normalfall’desschulischenSprechens über literarische Texte komme es dagegen häufig nicht zu einem ‚Gespräch’, da sich die Schülerinnen und Schüler in ihren Äußerungen nicht aufeinander bezögen oder aber vornehmlich auf die Textkommentare der Mitschülerinnen und -schüler reagierten undso ihre eigene Deutung des literarischen Tex-tesausdemBlickverlören(Wieler1998:28);den ‚Extremfall’ schließlich stellt ein Sprechen über literarische Texte in der Schule dar, „bei dem die Handlungsorganisation eines gesam-ten Unterrichtsgesprächs durch elizitierende und evaluative Äußerungen des/der Unter-richtenden geprägt wird und in der langwieri-gen Suche nach dem ‚verborgenen Sinn’ eines literarischenTextesodernachdervomLehrer/derLehrerinfavorisiertenInterpretationFragenbeantwortetwerden,diebeikeinem(Schüler)aufgekommen sind“ (Wieler 1998: 29). DasSprechen über Literatur bezeichne in diesem Sinne eine Lehrform, die sich am sokratischen Dialog orientiere, wonach der Lehrende durch gezielte Leitfragen den Lernenden selbst die richtige Antwort finden lassen könne und sol-le,unddieunterdemEinflussderwerkimma-nenten Interpretation von einem geschlosse-nen, im Voraus festgelegten Textsinn ausgehe, auf den hin das Gespräch geplant und gelenkt werde(Mayer2006:457).Entsprechendkons-tatiertValentinMerkelbach:„Dasfragend-ent-wickelnde Unterrichtsgespräch dient weniger

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Über Literatur sprechen lernen

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Über Literatur sprechen lernen

2 InzahlreichenLesebiografienfindensichdarüberhinausÄußerungen,nachdeneneinindiesemSinnetraditionelleranalytisch-interpretierender Literaturunterricht nicht nur keine positiven, sondern negative Wirkungen auf die Beteiligten hatte: Ihnen wur-dedieLustamLesenundanderLiteraturnachhaltigausgetrieben(vgl.Graf1995).

dem offenen Austausch der Leseerfahrung als derVermittlungeinertextanalytischfundiertenInterpretation, in deren Besitz die Lehrperson nach einsamem Lesen und Studieren sich im-merschonbefindet“(Merkelbach1998:74).

Kritik andieser Formdes Literaturunterrichtswird seit den 70er Jahren geübt, nicht nur we-gen dessen Ineffektivität2, sondern auch, weil zum einen in der durch die Rezeptionsästhetik und den Dekonstruktivismus ausgelösten „Kri-seder Interpretation“einFesthaltenaneinerallgemeingültigen textanalytisch fundiertenund schulisch zu vermittelnden Interpretation literarischer Texte nicht mehr haltbar ist und zum anderen durch die empirische Rezepti-onsforschung und die psychologische Lese-forschungdemrezipierendenSubjektund inderFolgederOrientierungandenSchülerin-nen und Schülern eine größere Bedeutung im Interpretationsprozess beigemessen wird. Darüber hinaus wird gegen das fragend-ent-wickelnde Unterrichtsgespräch eingewendet, es ziele vor allem auf sprachlich und kognitiv versierte Schülerinnen und Schüler und be-nachteilige eher gestalterisch begabte, lang-samere undbildungsferne (vgl.Mayer 2006:457).InderFolgewendetsichdiedidaktischeForschungstärkerVerfahrenzu,indenen„mitden Texten gehandelt wird“, etwa handlungs- und produktionsorientierten Verfahren.

Seitden90erJahrenbemühtsichdiedidakti-scheForschungverstärkt,GesprächealsVer-fahren des Literaturunterrichts neu zu begrün-denundzugestalten(vgl.etwaWieler1989;Christu.a.1995; Werner1996): „Zudenge-meinsamen Grundlinien gehört das Bemühen, das Verfahren entgegen dem in der Praxis vorherrschenden unterschwelligen Abfrage-verhalten und im Anschluss an die kulturelle Tradition der ‚freien Geselligkeit’ wieder als Gespräch in seiner eigentlichen Bedeutung im Sinne eines freien Dialogs aller Beteiligten miteinander zu fundieren, das nicht auf Ein-deutigkeitabzielt,sondernderPolyvalenzdesliterarischen Textes Rechnung trägt“ (Mayer

2006:457f.).DieseNeubestimmungnunbe-wusst ‚literarisch’ bezeichneter Gespräche im Unterricht vollzieht sich in Abgrenzung zum Paradigma des fragend-entwickelnden Unter-richtsgesprächs: Literarische Gespräche ver-stehensichnichtalseineFormder‚Anschluss-kommunikation’ im Sinne eines Sprechens ‚über’ einen literarischen Text, sondern als ein gemeinsames ins Gespräch kommen ‚mit’ dem literarischen Text im Sinne eines Sprach-Handelns.

Damit aus einem Sprechen ein Gespräch in diesem Sinne werden kann, bedarf es einer bestimmten „Intentionalität und Qualität“: „Ein Gespräch ist ein gemeinschaftliches Tun. Zum Gespräch wird Sprechen durch die Intention, ein Gespräch führen zu wollen – und es hat in der Regel eine doppelte Funktion: eine ge-genstandsorientierte und eine interaktionelle. […] Wer sich auf ein Gespräch einlässt, lässt sich auf eine Sache und auf PartnerInnen ein“ (Härle2004:145);dieGesprächspartner leis-ten (gegenseitig)maieutischeUnterstützung,sie haben Anteil an der „allmählichen Verfer-tigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist),sei es explizit im Dialog oder sei es durch ein aktivesZuhören (vgl.Härle2004:144f.). „Umvon einem Literarischen Gespräch sprechen zu können, muss dieses Gespräch genuine Zielsetzungen verfolgen, die der Qualität des ‚wahren Gesprächs’ und des ‚schönen Ge-sprächs’ entsprechen. Statt sich beschreibend undanalysierendmitdemliterarischenTextzubefassen oder auf ein intendiertes Interpre-tationsziel zuzusteuern, muss das Literarische Gespräch einen interaktionellen Verstehens-prozess als gemeinsame Sinnsuche ermög-lichen und in seinen Strukturen abbilden“ (Härle 2004: 145). In dieser gemeinsamenSuchbewegung deutet sich die Orientierung des literarischen Gesprächs an den individu- ellen wie interaktionellen Prozessen des Lesens und Interpretierens an: Lesen und Interpretie-ren wird als ein aktiver, konstruktiver und kul-turell-interaktioneller Prozess modelliert (vgl.Hurrelmann2002).

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Über Literatur sprechen lernen Über Literatur sprechen lernen

3 HierausbegründetsichetwadieUnterscheidungzwischeneinerErziehungzurLiteratur(alseingenuinliterarischesLernziel)undeineErziehungdurchLiteratur(alseingenuinpädagogischesLernziel).

Das literarische Gespräch wird keineswegs als ‚Königsweg’ gesehen, andere Formender Kommunikation um und über Literatur bleiben möglich, sie besitzen ihren eigenen Lerngegenstand und ihre eigenen Lernziele.3 Dennoch handelt es sich für Gerhard Härle beim literarischen Gespräch nicht nur um eine Methodenebenanderen,sondernumein„di-daktisch notwendiges Verfahren“, da es sich „um eine der Literatur und dem literarischen Verstehen in besonderer Weise angemessene Form des Umgangs“ handelt (Härle 2004:143f.;HervorhebungimOriginal).

Die besondere Angemessenheit eines ge-sprächsförmig gestalteten Literaturunterrichts lässt sich didaktisch zweifach begründen: Aus der Beschaffenheit des Gegenstands Litera-tur(Gegenstandsorientierung)sowieausderEigenart des (literarischen) Verstehenspro-zesses(Leser-bzw.Schülerorientierung)undderentsprechenden„kulturellenPraxis“(vgl.Hurrelmann 2002; Problemorientierung).„Am Anfang aller Literatur ist das Gespräch“: Diesgilt sowohlphylogenetisch fürdieEnt-stehung der Literatur an sich als auch onto-genetisch für unseren Umgangmit ihr (vgl.Härle2004:137).

(1) Literaturwissenschaft wie Literaturdidaktik haben in den vergangenen vier Jahrzehnten sowohl theoretisch als auch empirisch deutlich gemacht, dass Interpretationen „kein letztes Wort“ (E. Haueis) kennen: Literarische Textezeichnen sich – gerade auch im Gegensatz zu pragmatischen Texten – durch ihre Polyvalenz, ihre Vielstimmigkeit und Vielsinnigkeit aus; sie nutzen das gesamte Potential der Spra-che, spielen mit Konventionen, arbeiten mit uneigentlicher Rede (Metaphorik; Symboliku.a.)(vgl.Bräuer2006:450ff.).Mehrdeutigkeit, Offenheit und Nicht-Verstehen gehören so-mitzumWesenderLiteratur(vgl.Härle2004)und korrespondieren mit der Bedeutung von „Leerstellen“ und der Annahme eines „idealen Lesers“ in der Rezeptionsästhetik und mit der Zuschreibung eines „Partiturcharakters“ litera-

rischerTexte,nachdemjederliterarischeTextaufeine je individuelleWeiseerst zum„Klin-gen“gebrachtwerdenmuss(vgl.Lypp1997:115). Mit dieser Bestimmung literarischerTexte ist weder das „Ende der Interpretation“ (S. Sonntag) erreicht noch einer völligenBe-liebigkeit literarischer Interpretation das Wort geredet – es bleibt durchaus möglich, Inter-pretationenalsabwegigzurückzuweisen(vgl.Eco1999).AberdieseBestimmungmachtesunmöglich, eine eindeutige und alleingültige Interpretation anzunehmen – ein schulischer Literaturunterricht, der sich dies – sei es expli-zit oder implizit – zum Lernziel setzt, folgt nicht einer ‚didaktischen Reduktion’, sondern ver-fehlt seinen Gegenstand.

(2) Lesedidaktik und Lesesozialisationsfor-schung, Gesprächsanalyse und psychologi-sche Leseforschung haben auf der Grundlage empirischer Forschung aufgezeigt, welcheBedeutung dem Subjekt im Lesen und Inter-pretieren zukommt; Leserinnen und Leser ent-nehmen Texten nicht Informationen oder Sinn, sie sind vielmehr aktiv an der Konstruktion von Textbedeutung und -sinn beteiligt, sie treten im Lesen und Interpretieren in eine Interaktion mit dem Text, in der sie Textinformationen mit ihrem eigenen Sprach- und Weltwissen verbinden – entsprechend kommt dem Vor-wissen und den Vorerfahrungen der Leserin-nen und Leser eine erhebliche Bedeutung zu (vgl. Richter/Christmann 1999). Bernd Schef-fer (1992) geht in seiner konstruktivistischenLiteraturtheorie soweit, alle Interpretation als Fortschreibungdeseigenen„Lebensromans“aufzufassen: Nicht die Texte würden von den Interpreten zum Sprechen gebracht, sondern sie brächten vielmehr sich selbst zum Spre-chen; sie gelangten über die Lektüre nicht zu einem Verstehen des Textes, sondern zu ei-nemVerstehen ihrer selbst.Man solltedieseThese gerade auch unter einer schulischen Perspektive nicht vorschnell abtun, verträgt sie sich doch ausgesprochen gut mit einigen der im Lehrplan formulierten Ziele des Litera-turunterrichts (siehe LehrplanDeutsch, S. 9);

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Über Literatur sprechen lernen

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Über Literatur sprechen lernen

4 Verwiesen sei hier auf den treffenden Aphorismus Emil Staigers: „Es ist seltsam bestellt um die Literaturwissenschaft. Wer sie betreibt, verfehlt entweder die Wissenschaft oder die Literatur.“

5 Gleichwohl sind alle drei Gruppen durch die Sozialisationsinstanz Schule mit üblichen Interpretationsverfahren vertraut.

dass sie sich an der Praxis gerade auch pro-fessioneller Interpreten beweist, dürfte kaum bezweifelt werden.4

Die Gesprächsförmigkeit allen Lesens und Interpretierens zeigt sich nicht nur in den Modellierungen des Prozesses (‚Interaktion’;‚Sprechen’), sondern – noch deutlicher – im Erwerb(literarischer)Lesekompetenz.

Die Lesesozialisationsforschung stimmt darin überein, dass gesprächsförmige literarische Vorformen und die Kommunikation über Li-teratur zentrale Bestandteile eines erfolgver-sprechenden Erwerbs literarischer Kompe-tenzendarstellen(vgl.Hurrelmann1997:137)– die Ergebnisse der aktuellen Vergleichsstu-dien legen nahe, dass nicht (nur) fehlendeLesefähigkeiten die Abnahme literarischer Rezeption(sfähigkeit) begründen, sondernfehlende gesprächsförmige literarische Er-fahrungen unterentwickelte Lesefähigkeiten bedingen(vgl.Härle2004:139). Inwieweit li-terarische Gespräche in den weiterführenden Schulen eine kompensierende und sozialisa-torische Wirkung entfalten, ist empirisch bis dato noch nicht erforscht.

ImmerhinkannBettinaHurrelmann(1987)zei-gen, wie sich in literarischen Gesprächen mit unterschiedlichen Gruppen – Berufstätigen, Studentinnen und Schülerinnen und Schülern eines Leistungskurses Deutsch in Klassenstufe 12–(literarisches)Verstehenanbahnt.DieGe-spräche zeichneten sich bei aller Unterschied-lichkeit durch eine Gemeinsamkeit aus: Der Gesprächsablauf wurde nicht durch die Vor-gabe eines bestimmten Interpretationsverfah-rens gesteuert.5 Hurrelmann unterscheidet in allen drei Gruppen dieselben drei Phasen des Gesprächs: In einer ersten Rezeption werden globale, stark schematische Eindrücke formu-liert und erste vorläufige, emotional akzentuier-te Bewertungen abgegeben. In einer zweiten Phase werden die ersten Bewertungen sowohl mit denen der anderen Gesprächsteilnehmer in Kontrast gesetzt als auch an den Text zu-

rückgebunden und auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht – nur selten konnte sie beobachten, dass Gesprächsteilnehmer allein auf die Be-stätigung ihrer ersten Bewertung aus waren. Diese Kernphase des Gesprächs zeichnet sich durch zwei gegensätzliche Bewegungen aus: Durch Operationen des Elaborierens, in denen Bezüge zu anderen Texten, zur Realität und zu den eigenen Erfahrungen hergestellt werden, erleben die Eindrücke und Bewertungen der ersten Phase eine deutliche Erweiterung, die über den Text hinausreicht. Die Operationen des Strukturierens stellen eine Gegenbewe-gung dieser zentrifugalen Kraft dar: „Zurück zum Text“ – „man versuchte, die springenden Punkte und organisierenden Konstellationen in den Texten selbst zu fixieren, eine Struktur aufzudecken, die die Bedeutungsmöglichkei-ten zu bündelngestattete“(Hurrelmann1987:66). Inderdritten,pragmatischerzwungenenabschließenden Phase des Gesprächs äußer-ten die Gesprächsteilnehmer Resümees der verstandenen Bedeutungen und Kritik an den Texten, beides blieb unabgeschlossen, in sich widersprüchlich und zum Teil ergaben sich auch neue Diskussionsansätze.

Hurrelmann sieht die Unterschiede zu metho-disch vorweg geregelten Interpretationsver-fahren vor allem darin, dass die erste emoti-onale und schematische Rezeption in Phase 1 einen konstitutiven Bestandteil des Prozesses darstellt und sich die Interpretationsphase unordentlichund ineinergegenläufigenDy-namik vollzieht. Sie führt nicht zu einer Sinn-fixierung. Die Reformulierungen des Verstan-denen und die Textkritik der abschließenden Phase bleiben offen und revidierbar und stellen „kein methodisch gleichsam zugesi-chertes Endergebnis“ dar (vgl. Hurrelmann1987:69).SchließlichgleichtHurrelmanndiebeobachteten Charakteristika der drei Ge-sprächsphasen mit den Phasen eines herme-neutisch orientierten Verstehensprozesses ab und stellt abschließend fest, dass die „erste emotionale Reaktion auf den Text ein notwen-digesMoment des Verstehensprozesses [ist;

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Über Literatur sprechen lernen Über Literatur sprechen lernen

Lesebiografische Interviews (vgl. Graf 1995)und die dokumentierten Reflexionsrundennach literarischen Gesprächen indizieren, dass offene Gesprächsformen im Literaturun-terricht von den Schülerinnen und Schüler als wichtig und (lese-)motivierend wahrgenom-menbzw.erinnertwerden(exemplarischetwaGraf (1995:121): „DieseFragen,diesichmirbeimLesenstellten,diskutierteichmitFreun-denoder imDeutschunterricht, und jemehrich mit anderen darüber sprechen konnte, um somehrlasich.“).

Allerdings wird die Effektivität offener Ge-sprächsformen, wie etwa des literarischen Unterrichtsgesprächs, kritisch beurteilt; so erscheint esHartmut Eggert (1998: 40) frag-lich, ob aus solchen Aussagen wie der oben zitierten auf eine „produktive Aufnahme und Verarbeitung der Anregungen des Literatur-unterrichts“ geschlossen werden könne. Und Fritzschestelltallgemeinfest,dassesbislang„keinerlei quantitative Untersuchungen zu den WirkungendesLiteraturunterrichtsindergym-nasialen Oberstufe“ gebe; die Forschung in

2.2 Das literarische Gespräch als pädagogisches Problem

C.B.]. Hier werden die Schemata und die Ver-ständigungsmotive aktualisiert, die in die In-terpretationsphase hineinführen. Literarische Wirkung ist – so gesehen – zunächst einmal eineVoraussetzung, nicht eine Folge der In-terpretation.FürdenLiteraturunterrichtistda-miteineGrenzedesmethodischMachbaren,einnotwenigerFreiheitsspielraumderSchülermarkiert“(Hurrelmann1987:73).

Die didaktische Angemessenheit des literari-schen Gesprächs für den Erwerb literarischer Kompetenzen lässt sich konzeptionell mit Hilfe der drei pädagogischen Zielbegriffe Problem-orientierung – Schülerorientierung – Gegen-standsorientierung folgendermaßen zusam-menfassen:

Das literarische Gespräch greift eine kulturel-le Praxis auf und befähigt zur Teilnahme an einer kulturellen Praxis, der gemeinsamen Auseinandersetzung (oder: „Zusammenset-zung“,G.Haas)mitSprachkunstwerken;sieistin diesem Sinne problem-orientiert, indem sie die Schülerinnen und Schülern in der Teilnah-me am gesellschaftlichen Leben unterstützt bzw. zuallererst in sie einführt. Indem in den literarischen Gesprächen nicht nur über Lite-ratur gesprochen wird, sondern mit Literatur ‚gehandelt’ wird, erfahren und erproben die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der in-stitutionellenMöglichkeiten kulturelle Praxisim Unterricht.

Das literarische Gespräch knüpft an die Vor-erfahrungen der Schülerinnen und Schüler an und ist in diesem Sinne schülerorientiert; zu-gleich gibt es den Schülerinnen und Schülern strukturellRaum, ihre jeeigenenindividuellenVorkenntnisse, Bedürfnisse und Interessen ein-zubringenund imGesprächmitdenMitschü-lerinnen und -schülern und dem literarischen Text zu bearbeiten; es lässt die Schülerinnen undSchülermitihrenLeseeindrücken,Fragenund Problemen nicht allein und eröffnet einen Raum, in dem die Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Lese- und Verstehensprozess gestaltenundreflektierenkönnen–diesePro-zessorientierung erlaubt es den Schülerinnen und Schülern auch, (literarische) Lesekompe-tenz zu erwerben und zu entwickeln. Die Schü-lerinnen und Schüler können im Sinne einer Binnendifferenzierung im Gespräch an ihrem eigenen Lernfortschritt arbeiten und können dabeidurchihreMitschülerinnenund-schülerwie auch durch die Lehrkraft in ihrem Erwerb im Sinne eines kompetenten Anderen unterstützt werden.

Schließlich wird das literarische Gespräch im Sinne einer Gegenstandsorientierung dem Wesen literarischer Texte gerecht, indem es zur Auseinandersetzung mit dem Text auf-fordert, Alteritäts- und Differenzerfahrungen Raum gibt, Vielsinnigkeit und Vielstimmigkeit erfahrbar werden lässt und Offenheit und Re-vidierbarkeit zumutet.

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Über Literatur sprechen lernen

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Über Literatur sprechen lernen

diesem Bereich beschränke sich auf einzelne qualitativeStudien(vgl.Fritzsche2004:229).

DieFragenachderEffektivitätzieltsowohlaufdieFrageab,welcheKompetenzzieleineinemliterarischen Gespräch überhaupt erworben werdenkönnen,alsauchaufdieFrage,inwie-weit sich weitere Kompetenz- und Lernziele im Rahmen eines gesprächsförmig organisierten Literaturunterrichts erreichen lassen – man denke etwa an konzeptionell schriftlich ge-formte Interpretationsverfahren, wie sie der Hessische Lehrplan vorschreibt (siehe Lehr-planDeutsch,S.9f.).

Wenn auch Leseförderung und Stärkung der Lesemotivation wichtige Kompetenzziele sind, so gilt es doch im schulischen Literaturunter-richt auch andere Lern- und Kompetenzzie-le zu erreichen, so dass eine Abwägung von zeitlichem und kognitivem Aufwand und mo-tivationalem und kognitivem Ertrag vor dem Hintergrund umfangreicher Lehrpläne und begrenzter zeitlicher Ressourcen durchaus berechtigt erscheint.

Neben der Effektivität literarischer Gespräche schätztFritzschenocheinenzweiten,entschei-denden Aspekt – die „institutionelle Verträg-lichkeit“ – als problematisch ein: „Die Skepsis gegenüber den ‚produktiven’ Verfahren im Literaturunterricht könnte auch bei den ‚lite-rarischen Gesprächen’ angebracht sein, d.h., auch bei solcher mündlicher ‚Anschlusskom-munikation’ wäre nach der ‚institutionellen Verträglichkeit’ zu fragen“ (Fritzsche 2004:229).AuchHubert Ivo (1996:26)bemerkt inkritischer Absicht, dass die Kernfrage bleibe, unter welchen „institutionellen Bedingungen“ und unter welchen „individuellen und fachli-chen Voraussetzungen“ ein Konzept, den Li-teraturunterricht gesprächsförmiger zu gestal-ten, realisiert werden könnte.

Es geht um das pädagogische Problem, inwie-weit der Rahmen der Institution Schule und ihres Lehrer-Schüler-Rollensystems die Umsetzung eines offenen literarischen Gesprächs unter gleichberechtigten Gesprächspartnern im oben modellierten Sinne überhaupt zulässt: Kann die Lehrkraft die Rolle eines gleichberechtig-

ten Gesprächspartners annehmen, können die Schülerinnen und Schüler die Rolle gleichbe-rechtigter Gesprächspartner einnehmen?

Es besteht die berechtigte Befürchtung, dass die Lehrkraft ihre Lehrer-Rolle nicht verlassen kann oder von den Schülerinnen und Schü-lernnichtausihrentlassenwird;indiesemFallsteuert die Lehrkraft gewollt oder ungewollt das Gespräch.

Eine weitere Gefahr besteht darin, dass sich die Lehrkraft – gerade auch in Reaktion auf diese Befürchtung – ganz aus dem Gespräch zurück-ziehtoder sichganzaufeineModerationbe-schränkt (indiesemSinnewirft Ivo (1996:24)der Konzeption literarischer Gespräch vor, sie ließe sich auf die ‚Handlungsmaxime, nicht ein-zugreifen’reduzieren).Problematischerscheinteine solche Rolle der Lehrkraft insbesondere in HinblickaufdieFragenachderErfüllungihresLehrauftrags und nach den Lernchancen für die Schülerinnen und Schüler in einem solchen Gespräch, wenn es im Austausch subjektiverLeseeindrücke und Bewertungen verharrt.

Eine dritte Problematik knüpft daran an: Inwie-weit bringen die Schülerinnen und Schüler die Voraussetzungen – die Gesprächs- und Inter-pretationskompetenz wie die dafür nötigen Kenntnisse – mit, um überhaupt als gleichbe-rechtigte Gesprächspartner agieren zu kön-nen?DenndieBedeutungdes (Vor-)Wissensim Lese- und Verstehensprozess gilt, so dass jedes literarische Gespräch dort an seineGrenzen stößt, wo den teilnehmenden Schüle-rinnen und Schülern das nötige Wissen fehlt. Hurrelmann greift diese Probleme auf, wenn sie anmerkt: „Literaturunterricht gesprächsförmig zuorganisieren,isteineFormderBearbeitungder [kommunikativen, C.B.] Widersprüche, nicht einfach eine Lösung. Für das Gesprächim Unterricht gilt es, die Grenzen zwischen me-thodischer Unterstützung und Enteignung von Verstehensprozessen zu beachten. Es muss Rückzugsmöglichkeiten vorsehen und mit Dop-pelsprachigkeitenrechnen“(Hurrelmann1987:78). Das literarische Gespräch legt einerseitsdas Problem offen, schafft andererseits aber auch den Raum, es zu bearbeiten.

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6 VerwiesenseihieraufdieAnalysenliterarischerGespräche,wiesieimRahmendesForschungsprojektszumLiterarischenUnter-richtsgesprächanderPädagogischenHochschuleHeidelbergvonG.Härle,J.MayerundM.Steinbrennervorgelegtwurden;einesolcheAnalysekannnuraufderGrundlageeinesGesprächstranskriptsvorgenommenwerden,wieesimRahmendieserArbeit nicht zu leisten ist.

3 Die Bearbeitung des pädagogischen Problems: Lesegespräch und Lese-Portfolio

3.1 Die Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit

Das allgemeine Ziel einer didaktischen Kon-zeption, die sich diesen pädagogischen Pro-blemen stellt, muss es sein, die Problem-, Schüler- und Gegenstandsorientierung litera-rischer Gespräche beizubehalten und derart zu gestalten, dass die Schülerinnen und Schü-ler im Rahmen des Literaturunterrichts das Lesen und Interpretieren von Literatur bzw.

eines spezifischen literarischen Textes als eine lebendigekulturellePraxis(undnichtalseineschulische Zumutung) erfahren können, sieihreindividuellen(literarischen)Kompetenzenim Lesen und Interpretieren erproben, ent-wickeln und reflektieren sowieWirkung undWesen literarischer Texte erkennen und beur-teilen können.

Als leitende Fragestellung gilt es auszuwer-ten, welche Lernchancen das literarische Un-terrichtsgespräch Schülerinnen und Schülern im Deutschunterricht bietet; sie lässt sich zu-spitzenaufdieFrage,inwieweitdieeinzelnenSchüler und Schülerinnen in der Deutung des Romans von den offenen Gesprächen in der Gruppe profitieren?

Die Fragestellung zielt erstens auf die obenproblematisierte Effektivität der konkreten li-terarischen Gespräche der Unterrichtseinheit ab: Hier liegt der Schwerpunkt auf den indi-viduellen Lernchancen der Schülerinnen und Schüler – dass in literarischen Gesprächen tragfähige Deutungshypothesen entwickeltwerden(können),kannmanalsgesichertun-terstellen.6 In welchem Umfang jedoch derbzw. die einzelne Schüler/in in ihrem Lesenund Interpretieren von offenen Gesprächen im Deutschunterricht profitiert, bleibt – gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher moti-vationaler und kognitiver Eingangsvorausset-zungen – zu überprüfen.

Die Lernchancen können sowohl auf die kon- krete Deutung der behandelten Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus im SinnedesErreichensvonLernzielen(Bildungs-Erzählung; Ost-West-Dialog; Polit-Satire) be-zogen werden als auch auf die literarische Kompetenz im Umgang mit Literatur im Sinne des Erwerbs von Kompetenzzielen (Differen-zerfahrung; Polyvalenz; Imagination; Offen-heit;Textbezug;vgl.Spinner2006).

DieFragestellungzieltzweitensaberauchaufdie Umsetzung und damit auf die institutio-nelle Verträglichkeit im Verfahren des literari-schen Gesprächs ab:

Hier liegt der Schwerpunkt auf der Wahrneh-mung des literarischen Gesprächs als einem bereichernden und den Lesen- und Interpre-tationsprozess unterstützenden Verfahren – inwieweit nehmen die Schülerinnen und Schüler die offenen Gespräche als solche wahr und nutzen sie, um den eigenen Lese- und Interpretationsprozess zu erproben, zu

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entwickeln und zu reflektieren? Dies bildetnichtnureineBedingungfürdieMöglichkeit,langfristig die oben genannten Kompetenz-ziele in der Institution Schule zu erwerben, sondern auch darüber hinaus literarische Gespräche als eine kulturelle Praxis zu erle-ben, die auch in das außerschulische Leben einwirken kann.

MitbeidenengverknüpftenAspektenderFra-gestellung – Effektivität und Umsetzung – sind neben der Zielsetzung zugleich die Kriterien für die Auswertung der Unterrichtseinheit skiz-ziert. Die im Rahmen dieser Arbeit in Anschlag gebrachten Zielsetzungen gehen dabei über das didaktische Prinzip des literarischen Ge-

sprächs, wie es oben zusammengefasst wur-de, hinaus und markieren so auch die Bear-beitung des pädagogischen Problems: Eine Erfolgs- oder Misserfolgsfeststellung offenerGesprächsformen und damit eine schulische Indienstnahme des Verfahrens sieht das litera-rische Unterrichtsgespräch in einem strengen Sinnenichtvor.MitdieserBearbeitungeinhergeht die Verknüpfung des medial mündlich konzipierten Gesprächs mit seiner medial schriftlich konzipierten Vor- und Nachberei-tung (sieheunten),diedemoffenen, fragilenGesprächsprozess eine strukturierende, stabi-lisierendeForm imSinneeinesGerüstsoder„Formats“ (vgl. Steinbrenner/Wiprächtiger-Geppert2006:14f.)gibt.

3.2 Das Konzept eines gesprächsförmigen Unterrichts

Die Konzeption beruht auf der Voraussetzung, dass alle Schülerinnen und Schüler die Lektüre eigenständig und vollständig gelesen haben. Die Konzeption lässt sich in drei Strukturie-rungsebenen untergliedern, die jeweils so-wohl die Erkenntnisse der Leseforschung als auch die Beobachtungen gesprächsförmiger Interpretationsprozesse aufgreifen:

Auf der obersten Ebene, der Makrostruktur, gliedert sich die Konzeption der Einheit in drei strukturierende und stützende Elemente: Ein eröffnendes erstes Lesegespräch, eine Phase der Vertiefung und ein abschließendes, zwei-tes Lesegespräch.

Das erste Lesegespräch verfolgt eine dop-pelte Zielsetzung: In ihm geht es zunächst darum, gemeinsam mit dem Text und mitein-ander über den Text ins Gespräch zu kom-men; das eröffnende Gespräch ist dabei, so die konzeptionelle Annahme, geprägt von ersten subjektiven Bewertungen und einemglobalen Zugang zur Erzählung; unter dem Eindruck unterschiedlicher Bewertungen und verschiedener Leseeindrücke entwickeln sich imWeiteren Fragen und Probleme, die überdieMöglichkeitendeseröffnendenGesprächs

hinausweisen und die Grundlage für die Pha-se der Vertiefung bilden.

Die Phase der Vertiefung eröffnet den Raum, den globalen Leseeindrücken nachzugehen, sie zu irritieren oder zu klären, sie mit dem Text, mit notwendigen Hintergrundinformati-onen und mit den Eindrücken der anderen zu vergleichen und abzugleichen, die Eindrücke zu modifizieren oder zu revidieren und so die Grundlage für eine differenzierte Deutung und Bewertung der Erzählung zu schaffen. Diese Phase der Vertiefung bearbeitet das Problem, dass bei Schülerinnen und Schülern nicht still-schweigend das notwendige Welt- und literari-sche Hintergrundwissen und die kommunikative wie literarische Kompetenz vorausgesetzt wer-den können, um im Rahmen eines Gesprächs eineeigeneDeutungshypothesezuentwickeln(sieheoben).ZugleichermöglichtdiesePhaseder Lehrkraft, einem Verharren der Schülerin-nenundSchüleraufeinerbloßsubjektivenundglobalen Bewertung oder Deutung entgegen-zuwirken oder korrigierend oder relativierend einzugreifen, ohne den offenen Charakter des Lesegesprächs zu desavouieren.

Diese Phase der Differenzierung mündet in das abschließende zweite Lesegespräch, in

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dem es wiederum um das Entwickeln, Erpro-ben, Ergänzen oder Fallen lassen einer, nunaber differenzierteren, individuellen Deu-tungshypotheseundeinerTextbewertung imGespräch geht. Dem zweiten Lesegespräch kommt eine bündelnde, resümierende, ver-dichtende Funktion zu, ohne den Anspruchzu erheben, dass alle ein oder gar dasselbe Verständnis der Erzählung entwickeln; im Rahmen der schulischen Bearbeitung des lite-rarischen Gesprächs, in der das abschließen-de Gespräch zugleich eine Vorbereitung auf eine anschließende Klausur darstellen kann, kommt der kommunikativen Klärung und dem sprachlichen Ausdruck des Verstehens oder Nicht-Verstehens allerdings eine wichtige Rolle zu.

Auf einer Meso-Ebene wiederholt sich diese Dreischrittigkeit in der Konzeption eines soge-nannten Lese-Portfolios, das der Vorbereitung, Strukturierung und Nachbereitung der beiden Lesegespräche dient und zugleich die Daten-grundlage für die Auswertung möglicher Lern-chancen und -erfolge liefert.

Das Verfahren des Lese-Portfolios

Beide Lesegespräche werden begleitet durch ein Lese-Portfolio (sieheArbeitsblätter 2und3):UrsprünglichalsalternativeFormder„Lern-dokumentationzurFixierungdesLernprozes-ses und des Lernprodukts“ entwickelt, gilt das Portfolio heute als „didaktisch begründete Lehr-Lern-Methode“undals „Unterrichtsprin-zip“, die „mit den Stichwörtern ‚Individualisie-rung’, ‚Lerner-Orientierung’ und ‚Prozess-Ori-entierung’ beschrieben werden können“; Ziel des Portfolios ist es, dass die Lernenden in An-lehnung an Formen reziproken Lehrens undLernens (siehe „Format“oben)dieLernwegeselbst mitbestimmen und an die eigenen Be-dürfnisse anpassen und variieren (können)(vgl.Rupp2006:594).

In diesem Sinne erfüllt das Lese-Portfolio in dieserKonzeptioneinezweifacheFunktion:EsbereiteterstensjeweilsdiebeidenGesprächevor,hilftsiezustrukturieren(sieheunten)undbereitet die beiden Gespräche nach, zweitens dokumentieren die schriftliche Vor- und Nach-

bereitung den Lernprozess und seine jewei-ligen (Zwischen-)Produkte und erlauben denSchülerinnenundSchülerneineReflexion ih-resLernprozesses(sieheAuswertungunten).

Die Diagnose des Lernprozesses durch die Auswertung der Lernprodukte eröffnet einen Blick auf die Lernchancen, die eine in diesem Sinne gesprächsförmig konzipierte Unter-richtseinheit eröffnet.

Die Gestaltung des Lese-Portfolio (Meso-Ebene)greiftwiederumdenobendargestell-ten Aufbau auf: Das erste Lesegespräch wird von den Schülerinnen und Schülern – erstens – vorbereitet durch das Bestimmen von bis zu drei Textstellen, „die Sie bei der ersten Lek-türe persönlich im Positiven oder im Negati-ven besonders angesprochen haben“ (siehe Arbeitsblatt M 2a); die Bestimmung solcher„Textanker“ (Textstellen, an denen sich dieSchülerinnen und Schüler in einem ersten Zu-gangzumText(fest)haltenkönnen)unterstütztdieSchülerinnenundSchüler,einensubjektivbedeutsamen Zugang zum Text zu finden und eröffnet somit eine Grundlage, um gemeinsam mit dem Text und miteinander über den Text ins Gespräch zu kommen. Die Formulierungeiner „kurzen Stellungnahme zur Erzählung“ (Arbeitsblatt M 2a) dokumentiert den erstenglobalen Leseeindruck und/oder eine erstesubjektiveWertungzuBeginndesLese-undVerstehensprozesses.

Im anschließenden Gespräch können diese subjektiven Textzugänge, Eindrücke und Be-wertungen differenziert werden.

Eine solche Differenzierung kann in der Nach-bereitung in einem vorläufigen „Resümee nachdemerstenLesegespräch“ (ArbeitsblattM 2b) formuliert werden; dabei können dieSchülerinnen und Schüler sowohl „auf die Er-zählung als auch auf das Gespräch eingehen“; zweitens können der erste Eindruck und die erste Bewertung durch die Überlegung auf-gebrochenwerden,„welcheFragenundPro-bleme Sie in den kommenden Stunden gerne klären würden“. Die gemeinsame Auswertung dieser Fragen und Probleme strukturiert diefolgendenVertiefungsstunden(sieheunten).

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Der Vergleich der ersten Stellungnahme mit dem Resümee nach dem Gespräch dokumen-tiert den Lernprozess bzw. den möglichen Lernfortschritt – beides wird unten entspre-chend ausgewertet.

Das zweite Lesegespräch wird erneut durch die Bestimmung von bis zu drei, nun aber zen-tralen Textstellen vorbereitet, im Sinne eines differenzierteren subjektivenZugriffs aufdenText(ArbeitsblattM3a);einesolcheaufgrundder Vertiefungsstunden mögliche differen- ziertere Deutung oder Bewertung des Textes kann – zweitens – in einer kurzen Stellungnah-me zur Erzählung formuliert und dokumentiert werden. Auch hier strukturieren beide Aspek-te das folgende zweite Lesegespräch vor.

Das zweite Gespräch wird sowohl durch ein ResümeeinBezugaufdieErzählungund/oderdas Gespräch selbst als auch durch eine knap-pe Deutung der Erzählung nachbereitet. Der Vergleich zwischen der Stellungnahme und dem Resümee bzw. der Deutung gibt Einblick in den Lernprozess und den möglichen Lern-fortschritt. Darüber hinaus lässt sich durch den Vergleich beider Vor- bzw. Nachbereitungen auch der Lernprozess wie der mögliche Lern-fortschritt zwischen erstem und zweitem Lese-gespräch beschreiben. Schließlich unterliegt auch dem Lesegespräch eine dreischrittige Struktur(Mikro-Struktur),wiesiemitBezugaufdieErgebnissebeiBettinaHurrelmann(1987)oben dargestellt wurden.

Das Verfahren des Lesegesprächs

Der Strukturierung und Gestaltung des Lese-gesprächs kommt eine besondere Bedeutung zu, soll es den oben dargestellten didakti-schen Prinzipien auch im Rahmen der Institu-tion Schule gerecht werden.

Um ein literarisches Gespräch zu führen, ha-ben sich sowohl in den in der Forschungsli-teratur dokumentierten als auch in den von mir in Schule, Hochschule und Lehrerbildung geführten Gesprächen Gruppen von fünf bis 15 Teilnehmerinnen und -nehmern bewährt; um im schulischen Lesegespräch auf eine ähnliche Gruppenstärke zu kommen, muss

die Lerngruppe in einen Innenkreis, der am Gespräch teilnimmt, und in einen Außenkreis, der das Gespräch beobachtet, geteilt werden. Die Aufteilung der Gruppe erfolgt spontan vor dem Gespräch und sollte möglichst freiwillig geschehen.

Diese Aufteilung ist nicht unproblematisch: Ein Teil der Lerngruppe kann sich zunächst nicht aktiv am Unterricht beteiligen; zwar kann die Beobachtung des Gesprächs nicht nur für den Einzelnen interessant und gewinnbringend sein, sondern über geeignete Beobachtungs-aufträgeauchfüreinegemeinsameReflexionund die Gestaltung des weiteren Unterrichts produktiv werden, aber die strukturell erzwun-gene Passivität des Außenkreises birgt das Ri-siko, dass Schülerinnen und Schüler sich aus dem Unterricht ausklinken. Um diese Passivi-tät des Außenkreises abzuschwächen, steht für die Schülerinnen und Schüler ein freier StuhlimInnenkreis,aufdensichjeweilsein/eSchülerin oder Schüler des Außenkreises set-zen kann, um spontan einen Gesprächsbei-trag zu leisten. Zugleich bietet der Außenkreis aber auch einen Schutz- und Rückzugsraum fürdiejenigenSchülerinnenundSchüler,diesich zunächst eher durch aktives Zuhören als durch aktives Sprechen an einem literarischen Gespräch beteiligen möchten – der Innenkreis erzeugt zumal im Rahmen der Institution Schu-le den impliziten oder expliziten Zwang, sich durch einen eigenen Beitrag zu exponieren, ein Zwang, der zu der geschilderten Dop-pelsprachigkeit und zum Eindruck einer Leis-tungssituation führen kann und dem Prinzip des literarischen Gesprächs zuwider läuft.

Wie diese Aufteilung in Innenkreis und Au-ßenkreis von den Schülerinnen und Schülern wahrgenommen wird und inwieweit sie einen EinflussaufdieLernchancenhabenmag,kannebenfalls anhand des dokumentierten Lern-prozessesreflektiertwerden–dieLese-Portfo-lios enthalten eine entsprechende Angabe.

FürdieStrukturierung des literarischen Unter-richtsgesprächsinderhierkonzipiertenFormdes Lesegesprächs sind vier Phasen konstitu-tiv(sieheArbeitsblattM1):DieVorleserunde, das Blitzlicht, das offene Gespräch und die

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Schlussrunde. In dieser Strukturierung liefert dasLesegesprächeinenRahmen(Format)underöffnet einen Raum, in welchem die von Bet-tinaHurrelmann(1987)beobachtetenundbe-schriebenen Phasen des Verstehensprozesses Platz finden, ohne dass der schulische Rahmen gesprengt würde.

Eine besondere Bedeutung kommt im Rahmen dieser Strukturierung des Gesprächs der Ge-staltung der Lehrerrolle zu: Um dem offenen Charakter eines Gesprächs im Rahmen der Institution Schule nahe zu kommen, muss sich die Lehrkraft einerseits mit elizitierenden und evaluativen Beiträge zurückhalten, andererseits führteinestriktmoderierendeRolle(vgl.Christu.a1995)indenAugenvielerKritikerinderPra-xiszueiner„SprachlosigkeitdesLehrers“(Wie-ler1998:31),aufgrunddererSchülerinnenundSchüler häufig über schlichte Assoziationen undeinensubjektivenLebensweltbezugnichthinauskämen(sieheoben).

FürKasparH.Spinner(1987)ergibtsichausderAnalysevonUnterrichtsprotokollen,dassdas Lehrerverhalten im Unterrichtsgespräch wesentlichenEinflussaufdieVerstehensleis-tungen der Schüler habe. Spinner formuliert für Gespräche, die in einem Miteinanderund Gegeneinander einen Erkenntnisfort-schritt ermöglichen, zwei Prinzipien: Die Lehrkraft sollemit ihrenFragenund Impul-sen versuchen die Schülerinnen und Schüler anzuregen, auf andere Beiträge einzugehen; und ihre Reaktionen sollten zeigen, dass ihr an einem Verständnis und einer Entwick-lung der Deutungen gelegen sei und es ihr nicht allein darauf ankomme, die Stichworte zu erhalten, die ihr ein Fortspinnen des geplantenUnterrichtsfadenserlaubten (vgl.Spinner1987:188).

Johannes Werner (1996) versucht, aus derAnalyse realerGesprächedes Literaturunter-richtsindergymnasialenOberstufe,„differen-zierte Aussagen zu einem sinnvollen Lehrer-verhalten“ zu formulieren, das „gestaltend und fordernd angelegt sein kann, ohne die Gleich-berechtigungderSprecherzustören“(Werner1996: 11). Werner stellt folgende Prämissenfür in diesem Sinne offene Gespräche auf:

•Es sollte von einem rezeptionsorientierten Textverständnis ausgehen, welches die Of-fenheit der Deutungsmöglichkeiten berück-sichtigt;

•es sollte grundsätzlich gleichberechtigt und schülerzentriert angelegt sein – die Lehrkraft als Gesprächsleiter sollte auf Bewertungen der Deutungen verzichten;

•es sollte sich an gemeinsam erarbeiteten Problemstellungen orientieren (vgl. Wieler1998:34f.).

FürGerhardHärleschließlichmussein„wah-res Gespräch“ gleichermaßen sach- wie per-son-undgruppenorientiert sein.MitHinweisauf den Ansatz der „Themenzentrierten In-teraktion“ (TZI; vgl.Härle/Steinbrenner2002)gehört für Härle zu solchen Gesprächen, „dass die Gesprächskonstellation für alle Beteiligten einmöglichsthohesMaßanAuthentizitätge-währleistet, im Gesprächsverlauf die sachbe-zogenen und die sozialen Parameter eine aus-reichende Chance zur Realisierung erhalten, das Gespräch […] in einer gewissen ‚Wärme’ gedeihen kann und schließlich die Zielsetzung nicht in der Erarbeitung einer fixierten oder fi-xierbaren Interpretation besteht, sondern die Suchbewegungen des Verstehensprozesses einbezieht und die Irritationen und Brüche des Verstehens und Nicht-Verstehens ange-messenberücksichtigt“(Härle2004:149).

Aus diesen deskriptiven Befunden können mit aller gebotenen Vorsicht in einer präskriptiven Perspektive die folgenden zentralen Prinzipien für die Gestaltung der Lehrerrolle zusammen-fassend festgehalten werden:

(1) Die Lehrkraft muss die „Schülerinnen und Schüler als Experten ihrer eigenen Leseerfah-rung“(Wieler1998:33)an-undernstnehmen(Schülerorientierung), auch wenn dies zu-nächst bedeuten kann, Ab- und Umwege im Gespräch zuzulassen und zu beschreiten. Sie sind als Suchbewegungen im Sinne des Lese- und Verstehensprozesses nicht zu überwin-den, sondern zu allererst zu ermöglichen und zuentwickeln(Prozessorientierung).

(2) Die Lehrkraft muss die Offenheit und Po-lyvalenz von Literatur (Gegenstandsorientie-

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rung) berücksichtigen, die Verstehenshoheitliegt nicht bei ihr, sondern bei der Gruppe in der Argumentation mit dem und über den lite-rarischen Text.

(3) Die Lehrkraft muss ein eigenes Interesse am Verständnis des literarischen Textes wie dessen Verständnis der Schülerinnen und Schülerhaben(auchausdiesemGrundkommtder Textauswahl eine besondere Bedeutung zu);dieLehrkraftdarfundsollteihreeigenenLese-Erfahrungen, Fragen und Deutungshy-pothesen einbringen und ihre Argumentation offen legen, aber sie muss es primär aus der Rolle einer interpretierenden Leserin tun und nicht aus der einer evaluierenden Lehrerin.

(4) In diesem Sinne tritt die Lehrkraft als kom-petente Andereauf,der(zunächst)dieLeitungdes Gesprächs zukommt; im Rahmen der Lei-tungsfunktion kommt der Lehrkraft neben der oben skizzierten Phasierung des Gesprächs insbesondere die Aufgabe zu, für eine an-genehme und offene Gesprächsatmosphäre („Wärme“)SorgezutragenunddemGesprächgeeignete Impulse zu geben; diese Impulse (etwa im Sinne offener, problemorientierterFragen) sollten der Beschäftigung mit demliterarischen Text entspringen (Gegenstands-orientierung)undkönnensowohlFragenundProbleme der Schülerinnen und Schüler als auch Fragen und Probleme der Lehrkraft alsLeserin aufgreifen.

Diese Prinzipien weisen darauf hin, dass die gelingende Leitung offener Gespräche im Un-terricht weniger auf Antizipation und Planung

als auf der Einnahme einer didaktischen Hal-tung und der Einsicht in die Prozesshaftigkeit des Lesens beruht – der Lehrkraft sollten die eigenen Lesewege und Umwege als Leser/in bewusst sein. Eine solche Haltung ist aller-dings nicht nur Voraussetzung, sondern auch Folge literarischer Unterrichtsgespräche, wiebesondersMajaWiprächtiger-Geppert(2009)in ihren Gesprächen mit Lehrkräften feststel-len konnte.

Die oben vorgeschlagene Strukturierung mag der Lehrkraft in dieser Gestaltung der Lehrer-rolle helfen, zugleich aber „bleibt das Risiko desMisslingensbestehenunddasVerfahrendesLiterarischenGesprächs(…)injederRea-lisierungeinneuesWagnis“(Härle2004:163).AufgrunddesLehrer-Schüler-Rollensystemsinder Institution Schule zeichnen sich Lehr-Lern-Gespräche prinzipiell durch eine höhere Stör-anfälligkeitaus(vgl.Haueis1999);„werdiesesGespräch wolle, müsse es durchsetzen ‚gegen viele innere und äußere Widerstände’ und ‚mit MisserfolgenundderFragilität’solcherlitera-turrezipierender Gespräche leben lernen“, so Merkelbach (1998:78).Zielmussesbleiben,Gegenstandsorientierung und kommunikati-ve Orientierung didaktisch so zu modellieren, dass sie nicht in einen Gegensatz geraten: „DieGegenstandsorientierung(unddamitdiedidaktischeModellierung) istvielmehr inderdurch Unterricht präfigurierten sozialen Inter-aktion enthalten. Ohne Gegenstandsorien-tierung kann die soziale Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden nicht als Unterricht gelten“(Haueis1999:47).

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4 Die praktische Umsetzung eines gesprächsförmigen Literaturunterrichts

Die Umsetzung dieses Konzepts lässt sich nicht nur didaktisch begründen, sie folgt auch elementaren Zielen des Hessischen Lehrplans. Er fordert, dass der Literaturunterricht „Lese-förderung betreibt und zu einer Erziehung beiträgt,derenZieleinaktives,zurMußeundKonzentration fähiges, mit Phantasie und Kre-ativität begabtes Individuum ist, das die Ange-bote der Literatur nutzen kann zur Erweiterung des eigenen Weltbildes, zur Herausbildung von Aufgeschlossenheit und Toleranz und zur Bewältigung persönlicher Problemsituationen. […].SiedientalsMediumderSelbstvergewis-serung, der Selbstfindung und bietet damit Orientierung“(LehrplanDeutsch,S.9).

Unter der unterrichtsleitenden Fragestellung„Flucht aus der Gesellschaft oder Reise zusich selbst?“ können die Schülerinnen und Schüler, ausgehend von den eigenen Entwick-lungsprozessen und Erfahrungen, „durch eine Auseinandersetzung mit den in der Literatur gestalteten Identitätskonzepten Antworten“ finden, „die zur Persönlichkeitsentfaltung in

sozialer Verantwortung befähigen“ (LehrplanDeutsch, S. 48). In der gewählten ErzählungwerdensowohldieMöglichkeitderSelbstfin-dung und Selbstverwirklichung thematisiert als auch die Bedingungen für ihr Gelingen oder Scheitern untersucht, so dass die Schü-lerinnen und Schüler ihre eigenen Identitäts-konzepte im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Relevanz kritisch hinterfragen können (vgl.LehrplanDeutsch,S.48).

Die Einheit selbst umfasste zwölf Unterrichts-stunden(sieheTabelle).DieSchülerinnenundSchüler erhielten im Vorlauf zwei Wochen Zeit, um die Erzählung vollständig zu lesen und sich aufdasersteLesegesprächvorzubereiten(Le-se-Portfolio).7 Die thematischen Schwerpunk-te der Vertiefungsphase ergaben sich aus der Auswertung des ersten Lesegesprächs. Das zweite Lesegespräch und dessen Reflexionund Auswertung (Lese-Portfolio) bildete zu-gleich den Abschluss der Einheit als auch die Vorbereitung auf die anschließende Klausur über die Erzählung.

7 Das Verfahren des Lesegesprächs wurde zuvor schon einmal erprobt.

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Stundenzentrum

Erstes eröffnendes Lesegespräch

Auswertung des GesprächsAuswahl der Themen-schwerpunkte und Gruppeneinteilung

Einstieg in die Vertiefungsphase

Vorbereitung der Referate

Referate und Diskussion

Zweites abschließen-des Lesegespräch

Auswertung des Gesprächs

Klausur

Stundenthema/Kompetenzziele

Annäherung an das literarische Werk im Gespräch EntwicklungersterDeutungshypothesen

Reflexion des Gesprächs/der ErzählungSammlung und Organisation der Fragen und Probleme aus dem Lesegespräch

Was bedeutet Reisen für uns?Was bedeutet Reisen für Paul Gompitz?

KlärungoffenerFragen,wichtiger Hintergründe der Erzählung

(1) Vorbereitung der Reise:Warum entscheidet sich Gompitz für eine Flucht über die Gewässer?Warum dauert die Vorbereitung so lange?(2) Reise und Rückkehr:Wie erlebt Gompitz die BRD und Italien?Wie bereitet Gompitz seine Heimkehr in die DDR vor?(3) Die Personen:Wer ist Paul Gompitz? Wie steht er zu Deutschland (DDR-BRD)?Welche Rolle spielt Helga? Wie ist die Beziehung zwischen beiden, weshalb reist Helga nicht mit?(4) Historisch-politische Hintergründe:Entwicklung der DDR bis zum Einsetzen der ErzählungWas waren die Gründe für den Mauerbau?Was beabsichtigte die Staatsführung der DDR mit der Gründung der Staatssicherheit?Wünsche und Bedürfnisse der DDR-BürgerVergleich der Lebensweisen in Ost und West(5) Die Erzählung:Der Autor – Motive des Autors – das kursiv Gedruckte – der Name Paul Gompitz – Metaphern und Symbole

Entwicklung und Erprobung eigener DeutungshypothesenimGesprächAuseinandersetzung mit anderen Deutungs-hypothesen,Vielstimmigkeit,Offenheit

Reflexion des Gesprächs/der ErzählungAustausch über offene/ungeklärte Fragen und ProblemenReflexion der Einheit

Materialgrundlage

Die Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach SyrakusLese-Portfolio zur Vor-bereitung des ersten Lesegesprächs(M2a)

Lese-Portfolio zur Nach-bereitung des ersten Lesegesprächs(M2b)TA: Organisierte Mind-Map

Brainstorming (Einzelarbeit)TA: Tabelle SuS-Bedeutung - Bedeutung für Gompitz (Plenum/Gruppe)

Wahlweise Informationen zu Seumes Reisebeschrei-bung Spaziergang nach Syrakus, zur Geschichte der DDR, zum wahren Vorbild der Erzählung, zu literaturtheoretischen Hin-tergründen, zum Begriff der „Bildungsreise“, zum Autor…(Gruppenarbeit)

Präsentation/ReferatFolie/Handzettel

Die Erzählung Der Spaziergang von Rostock nach SyrakusLese-Portfolio zur Vor-bereitung des zweiten Lesegesprächs(M3a)

Lese-Portfolio zur Nach-bereitung des zweiten Lesegesprächs(M3b)

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5 Die Auswertung der Lese-Portfolios

Im Folgenden werden die Lese-Portfoliosausgewertet,umeineAntwortaufdieFragenach den Lernchancen in einem gesprächs-förmig konzipierten Literaturunterricht zu erhalten. Dazu wurden zunächst am Beispiel zweier ausgewählter Lese-Portfolios exem-plarisch die jeweiligen individuellen Lern-prozesse rekonstruiert (siehe S. 21ff). Vordiesem Hintergrund lassen sich nun die sich im Rahmen dieser Unterrichtskonzeption er-öffnenden Lernchancen unter Einbeziehung aller Lese-Portfolios diskutieren. Die Grund-lage bilden 22 Lese-Portfolios der Schülerin-nen und Schüler.8

Die Auswertung der beiden Lese-Portfolios von Jörg und Anna zeigt exemplarisch, wie im Sinne explorativer Einzelfall-Studien auf der Grundla-ge schriftlicher Lerndokumente die zugrunde liegenden Lernprozesse und die daraus resul-tierenden Lernchancen rekonstruiert werden können; dies geschieht auch hier zunächst rein qualitativ und nicht quantitativ, sodass weder aus dieser Rekonstruktion noch aus der folgen-

den Auswertung eine repräsentative Bedeu-tung für das skizzierte Unterrichtskonzept im Besonderen oder für gesprächsförmige Unter-richtskonzeptionen im Allgemeinen abgeleitet werden können.9

In Bezug auf die Umsetzung dieses Konzepts in der konkreten Lerngruppe am Beispiel von Delius’Erzählung lassensich jedochbegrün-dete Aussagen über die Lernchancen und de-renGrenzenmachen.SiesollenimFolgendenunter Bezugnahme auf die im Rahmen der Darstellung der pädagogischen Problema-tik entwickelten Kriterien der Effektivität und der Umsetzung zusammengefasst werden. Entsprechend sind besonders zwei Aspek-te von Interesse: (1) Welche Effekte in Bezug auf literarische Kompetenz und die Deutung der konkreten Erzählung lassen sich aus den Lese-Portfolios rekonstruieren und (2) wie be-urteilen die Schülerinnen und Schüler die Um-setzung der Konzeption (die „institutionelleVerträglichkeit“derbeidenLesegespräche)?

8 AlleLese-Portfoliossindanonymisiert;indenSiglenfindensicheinefortlaufendeNummerierung,ein„SR“fürSchülerund„SN“für Schülerin und ein „i“ für Innenkreis im ersten Lesegespräch und „a“ für Außenkreis im ersten Lesegespräch; L1V bzw. L1N verweist auf die Vor- bzw. Nachbereitung des ersten Lesegesprächs, L2V und L2N entsprechend auf die des zweiten Lesege-sprächs.AlleZitatesindinderorthografischenundgrammatikalischenFormderLese-Portfoliosunverändertwiedergegeben.

9 ZuMethoden,BefundenundGrenzenempirischerUnterrichtsforschunginderLiteratur-undLesedidaktikvgl.Groeben/ Hurrelmann 2006.

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Exemplarische Rekonstruktion der Lernwege von Anna und Jörg

Die beiden exemplarisch ausgewählten PortfoliosstammenvoneinemSchüler(SR9i)undeinerSchülerin(SN8a);derSchüler,ichnenne ihn Jörg, war im ersten Lesegespräch im Innenkreis, die Schülerin, ich nenne sie Anna, im Außenkreis; beide können als durchschnittlich gute Schüler gelten.

Ziel dieser Auswertung ist es, den Lernpro-zess der beiden auf der Grundlage ihrer Lese-Portfolios zu rekonstruieren, um Rück-schlüsse auf die individuellen Lernchancen einer in diesem Sinne gesprächsförmig kon-zipierten Unterrichtseinheit zu ziehen.

FürdieAuswertungsindbesonderszweiAs-pekte von Interesse: (1) Wie beurteilen Jörg und Anna die Umsetzung der Konzeption (die „institutionelleVerträglichkeit“derbei-denLesegespräche)und(2) welche Effekte in Bezug auf literarische Kompetenz und die Deutung der konkreten Erzählung lassen sich aus den Lese-Portfolios rekonstruieren?

Ich werde in der Rekonstruktion dem Aufbau des Lese-Portfolios folgen und so zunächst das erste und dann das zweite Lesegespräch näher betrachten.

Das eröffnende erste LesegesprächJörg bestimmt zwei Textstellen als Textanker, die die Willkür des DDR-Regimes thematisie-ren: Die Angst von Paul Gompitz, „nicht wie-der in die DDR hereingelassen zu werden“ (SvRnS,S.16)undseineAntwortaufdieFra-ge des Vernehmers bei seiner Rückkehr in die DDR, mit welchem Strafmaß er nun rech-ne(SvRnS,S.143f.).EntsprechendformuliertJörg in seiner kurzen Stellungnahme, die Er-zählung stelle dar, wie sich „Bürger der DDR gegen den Staat behaupten müssen, wenn sie ihren Wünschen nachgehen“wollten (L1V).Er gewinnt der Erzählung von Anfang an eine politische Deutung ab und sieht in der positiven Darstellung der Hauptfigur neue Perspektiven auf eine „überlebensfähige“

DDR. Jörg formuliert eine erste globale Deu-tung der Erzählung, die er selbst als einen Denkanstoß sieht, enthält sich dabei aber jedwederWertungderErzählung.

Anna wählt zwei Textanker aus. In ihrer ersten Textstelle wird von Gompitz’ Entschluss erzählt, „demFernwehendlichnachzugebenunddasLand, um bleiben zu können, einmal zu verlas-sen“(SvRnS,S.7).AuchihrezweiteTextstellethematisiert, was Gompitz zu seinem Glück noch fehlt: „Nichts, außer einem Ziel, Italien“ (SvRnS,S.65). In ihrerkurzenStellungnahmebetont sie, die Erzählung beinhalte eine sehr detaillierte „Beschreibung einer Handlung“, es werde nicht auf Personen eingegangen, „außer selten auf die Gedanken des Protago-nisten“(L1V)–ihrebeidenTextstellenspiegelndiese Gedanken wider. Auf dieser Grundlage kommtAnnazueinererstensubjektivenWer-tung. Sie stellt kritisch fest, dem Buch fehle es ein wenig an Spannung, merkt aber auch posi-tiv an, dass die kursiv gesetzten Dialoge zu Be-ginnjedesKapitelsanregendseien,dasBuchinsgesamt wohl sehr geeignet sei, um Diskus-sionendarüberzuführen(L1V).Auchinhaltlichfindet sie noch einen interessanten Aspekt: „Auch bekommt man einen guten Eindruck davon, wie das Leben im Überwachungsstaat, DDR, gewesen sein muss“(L1V).

Anna und Jörg finden auf ganz verschie-dene Weise einen Zugang zur Erzählung: Jörg von einer ersten globalen Deutung her, AnnavoneinererstensubjektivenWertung,die assoziativ an verschiedenen Aspekten des Textes festgemacht werden.

Jörg setzt sich in den Innenkreis und beteiligt sich aktiv am ersten Lesegespräch. In seinem Resümee nach diesem Gespräch streicht er heraus, das Gespräch sei für ihn „sehr anre-gend“ gewesen: „Das Buch selbst hat für mich zahlreiche neue Facetten erhalten. Es wird ein-facher ein objektives Urteil zu fällen, da man andere Meinungen zum Vergleich heranziehen kann“(L1N).JörgfällteinpositivesUrteilüberdas Gespräch, weil er einerseits für sich neue und interessante Seiten der Erzählung kennen

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gelernt, andererseits fremde und andere Le-seeindrücke erfahren hat, so dass er sich nun ein differenzierteres Urteil über die Erzählung bilden kann. Auch wenn sich dadurch sein (wohlpositives)Urteilnichtveränderthat.

Indenvon ihmnotiertenFragenzeigensichim Abgleich zu seiner Eingangsstellungnah-me neue thematische Aspekte: Er problemati-siertdieMotivationvonGompitz,wiederindieDDR zurückzukehren und die Veränderung in der Qualität der Beziehung zwischen Gompitz undseinerFrau(L1N).BeideFragestellungenbleiben fortan für ihn leitend bis hinein in sei-neabschließendeDeutungshypothese.

Auch Anna formuliert zunächst ein positives Urteil über das erste Lesegespräch, an dem sie als Beobachterin im Außenkreis teilge-nommen hat: „Das Lesegespräch hat mir persönlich geholfen neue Ideen zu erschlie-ßen“ (L1N). Sie unterstreicht, dass das Ge-spräch „interessant und anregend“ gewesen und „nicht ins Stocken“ geraten oder lang-weilig geworden sei – auch wenn ihr manche Themen zu lange besprochen wurden.

Ihre explizite Bezugnahme auf zwei Beiträge des Innenkreises belegt, dass Anna trotz ihrer Beobachterrolle vom Lesegespräch profitiert hat: „Zum Beispiel finde ich den Aspekt der Verknüpfung und der Symbole, von [Schüler 17i] genannt, sehr interessant. Ich bin vorher nicht auf den Gedanken gekommen, dass der Beruf Helgas etwas bedeuten könnte. Auch finde ich den Ansatz von [Schülerin 6i] be-rechtigt. Auch mir kam die Idee, dass der Au-tor zu sehr auf den Protagonisten bezogen ist und nicht auf andere Menschen oder Bezie-hungen eingeht“(L1N).SieerweitertihreLe-seeindrückedurchneueAspekte(Symbolik)und bezieht angesprochene Aspekte auf ihre eigenenLeseeindrücke(diefehlendeKontu-rierungandererPersonen,sieheL1Voben).

Sowohl Anna als auch Jörg nehmen das Lese-gespräch als anregend und ansprechend wahr und können sowohl im Innenkreis als auch im Außenkreis vom Gespräch für ihren eigenen

Lese- und Verstehensprozess wie für ihre Deu-tung und Wertung der Erzählung profitieren.

Das abschließende zweite LesegesprächIn seiner Vorbereitung auf das zweite Le-segespräch wählt Jörg drei für ihn zentrale Stellen, in denen es um die Person Gompitz geht,umseineEigenschaften(SvRnS,S.28),seinePrinzipien (SvRnS, S. 59), seineSehn-sucht(SvRnS,S.118).JörgverlagertimVer-gleich zu seinen Textankern mit den nun ge-wähltenTextstellenseinenFokusstärkeraufdas Seelenleben des Protagonisten.

Aus seiner Stellungnahme spricht eine Ir-ritation, die aber als produktiv empfunden wird: Für Jörg muss „dieses vielschichtige Buch“ erst bearbeitet werden, bevor es seine Qualitätpreisgebe(L2V).SeineersteglobaleDeutung erscheint Jörg unter dem Eindruck des ersten Lesegesprächs und der Vertiefung revisionsbedürftig, auch wenn das Buch viel Interpretationsspielraum lasse. Nun könne er sich noch nicht für eine Interpretation ent-scheiden. Aus dieser Formulierung scheintmir weniger Hilflosigkeit als Einsicht in dieVielsinnigkeit literarischer Texte zu sprechen.

Anna bestimmt als zentrale Textstelle in der Vorbereitung des zweiten Lesegesprächs auf Seite9derErzählung:Hierwirdaufdasbis-herige Leben Paul Gompitz’ zurückgeblickt, seine Wünsche und Bedürfnisse wie seine An-strengung, sein Leben zu leben, geschildert. Anna knüpft mit dieser Auswahl an die ersten Textanker(diefürsichgenommenauchschonalszentraleTextstellenfungierenkönnten)an.

In ihrer Stellungnahme dokumentiert sie ihren gewandelten Blick auf die Erzählung: „Wie sich nach langen Stunden des Diskutierens heraus-stellte“, ist die Erzählung eine „spannende und vor allem tiefsinnige Erzählung“ (L2V). Annakonkretisiert diesen Wandel: „Zwar war für mich die Spannung nicht beim Lesen des Buches zu spüren, dann jedoch umso mehr, wenn man von den Denkanstößen Anderer angeregt, nochein-mal sorgfältig den Hintersinn einiger Passagen hinterfragte und durchleuchtete“ (L2V). Anna

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führt diesen Wandel, das neue Interesse und die Spannung, insbesondere auf das Gespräch mit anderen Leserinnen und Lesern zurück und fühlt sich letztlich in ihrer zu Beginn geäußerten Ansicht, dass dieses Buch reichlich Diskussi-onsstoff biete, bestätigt. Zugleich betont Anna aber auch die Notwendigkeit, sich für eine Klä-rung und Deutung der Erzählung über die Hin-tergründezuinformieren(L2V).

In seinem Resümee des zweiten Lesegesprächs stellt Jörg zunächst fest: „Abschließend kann ich sagen, dass das 2. Lesegespräch neue Ansich-ten und Meinungen zum Vorschein brachte, aus bzw. mit denen ich meine eigene erweitern bzw. präzisieren konnte“ (L2N).DiehoheWertschät-zung des gemeinsamen Gesprächs mündet bei JörgindemFazit,dass„das Buch nur dann gut ist, wenn man es in einer Gruppe liest“ oder be-spricht.ErbeziehtdiesesFazitwohlauchaufdenWandel der Lerngruppe, in der viele wie Anna das Buch erst nach den Gesprächen und der Vertiefung spannend und interessant fanden, denn Jörg selbst „fand es auch schon vorher gut“ – aber: „Jetzt habe ich auch die Argumente für diesen Standpunkt“ (L2N).Hier scheintdasdidaktische Prinzip literarischer Gespräche auf-gegangenzusein:DieerstesubjektiveDeutungwird durch eine Phase der Unsicherheit und Ir-ritation in eine differenzierte und begründete und kluge Interpretation überführt: „Paul Gom-pitz findet sich im Laufe der Erzählung selbst. Er positioniert sich innerhalb seines (begrenzten) Lebensraumes neu. Seine Gefühle gegenüber anderen Menschengruppen verändern sich, er entdeckt seine Freude am Segeln und seine Lie-be zu seiner Ehefrau Helga. […] Ein Mann reist in die Welt um zu verstehen, warum es ihm nicht gelingt trotz seiner Unzufriedenheit die DDR nicht für immer zu verlassen“(L2N).

Aber diese Suchbewegung verdeutlicht nicht nur einen individuellen Verstehensprozess, dem man eine literarische Kompetenz un-terstellen muss, sondern begründet zugleich Lesemotivation bei Jörg: „Interessanterweise ist das Buch nach dem ‚Auseinander nehmen’ immer noch reizvoll und ich werde es sicher noch einmal irgendwann lesen“(L2N).

Anna formuliert zunächst eine ganz andere Er-fahrung des zweiten Lesegesprächs: „Mich hat erstaunt, dass sich alle sofort in den Innenkreis setzen“(L2N).Anna,dieimerstenLesegesprächfür sich noch die Beobachterrolle gewählt hatte, spricht hier auch von sich selbst. Ob das Spre-chen seinen ‚Schrecken’ verloren hat, die Schü-lerinnen und Schüler sich nun selbst einbrin-gen wollen oder sich besser für ein Statement vorbereitet fühlen und das Gespräch als eine geeignete Vorbereitung für die anschließende Klausurwahrnehmen(wieAnnavermutet)–alldiese möglichen Gründe sprechen für die Ak-zeptanz des Lesegesprächs in der Lerngruppe, für die Offenheit und ‚Wärme’, in der Anna das erste Gespräch wahrgenommen hat.

FürAnnaselbstwarfdaszweiteGesprächimGegensatz zum ersten nicht mehr viel Neu-es oder Anregendes auf; dennoch empfand auch sie das zweite Gespräch gewinnbrin-gend: „Trotzdem war positiv anzumerken, dass mir vieles nocheinmal im Detail in Erinnerung gerufen wurde“, für Anna ein gelungener Ab-schluss und eine gute Vorbereitung für die Arbeit(L2N).DieBestätigungundFestigungder eigenen Deutung und Wertung war oben alseineFunktiondesabschließenden zwei-ten Lesegesprächs benannt worden.

Schließlich kommt auch Anna zu einer dif-ferenzierten und begründeten und einsich-tigen Deutung: „Gesellschaftskritisch und dabei an manchen Stellen satirisch wird die Geschichte eines DDR-Bürgers erzählt, der das tat was sich wahrscheinlich viele Bürger damals wünschten. Die Mängel der DDRwerden dabei durch die Wünsche und Sehn-süchteGompitz’reflektiert“(L2N).

VergleichtmanjeweilsdieersteStellungnah-me von Jörg und Anna mit ihrer abschließen-den Deutung, so zeigt sich, welchen Lern- und Verstehensprozess sie im Rahmen dieses gesprächsförmig konzipierten Unterrichts vollzogenhaben:Siegelangenvon ihrem jeindividuellen ersten Textzugang in einem indi-viduellen Prozess zu einer beachtlichen indivi-duellenDeutungshypothesederErzählung.

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5.1 Die Effektivität des durchgeführten Unterrichtskonzepts

DieüberwiegendeMehrheitderSchülerinnenund Schüler beurteilt die Lesegespräche posi-tiv – sie betonen dabei sowohl eine allgemei-ne Akzeptanz des Verfahrens an sich als auch dessen anregende, differenzierende und mo-tivierende Wirkung, wie sie exemplarisch aus der folgenden Stellungnahme spricht: „Das zweite Lesegespräch hat mir, wie auch das erste, gut gefallen. Ich habe neue Interpretati-onsideen bekommen und das Buch gefällt mir jetzt noch mehr, da ich (nicht zuletzt durch die-ses Gespräch) eine ganz andere Sicht auf das Buch bekommen habe“(SN19i,L2N).

Die Funktionalität beider Lesegespräche, wie auch die Bedeutung der Vertiefungsphase, wird von den Schülerinnen und Schüler deut-lich wahrgenommen.

So wird das erste Lesegespräch als anregend und klärend empfunden, die Erfahrung ande-rer und fremder Leseeindrücke betont und deren Bedeutung für die eigene Deutung der Erzählung herausgestellt („Das erste Lesege-spräch hat mir sehr gut gefallen und vieles verständlicher gemacht. Ich habe neue Mei-nungen und Denkweisen zu und über die Er-zählung gehört, die mir geholfen haben, meine eigene Meinung zu überdenken“;SN1i,L1N).Darüber hinaus wurde das erste Gespräch nicht nur als bestätigend, sondern auch als ir-ritierenderfahren(„In dem Lesegespräch sind einige neue Aspekte für mich sichtbar gewor-den, jedoch wurde es auch von Bestätigungen und Widersprüchen geleitet“; SR16i, L1N).Schließlich zeigen die Stellungnahmen auch, dassdasGesprächneueFragenundProble-men aufwarf, für die eine weitere Klärung ge-wünschtwurde („Ich möchte noch erwähnen, dass während des Lesegesprächs auch einige Fragen und Probleme aufkamen, die bisher noch nicht beantwortet bzw. gelöst werden konnten“;SR15a,L1N).

Die Funktionder Klärungdieser Fragen undProblemekam imRahmendesKonzepts (zu-nächst)derVertiefungsphase zu; schon Anna

hatte die Bedeutung dieser Phase betont, um sich über das notwendige Hintergrund-wissen für ein tieferes Deuten und Verstehen der Erzählung zu verständigen. Ihre Funktio-nalität wird auch in weiteren Lese-Portfolios herausgestellt, etwa wenn ein Schüler in der Vorbereitung des zweiten Lesegesprächs rückblickend feststellt: „Die Erzählung eignet sich sehr gut für die Arbeit in einer Gruppe, da man sich gegenseitig ergänzen kann, um Hin-tergründe und Details erschließen zu können“ (SR5a,L2V).

Schließlich bestätigt sich auch in den Stel-lungnahmen nach dem zweiten Lesegespräch dieser Eindruck: „Das Gespräch zeigte deut-lich, dass ein Großteil der Klasse die Erzählung durch das Bearbeiten interessanter empfand als vorher. Ich teile die Meinung meiner Mit-schüler und sehe es, wie schon vor dem zwei-ten Lesegespräch, als wichtig an sich mit der Erzählung in einer Gruppe zu beschäftigen, da so viele verschiedene Ideen eingebracht wer-den.“ (SR5a, L2N; „Das zweite Lesegespräch war besser als das erste Lesegespräch. […]. Es war auch stark bemerkbar, dass man sich schon länger mit der Erzählung beschäftigt hat und sich tiefergehend damit auseinan-dergesetzt hat“;SN7a,L2N).Betontwirdabernicht nur der Charakter der Vielstimmigkeit und Vielsinnigkeit des zweiten Lesegesprächs, sondernauchdessenFunktionderBündelungund Verdichtung der Leseeindrücke und Deu-tungen: „Das zweite Lesegespräch war meiner Ansicht nach ein sehr gelungener Abschluss der Unterrichtseinheit. Viele Ideen und Fra-gen bzw. Anregungen aus dem ersten Lese-gespräch wurden noch einmal angesprochen und zum Teil unter vollkommen anderen Ge-sichtspunkten ausgelegt. […] Letztendlich hat das Gespräch in einer großen Gruppe dazu beigetragen, das Buch besser verstehen zu können, und ich habe erkannt, dass es durch-aus mehrere richtige Interpretationsmöglich-keiten des Buches gibt“ (SR15a, L2N). Ausdem letzten Satz der Stellungnahme spricht darüber hinaus die Einsicht in die Offenheit

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von literarischen Texten, eine Offenheit, die aber(nunmehr)nichtalsBeliebigkeit,sondernals Bereicherung erlebt wird – ein deutlicher Hinweis auch auf die Chancen zum Erwerb li-terarischer Kompetenz im gesprächsförmigen Unterricht (siehe unten). Daneben wird aufdie differenzierende und anregende Wirkung auch des zweiten Lesegesprächs hingewiesen („Mir persönlich kamen während des letzten Lesegesprächs immer noch mehr neue Ge-danken, an die ich vorher nicht gedacht hat-te. So fiel mir zum Beispiel auf, dass man die lange Vorbereitungszeit der ‚Flucht’ auch als Zeichen der Unentschlossenheit von Gompitz interpretieren könnte, der er sich immerhin dazu entschieden hatte, sein Leben aufs Spiel zu setzen“;SR15a,L2N).Schließlichwurdedaszweite Lesegespräch auch in seiner abschlie-ßenden und vorbereitenden Funktion erlebt(„Das Lesegespräch war noch einmal ein guter Abschluss und eine gute Vorbereitung auf die Klausur“;SN7a,L2N).

Der Erwerb literarischer Kompetenz und Kenntnisse

Als Problematik in Bezug auf die Lernchancen wurde oben die pragmatisch erzwungene Auf-teilung in Innenkreis und Außenkreis benannt. MitBlickaufdieLese-Portfolios lässtsichdieFrage nach den Lernchancen dahingehendbeantworten, dass sich die Rezeption des ers-ten Lesegesprächs sowohl in den Portfolios der Gesprächsteilnehmerinnen und -teilneh-mer als auch in denen der Beobachterinnen und Beobachter findet: Sei es als Bezugnah-me auf Beiträge des Lesegesprächs („Viele meinten ja, dass es schwierig war die Segelbe-griffe und Geographie nachzuvollziehen, aber ich fand das bei der Handlung gar nicht so schlimm und ohne diese Begriffe wäre es auch nicht besser zu lesen gewesen“; SN2a, L1N),sei es durch eine Aufnahme und Verarbeitung dergeäußertenGedanken(„Das Beobachten der Personen im Innenkreis war sehr interes-sant. Zu Beginn war ich der Meinung, dass die Geschichte nur eine Spannungssteigerung hat, doch mit dem Lesegespräch wurde ich immer überzeugter davon, dass […] auch die Beschreibung der Italienreise eine Spannungs-steigerung enthält. Vorher hatte ich auch noch

nicht auf die Symbolik der Erzählung geachtet, doch nun bekam ich Gedankenanstöße über einige inhaltliche Verknüpfungen nachzuden-ken“;SN7a,L1N;auchSR5a,L1N).

Gleichwohl haben sich alle Schülerinnen und Schüler im zweiten Lesegespräch spontan und freiwillig in den Innenkreis begeben.

Wie weit die Lernchancen in einem gesprächs-förmig konzipierten Literaturunterricht in Be-zug auf literarische Kompetenz und Kenntnis-se reichen können, mag stellvertretend das folgende Resümee eines Schülers aufzeigen: „Das Lesegespräch hat mir gezeigt, dass nicht nur ich, sondern fast ausnahmslos alle Schü-ler der Klasse zu dem Entschluss kamen, den Roman beim ersten Lesen zu oberflächlich betrachtet und zu wenig hinterfragt bzw. hin-eingedeutet zu haben. Erst durch die Referate haben die Schüler erkannt, wie interpretati-onsfähig einzelne Stellen des Romans sind. Jedoch komme man nicht an die gleiche Fülle von Ideen, wenn man das Buch alleine liest, meinen einige Schüler. Dem muss ich zustim-men und daraus schließe ich, dass sich der Roman gut für ein gemeinsames Lesen bzw. Interpretieren innerhalb einer Klasse eignet. Durch die vielen Beiträge und Anregungen von Schülern für Schüler wird das Buch nicht nur interessanter, sondern die Schüler erfahren von anderen ‚Köpfen’ andere Denkweisen, an die sie sich womöglich beim Lesen weiterer Bücher an bestimmten Stellen erinnern wer-den. Das erweitert sowohl den Interpretations-horizont, als auch die Fähigkeit die Ereignisse eines Buches aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Durch diese Fähigkeiten ist man in der Lage ein Buch einerseits tiefgründiger und andererseits objektiver zu erfassen, da man, wie oben erwähnt, durch die Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln ein weniger subjektives, einseitiges Bild von etwas (Buch, Ereignisse, Charaktere…) erhält und somit zu-nehmend in der Lage sein wird ein eigenes Lesegespräch in sich aufbauen zu können“ (SR16i,L2N).AusdieserReflexionsprichtnichtnur eine Differenzierung der individuellen Le-sehaltung(diealsKennzeichenausgebildeterLesekompetenzgilt),inihräußertsichdiesub-jektiveBedeutsamkeitdergemachtenliterari-

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schen Erfahrung, die als Grundvoraussetzung fürdenTransfer von (schulischem)Wissen in(außerschulisches) Handeln gilt und darüberhinaus auch andeutet, wie Erziehung zur Lite-ratur ganz undogmatisch auch eine Erziehung durch Literatur bedeuten kann.

Sehr aufschlussreich in Bezug auf die Lern-chancen ist auch die Entwicklung, die sich in einem Lese-Portfolio eines zunächst ausge-sprochen kritischen Schülers zeigt: „Vom Le-segespräch habe ich mehr erwartet, denn zu oft konnte man keine verknüpfte Diskussion, sondern nur Aneinanderreihung von Meinun-gen beobachten. Zu oft sind die Schüler nicht aufeinander eingegangen. Wichtige Deutun-gen sind manchmal untergegangen“ (SR17i,L1N).DerSchülerhatteinseinerVorbereitungdes Lesegesprächs eine vergleichsweise ela-borierte Deutung formuliert und das erste Le-segespräch durch sehr differenzierte Beiträge bereichert,aufdiesichzahlreicheMitschülerin-nen und -schüler in ihren Resümees beziehen und von denen sie offensichtlich profitierten. Aus seiner Enttäuschung und Kritik wird im Resümee des zweiten Lesegesprächs beinahe schon Euphorie: „Ich habe festgestellt, dass sich die Klasse/der Kurs sehr positiv entwickelt hat. […] Jetzt ist die Klasse/der Kurs bereit und fähig geniale Deutungshypothesen aufzustel-len und diese zu argumentieren. Ein Beispiel dafür ist die Idee die Erzählung als Liebesge-schichte aufzufassen. Eine Flucht oder Auszeit von einer Beziehung. Dies ist eine wirklich in-teressante Interpretation, die mich überzeugt hat. Von allein wäre ich wahrscheinlich nicht darauf gekommen“(SR17i,L2N).Hierprofitiertoffensichtlich ein leistungsfähiger Schüler, der dem Gespräch gegenüber zunächst kritisch eingestellt war, von einem Gespräch in einer heterogenen Lerngruppe (wie es sich auchfür leistungsschwächere Schülerinnen und Schülerzeigen lässt,etwaSN12i).Offensicht-lich können die Schülerinnen und -schüler in einem offenen Gespräch durchaus zu kompe-tentenAnderen für ihreMitschülerinnenund-schüler werden.

Aus dem Lese-Portfolio einer Schülerin spricht aber auch Stagnation, ein Verharren auf einer ersten globalen Wertung; hier wer-

den die unterschiedlichen Meinungen zwarwahrgenommen,jedochalsschwernachvoll-ziehbar beschrieben und entsprechend nicht als produktiv erfahren (siehe SN21i; SN22a,L1NundL2N).

Die Interpretation des literarischen Textes

Die Auswertung der als Textanker bestimmten Stellen in der Vorbereitung des ersten Lesege-sprächs zeigt die Bandbreite möglicher Text-zugänge:NebeninhaltlichenAspekten(Glück,Beziehungsproblematik, Selbstverwirklichung, DDR-Regime,Flucht)werdenauchformaleAs-pekte(Metaphorik,Symbolik)angesprochen.

Wie diese ersten subjektiven Zugänge zumText verdeutlichen auch die ersten kurzen Stellungnahmen die großen individuellen Unterschiede, wie sie dann auch das erste Gespräch bestimmen: Neben den erwarteten globalen,subjektiveEindrückenundWertun-gen, finden sich auch schon differenzierte Deutungsansätze, Stellungnahmen, die auf eine Wertung ganz verzichten (bspw. Jörg)und Stellungnahmen, in denen sowohl an Sprache als auch am Inhalt der Erzählung zum Teil harsche Kritik (siehe SN12i, L1V; SR14i,L1V)geäußertwird(alseinBeispielseidiefol-gende Stellungnahme zitiert: „Die Erzählung ist zwar so kurzweilig gehalten wie möglich, aber immer noch langweilig aufgrund der Tatsache, dass ein Großteil des Buches die Planung einnimmt. Auch wenn das Buch mich inhaltlich nicht wirklich überzeugen konnte, finde ich, dass es gut geschrieben ist die Metaphorik gelungen ist“;SR5a,L1V).

Im Laufe der Unterrichtseinheit wie der Gesprä-che ändern insbesondere die kritischen oder der Erzählung ablehnend gegenüber stehen-den Schülerinnen und Schüler ihre Bewertung desTextes(bspw.Anna;auchSN12i),währenddie Schülerinnen und Schüler, die die Lektüre von Anfang an positiv empfanden, sich eher bestätigt fühlen (siehe SN13a). Exemplarischsei das an folgendem Resümee verdeutlicht: „Friedrich Christian Delius konnte mich jetzt im nachhinein vollkommen von seiner Erzählung ‚Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus’ überzeugen. Der Sinn dieses Buches ist es wei-

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terzudenken und vieles zu hinterfragen. Liest man hingegen diese Erzählung nur oberfläch-lich, so wird man nie auf den bemerkenswer-ten literarischen Hintergrund dieses Buches aufmerksam werden“(SR15a,L2V).

Leistungsstärkere wie leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler dokumentieren schließlich in ihren abschließenden Deutun-gen ihre individuellen Lernerfolge. In allen Deutungen wird die Erzählung als gestaltete Welt aufgefasst und interpretiert und nicht nur als eine biografische Erzählung einer wahren Begebenheit gesehen. Diese Deutungen sind von unterschiedlicher Richtung und Tiefe, verweisenaberbeiderMehrzahlderSchüle-rinnen und Schüler auf ein vertieftes Textver-ständnis. Neben kurzen Deutungen, die sehr auf eine Deutungshypothese des zweitenGesprächs abheben („Es wird die Beziehung und die Entwicklung von Gompitz dargestellt“; SN12i, L2N), finden sich differenzierte Deu-tungshypothesen („Ich deute die Erzählung auf verschiedene Weisen. Zum einen als eine Politsatire auf die Missstände in der DDR, zum

anderen aber auch als eine Erzählung, die an-hand eines einzelnen Schicksals auf Engage-ment und Anstrengungen einiger DDR-Bürger, die dem SED-Regime trotzen, hinweist. Die Erzählung zeigt darüber hinaus, wie lange Sehnsüchte bestehen können, entgegen aller widrigen gesellschaftlichen und politischen Umstände“; SR11a, L2N).Der letzteSatzdie-ser Deutung weist schon über eine bloße Deutung der Erzählung hinaus in Richtung ei-nes„anagogischenSinns“(vgl.Gerigk2002):„Wenn man sich etwas ganz fest vornimmt und keine Mühen scheut, schafft man es auch. Oft ist das Ergebnis anders als erwartet und man entdeckt unerwartete Dinge über sich oder an-dere“(SR14i,L2N).

Diese Entwicklung einer allgemeinen Deutung ausderErzählungimSinneeinerMoraloderLehre deutet Möglichkeiten der Übernahmeliterarischer Erfahrungen in das eigene (Er-)Lebenan(Transfer,ErziehungdurchLiteratur),wie sie auch im Sinne der Lehrplanvorgaben erzielt werden sollen.

5.2 Die Umsetzung des gesprächsförmigen Unterrichtskonzepts

Sowohl die Rekonstruktion der Lernprozesse von Jörg und Anna als auch die bisherige Aus-wertung sprechen für eine ausgesprochen po-sitive Resonanz der Schülerinnen und Schüler auf das durchgeführte Unterrichtskonzept. Die Lesegespräche wurden in ihrer auch durch das KonzeptnahegelegtenFunktionwahrgenom-men und genutzt; dies gilt sowohl für die Lese-gespräche als auch für die Vertiefungsphase.

Inwieweit die beiden Lesegespräche den oben geforderten Prinzipien gerecht geworden sind, lässt sich aufgrund einer fehlenden Aufzeich-nung und Transkription nicht seriös bewerten. DieAuswertungderLese-Portfoliosdeutet je-doch an, dass die Schülerinnen und Schüler die Gespräche als offen und gleichberechtigt erlebt haben. Dies lässt sich an Beschreibun-gen der Gespräche, an der Bedeutung, die den Beiträgen der Schülerinnen und Schüler von

den Mitschülerinnen und -schüler beigemes-sen wird, wie an der Bedeutung der Rolle der Lehrkraft in den Portfolios festmachen.

Die Schülerinnen und Schüler sind zunächst erstaunt von der Unterschiedlichkeit ihrer Le-seeindrücke, ihrer Deutungen und Wertun-gen – eine überraschende Leseerfahrung für SchülerinnenundSchülereinerelften(!)Jahr-gangsstufe: „Das Gespräch war sehr interes-sant und half, die Erzählung aus einem ande-ren Winkel zu sehen, ich dachte nicht, dass es so unterschiedliche Meinungen gibt“ (SR14i,L1N).DieseunterschiedlichenLeseeindrückewerden von den Schülerinnen und Schülern aber sehr schnell als sehr produktiv wahr-genommen(„Desweiteren wurde man durch Aussagen anderer Schüler auf Dinge in der Erzählung aufmerksam gemacht, die man zu-vor nicht erkannt hatte. So wurden für mich

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5.3 Resümee

Die Rekonstruktion der Lernprozesse von Jörg und Anna sowie die Auswertung aller Lese-Portfolios in Hinblick auf die Lernchan-cen eines gesprächsförmigen Unterrichts legen nahe, dass sich die aus der Praxis ge-

wonnenen didaktischen Prinzipien auch in ihrer Rückübertragung in die schulische Pra-xis bewähren. Berücksichtigt man die soziale Erwünschtheit mancher Stellungnahmen und eine grundsätzlich positive Bewertung eines

unwichtige Dinge plötzlich zu relevanten Passagen in der Erzählung“; SN3i, L2N). Siewerden angenommen und aufgenommen: „Meiner Ansicht nach war die Gesprächsrun-de sehr anregend im Bezug auch auf meine eigenen Ideen zu diesem Buch. Durch die offene Runde und die Weiterführung neuer Gedanken wurden Aspekte angesprochen, an die ich bisher nicht gedacht hatte. Aus der Beobachterperspektive sind mir vor allem die unterschiedlichen Meinungen zu dem Buch aufgefallen“ (SR15a, L1N). Dieses Resümeecharakterisiert das Gespräch darüber hinaus als „offen“, offen insbesondere auch für die Aufnahme und Weiterführung der Gedanken der Mitschülerinnen und -schüler („Mir hat die freiheitliche Herangehensweise an die Erzählung im Gespräch sehr gefallen. Es hat mir viele neue Ansichtsweisen eröffnet, wie man die Erzählung deuten kann, auf die ich allein nicht gekommen wäre“; SR18a, L2N).Deutlich wird hier auch, dass die Schülerin-nen und Schüler dieser Lerngruppe durchaus den Anforderungen, die ein solches offenes Gespräch an sie stellt, genügen und dass sie gerade das Gespräch ‚unter sich’ als beson-ders gewinnbringend erfahren:10 „Durch die vielen Beiträge und Anregungen von Schü-lern für Schüler wird das Buch nicht nur inte-ressanter, sondern die Schüler erfahren von anderen ‚Köpfen’ andere Denkweisen, an die sie sich womöglich beim Lesen weiterer Bü-cher an bestimmten Stellen erinnern werden“ (SR16i, L2N). Die Schülerinnen und Schülererleben diese Gespräche ganz im Sinne einer kulturellen Praxis, in der literarische Erfahrun-

gen gemacht, eingebracht und geteilt werden können: „Man kann sagen das man sich durch diese Methode sehr schnell auf einer sehr tie-fen Ebene befindet, die alleine sehr schwer zu erreichen ist“ (SR14i, L2N). Tiefe und In-terpretation werden nicht als schulische Zu-mutung (‚Auseinandernehmen’, ‚Zerreden’)wahrgenommen, sondern als spannend und interessant beschrieben. Aus den Portfolios spricht nirgends der Zwang zum Weiterden-ken oder Hinterfragen, die Überwindung ei-nes oberflächlichen Leseeindrucks wird als(schulischer) Gewinn bezeichnet, selbst da,wo die Schülerinnen und Schüler die Erzäh-lung nicht als Freizeitlektüregelesen hättenoder lesen würden.

Für diese positive Wahrnehmung des Ge-sprächs spricht auch der Umstand, dass sich imzweitenLesegesprächjederungezwungenund ohne eine Aussprache oder Aufforderung in den Innenkreis setzte – auch dies wurde positivwahrgenommen („Das zweite Lesege-spräch war besser als das erste Lesegespräch. Es war angenehmer, dass alle im Innenkreis ge-sessen haben“;SN7a,L2N;auchSN12i,L2N).

Die Lehrkraft taucht in keinem einzigen Lese-Portfolio an irgendeiner Stelle auf, obgleich sie keineswegs nur moderierend an den Gesprä-chen beteiligt war. Ihre Beiträge und Impulse sind offensichtlich als Beiträge eines Lesers, nicht als Beiträge des Lehrers, wahrgenom-men worden. Die Schülerinnen und Schüler fühlten sich, so die Vermutung, als Herr ihres eigenen Lese- und Verstehensprozesses.

10DieslässtsichauchalseinBelegfürdieRolleundBedeutungderpeersinderLesesozialisationwerten(vgl.Rosebrock2004).

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Über Literatur sprechen lernen

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Über Literatur sprechen lernen

ungewohnten Unterrichts, so bleiben unter dem Strich immer noch gelungene literarische Lernprozesse zu konzedieren. Diese Lernpro-zesse vollziehen sich innerhalb der individu-ellen Lese-Portfolios und können daher nicht über eine besondere Leistungsfähigkeit der Lerngruppe erklärt werden.

Die Arbeit mit Lese-Portfolios fordert und för-dert die Verbindung von Lesen und Schreiben; sie verlangt, dass die Schülerinnen und Schü-lerihreeigenenIdeen,ÜberlegungenundFra-gen schriftlich ausformulieren (können). Diesist eine wichtige und hilfreiche Vorarbeit auch fürschriftlicheFormenderInterpretation.Die-seFormenderInterpretation,wiesievomHes-sischen Lehrplan auch als Lernziele verlangt werden(vgl.LehrplanDeutsch,S.10),könnenallerdings alleine durch einen gesprächsför-migen Unterricht nicht erworben werden. Sie verlangen eine andere Gestaltung des Un-terrichts. Die individuelle Prozessierung des Lesens und Interpretierens literarischer Texte und der Aufbau einer schriftlichen Interpretati-on, wie sie im Literaturunterricht verlangt wird, sind inkommensurabel.

Welche Ansprüche literarische Unterrichts-gespräche an die gesprächsleitende Lehr-kraft (bzw. die/den Schüler/in) stellen und

wie fragil und brüchig diese Gespräche selbstinihrerhochstrukturiertenFormnochsind, belegen die Lese-Portfolios ebenfalls eindrucksvoll: So sind die Hinweise mehre-rer Schülerinnen und Schüler aus dem In-nen- wie dem Außenkreis ernst zu nehmen, die sowohl das erste Lesegespräch phasen-weise langweilig und redundant als auch das zweite Lesegespräch weniger ergiebig empfanden – vor dem Hintergrund dieser Kritik ist zu fragen, ob die Gesprächsleitung an diesen Stellen früher eingreifen oder durch andere Impulse das Gespräch in eine andere Richtung lenken hätte können oder müssen. Auch die in wenigen Portfolios ge-äußerte Kritik an den Beiträgen oder dem Gesprächsverhalten anderer Mitschülerin-nen und -schüler deutet an, welche Ansprü-che offene Gespräche an ihre Teilnehmerin-nen und Teilnehmer richten.

Resümierend bleibt, dass literarische Ge-spräche im schulischen Unterricht als eine bereichernde kulturelle Praxis von den Schü-lerinnen und Schülern erlebt werden, die die literarische Lesemotivation verstärkt und sinn-volle und zielführende literarische Lernprozes-seanbahnt–dassihreFragilitätundOffenheitsie zugleich aber immer auch zu einem Wag-nis machen.

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Arbeitsblatt/PublikationÜberLiteratursprechenlernen/AmtfürLehrerbildung© Christoph Bräuer

Das literarische LesegesprächM1Das Sprechen über einen literarischen Text hilft sehr, den Text besser zu verstehen. Im Gespräch mit anderenlassensichdieeigenenIdeenansprechen,dieeigenenFragenäußernunddieAntwortenüberprüfen und so eine eigene Deutung entwickeln; zugleich hört man, welche anderen Ideen und FragenandereLeserhaben,welcheAntwortensiefindenundzuwelchenanderen(odergleichen)Deutungen sie gelangen. Ein Lesegespräch bietet einen bestimmten Rahmen, um mit anderen über einen literarischen Text zu sprechen.

Der Text oder Textausschnitt, über den ihr sprechen wollt, sollte von allen Gesprächsteilnehmern gelesen worden sein oder vor dem Gespräch vorgelesen werden.

Die Gesprächsteilnehmer sitzen in einem Innenkreis, die Beobachter in einem Außenkreis; Beobachter können für einen Beitrag in den Innenkreis wechseln.

Ein Lesegespräch umfasst vier Phasen:

Die Vorleserunde

Das Blitzlicht

Das offene Gespräch

Die Schlussrunde

Was passiert in dieser Phase?

In der Vorleserunde werden ausgewählte Text-stellen in freier Reihenfolge von Schülerinnen, Schülern oder der Lehrkraft vorgelesen. Sie endetinderRegeldann,wennkeine/rder Gesprächsteilnehmerinnen oder -teilnehmer eine weitere Textstelle vorlesen möchte.

InderBlitzlichtrundegibtjedereinekurze Stellungnahme oder einen Eindruck zum Text ab. In der Praxis führt häufig ein Beitrag zu Reaktionen der anderen Teilnehmerinnen und -teilnehmer, so dass sich aus der Blitzlichtrunde heraus ein offenes Gespräch entwickelt und die Blitzlichtrunde ablöst.

ImoffenenGesprächkönnenalleihreFragen,Antworten, Deutungen äußern; unterschiedliche MeinungenundgegensätzlicheBeiträgehabendas Recht, gehört zu werden. Gegebenenfalls gibtdieGesprächsleitung(LehrkraftoderSchü-ler/in)geeignete(ev.auchvorbereitete)Impulse.

InderSchlussrundekannjedernochmalskurzseinen Eindruck vom Text und vom Gespräch über den Text äußern und angeben, welche Fragenfürihnoffengebliebensind.

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Arbeitsblatt/PublikationÜberLiteratursprechenlernen/AmtfürLehrerbildung© Christoph Bräuer

Arbeitsblatt/PublikationÜberLiteratursprechenlernen/AmtfürLehrerbildung© Christoph Bräuer

Lese-Portfolio Erstes Lesegespräch – Vorbereitung

Lese-Portfolio Erstes Lesegespräch – Nachbereitung

M2a

M2b

Name:

1)BestimmenSiefürsichbiszudreiTextstellen,dieSiebeidererstenLektürepersönlich im Positiven oder Negativen besonders angesprochen haben.

2)FormulierenSieeinekurzeStellungnahmezumText

(SiekönnenauchdieRückseiteverwenden.)

1)FormulierenSieeinResümeenachdemerstenLesegespräch.Siekönnendabeisowohl auf den Text als auch auf das Gespräch eingehen.

2)NotierenSie,welcheFragenundProblemeSieindennächstenStundengerneklärenmöchten.

(SiekönnenauchdieRückseiteverwenden.)

Name:

Innenkreis Außenkreis

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Lese-Portfolio Zweites Lesegespräch – Vorbereitung

Lese-Portfolio Zweites Lesegespräch – Nachbereitung

M3a

M3b

Name:

1)BestimmenSiefürsichbiszudreiTextstellen,dieSiefürdenGesamttextfürbedeutendhalten.

2)FormulierenSieeinekurzeStellungnahmezumText

(SiekönnenauchdieRückseiteverwenden.)

1)FormulierenSieeinResümeeausdemzweitenLesegespräch.Siekönnendabeisowohl auf die Erzählung als auch auf das Gespräch eingehen.

2)FassenSieinwenigenSätzenIhreDeutungdesTexteszusammen.

(SiekönnenauchdieRückseiteverwenden.)

Name:

Innenkreis Außenkreis

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Checkliste für Lehrkräfte: Durchführung von Leseportfolio und LesegesprächM4

Zentrale Inhalte

Vorbereitung erstes Lesegespräch

(Gemeinsam)geeignetenText/Textabschnitt für die Lektüre auswählen

ÜberdasVerfahrendesLeseportfolios/ Lesegesprächsinformieren(M1)

AusteilenundErklärenvonM2a

LesendesTextes/-auszugesundbearbeiten vonM2a(Hausaufgabe)

Lesegespräch I (Lesegespräch II)

DenKlassenraumvorbereiten(Sitzkreis),eventu-ell zusätzlicher Stuhl für Beiträge der Beobachter

EinteilunginGesprächsteilnehmer/innen(ca.15)undBeobachter/innenvornehmenlassenundBeobachtungsaufträge verteilen.

Gesprächsleiter/inbestimmen,der/diedurch dievierPhasendesGesprächsführt.(M1)

AusteilenundErklärenvonM2b(M3b) (Hausaufgabe)

Nachbereitung erstes Lesegespräch und Vorbereitung zweites Lesegespräch

AuswertenvonM2b(PlenumoderGruppe)

Auswählen und Organisieren der Probleme und/oderoffenenFragenundAufteilunginArbeitsgruppen

Präsentieren der Arbeitsgruppen

AusteilenundBearbeitenvonM3aals Vorbereitung auf das zweite Lesegespräch

Lesegespräch II

(sieheLesegesprächI)

Nachbereitung zweites Lesegespräch

AuswertenvonM3b(PlenumoderGruppe)

Hinweise

Wichtig: es geht ausdrücklich um die individuellen Leseerfahrungen und Lesewege der Schülerinnen und Schüler

AllesolltendenText/-auszuggelesenhaben

Geschrieben werden sollte in Sätzen, nicht in Stichworten

Bei der Gesprächsleitung darauf achten,

• dass es einen anregenden Einstiegsimpuls nachderBlitzlichtrundegibt,derjedem/rdieMöglichkeiteineskurzenBeitrageseröffnet,z.B. durch Anknüpfen an die Leseerfahrungen.

• dass das Gespräch Raum für Deutungen, Ideen und eigene Erfahrungen lässt. Auch Nicht- Verstehen soll thematisiert werden können.

Ziel des Gesprächs ist der Austausch von Lese- erfahrungen und Textbeobachtungen.

Die Schwerpunkte sollten im Wesentlichen von den Schülerinnen und Schülern gesetzt werden

Wichtige fehlende Aspekte können ergänzt oder auch durch die Lehrkraft eingebracht werden (imSinneeinesLernensamModell)

DieLehrkraftkanneineMaterialthekebereit-stellen und so der Arbeit der Gruppe inhaltliche Impulse geben

Die Ergebnisse als Protokolle oder Handzettel sichern und der Lerngruppe zur Verfügung stellen

Gegebenenfalls Impulse vorbereiten

Eingehen auf die individuellen Leseerfahrungen und -wege, auf Unterschiede und Gemeinsam-keiten und individuelle Veränderungen

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Über Literatur sprechen lernen Über Literatur sprechen lernenAnhang

Redaktion:

Dr. Susanne NordhofenGymnasiallehrerin,istFachleiterinfürdieFächerDeutsch,Philosophie/EthikamStudienseminarfürGymnasien in Offenbach. Promotion 2002 an der Goethe-UniversitätFrankfurtmit einer Arbeit über „Literatur und SymbolischeForm–derBeitragderCassirertradition zur ästhetischen Erziehung und Literaturdidaktik“. Veröffentlichungen im Bereich der Philosophiedidaktik und Literaturdidaktik

Heike Wirthwein, M.A.GymnasiallehrerinfürdieFächerDeutschundGeschichte,istFach- leiterinfürdasFachDeutscham StudienseminarfürGymnasieninOffenbach.Seit2007istsieMit- arbeiterinimProjektzur„Evaluationder Standards Deutsch für die Sekundarstufe I“ am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungs- wesen in Berlin. Veröffentlichungen im Bereich Lese- und Literaturdidaktik, Schulbuchautorin

Autor:

Christoph BräuerDr.phil.,Jahrgang1973.StudiumderFächerGermanistikundGeschichteanderGoethe-UniversitätFrankfurt,Erstes Staatsexamen für das Lehramt anGymnasien2001,danachMitarbeitin verschiedenen deutschdidakti-schenForschungsprojektenanderGoethe-UniversitätFrankfurtund der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Von Christoph Bräuer liegen Veröffentlichungen zu sprachlich-literarischer Bildung und Lesestrategien vor. Promotion an derGoethe-UniversitätFrankfurtmiteiner Arbeit zu „Könnerschaft und Kompetenz im Lesen und in der Leseausbildung“, für die er 2008 mit demFörderpreisDeutschdidaktik desSymposionDeutschdidaktikausgezeichnet wurde. Von 2007 bis 2009absolvierteerdenVorberei-tungsdienst am Studienseminar für GymnasieninOffenbach.ZweitesStaatsexamen2009.

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Über Literatur sprechen lernen

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Über Literatur sprechen lernen Anhang

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Abbildungen

Titelbild aus: www.istockphoto.com

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Hessisches KultusministeriumAmt für Lehrerbildung

Über Literatur sprechen lernen Das literarische Lesegespräch im Unterricht

Reihe Unterrichtsentwicklung

HessischesKultusministerium

Amt für Lehrerbildung

Stuttgarter Straße 18-2460329 Frankfurt am Main

www.afl.hessen.de

Der Autor Christoph Bräuer:

Dr. phil., Jahrgang 1973. Studium der Fächer Germanistik und Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt, Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien 2001, danach Mitarbeit in verschie- denen deutschdidaktischen Forschungsprojekten an der Goethe- Universität Frankfurt und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Von Christoph Bräuer liegen Veröffentlichungen zu sprachlich- literarischer Bildung und Lesestrategien vor. Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Arbeit zu „Könnerschaft und Kompetenz im Lesen und in der Leseausbildung“, für die er 2008 mit dem Förderpreis Deutschdidaktik des Symposion Deutschdidaktik ausgezeichnet wurde. Von 2007 bis 2009 absolvierte er den Vor- bereitungsdienst am Studienseminar für Gymnasien in Offenbach. Zweites Staatsexamen 2009.