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1 Gottesdienst am 02.02.2014 in der evangelischen Kreuzkirche Reutlingen Predigttext 1. Mose 8,1-12 Pfarrer Stephan Sigloch, Pfarramt Reutlingen, Kreuzkirche 3 I. Einleitung Erinnern Sie sich an die Hysterie, die der Maya-Kalender vor etwas mehr als einem Jahr ausgelöst hat, liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde? Viele Menschen haben damit gerech- net, dass am 21.12.2012 die Welt untergehen würde. Drei Jahre zuvor hat der Film „2012“ viele Zuschauer im Kino gefesselt, der an die Erwartung des Weltuntergangs anknüpft. In dem Film werden beim Weltuntergang Menschen in „Archen“ evakuiert und natürlich ist alles ungeheuer dramatisch. Am Ende des Films hat die Erde sich wieder beruhigt, ist doch nicht unter- gegangen - und die Arche ist auf ruhigen Ozeanen unterwegs nach Afrika, das verschont blieb … die Sonne scheint … die Arche öffnet ihre Luken … Wenn Ihnen Manches an dieser Geschichte bekannt vorkommt, ist das keine Überraschung: Flut, Arche und einige, die gerettet werden… Im April kommt nun sozusagen das Original in die Kinos: „Noah“. Für diesen Film wird schon eifrig geworben – es sind dramatische Bilder. Aus der biblischen Geschichte von Noah und der Sintflut ein Drehbuch zu schreiben, braucht Einiges an Phantasie. Denn – im Unterschied zum Film – wird in der Erzählung, wie wir in 1. Mose nachlesen können, nicht gesprochen. Einzig Gott kommt ein paar

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Gottesdienst am 02.02.2014 in der evangelischen Kreuzkirche Reutlingen

Predigttext 1. Mose 8,1-12 Pfarrer Stephan Sigloch, Pfarramt Reutlingen, Kreuzkirche 3

I. Einleitung

Erinnern Sie sich an die Hysterie, die der Maya-Kalender vor

etwas mehr als einem Jahr ausgelöst hat, liebe Schwestern und

Brüder, liebe Gemeinde? Viele Menschen haben damit gerech-

net, dass am 21.12.2012 die Welt untergehen würde.

Drei Jahre zuvor hat der Film „2012“ viele Zuschauer im Kino

gefesselt, der an die Erwartung des Weltuntergangs anknüpft. In

dem Film werden beim Weltuntergang Menschen in „Archen“

evakuiert und natürlich ist alles ungeheuer dramatisch. Am Ende

des Films hat die Erde sich wieder beruhigt, ist doch nicht unter-

gegangen - und die Arche ist auf ruhigen Ozeanen unterwegs

nach Afrika, das verschont blieb … die Sonne scheint … die Arche

öffnet ihre Luken …

Wenn Ihnen Manches an dieser Geschichte bekannt vorkommt,

ist das keine Überraschung: Flut, Arche und einige, die gerettet

werden… Im April kommt nun sozusagen das Original in die

Kinos: „Noah“. Für diesen Film wird schon eifrig geworben – es

sind dramatische Bilder.

Aus der biblischen Geschichte von Noah und der Sintflut ein

Drehbuch zu schreiben, braucht Einiges an Phantasie. Denn – im

Unterschied zum Film – wird in der Erzählung, wie wir in 1. Mose

nachlesen können, nicht gesprochen. Einzig Gott kommt ein paar

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Mal zu Wort. Von Noah, seiner Familie oder gar den Zeitgenos-

sen … kein Ton!

II. Ur-Geschichten

Das kann daran liegen, dass am Anfang der Bibel einige Er-

zählungen überliefert sind, die uns Ur-Geschichten erzählen.

Urgeschichten erzählen von Erfahrungen, die wir Menschen

immer wieder machen. Die biblischen „Urgeschichten“ nehmen

große und grundlegende Fragen des menschlichen Lebens auf

und suchen – ver-suchen! – Antworten darauf:

Da ist zuerst die Erzählung von Adam und Eva, die trotz des

Verbotes Gottes vom „Baum der Erkenntnis“ essen, getrieben

von dem Misstrauen, Gott könnte ihnen etwas vorenthalten

wollen. Durch ihr Misstrauen, verlieren sie das Paradies (Gen 3).

Dem folgt die Geschichte von Kain und Abel - von Kain, der aus

Neid und Eifersucht seinen Bruder Abel umbringt –, die erzählt,

dass zwischen den Menschen Gewalt und Tod möglich ist, wenn

sie sich von Gott, dem Schöpfer, abwenden und der Finsternis, in

diesem Fall dem Neid und der Eifersucht, Raum lassen. Auch das

ein „Sündenfall“ (Gen 4).

Danach wird erzählt, was mindestens für unsere Ohren eine

ziemliche Herausforderung ist: Gott bereut, dass er die

Menschen geschaffen hat. „Das Trachten ihres Herzens“ (so

übersetzt Luther) – also das, wohin ihr Denken und Wollen und

Handeln sie ‚zieht‘, ist „nur böse immerdar“ (Gen 6,5, LÜ). Mit

anderen Worten: „Die Erde verdarb vor dem Angesicht Gottes, in

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dem Gewalt die Erde erfüllte“ (Gen 6,11, BigS). In solchen Sätzen

wird der Glaube an „das Gute im Menschen“ sehr grundsätzlich

in Frage gestellt – darum wehrt sich in uns beim Hören eine

ganze Menge, nicht wahr? Allerdings können wir aus der Ge-

schichte heraus diesem Urteil auch kaum grundsätzlich wider-

sprechen. Aber ich erzähle erst einmal diese Geschichte weiter –

und komme nachher noch einmal darauf zurück.

III. Die Sintflut

„Geh in die Arche“, sagt Gott zu Noah (Gen 7,1). Und er, seine

Familie und ein Paar von allen Tieren gehen hinein (Gen 7,7ff). Die

Sintflut beginnt – erzählt in bildhafter Sprache: „die Schleusen

des Himmels“ öffnen sich, „die Quellen der Tiefe brechen hervor“

(Gen 7,11): was Gott als Schöpfer „geordnet“ hat, indem er Wasser

und Land unterschied (Gen 1,6ff.9f), wird wieder vom vorsintflut-

lichen Chaos durcheinander gebracht.

Es regnet scheinbar endlos. 40 Tage lang. Und als es aufhört,

dümpelt die Arche auf dem Wasser, mitten im Chaos. Ich mag

mir gar nicht vorstellen, wie Noah sich gefühlt hat. Ob er in

diesem Kasten auf der Flut wirklich das Gefühl hat: Wir sind

gerettet? Sind sie da drin – wie es die Kinderbibeln beschreiben –

‚sicher und geborgen‘? Oder einfach nur allein und verlassen?

Wir verstehen diese elementare Geschichte spätestens dann,

wenn uns auch „das Wasser bis zum Hals“ steht. Wenn durch

eine Katastrophe unsere Welt in einem Chaos versinkt – nicht

nur bei einer Flut, in der Haus oder Stadt untergehen.

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Vor hundert Jahren, 1914, brach in Europa der „Große Krieg“

aus – mit unvorstellbarer Härte und Gewalt, ein unglaublicher

Schock für die Menschen, der Unzählige damals völlig trauma-

tisiert hat. Heute nennen wir diesen Krieg den „Ersten Welt-

krieg“, weil 25 Jahre später der nächste, noch weitaus brutalere

Krieg begann – viele von uns haben die Zeit noch selber erlebt.

Schwer zu fassen, dass wir Menschen aus der großen ersten

Katastrophe offenbar nichts gelernt haben. Wer könnte

angesichts dieser und vieler weiterer Kriege vorher und seitdem

leichthin behaupten, dass der alte Text mit der Feststellung, „das

Trachten des Menschen“ bringe Gewalt über die Erde -, wer will

behaupten, dass der alte Text Unrecht hat?

Und es gibt andere Katastrophenerfahrungen in unserem per-

sönlichen Leben, einer Sintflut vergleichbar - in der unsere Welt

untergeht, wir das Gefühl haben, hilflos im Chaos, in einer

Sintflut zu treiben, die alles um uns mit sich reißt und uns bis

zum Hals steht:

Wie viele erinnern den Verlust der Heimat und vertrauter

Menschen, der Eltern, des Partners, vielleicht sogar der eigenen

Kinder! Jeder einzelne Verlust eine Katastrophe…

Lebensentwürfe scheitern, wenn die Ehe scheitert, der Arbeits-

platz verloren geht, wenn das Leben sich vorrangig darum

drehen muss, irgendwie über die Runden zu kommen. Auch das:

Katastrophen!

Wie viele Jugendliche und junge Erwachsene haben keine

rechte Vorstellung davon, was sie mit ihrem Leben anfangen

sollen oder könnten – und sehen sich einer ‚Sintflut‘ von

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Möglichkeiten einerseits und schlechten Nachrichten anderer-

seits gegenüber: Einer Werbung, die alles verspricht, und einer

Lebenswirklichkeit, die weit weniger bietet. Dass Manchem

Internet und Computerspiele wie eine Arche im Chaos zu sein

scheinen, ändert nichts an der Tatsache: Wir schaffen es in

unserer Gesellschaft oft nicht, unseren Kindern eine Perspektive

zu bieten, der sie sich gewachsen fühlen, ihnen das Gefühl zu

geben, gebraucht zu werden. Für die Einzelnen gleicht auch das

einer Katastrophe.

In jeder Katastrophe steckt die Herausforderung, wieder einen

Anfang zu finden – irgendwo und irgendwie. Die Herausforde-

rung auch, nicht völlig zu verzweifeln und nicht alle Zuversicht

und völlig den Glauben zu verlieren – und (sozusagen) wieder ein

„Fenster zum Himmel“ aufmachen zu können.

An der Stelle setzt unser Predigttext ein – als die Arche auf dem

Wasser treibt, die Zeit vergeht und die in der Arche sicherlich

fragen: „Wie geht es jetzt weiter? Wir sind zwar nicht umgekom-

men in der Katastrophe, aber wir können ja auf Dauer auch nicht

in dieser Arche überleben“ – um tatsächlich zu leben, wieder

leben zu können und einen neuen Anfang zu finden, muss jede

Arche einen festen Platz finden, an dem sie zur Ruhe kommt -

und wir müssen hinaus treten können …

IV. Predigttext

Da dachte Gott an Noach und an all die Tiere, die bei ihm in der

Arche waren. Er ließ einen Wind über die Erde wehen, sodass das

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Wasser fiel. Er ließ die Quellen der Tiefe versiegen und schloss die

Schleusen des Himmels, sodass es zu regnen aufhörte. So fiel das

Wasser nach hundertfünfzig Tagen. Am 17. Tag des 7. Monats

setzte die Arche auf einem Gipfel des Araratgebirges auf. Das

Wasser fiel ständig weiter, bis am 1.Tag des 10. Monats die

Berggipfel sichtbar wurden.

Nach vierzig Tagen öffnete Noach die Dachluke, die er gemacht

hatte, und ließ einen Raben hinaus. Der flog so lange hin und her,

bis die Erde trocken war. Noach ließ auch eine Taube fliegen, um

zu erfahren, ob das Wasser von der Erde abgeflossen war. Sie

fand aber keine Stelle, wo sie sich niederlassen konnte; denn die

ganze Erde war noch von Wasser bedeckt. Deshalb kehrte sie zur

Arche zurück. Noach streckte die Hand aus und holte sie wieder

herein. Er wartete noch einmal sieben Tage, dann ließ er die

Taube zum zweiten Mal fliegen. Sie kam gegen Abend zurück und

hielt einen frischen Ölbaumzweig im Schnabel. Da wusste Noach,

dass das Wasser abgeflossen war. Er wartete noch einmal sieben

Tage, dann ließ er die Taube zum dritten Mal fliegen. Diesmal

kehrte sie nicht mehr zurück.

V. Drei „Themen“

Es sind drei „Themen“, die mich herausgefordert haben in der

Erzählung von der Sintflut und von Noah. – (1) Zunächst Noah in

der Arche. Sozusagen der „Arche-Typ“ eines Menschen in der

Krise. (2) Dann wird in dieser Geschichte von Gott erzählt – und

das, was von ihm erzählt wird, lohnt einen eigenen Blick.

Schließlich ist (3) noch die Frage von vorhin offen: Wie ist das mit

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„den Menschen“, von denen – auch nach der Sintflut noch! -

gesagt wird: „das Trachten des menschlichen Herzens ist böse

von Jugend auf“ (Gen 8,21)? Wie lässt sich das verstehen?

Zu diesen drei Punkten will ich jeweils noch ein paar Bemer-

kungen machen: Noah. Gott. Die Menschen.

VI. „In der Arche …“ – Noah (1) [zu Abschnitt VI. s.u. Literatur]

Ich habe es vorhin schon gesagt: Noah spricht in der ganzen

Erzählung kein Wort. Die Erzählung datiert präzise Anfang,

Scheitelpunkt und Ende der Flut, berechnet die Maße der Arche,

berichtet die Gedanken Gottes – aber nicht ein Wort von Noah.

Adam, Eva, auch die Schlange und Kain wussten in den ent-

scheidenden Momenten mehr zu sagen.

Ist das zustimmendes Schweigen? Verstummt er vor blankem

Entsetzen? Aus Angst, doch noch zu den Opfern zu zählen? Nach

der Flut könnte es „die Verzweiflung und Verlassenheit des

Davongekommenen sein, der überlebt hat und nicht weiß,

warum er und nicht die Freundin oder auch der Feind verschont

worden sind“ (Gertz, s.u. Literatur).

Viele nach Noah haben diese Frage gestellt, etwa mit Blick auf

Millionen von den Nazis ermordeter Juden - vergangenen Mon-

tag haben wir ihrer gedacht am Jahrestag der Befreiung des

Vernichtungslagers Auschwitz [27.01.]. Die ungarische Philosophin

Agnes Heller hat neulich in einem Interview gesagt: „Als Kind

hatte ich vier gute Freunde. Ich bin die Einzige, die den Holocaust

überlebt hat. Natürlich fühle ich mich deswegen schuldig“ (s.u.).

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Der rechtzeitig aus Deutschland emigrierte Erich Fried

formuliert […] so: „Wie oft muss ich sterben dafür, dass ich dort

nicht gestorben bin?“ (zitiert nach Gertz, s.u.).

Diese Frage gibt es auch im Horizont unserer Erfahrungen:

„Was habe ich getan, dass meine Söhne gesund sind, und das

Kind meines Bruders behindert? Warum habe ich Erfolg, und die

nicht weniger talentierte und fleißige Mitbewerberin sitzt auf der

Straße? Finden wir es mit Blick auf uns selbst gerecht, dass wir

alle in Frieden und in einem zumindest relativen Wohlstand

leben, während ein Großteil der Menschheit in Armut und Chaos

versinkt? Was berechtigt uns eigentlich zum seltenen Privileg

einer freiheitlichen Gesellschaft, das [z.B.] 1,3 Milliarden Chi-

nesen[, den Menschen in der Ukraine] und jetzt der Bevölkerung

in (Gertz 2011: Libyen oder im Iran [Syrien] mit offener Gewalt

vorenthalten wird? Vielleicht hat sich schon Noah diese Frage

nach der Schuld der Schuldlosen gestellt“!? (Gertz)

Zu Beginn habe ich den Film „2012“ erwähnt. Dort gelten

eindeutige Kriterien dafür, wer in die Arche kommt: Diejenigen,

die durch ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten oder durch ihre

Gene die Zukunft sichern können, und die, die den Bau der Arche

finanzieren. „Im Klartext: die Superschlauen, die Superschönen,

die Superreichen“ (Gertz). Bei Noah ist diese Frage – wie oft bei

uns auch - eine schmerzlich offene Frage …

Mich beschäftigt bei Noah noch mehr – manches wird ja sehr

symbolträchtig erzählt: Während der Flut bleibt die Arche fest

verschlossen. Sogar das Fenster zum Himmel ist dicht, solange

das Chaos tobt. Wäre es nicht tröstlich, wenn es während der

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Katastrophe einen Kontakt zwischen Gott und Noah gäbe? Denn

erst als der Kasten schließlich – so wörtlich im Hebräischen –

„Ruhe“ findet auf dem Gebirge, zeigt sich: Noah ist nicht völlig

verzweifelt.

Merk-würdig eigentlich. Denn: In der Arche bleibt ihm ja nichts,

außer Warten, Hoffen und vielleicht Beten – auch wenn er

vermutlich zeitweise das Gefühl hat: Gott hat uns vergessen. Und

manchmal ein Gespräch mit vertrauten Menschen. Seine große

Aufgabe ist es, nicht zu verzweifeln … bis die Wende eintritt und

es heißt: „Da gedachte Gott an Noah …“ (Gen 8,1).

Als die Wassermassen zurückgehen, da kann er wieder aktiv

werden: So, wie er sich auf die Katastrophe vorbereitet hat, so

bereitet er nun den Weg zurück in ein sich normalisierendes

Leben vor: Er wartet nicht nur ab, er tut, was er kann. Noah ist

für mich auch ein Beispiel dafür, dass wir in und nach den Krisen

unseres Lebens unsere „Vögel“ fliegen lassen müssen, wenn wir

endlich einmal wieder einen frischen, grünen Ölzweig in den

Händen halten wollen.

Dass es diesen grünen Zweig gibt, dass er schließlich wieder

„auf einen grünen Zweig kommt“, das bringt uns zum zweiten

Punkt – zu der Beobachtung, wie in diesen Kapiteln von Gott

erzählt wird.

VII. Gott ändert sich! (2)

Zunächst erzählt die alte Geschichte, dass Gott enttäuscht ist,

frustriert und zornig. Er bereut, dass er die Menschen geschaffen

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hat. Und will in seinem Zorn alles zerstören. Ein durch und durch

menschlicher Gedanke – Mancher wird sich darin selber erken-

nen: Da wollen wir etwas machen, etwas bauen vielleicht - und

wollen es gut machen. Aber es will nicht gelingen … und irgend-

wann ist unsere Geduld zu Ende und wir zerstören zornig, was

wir angefangen haben, weil es nicht so wird, wie wir es uns

vorstellen.

Auch bei Kindern habe ich das schon beobachtet: wenn es

nicht gelingt, aus Legosteinen oder aus Bauklötzen ein besonders

schönes Haus zu bauen – dann kann es passieren, dass so ein

„kleiner Baumeister“ zornig die Nerven verliert und alles wieder

über den Haufen wirft.

Wir lesen aber auch, dass Noah „Gnade findet vor dem Herrn“

(Gen 6,8 LÜ). Karl Barth hat deswegen Noahs Lebensgeschichte als

ein Thema der „Lehre von der »Vollkommenheit« der göttlichen

Geduld“ verstanden (KD II/1, 464f) und es also „vor Allem […] um

Gott selber [geht], der mit dieser Kreatur noch nicht fertig ist, der

mit ihr weiter zusammen sein und weiter an ihr handeln will, der

also, indem er ihr das Leben läßt, sich selber Raum schafft für

das, was er in seinem Verhältnis zu ihr [zukünftig] sein und tun

will“ (a.a.O.).

Nach der Sintflut schließt Gott einen Bund: „Ich gebe euch die

feste Zusage: „Ich will das Leben nicht ein zweites Mal vernich-

ten. Die Flut soll nicht noch einmal über die Erde herein

brechen. Das ist der Bund, den ich für alle Zeiten mit euch und

mit allen lebenden Wesen bei euch schließe. Als Zeichen dafür

setze ich meinen Bogen in die Wolken. Er ist der sichtbare Garant

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für die Zusage, die ich der Erde mache. Jedes Mal, wenn ich

Regenwolken über der Erde zusammenziehe, soll der Bogen in

den Wolken erscheinen, und dann will ich an das Versprechen

denken, das ich euch und allen lebenden Wesen gegeben habe“

(Gen 9,11-15).

Der Regenbogen ist das Zeichen für diesen Bund und erinnert

nicht nur uns: Gott macht sich sozusagen einen Knoten ins

Taschentuch, damit auch er diesen Bund nicht vergisst, dass

über allem Zukünftigen, auch über allen Katastrophen dieser

tröstliche Satz vom Anfang unseres Predigttextes stehen kann:

„Da gedachte Gott an Noah …“ – denn Gott schließt diesen Bund

mit Noah und seinen Söhnen und allen ihren Nachkommen (Gen

9,8), und nach der Sintflut heißt das natürlich: Mit allen

Menschen!

Dass dieser Bund allen Menschen gilt, ist merkwürdig. Denn

nach der Sintflut sagt Gott (als Noah ihm ein Opfer bringt) „zu

sich selbst: »Ich will die Erde nicht noch einmal bestrafen, nur

weil die Menschen so schlecht sind! Alles, was aus ihrem Herzen

kommt, ihr ganzes Denken und Planen, ist nun einmal böse von

Jugend auf.“ (Gen 8,21f GNB). Das klingt, wie es vor der Sintflut

klang.

Trotzdem verspricht er: „Ich will nicht mehr alles Leben auf der

Erde vernichten, wie ich es getan habe. Von jetzt an gilt, solange

die Erde besteht: Nie werden aufhören Saat und Ernte, Frost und

Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht«“ (Gen 8,21f GNB).

Ist das nicht merkwürdig: nach der Sintflut kommt Gott zu

demselben Urteil über die Menschen wie davor. Aber nun ist es

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kein vernichtendes Urteil mehr – sondern Gott schließt einen

Bund: Er ist nicht mehr der Zerstörer, sondern der Bewahrer.

Und das heißt: Gott ändert sich! Er ändert sich, um seine

Schöpfung als sein Gegenüber zu erhalten. Die Bibel endet nicht

nur mit einem barmherzigen Gott, sie beginnt im Grunde bereits

damit – mitten in einer Umwelt, der solche Gedanken absolut

fremd sind. Kann uns da noch wundern, dass er schließlich – für

uns! – in Christus Mensch geworden ist?

VIII. „Zu viel des Guten …“

Damit sind wir beim letzten Punkt: Wie ist das jetzt bei uns

Menschen mit „gut“ und „böse“, mit „gut oder böse“? Sind wir

Menschen „böse von Jugend an“? Ist das nicht eine Über-

treibung? Doch. Auch: „Urgeschichten übertreiben immer“ – um

unsere Wirklichkeit zu ihrer Wahrheit zu bringen (Jüngel).

Ich will dazu nur noch kurz – aber deutlich – zweierlei sagen:

Wer „das Gute im Menschen“ behauptet, wird zugestehen

müssen, dass dieses „Gute“ auf jeden Fall nicht „einfach so“ da

ist – es gibt zu viele furchtbare Beispiele in der Geschichte und in

der Zeitung, wozu Menschen bereit und fähig sind. Wir müssen

also der Frage auf der Spur bleiben: Wodurch lässt es sich för-

dern und entwickeln, was braucht es, dass Menschen Mitgefühl,

Rücksichtnahme, Barmherzigkeit und ein Gespür für Gerechtig-

keit entwickeln und nicht gewissenlos werden?

Trotzdem ist, unabhängig davon, natürlich die Frage absolut

berechtigt: ‚Geschieht denn nicht viel Gutes auf unserer Erde?‘

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‚Und gibt es nicht noch viel mehr guten Willen? Wollen wir nicht

das Gute und sogar das Beste aus unserer Welt herausholen?‘

Doch … aber leider meistens für uns selber. Ja, genau genommen

wollen wir des Guten zu viel und wir wollen es für uns. Mit

bitteren Konsequenzen: „… wer immer nur das Beste aus dem

Menschen und seiner Umwelt herausholen will, [für den wird

alles – Mitmenschen und Umwelt –] zum bloßen Material. Damit

beginnt auch schon die Geschichte des Bösen“ (Jüngel).

Der Ausdruck „Menschenmaterial“ gibt ein übles Beispiel,

hinter dem wir ahnen, was ich gerade andeute. Manchmal sagt

jemand zu einem anderen Menschen: „Ich will doch nur dein

Bestes“ – höchste Zeit zu antworten: „Du bekommst es aber

nicht!“

Und warum? Damit nicht eine Sintflut hereinbricht. Denn: Wo

alles zum bloßen Material eines anderen wird, hat nichts und

niemand mehr eigenständige Bedeutung oder einen selb-

ständigen Wert. So verliert Gottes Schöpfung ihren Reichtum an

Gestalten und Farben (Jüngel) … als wäre alles unter einer mono-

tonen, gleichförmigen Wasserflut. Hitler nannte es „Gleich-

schaltung“. Mao verpasste allen Chinesen einheitliche Kleidung

… Sie ahnen, was ich meine.

Es ist aber auch unsere Geschichte, „im Kleinen“ unseres

Alltags: Das Böse entsteht, wo wir „des Guten zu viel“ wollen

und es nur für uns selber wollen. Was aber Gott Noah und

seinen Söhnen nach der Sintflut in einem Segen zuspricht - „der

Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen“ (Gen 9,6) – das erfüllt

sich, wo wir nicht zulassen, dass dieses Böse, das „Zu-viel-des-

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Guten“ uns überflutet: Dieses Böse findet seine Grenze, wo wir

uns von Gott in unserem Wollen und Trachten begrenzen lassen

– und wo wir das Gute, das wir tun können, füreinander tun.

Amen.

__________________________________

Abkürzungen

LÜ - Lutherbibel (1984)

BigS - Bibel in gerechter Sprache (2006)

KD - Karl Barth, Kirchliche Dogmatik

GNB - Gute Nachricht Bibel (1997)

Literatur

Abschitt VI. folgt teilweise einer Predigt von Prof. Dr. Jan Christian Gertz am

30.01.2011 im Universitätsgottesdienst in Heidelberg - http://www.theologie.uni-

heidelberg.de/universitaetsgottesdienste/3001_ws2011.html

Agnes Heller, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 04/2014, nachzulesen unter

http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/41471/Der-Sinn-des-Lebens-ist-zu-

leben

Den Hinweis auf Karl Barth (Abschnitt VII.) verdanke ich der Predigtmeditation von

Michael Glöckner im Deutschen Pfarrerblatt 12/2013,

http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/dpb_print.php?id=3524

Den Grundgedanken in Abschnitt VIII. habe ich gefunden in der Predigt von

Eberhard Jüngel zu 1. Mose 8,1-12 (in „Unterbrechungen“, München 1989).