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GOLDENES EUROPA Ende Mai wählen die Europäer ihr Parlament. Nichts wird so lustvoll schlechtgeredet wie die Europäische Union. Warum eigentlich? Sie ist eine politische Jahrhundertidee, das Beste, was diesem Kontinent nach zwei Kriegen passieren konnte. Zehn Gründe, warum Europa großartig ist. Zehn leidenschaftliche Plädoyers namhafter Autoren Illustration MARTIN HAAKE TITEL Europas goldene Zukunft

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GOLDENES EUROPAEnde Mai wählen die Europäer ihr Parlament. Nichts wird so lustvoll schlechtgeredet wie die Europäische Union. Warum eigentlich? Sie ist eine politische Jahrhundertidee, das Beste, was diesem Kontinent nach zwei Kriegen passieren konnte. Zehn Gründe, warum Europa großartig ist. Zehn leidenschaftliche Plädoyers namhafter Autoren

Illustration MARTIN HAAKE

TITELEuropas goldene Zukunft

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Es war 1986 in Warschau. Eine Gruppe junger Oppositi-oneller traf sich, weil einer von ihnen über seine Reise nach New York berichten sollte. Dort hatte er, selbst Historiker, einen im Exil lebenden Berufskollegen ge-troffen. Sie sprachen über das polnische Jozef-Pil-

sudski-Archiv, das während des Zweiten Weltkriegs in New York Zuflucht gefunden hatte. Hoffentlich werde das Archiv nach Polen zurückkehren, sagte der Besucher aus Warschau. Der New Yorker reagierte entschlossen: „Niemals!“ „Wieso nie-mals?“, empörte sich der Jüngere, „auch nicht wenn Polen frei wird?“ „Nein, auch dann nicht!“ Gerade als Historiker müsse man doch wissen, dass Polen ein viel zu unsicherer Ort sei, als dass man dort so wertvolle Archivbestände deponieren könne.

Die Gewissheit des Exilpolen, dass es zwischen Oder und Bug keine dauerhafte Sicherheit geben könne, ließ die Teilneh-mer der Warschauer Diskussion nicht los. Sie sprachen über die Ost-West-Teilung, aber auch über Polens Geopolitik zwischen Russland und Deutschland, suchten nach Auswegen aus einer scheinbar ausweglosen Situation. Ihr Fazit lautete: Man darf vor der Geografie nicht kapitulieren. Man muss für die polni-sche Frage eine europäische Lösung finden. Die meisten kamen zu dem Schluss, dass es ohne eine Vereinigung Deutschlands kaum Chancen für einen europäischen Aufbruch geben wird.

Keiner der Gesprächsteilnehmer konnte damit rechnen, dass solche Überlegungen nur drei Jahre später Wirklichkeit werden würden. Schon gar nicht konnten sie ahnen, dass sich innerhalb von 15 Jahren mit dem Nato- und EU-Beitritt Polens Geopolitik grundlegend verändern würde. Auch das deutsch-polnische Ver-hältnis hat alle Erwartungen übertroffen. Inzwischen halten viele Polen die vergangenen 25 Jahre für die erfolgreichste, glück-lichste Epoche der polnischen Geschichte. Und das habe viel mit Europa zu tun. Erst mit der Ukrainekrise wird diese Bilanz mit etwas Unsicherheit gezogen. Geht die beste Zeit schon zu Ende?

Nein, die Frage von Krieg und Frieden wird nicht direkt gestellt. Ein Krieg innerhalb der EU gilt weiter als undenkbar.

Was aber, wenn er in unmittelbarer Nachbarschaft auszubre-chen droht? Oder wenn es gar keinen Krieg gibt, aber ein Staat seine Unabhängigkeit als Ergebnis einer „diplomatischen Lö-sung“ verliert? So abwegig ist der Gedanke nicht. Die Teilun-gen Polens Ende des 18. Jahrhunderts waren ein Ergebnis der Diplomatie. Die russische Zarin entwarf in Moskau die innere Ordnung Polens, ihre Agenten sorgten in Polen dafür, dass sie die nötige Unterstützung fanden. Am Ende verschwand Polen von der politischen Landkarte. Vor den Teilungen war Polen ein pazifistisches Land. Ein militärisch schwacher Staat provoziere niemanden, argumentierte der regierende Adel, und würde des-halb von den Nachbarn in Ruhe gelassen. Heute kann man nur sagen: Wie dumm, seine Nachbarn nicht richtig zu kennen …

Der Fehler, die Außenwelt nicht zu verstehen, könnte auch die EU teuer zu stehen kommen. Sie ist weder schwach noch klein. Sie wird von vielen beneidet, imponiert aber wenigen. Sie hält sich für eine Ausnahme, hat aber, anders als Ame-rika, nicht den Ehrgeiz, ihr Modell anderen anzubieten. Sie will sich vor der Welt schützen, anstatt sie zu gestalten. Wenn eine Macht wie Russland zu verstehen gibt, die EU sei ein Ne-benprodukt des Kalten Krieges und habe zumindest mit des-sen Ende ihre Existenzberechtigung verloren, tun wir so, als ob wir nicht wüssten, worum es geht.

Doch seit der Ukrainekrise müssten wir das genau wissen. Es geht darum, ob das Friedensprojekt EU nur eine relativ kurze Episode in der Geschichte Europas bleibt. Oder ob die EU den Mut aufbringt, Freunde zusammenzubringen und Gegner fern-zuhalten. Es geht darum, ob die Union genug Selbstrespekt findet, um anderen zu imponieren. Und es geht um ihr Konzept des Frie-dens, zu dem mehr gehört als die Abwesenheit von Krieg. Was das genau ist? Der Luxus, dem Nachbarn vertrauen zu können.

1. FRIEDENEin Krieg in Europa gilt trotz aller Krisen für viele als

unvorstellbar. Das sollte uns aber nicht in Sicherheit wiegen

Von JANUSZ REITER

JANUSZ REITER war Botschafter Polens in Berlin und Washington. Der 61-Jährige ist zurzeit Richard-von-Weizsäcker-Fellow der Robert-Bosch-Stiftung

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Die romantische Vorstellung vom Reisen geht da-hin, es erweitere das Bewusstsein, und der Rei-sende kehre stets fremder heim, als er losgezogen sei. Das ist auch nicht ganz falsch. Und doch kann ich sagen, von jeder großen Reise bin ich europä-

ischer heimgekommen, als ich loszog.Ein Blick auf den Globus ist deprimierend. Er zeigt Eu-

ropa als verzipfelte, ausfransende Warze am eurasischen Groß-kontinent. Aber der Astronautenblick sieht das Wesentliche nicht. Was so klein und zerklüftet ausschaut, ist Europas un-verwechselbare Stärke. Nur hier herrscht nicht die Wucht schie-rer Fläche und Masse. Nur hier hat sich, begünstigt von einem lebensfreundlichen Klima, ein unglaublicher Reichtum des Be-sonderen herausgebildet. Und mir scheint, die Landschaft hat starken Anteil daran. Dass die Schweizer anfingen, Uhren zu bauen, die besten der Welt, hat etwas mit ihren Tälern zu tun. Dass die Italiener Kleidung herstellen, die beste der Welt, hat

2. LANDSCHAFTENEine Reise durch Europa ist wie der Gang durch eine reiche Ausstellung – hinter jeder Ecke eröffnet sich ein neues Bild

Von WOLFGANG BÜSCHER

etwas mit Städten zu tun, in denen man Lust hat, sie auszu-führen. Und dass die Deutschen Autos bauen, die besten der Welt, hat etwas mit den Bewegungsgesetzen unserer kontinen-talen Zentrallage zu tun. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen.

Europas Genius lebt und webt in Landschaften. Es gibt Landschaften der Renaissance, solche der Reformation und katholisch durchbildete Landschaften. Es gibt Magna-Grae-cia-Küsten mit uralten Handelsstädten und karge Gegenden, die Konquistadoren brüteten. Es gibt die Wein-, Bier- und Schnaps-breiten, sie teilen Europa entlang von landschaftlichen so gut wie kulturellen, ja religiösen Meridianen: der weinige Westen, die bierige Mitte, der schnapsige Osten. Und das sind nur die allergröbsten Striche eines ungeheuer fein gezeichneten Bildes.

Karl Marx hat von der asiatischen Despotie gesprochen. Nachdem ich durch die Große Kasachensteppe gefahren bin, durch die Gluthitze des Persischen Golfes und andere Zonen von mächtiger Monotonie, denke ich, es gibt auch eine Despo-tie solcher Landschaften. Eine Despotie der Sonne, des Stau-bes, der Tropen. Es gibt Entsprechungen zwischen Staats- und Landschaftsformen. Ich vermag mich nicht darüber zu wundern, dass der deutsche Rechtsstaat oder die italienische Stadtrepub-lik nicht in der arabischen Wüste entstanden sind.

Durch die gewaltig-monotonen Landschaften der Großkon-tinente zu reisen, hat seine Magie und Schönheit, ich möchte sie nicht missen. Aber es bleibt eine Reise durch ein einziges so monströses wie grandioses Bild. Durch Europa zu reisen, ist et-was radikal anderes. Es heißt, Bilder über Bilder zu sehen, hin-ter jeder Biegung des Flusses, der Autostrada ein neues – durch eine unfassbar reiche Ausstellung zu gehen, von Saal zu Saal, und in jedem wechseln Licht, Farben, Motive.

Die europäische Malerei, Musik, Literatur, sie konnten nur hier entstehen, in diesem von Natur und Mensch in Jahrtau-senden durchgeistigten, durchgearbeiteten Weltwinkel. Das ist Europas Charme und Genius – das Durchgearbeitete, wieder und wieder. Eine Dignität der Erinnerung, die das Neue sät, nicht erstickt. Das geht nicht in der Steppe, in der Wüste, in der Prärie, das geht nur hier. Aus all dem heraus lebe, träume, schreibe ich, auch wenn ich fern davon bin.

WOLFGANG BÜSCHER, Jahrgang 1951, ist Reiseschriftsteller und Reporter bei der Tageszeitung Die Welt. Sein Buch „Berlin  – Moskau. Eine Reise zu Fuß“ war ein Bestseller

Obwohl Europäer sich dessen nicht bewusst sind, leben sie in einem Fleckchen Paradies und hät-ten viele Gründe, stolz zu sein.

In der Eurokrise haben die Regierungschefs und die Europäische Zentralbank ihre Arbeit ge-

tan. Sie haben die notwendigen Maßnahmen ergriffen, selbst wenn dies für einige Länder mit schmerzhaften Reformen ein-herging. Lassen wir den Sonderfall Griechenland beiseite; dort müssten vor allem Steuern effizienter erhoben werden. Die Kauf-kraft der Spanier und Portugiesen ist zwar gesunken. Doch ge-messen an den Vorteilen, die diese Länder vom Beitritt zur Wäh-rungsunion haben, ist es ein wenig wie in der Bibel: Nach den sieben fetten Jahren des Überflusses kommen die mageren. Ins-gesamt hat sich Europa mit viel Können aus einer Krise herausge-arbeitet, die aus den Vereinigten Staaten importiert worden war.

Wer hätte sich einst vorstellen können, dass Deutschland einen Mechanismus zur finanziellen Hilfe für EU-Mitgliedstaa-ten akzeptieren würde? 2008 hatte es in Amerika sechs Monate gedauert, bis ein Rettungsplan für die Banken bereitlag; 2011 stand der Staat am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Die Mitglied-staaten der Eurozone hingegen konnten Griechenland ihre Hilfe schnell zusichern. Europa kommt im Krebsgang voran, aber die Blockaden in Brüssel sind längst nicht so gravierend wie in Was-hington. Barack Obama skandiert „Yes we can“, aber er handelt nicht. Europa hat zwar kein Gesicht, aber es packt an.

Denjenigen, die das schwache Wachstum als Argument vor-bringen, sage ich: Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf ist relevanter. Die Kluft zwischen Europa und den USA fällt dabei viel kleiner aus. Mittel- und langfristig ist es uns ge-lungen, das Gleichgewicht zwischen Protektion und Wettbewerb zu wahren, das den Kern des europäischen Modells bildet. Um die deutsche Wirtschaft wieder anzukurbeln, hatte Gerhard Schröder den Sozialstaat zwar angetastet, ihn aber nicht grund-sätzlich infrage gestellt. Auch in anderen Ländern können wir die soziale Marktwirtschaft rationaler gestalten, Verzerrungen korrigieren, ohne sie radikal umzukrempeln.

Innerhalb der westlichen Welt ist die europäische Gesell-schaft recht egalitär. Der Anteil des 1 Prozents der Reichsten am Nationaleinkommen betrug vor 30 Jahren in den USA 8 Pro-zent. In Europa war es ähnlich. Heute repräsentiert dasselbe 1 Prozent ein Viertel des amerikanischen Nationaleinkommens, in Europa sind wir bei 8 bis 9 Prozent geblieben. Wenn wir ein

gewisses Maß an Gleichheit für einen Grundwert halten, dann ziehe ich das europäische System bei weitem dem amerikani-schen vor. Die Kaufkraft der Europäer ist außerdem in 25 Jahren fast kontinuierlich gewachsen. Auch die These, die Konkurrenz der Schwellenländer stelle ein Problem dar, ist ein Hirngespinst. Im Gegenteil. Diese Länder sind hervorragende Kunden, und der Export ist ein Beschäftigungsmotor.

Was wiederhergestellt werden muss, ist kein gutgläubiger Optimismus, sondern Vertrauen. Politiker neigen dazu, aus Eu-ropa einen Sündenbock für alles zu machen. Man muss damit rechnen, dass Populisten an Bedeutung gewinnen. Aber wir leben nicht im Jahr 1933! Europa hat alle Möglichkeiten, den Weg zu mehr Konjunktur und Stabilität zu finden.

3. WOHLSTANDDie Kaufkraft der Europäer ist in den vergangenen 25 Jahren fast kontinuierlich gewachsen – und das lässt sich fortsetzen

Von ALAIN MINC

ALAIN MINC, Jahrgang 1949, ist einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Frankreichs. Er beriet den ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy

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Innovation, insbesondere technische Innovation – und da-rum geht es bei Patenten – ist der Schlüssel zur Zukunft. Sie schafft Arbeitsplätze und Wohlstand. In unserer heuti-gen Wissensgesellschaft zeichnen sich erfolgreiche Unter-nehmen in erster Linie dadurch aus, dass sie immer an vor-

derster Front ihres jeweiligen Technologiegebiets stehen. Das geistige Eigentum, das durch ihre Forschungs- und Entwick-lungstätigkeit entsteht, braucht Schutz – unter anderem durch Patente. Mehr als 66 000 Patente hat das Europäische Paten-tamt im vergangenen Jahr erteilt, nach rigoroser Prüfung, in höchster Qualität und an Erfinder aus der ganzen Welt.

Regelmäßig höre ich, Europa sei beim Thema Erfindun-gen ins Hintertreffen geraten, nicht nur was die Anzahl der Pa-tente anbelangt, sondern auch, was seine Rolle im weltweiten Wettbewerb um die besseren Ideen und Produkte betrifft. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Keine Region der Welt exportiert so viele seiner Ideen in die ganze Welt. Europa er-wirtschaftet sozusagen eine positive Innovationsbilanz. Ob es die USA, Japan oder China sind – die Patentanfragen europä-ischer Unternehmen überwiegen jeweils bei weitem die Schut-zanfragen von Erfindern dieser Länder in Europa. Umgekehrt ist Europa ein offener Markt für innovative Unternehmen aus der ganzen Welt. Und das ist gut so: Eine Welt ohne Protek-tionismus ist in meinen Augen eine bessere Welt. Gerade für junge Menschen sind die Perspektiven in einer offenen Welt weit größer als in geschlossenen Ökonomien.

Wir Europäer haben beim Thema Innovation eine beson-dere Pflicht: Die Systeme zum Schutz geistigen Eigentums basieren auf einer zutiefst europäischen Idee, die Ende des 18. Jahrhunderts ihren Siegeszug um den Globus angetreten hat und mittlerweile überall Anerkennung findet. Darauf können wir stolz sein, aber das reicht nicht. Europa muss eine führende Rolle bei der Entwicklung eines globalen Patentsystems spie-len. So freuen wir uns, dass China sein Patentsystem weitge-hend am europäischen ausgerichtet hat. Das hilft europäischen

Unternehmen, wenn sie den chinesischen Markt erobern wollen. Wir sehen es ebenso gerne, dass mehr als 40 Patentämter über-all auf der Welt mit den von uns entwickelten elektronischen Systemen etwa zur Patentrecherche arbeiten, und dass unsere Patentdatenbanken als die weltweit umfangreichste Sammlung technischen Wissens angesehen werden.

Wenn es um einzelne Technologien geht, ist Europa in vielen Bereichen weltweit vorne dabei. Allerdings ist das kein Grund, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen. Wer aufhört zu forschen und zu entwickeln, der gibt die Zukunft auf. In manchen Berei-chen ist das leider schon weitgehend geschehen: In der digitalen Kommunikation oder in der Unterhaltungselektronik spielt Eu-ropa nur noch eine untergeordnete Rolle. Hier zeigt sich, dass Deindustrialisierung nicht zuletzt zu einer Schwächung der ei-genen Innovationsfähigkeit führt. Bei der Biotechnologie muss und kann eine ähnliche Entwicklung noch verhindert werden. Deshalb freue ich mich, dass die EU diese Bereiche in ihre Liste der „Lead technologies“ aufgenommen hat und jetzt Anstren-gungen zur Reindustrialisierung unternimmt.

Unsere Unternehmen, Universitäten und Forschungsein-richtungen gehören nach wie vor zu den kreativsten weltweit. Wir müssen aber Anstrengungen unternehmen, um die Rah-menbedingungen für Innovation zu verbessern. Das fängt beim Risikokapital an und hört beim Patentsystem selbst auf. Ein wichtiger Schritt war die Entscheidung, die bestehenden, immer noch zu einem weiten Teil nationalen Patentsysteme zumindest in 25 EU-Staaten zu vereinheitlichen. Damit wird das System nicht nur zugänglicher, sondern auch bis zu 70 Prozent koste-neffizienter. Ich kann die EU-Staaten deshalb nur dazu auffor-dern, den Vertrag zur Gründung eines EU-Patentgerichts zü-gig zu ratifizieren, damit das neue System in Kraft treten kann.

4. EINFALLSREICHTUMKeine Region der Welt exportiert so viele Ideen wie Europa. Aber wir müssen uns anstrengen, damit das auch so bleibt

Von BENOÎT BATTISTELLI

BENOÎT BATTISTELLI ist Präsident des Europäischen Patentamts in München, einer Organisation mit 38 Mitgliedstaaten, darunter sämtliche EU-Länder. Battistelli, Jahrgang 1950, ist Franzose

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Als ich im Sommer 1978 ins Exil ging, sagte mir ein deutscher Freund: „Stell dir vor, ich war vor kur-zem in der Tschechoslowakei, und das totalitäre Regime kann man bei euch bereits auf dem Weg vom Flughafen erkennen. Es fehlen die weißen Sei-

tenstreifen an den Straßen. Die Bürger wissen also nicht, wo die Grenzen des Bereichs verlaufen, für den der Staat haftet, und ab welcher Stelle der Fahrer die Verantwortung übernimmt. Das ist in einer funktionierenden Demokratie unzulässig.“

Damals ist mir zum ersten Mal klar geworden, was Demo-kratie in der Praxis bedeutet: eine Gemeinschaft vollberechtig-ter Bürger, die die Verwaltung der öffentlichen Angelegenhei-ten und somit auch der öffentlichen Straßen übernehmen. Sie schützt die Bürger – und dient nicht einer kleinen Anzahl von manipulativen Machthabern. Im heutigen Europa sind weiße Seitenstreifen fast allgegenwärtig, sie enden irgendwo in Po-len hinter Bialystok und in der Slowakei hinter Košice. Wir teilen gemeinsam einen vernetzten Raum und somit auch die Regeln und Vorstellungen darüber, wie man Demokratie wei-terentwickeln kann.

Ich erinnere mich bis heute, wie wir das erste Mal aus Deutschland über Österreich in die italienischen Alpen zum Skifahren gereist sind und unterwegs nicht ein einziges Mal an-gehalten wurden. Nur mein kleiner Sohn beschwerte sich, denn für ihn waren die Grenzüberschreitungen ins freie Europa so etwas wie ein Actionspiel gewesen. Er musste dann immer so tun, als ob er im Auto auf dem Rücksitz schlafen würde, wäh-rend unter ihm gestapelte Manuskripte versteckt waren. Hätten die Zollbeamten sie entdeckt, wären wir im Gefängnis gelandet. Heute können meine Enkel solche Geschichten nicht glauben.

Wer heute von Berlin nach Prag fährt, wird nicht an der Grenze abgebremst, sondern erst dort, wo die Autobahn en-det – und zwar von protestierenden Umweltschützern, die ver-hindern wollen, dass diese neue und wichtige Verkehrsader die herrliche Natur des Böhmischen Mittelgebirges zerstört. Auch

das ist Demokratie: Die Bürger haben das Recht, ihre Land-schaft zu verteidigen.

Demokratie ist jedoch kein starrer Zustand, sondern ein endloser Prozess, der mit der jeweiligen Tradition in den unter-schiedlichen Ländern zusammenhängt. Sie wird in Großbritan-nien, wo ihr Beginn markiert wird von der mythischen Magna Carta aus dem Jahr 1215, anders verstanden als in Frankreich, wo sie ihre Wurzeln hat in der Französischen Revolution des Jahres 1789. Anders auch in Deutschland und Österreich, wo-hin sie nach 1945 exportiert wurde. In Mitteleuropa konnte die Demokratie sogar erst nach 1989 Fuß fassen. Heute bauen wir in Europa an einer neuen, gemeinsamen demokratischen Tradition – was dazu führt, dass man anfängt, über die Demo-kratie anders zu denken. Der Soziologe und Philosoph Ralf Dahrendorf fasste es vor einigen Jahren in seinem Buch „Der Wiederbeginn der Geschichte“ zusammen.

Die gegenwärtig nachklingende Krise der Europäischen Union sowie die aggressive Annexion der Krim durch Russ-land, die der Annexion des Sudetenlands durch Deutschland im Jahr 1938 sehr ähnlich ist, könnten für die gesamte Euro-päische Union womöglich eine große Chance sein, um Verän-derungen herbeizuführen. Ich denke da beispielsweise an eine noch engere Zusammenarbeit, insbesondere was Verteidigung und Sicherheit betrifft.

Es sind letztlich einige Grundwerte, die die Basis unse-res gemeinsamen Kontinents bilden: Freiheit, Gleichheit, To-leranz, Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Prinzipien der Demo-kratie. Europa ergibt einen Sinn, solange wir noch über und für diese Werte streiten. Es ist ein Streit über das Wesen Euro-pas. Solange wir diesen Streit mit Ausdauer und ohne Unter-lass führen, wie Nietzsche sagte, befinden wir uns in Europa.

5. DEMOKRATIEDie Verfasstheit einer Gesellschaft erkennt man auch an den Seitenstreifen der Straßen. Gut, dass wir diese Streifen haben

Von KAREL HVÍŽDALA

KAREL HVÍŽDALA ist einer der bekanntesten Journalisten und Essayisten Tschechiens. Die Bücher des 1941 geborenen Havel-Biografen sind auch auf Deutsch erschienen

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Wir sind schon durch ein Dutzend Fürsten-thümer, durch ein halbes Dutzend Großher-zogthümer und durch ein paar Königreiche gelaufen, und das in der größten Übereilung in einem halben Tag.“ So ruft es in Georg

Büchners „Leonce und Lena“ der Hofnarr Valerio seinem Prin-zen zu, mit dem er auf romantische Italienreise ausgezogen ist. Souveränität im Kleinen ist das europäische Urprinzip. Nicht Flächenstaat und Zentralismus, sondern Pluralismus vieler Ma-jestäten machte und macht den Reichtum des Kontinents aus, der nur dem Namen nach einer ist.

Hätten die beiden Wanderer in Büchners Lustspiel in allen Staaten, die sie so flugs durchquerten, einen Abstecher in die Theater und Opernhäuser, Philharmonien und Museen, Schlös-ser und Parks, Kathedralen und Kapellen gemacht – sie wären bis heute nicht beim Happy End des Dramas angekommen. Allein in Deutschland öffnen sich 6250 Museen jährlich 106 Millionen Besuchern, und um die Musikfreunde wetteifern 132 Sympho-nieorchester und 82 Opernhäuser. Aber was sollen Statistiken: Mutatis mutandis sieht es bei unseren Nachbarn ähnlich aus. Wer Europa durchwandert, der erlebt einen unermesslichen Reich-tum an Ausdrucksformen, an Variationen der Künste auf den verschiedensten Feldern der Humanität. Elementar ist die Po-lyfonie der Kommunikation: Europas Menschen und also auch Kulturen sprechen viele Sprachen und Dialekte. Die europäi-sche Seele ist vielsprachig, und sie fühlt und erlebt sich selbst so.

Das alles zusammen nennen wir „Kultur“, und nur Puris-ten mokieren sich über die Ungenauigkeit dieses Begriffs, der das Abstrakte wie die Kunst der Fuge wie das Sinnliche der Kochkunst umgreifen kann. Seit die antiken Denker Europa zu definieren begannen, fanden sie, es handle sich vor allem um eine kulturelle Lebensform. Sie hat bis heute eine erstaun-liche Kontinuität der Schönheitsideale und Gestaltungsprinzi-pien bewahrt. Sie ist seit drei Jahrtausenden in einem unend-lichen Selbstgespräch über das Verhältnis von Gut und Böse, von Schön und Hässlich. Sie hat aus drei radikal verschiede-nen Weltentwürfen, dem griechisch-individualistischen, dem römisch-rechtlichen und dem jüdisch-christlichen der Nächs-tenliebe eine Synthese versucht, die nie vollständig gelungen ist und darum als Vor-Wurf ewig lebendig bleibt.

Wie sieht es mit der Zukunft aus? Nach Befunden der Uno lebten im Jahre 1900 in Europa 21 Prozent der Weltbevölkerung;

heute sind es weniger als 12 Prozent, und am Ende unseres Jahrhunderts werden es den Schätzungen zufolge weniger als 4 Prozent sein. Wird Europa zu einer quantité négligeable der Menschheitsgeschichte? Dazu wird es nicht kommen. Denn die Mission Europas ist noch lange nicht erfüllt. Die europäi-sche Doppelformel von forschendem, formendem Menschen-geist und forderndem Menschenrecht ist immer noch auf ihrem Weg rund um den Globus – selbst verschuldete Rückschläge in-begriffen. Aber es gibt für uns Europäer keine Alternative dazu. Wer das Goethe’sche „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ über Bord wirft und Artikel 5 des Grundgesetzes, der die Frei-heit des Individuums garantiert, sich in allen Formen Gehör zu verschaffen in der Welt, der ist schon halb verloren.

6. KULTUREuropa ist weniger ein Kontinent denn eine kulturelle

Lebensform – und deren Mission ist noch lange nicht erfüllt

Von CHRISTOPH STÖLZL

CHRISTOPH STÖLZL ist Präsident der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar. Der Historiker, Jahrgang 1944, war von 2000 bis 2001 Berliner Kultursenator

Ich bin als Sohn spanischer Gastarbeiter in Schwaben aufge-wachsen, und diese Herkunft war für mich natürlich auch beim Essen prägend – zu meiner kulinarischen Sozialisa-tion hat die Paella meiner Mutter genauso gehört wie Maul-taschen und Zwiebelrostbraten. Nicht zu vergessen fran-

zösische Spezialitäten wie Käse, Geflügelgerichte oder sogar Gänseleberpastete, die ich bereits als Kind kennenlernen durfte, wenn wir früher regelmäßig Verwandte im Elsass besucht ha-ben. Und genau darin zeigt sich eigentlich schon, was die „euro-päische Küche“ so besonders macht: Es ist ihre geradezu über-wältigende Vielfalt, noch dazu auf einem eher kleinen Raum. Der gastronomische Variantenreichtum entspricht gewisserma-ßen dem Landschaftsbild unseres Kontinents, weswegen ich den Begriff „Küchen Europas“ bevorzuge. Wer etwa durch Asien reist, dem erscheinen die kulinarischen Unterschiede von Re-gion zu Region doch eher nuancenhaft. Wer dagegen von Flens-burg nach Freiburg fährt oder gar von Nordfrankreich ans Mit-telmeer, dem wird unterwegs gehörige Abwechslung auf dem Teller geboten.

EUROPA WAR SCHON IMMER ein großer Impulsgeber für glo-bale Küchentrends – man denke nur an den Siegeszug der Pizza oder an das Raffinement der französischen Haute Cuisine, die ganze Generationen von Spitzenköchen in aller Welt geprägt hat. Ich glaube, daran wird sich auch nichts ändern, weil Europa gerade wegen seiner unterschiedlichen Küchen eine Art kuli-narisches Laboratorium bleibt. Aus Spanien, dem Land meiner Eltern, stammt ja eine der wichtigsten gastronomischen Inno-vationen der vergangenen zwei Jahrzehnte, nämlich die Mo-lekularküche. Und das ist gewiss kein Zufall, weil die Spanier (allen voran das Küchengenie Ferran Adrià) einen Nachholbe-darf gegenüber ihren französischen Nachbarn spürten. Außer-dem war die spanische Küche bis dahin ziemlich einfach und rustikal, was dort einen radikalen Neuanfang einfacher machte als in den traditionsbewussten Spitzenküchen Frankreichs. So fordern sich die Küchen Europas nicht nur immer wieder zu Höchstleistungen heraus; sie befruchten einander auch in Sa-chen Kochtechnik oder Produktauswahl.

Seit einigen Jahren gibt es ja den Trend zur verfeinerten Regionalküche, sogar auf allerhöchstem Niveau. Ich selbst bin zwar kein Anhänger davon, weil ich mir bei meiner Arbeit keine Beschränkungen auferlegen will. Aber ich habe großen

7. KÜCHESo große Vielfalt auf so kleinem Raum – auch deshalb bleiben

die Küchen Europas ein globaler Innovationsmotor

Von JUAN AMADOR

Respekt davor, wie konsequent etliche meiner Kollegen – be-sonders im hohen Norden – diesen Ansatz verfolgen. Denn da-rin spiegelt sich ja auch das Bedürfnis der Europäer nach regi-onaler Identität. Von europäischer Gleichmacherei kann also keine Rede sein, im Gegenteil. Ich denke, dass wir in dieser Hinsicht besonders aus den Küchen Osteuropas in Zukunft noch einiges zu erwarten haben. Denn vom kulinarischen Potenzial her haben Länder wie Polen, Bulgarien, Rumänien oder auch Russland sehr viel zu bieten. Um die Zukunft Europas braucht man sich also keine Sorgen zu machen – zumindest nicht, was die Gastronomie betrifft.

JUAN AMADOR, 1968 in der Nähe von Stuttgart geboren, zählt zu den besten Köchen Deutschlands. Sein Restaurant Amador in Mannheim ist mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet

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Obwohl der europäische Einigungsprozess in der jüngsten Vergangenheit auf viel Kritik gesto-ßen ist – von der Eurokrise bis hin zu überzoge-ner Bürokratie und Kompetenzexpansionismus bei den Organen der EU –, hat er Grundlegen-

des geleistet, vor allem in den Bereichen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Artikel 2 des Vertrags über die Europäi-sche Union (EUV) bekennt sich ausdrücklich zu den „grund-legenden Werten“ des Schutzes der Menschenwürde, der Frei-heit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte. Artikel 3 des EUV ga-rantiert den Bürgerinnen und Bürgern der EU „einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengren-zen“. Dies alles baut auf den gemeinsamen rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungsüberlieferungen der Mitglied-staaten der Europäischen Union auf und verdichtet diese zum nicht nur gemeinsamen Programm, sondern auch zur verbind-lich-gemeinsamen Gesamtstruktur.

Herausragend ist der Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte. In ihm liegt der Grundwert nicht nur der Ver-fassungstraditionen aller Mitgliedstaaten der EU, sondern auch der aller modernen Verfassungsstaatlichkeit. In den Anfängen des europäischen Einigungsprozesses gab es hierzu noch keine gemeinschaftsrechtlichen Verbürgungen. Aber der Europäische Gerichtshof hat diese Lücke sehr bald geschlossen und die zent-ralen Grundlagen für einen an Menschenwürde und Menschen-rechte gebundenen europäischen Rechtsstaat gelegt. Ihre Voll-endung hat diese Entwicklung über den EUV und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie ganz entscheidend über die Europäische Grundrechtecharta erfahren. Allerdings hat bereits zuvor die Europäische Men-schenrechtskonvention aus dem Jahr 1950 für alle Mitglied-staaten des Europarats verbindliche Grundrechtsgewährleis-tungen festgelegt und in der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch abgesichert.

In alledem spiegelt sich eine gemeinsame europäische Rechtskultur wider, die in den vergangenen 200 Jahren Schritt für Schritt erwachsen wurde und die heute für jedermann in Europa zur wahrhaftigen Selbstverständlichkeit geworden ist. Der europäische Rechtsstaat ist heute gesellschaftliche Realität; niemand in Europa stellt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit infrage. Wer sich daran nicht hält, untersteht den Sanktions-mechanismen des europäischen Unionsrechts und kann nicht Mitglied der EU werden. Die Diskussion um die mitgliedschaft-lichen Ambitionen etwa der Türkei demonstrieren dies in aller Nachhaltigkeit. Die Europäische Union wahrt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und sie findet in diesen Grundprinzipien moderner Verfassungsstaatlichkeit ebenso die eigene Grund-legitimation wie die maßgebende integrierende Grundgemein-samkeit. Dies alles steht nicht mehr zur Diskussion – und dies alles gehört zu den ganz großen Leistungen des europäischen Einigungsprozesses.

Rechtsstaatlichkeit bedeutet für den Bürger Gewähr von Freiheit und Gewähr von Rechtssicherheit. In freiheitsrecht-licher Sicht ist der europäische Rechtsstaat fast komplett. In sicherheitsrechtlicher Hinsicht besteht jedoch noch weiterer Entwicklungsbedarf. Trotz einiger institutioneller Anfänge, wie der in Gestalt von Europol, verharrt auch die grenzüber-schreitende Sicherheitspolitik nach wie vor in den Händen der nationalen Gesetzgeber und nationalen Sicherheitsbehörden. Immer noch dominiert in der Sicherheitspolitik der nationale Souveränitätsgedanke. Der in Artikel 3 EUV versprochene ge-meinsame „Raum (auch) der Sicherheit“ muss jedoch ebenso grundlegend weiterentwickelt und ausgebaut werden. So heißt jedenfalls die maßgebende Agenda aller künftigen europäi-schen Rechtsstaatspolitik.

8. RECHT UND ORDNUNGDer europäische Rechtsstaat ist Realität – er garantiert seinen

Bürgern größtmögliche Freiheit und Sicherheit

Von RUPERT SCHOLZ

RUPERT SCHOLZ war Verteidigungsminister im Kabinett von Helmut Kohl. Der 1937 geborene Jurist ist Rechtsanwalt und Mitherausgeber des Grundgesetzkommentars Maunz/Dürig

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Wer früher in Europa eine Reise tat, hatte eine Menge zu erzählen – und nicht nur Erheben-des. Es gab lästige Grenzprozeduren, den Geldumtausch und vieles mehr. Da war die Sprachbarriere noch das kleinste Hindernis,

wenn man einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz im Ausland suchte, jenseits der Grenze ein Unternehmen gründen wollte, eine Ware, die von Land zu Land unterschiedliche Sicherheits- und Qualitätsstandards erfüllen musste, verkaufen oder gar eine Dienstleistung grenzüberschreitend erbringen wollte.

Für die EU ist dies Vergangenheit, und kein vernünftiger Mensch würde sich diese Zeiten zurückwünschen. Aber was wir heute als unser gutes Recht ansehen, ist nicht vom Himmel gefallen. All das ist Ergebnis der Politik der europäischen Integ-ration. Doch sosehr sie unser Leben im Einzelnen auch erleich-tert und bereichert, die heutige Integrationsdebatte ist nicht voll flammender Begeisterung. Sie ist nüchtern und oft auch

mit allerhand Verdruss und Verständnislosigkeit beladen. Da-bei sind es nicht ihre großen politischen Ziele, die die Misstöne begründen. Sondern es ist der europäische Alltag. Da gibt es berechtigte Kritik an Unvollkommenheiten und Fehlern, aber auch Kritik, die sich auf Vorurteile und Nichtwissen gründet.

Wer ein Auto kauft, verlässt sich darauf, dass alles funkti-oniert, vom Lenkrad bis zur Bremse. Früher hätte der deutsche Gesetzgeber dafür gesorgt. Heute tut es die EU – und niemanden stört es. Wenn aber die EU nationale oder internationale Regeln zu Handelsklassen übernimmt, ist plötzlich das Geschrei groß, und die EU gilt als Regulierungstrottel, dem nichts Sinnvolleres eingefallen ist, als sich etwa über krumme Gurken Gedanken zu machen. Seit 2009 tut sie das nicht mehr, was dazu geführt hat, dass die Gurkenkrümmung 2011 wieder dort geregelt wurde, wo sie herkam: bei der Wirtschaftskommission der Vereinten Na-tionen für Europa – übrigens mit aktiver deutscher Beteiligung.

Dennoch scheinen die europäischen Handelsklassenregeln, die Qualitätsstandards festlegen, Menschen sehr wichtig zu sein, denn sonst würden sich heute nicht so viele geradezu pa-nisch darum sorgen, dass die europäischen Gesundheits- und Qualitätsstandards bei Lebensmitteln auf dem Altar der tran-satlantischen Verhandlungen geopfert werden könnten – auch wenn dies überhaupt nicht zur Disposition steht.

Oder nehmen wir den Euro, der in Deutschland auch des-halb einen schweren Start hatte, weil wir im Gegensatz zu ande-ren Ländern die doppelte Preisauszeichnung (in DM und Euro) von 1999 an für überflüssig hielten – mit dem Ergebnis, dass der Euro als „Teuro“ empfunden wurde. Es hat lange gedau-ert, bis auch wir begriffen, welch ein Segen der Euro für uns ist.

Reisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Möglichkeit, woanders zu studieren, sind europäischer Alltag. Millionen Deut-sche nutzen das gern. Aber wenn andere Völker das Gleiche tun, finden sich bei uns immer Leute, die nahezu hysterisch reagie-ren – man denke an die Diskussion um die Arbeitnehmerfrei-zügigkeit für Rumänen und Bulgaren. Da zeigte sich, dass eine grundlegende Frage der Integration noch nicht völlig verstan-den wird. Nicht der Geldbeutel regiert die Integration, sondern die Gleichheit aller Staaten: bei den Pflichten, bei den Rechten.

9. BENUTZERFREUNDLICHKEITReisefreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Auslandsstudium: Die Integration hat unser Leben erheblich leichter gemacht

Von GÜNTER VERHEUGEN

GÜNTER VERHEUGEN, Jahrgang 1944, war Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie sowie für die Erweiterung der Union

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In Europa wächst eine Generation im Bewusstsein auf, mit schlechteren Lebensumständen konfrontiert zu sein als ihre Eltern. Junge Europäer müssen sich mit unterschied-lichsten Problemen auseinandersetzen: einem unumkehr-baren Klimawandel, verschmutzten Meeren, Überbevöl-

kerung und einer überalterten Gesellschaft. Zudem steigt die wirtschaftliche Ungleichheit. Immigranten und Flüchtlinge, die – zu Recht – auf der Suche nach besserer Lebensquali-tät zu uns kommen, schwächen die europäische Infrastruktur. Die Einwanderung wird zunehmen, je mehr die wirtschaftliche Ungleichheit wächst. Außerdem rückt durch die Entwicklung neuer Medien die Privatsphäre der Menschen in den Hinter-grund. Und die radikale Rechte in Europa gewinnt an Boden.

Im Durchschnitt ist in Europa ein Viertel der jungen Men-schen arbeitslos. Im Süden, in Griechenland, Süditalien und Spanien, sind es mehr als 50 Prozent. Junge Südeuropäer wan-dern aus, um im Norden Jobs zu finden. Zu Hause oder im

Ausland müssen sich europäische Jugendliche einem starken Konkurrenzdruck unterwerfen. Sie beginnen, einem unnatür-lich schnellen Rhythmus zu folgen, der sie dazu bringt, selbst-zerstörerische Verhaltensformen zu entwickeln. Sie leiden un-ter Essstörungen, ritzen sich, nehmen Drogen, Antidepressiva und trinken sich bewusstlos. Andere werden von sozialen Me-dien, Arbeit und Schönheitsoperationen abhängig. Oder sie ge-hen in dem Stress ganz unter.

Selbstverständlich kann man über die unzähligen Möglich-keiten sprechen, die der europäischen Jugend heute geboten werden. Sie können in ganz Europa studieren und überall auf dem Kontinent arbeiten. Die Europäische Union hat sie stär-ker und reicher gemacht als den Großteil ihrer Altersgenossen auf der Welt. Aber all diese Gründe lassen in meinen Augen die Zukunft der europäischen Jugend nicht rosig erscheinen.

Junge Europäer werden nur deshalb eine schönere, span-nendere Zukunft haben, weil sie früher oder später begreifen werden, dass wir, sie, Europa und die Welt nicht so weiterma-chen können. Sie werden verstehen, dass Fortschritt aus einer zirkulären Harmonie des Gebens und Nehmens mit unserem Planeten entsteht und nicht aus einer Haltung des Plünderns und Wegwerfens. Sie werden begreifen, dass wir für alles, das wir in unserer Natur und unserer menschlichen Umgebung zer-stören, irgendwann bezahlen.

Ich habe auf Reisen mit vielen jungen Europäern gesprochen. Ihre Haltungen haben mich sowohl traurig als auch hoffnungs-voll gestimmt. Viele waren frustriert, weil sie dem Leistungs-druck nicht entsprachen; gleichzeitig suchten sie nach einem tie-feren Sinn in der heutigen Gesellschaft. Wir haben ihnen keinen Weg vorgegeben, deswegen liegt es in ihrer Hand, ihn zu finden.

Wenn die Jugend aufhört, zu oberflächlichen, leeren Ide-alen aufzuschauen, wird sie verstehen: Das Problem in unse-rem heutigen System liegt darin, dass man es nicht aufrechter-halten kann. Wenn sie begreifen, dass das Leben nicht nur aus kapitalistischem Wettbewerb besteht, werden sie einen sinn-volleren Weg finden.

Das ist der Weg in die goldene Zukunft, nicht nur der euro-päischen Jugend, aber Europas. Und hoffentlich auch der Welt.

10. JUGENDEuropas Jugendliche haben mit vielen Problemen zu kämpfen.

Nur radikales Umdenken verspricht ihnen eine goldene Zukunft

Von JANNE TELLER

JANNE TELLER ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Essayistin. Die gebürtige Dänin, Jahrgang 1964, war in den neunziger Jahren Beraterin für die EU