Goethes Wetterglas und das ZDF-Politbarometer

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Seite 12 RotFuchs / April 2013

Goethes Wetterglas und das ZDF-Politbarometer

Lege den Finger auf jeden Posten … Scheue dich nicht zu fragen, Genosse!

... Laß dir nichts einreden, sieh sel-ber nach! Was du nicht selber weißt, weißt du nicht. Prüfe die Rechnung, du mußt sie bezahlen.“Brechts Aufforderung aus seinem „Lob des Lernens“ ist eigentlich auch das Resümee eines Buches, das im bürgerlichen BRD-Literaturbetrieb als keineswegs alltäglich zu betrach-ten ist. Es handelt sich um Gerd Bos-bachs und Jens Jürgen Korffs „Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden“, das 2012 bei Heyne in München erschienen ist.Beide Autoren stellen darin die Daseinsberechtigung der „Rechnung“ – im untersuchten Fall der Statistik – keineswegs in Abrede. Sie sind vom Fach: Bosbach ist ein exzellenter Sta-tistiker, der auf diesem Gebiet lehrt und auf eine mehrjährige Tätigkeit im Statistischen Bundesamt verweisen kann. Korff, der zweite Mann im Boot, ist Historiker und Politologe. Beide ermuntern uns zu kritischer Vernunft, fordern nicht weniger als den prüfenden Blick, der oft-mals ab- und fehlgeleitet wird. Es gelingt den Autoren, ihre Leser sehr schnell mit an Bord zu nehmen. Wir leben in einem scheinrationalen Zeitalter, in dem anhand von Zahlen und Diagrammen, die vom Wesen der Sache wegführen, zwar oftmals nichts bewie-sen, aber vieles weisgemacht werden soll. Statt menschlicher Schicksale begegnen uns dürre Zahlenreihen – die „Poesie“ wird in Verkaufsergebnissen bemessen. Selbst die Politik bewertet man nicht danach, ob sie uns betrifft oder berührt, sondern wie sie von ZDF-Politbarometern abgelesen wird, deren Skalen nicht annähernd die Meßgenauigkeit eines goetheschen Wet-terglases besitzen. Bosbach und Korff bringen Licht in die Frage, was von derlei Sonntagsumfragen zu halten ist. Was hat es mit den Stich-proben auf sich, die man als schlagende Beweise präsentiert und bei denen alle wesentlichen Zusammenhänge außer acht gelassen werden? Das Wunder der Prozent-rechnung wird untersucht, das zwar recht anschaulich aufgetischt werden kann, mit dem sich aber auch so wunderbar lügen läßt. Die Autoren stellen absolute und rela-tive Zahlen auf den Prüfstand, auch ihren unbedingten, aber gern unterdrückten Zusammenhang.

Hier ist man keiner trockenen Lehrstunde ausgesetzt. Bosbach und Korff entlarven

die Mär von den scheinbar explosiv stei-genden Sozialausgaben. Wieviel Prozent des Wohlstandes der Deutschen entfallen tatsächlich auf staatliche Intervention zugunsten Schwächerer? Da ergibt sich eine fast konstante Quote über Jahre hin-weg, die bei genauem Hinsehen sogar sinkt.Bilder und Beispiele – in gut lesbarem Dialogstil angeboten – lassen uns lachen und staunen, vor allem aber erschrecken: Verflixt, da bin doch auch ich den stati-stischen Hütchenspielern auf den Leim gegangen! Besonders wirksam ist das, wenn mit Bildern und Grafiken operiert wird. Nüchterne Zahlenkolonnen werden eher überlesen und weggeschoben. So kön-nen bei geschickter Handhabung aus rich-tigen Zahlen falsche Eindrücke entstehen. Bosbach und Korff enthüllen, wie Achsen abgeschnitten, Skalen auseinandergezo-gen, Flächen und Symbole im Vergleich verzerrt werden. Wie durch raffinierte Perspektiven und Farbgebung das Kleine groß und das Große klein erscheint. Ange-setzte Pfeile suggerieren Trends, die sta-tistisch keineswegs nachweisbar sind. Sie verleihen einem fiebrigen Auf und Ab der Krisen bisweilen einen perspektivischen Höhenflug.Die Lüge mit absoluten Zahlen wird an einprägsamen Beispielen erklärt, derer es viele gibt. Die Story von der permanenten Kostenexplosion im Gesundheitswesen platzt seifenblasengleich. Einschränkun-gen begleiten diesen Propagandatrick. Unbarmherzig enthüllen die Autoren das Ammenmärchen von den „Sozialschmarot-zern“, das eindeutig auf Entsolidarisierung arbeitender oder an den Rand gedrängter Menschen zielt. Ein erhellendes Kapitel beschäftigt sich mit der Magie der Prognose. Wie weit können wir tatsächlich Künftiges vor-aussehen? Zugegeben, auch der Verfasser dieser Zeilen hat sich zuweilen auf einen vom Ausguck her eingeschränkten Trip

in die Zukunft begeben und dabei mehr für bare Münze genommen, als wirklich

abschätzbar war. Natürlich sollen die Gefahren, die solche Prognosen her-aufbeschwören, nicht kleingeredet werden, wobei der Rat zu Änderun-gen des menschlichen Lebensstils in den entwickelten Ländern – bei Strafe des Untergangs – unbedingt befolgt werden sollte. Aber können wir in der Tat zwanzig, ja fünfzig Jahre voraus-schauen? Die Autoren empfehlen statt dessen, lieber fünfzig Jahre zurück-zudenken und von dort aus das Heute zu betrachten.Bei Bosbach und Korff werden nicht spektakuläre „Fälschungen“ ausge-schlachtet – die Autoren fordern viel-mehr kritische Distanz ein. Nicht zuletzt geht es auch darum, von bewußtem oder unbewuß-tem Selbstbetrug wegzukommen. Machen wir uns doch nichts vor: Auch wir sind ihm nicht selten erle-

gen oder haben ihn sogar selbst prak-tiziert! In „Moritz Tassow“ von Peter Hacks unterhalten sich zwei Funktionäre: „... Die Diagramme wachsen wie Pappeln nach dem Propagandaregen. Das Töpfchen raucht, die Arbeit ist getan“, sagt Blasche. Und Mattukat erwidert: „Ist sie getan, die Arbeit? Also reden wir von der Arbeit, die zu tun ist ...“ Bernd Gutte

Am 4. April vollendet

Brigitte Marx aus Zörbig ihr 85. Lebensjahr. In der DDR mit verantwortlichen Aufgaben im Wirtschafts- und Staatsapparat betraut, gab sie auch nach der kon-terrevolutionären Zerschlagung der deutschen Arbeiter-und-Bauern-Macht ihre Ideale nicht preis. Mit unseren Glückwünschen verbinden wir den Dank für Deine langjährige Treue zum „RotFuchs“, liebe Brigitte!

Am 26. April wird unser künstlerischer Mitarbeiter, Freund und Genosse

Heinz Herresbach aus Treuenbrietzen 75 Jahre alt.Der „RotFuchs“ wäre ohne die im Laufe vieler Jahre erschienenen ideenreichen Cartoons von seiner Hand sehr viel ärmer gewesen.Wir danken Dir für alles, was Du trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zur Unterstützung unserer Zeitschrift getan hast, und rechnen fest mit weiteren Werken von Deiner Hand.Herzlichen Glückwunsch, lieber Heinz!

Am 25. April um 15 Uhr ist der Verleger Wiljo Heinen bei einer Veranstaltung der RF-Regionalgruppe Bautzen im Unabhängigen Seniorenverband, Löhrstraße 33, zu Gast. Er stellt die Produktionspalette des Verlags Wiljo Heinen Berlin / Böklund vor.

„Nach meinen Zahlen müßten sie mit 85 in Rente gehen können.“ Aus „The Guardian“, Sydney