Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in...

12
Elke Thiel Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien Wo willst Du hin, fragen meine Freunde, pass gut auf Dich auf und lass von Dir hören! Albanien ist für viele unbekannt, selbst im Reisewetterbericht ist Shqiperi, wie die Albaner ihr Land nennen, zwischen Kroatien und Griechenland ein weißer Fleck. Von Februar bis Juli 2004 war ich Gastprofessorin an der Ökonomischen Fakultät der Universität Tirana. Gefördert wurde mein Aufenthalt durch die Stiftungsinitiative Johann-Gottfried-Herder, ein Gemeinschaftsprojekt von sechs deutschen Stiftungen. 1) Es war für mich eine einmalige Gelegenheit, das lange Zeit verschlossene Land mit seinen freundlichen Menschen, landschaftlichen Schönheiten, den Spuren einer weit zurück reichenden europäischen Geschichte und großen Transformationsproblemen etwas näher kennen zu lernen. Hierfür bin ich den Trägern der Johann-Gottfried-Herder-Initiative außerordentlich dankbar. Freundlicher Empfang Anfang Februar flog ich von München über Wien nach Tirana. Das Vorhaben der Lufthansa, Tirana von München aus direkt anzufliegen, soll bisher insbesondere daran gescheitert sein, dass die LH die Sicherheitsüberprüfungen am Flughafen „Mutter Teresa“ nicht mit eigenem Personal durchführen darf. Das Wetter war klar, vom Flugzeug aus sah ich die tiefen Klippen des Balkan und auf den Bergen Schnee. Am Flughafen schienen ein paar zerzauste Palmen zu versichern: Du bist im Süden. In der Sonne war es schon schön warm; im Schatten aber gleich wieder kalt. Bei der Passkontrolle warteten alle Nicht-Albaner in einer langen Schlange; Westeuropäer waren kaum dabei. Es dauerte, denn jeder Pass wurde genau überprüft, wohl auch um die Kompetenz albanischer Grenzbehörden zu demonstrieren. Die Europäische Union fordert eine effektivere Kontrolle, die illegale Einwanderer, die von Albanien aus den Weg nach Westen suchen, daran hindert. Ich stand ganz hinten. Während ich darüber nachdachte, wie vorteilhaft jetzt ein Ausgang für EU Citizens wäre, winkte mich jemand an einen freien Schalter. Ich bezahle noch rasch die zehn Euro, die man bei jeder Ein- und Ausreise zahlen muss, und bin angekommen. Ein Kollege von der Fakultät holt mich ab und in einer halben Stunde sind wir bereits mitten in Tirana. Das Hotel, in dem ich mich für die ersten zwei Tage einquartiert hatte, liegt direkt am Skanderbeg Platz, und dort ist die wechselvolle albanische Geschichte sehr präsent. In der Mitte die Reiterstatue des Nationalhelden, nach dem der Platz benannt ist. Er hat 1443 die albanischen Stammesfürsten im Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner sagen, Europa verteidigt. Die Schlacht auf dem Amselfeld (1398) war damals bereits verloren. Albanien war das letzte Land, das von den Türken erobert wurde, blieb dann aber auch am längsten unter osmanischer Herrschaft. Auf der linken Seite des Platzes die im 18. Jahrhundert erbaute Ethem Bey Moschee und der Uhrenturm. Rechts markiert ein buntes Kinderkarussell die Stelle, an der bis 1991 die Statue Enver Hoxhas stand.

Transcript of Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in...

Page 1: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Elke Thiel Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien

Wo willst Du hin, fragen meine Freunde, pass gut auf Dich auf und lass von Dir hören! Albanien ist für viele unbekannt, selbst im Reisewetterbericht ist Shqiperi, wie die Albaner ihr Land nennen, zwischen Kroatien und Griechenland ein weißer Fleck.

Von Februar bis Juli 2004 war ich Gastprofessorin an der Ökonomischen Fakultät der Universität Tirana. Gefördert wurde mein Aufenthalt durch die Stiftungsinitiative Johann-Gottfried-Herder, ein Gemeinschaftsprojekt von sechs deutschen Stiftungen. 1) Es war für mich eine einmalige Gelegenheit, das lange Zeit verschlossene Land mit seinen freundlichen Menschen, landschaftlichen Schönheiten, den Spuren einer weit zurück reichenden europäischen Geschichte und großen Transformationsproblemen etwas näher kennen zu lernen. Hierfür bin ich den Trägern der Johann-Gottfried-Herder-Initiative außerordentlich dankbar.

Freundlicher Empfang

Anfang Februar flog ich von München über Wien nach Tirana. Das Vorhaben der Lufthansa, Tirana von München aus direkt anzufliegen, soll bisher insbesondere daran gescheitert sein, dass die LH die Sicherheitsüberprüfungen am Flughafen „Mutter Teresa“ nicht mit eigenem Personal durchführen darf. Das Wetter war klar, vom Flugzeug aus sah ich die tiefen Klippen des Balkan und auf den Bergen Schnee. Am Flughafen schienen ein paar zerzauste Palmen zu versichern: Du bist im Süden. In der Sonne war es schon schön warm; im Schatten aber gleich wieder kalt.

Bei der Passkontrolle warteten alle Nicht-Albaner in einer langen Schlange; Westeuropäer waren kaum dabei. Es dauerte, denn jeder Pass wurde genau überprüft, wohl auch um die Kompetenz albanischer Grenzbehörden zu demonstrieren. Die Europäische Union fordert eine effektivere Kontrolle, die illegale Einwanderer, die von Albanien aus den Weg nach Westen suchen, daran hindert. Ich stand ganz hinten. Während ich darüber nachdachte, wie vorteilhaft jetzt ein Ausgang für EU Citizens wäre, winkte mich jemand an einen freien Schalter. Ich bezahle noch rasch die zehn Euro, die man bei jeder Ein- und Ausreise zahlen muss, und bin angekommen. Ein Kollege von der Fakultät holt mich ab und in einer halben Stunde sind wir bereits mitten in Tirana.

Das Hotel, in dem ich mich für die ersten zwei Tage einquartiert hatte, liegt direkt am Skanderbeg Platz, und dort ist die wechselvolle albanische Geschichte sehr präsent. In der Mitte die Reiterstatue des Nationalhelden, nach dem der Platz benannt ist. Er hat 1443 die albanischen Stammesfürsten im Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner sagen, Europa verteidigt. Die Schlacht auf dem Amselfeld (1398) war damals bereits verloren. Albanien war das letzte Land, das von den Türken erobert wurde, blieb dann aber auch am längsten unter osmanischer Herrschaft.

Auf der linken Seite des Platzes die im 18. Jahrhundert erbaute Ethem Bey Moschee und der Uhrenturm. Rechts markiert ein buntes Kinderkarussell die Stelle, an der bis 1991 die Statue Enver Hoxhas stand.

Page 2: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Begrenzt wird der Platz von stattlichen Regierungsgebäuden, die sich entlang des Boulevard Deshmoret e Kombit (für die Helden des Volkes) fortsetzen. Sie stammen aus den 1930er Jahren, als Albanien unter italienischem Einfluss stand. Im Hintergrund sieht man die bunt angemalten Fassaden, die sich Tiranas Bürgermeister, Edi Rama, hat einfallen lassen, um der Stadt ein freundlicheres Bild zu geben. Illegal errichtete Gebäude und Verkaufsbuden in den Parks und entlang der Lana wurden abgerissen.

Zur Begrüßung schauen freundliche Menschen vorbei oder rufen an, um mir ihre Hilfe anzubieten; Tiraner oder Deutsche, die schon länger in Tirana sind. Viele werden später gute Freunde. Über eine albanische Freundin bekomme ich eine Wohnung. Sie liegt fünf Minuten von der Fakultät entfernt am Rande der Studentenstadt. Der Besitzer, Bujar, wohnt mit seiner Familie gleich nebenan in einer der niedrigen, grün bewachsenen Villen, die einmal den Charme des Viertels ausgemacht haben und nun immer mehr von hochschießenden Wohnblöcke mit sieben bis acht Stockwerken verdrängt werden. Es gibt keine Bauordnung. Meine Wohnung liegt in einem Neubau auf dem gleichen Grundstück im ersten Stock. Der zweite Stock ist nur im Rohbau fertig und wird vorläufig nicht ausgebaut. In Albanien baut man, wie das Geld gerade reicht. Im Erdgeschoss befindet sich Bujars Restaurant „Brovina“.

Meine Wohnung ist sehr geräumig, eigentlich zu groß für mich, aber sie hat Vorteile: modern ausgestattet, insbesondere das Bad, neutral eingerichtet, ein Arbeitszimmer und Internetanschluss. Die meiste Zeit werde ich zu Hause arbeiten, denn an der Universität sind die Arbeitsbedingungen schlecht. Wichtig war für mich außerdem, die Vermieter immer gleich zur Hand zu haben, wenn etwas fehlte oder nicht funktionierte, was öfter vorkam. Die Freundlichkeit ist groß. Alles, was ich noch brauche, bekomme ich, vom Teekessel bis zu einem komfortablen Schreibtisch. Das Restaurant, ein Studentenlokal, wurde mein Zufluchtsort, als es kurz nach meiner Ankunft bitter kalt wurde, und Strom/Heizung und Wasser für etwa zwei Tage so gut wie ganz ausfielen. Und ich habe dort auch fröhliche Feste mitgefeiert.

Kälteeinbruch und andere Schwierigkeiten

Tirana liegt auf der Höhe von Neapel, etwa 200 Meter über dem Meeresspiegel. Es ist durch eine Hügelkette vom Meer abgeschirmt. Das Klima wird durch einen Gebirgszug bestimmt, der unmittelbar im Osten ansteigt und mit dem Dajti, dem Hausberg der Stadt, 1600 m erreicht. Mitte Februar gab es einen Kälteeinbruch, die Hänge oberhalb der Stadt waren eines Morgens weiß. Nachts sanken die Temperaturen auf minus 7–8 Grad.

Wie meist in südlichen Ländern ist der Winter hier ungemütlich, man ist nicht so gut darauf eingestellt wie bei uns. Geheizt wird mit der Klimaanlage, was teuer ist und kaum Wärme bringt. Kohleöfen hat man nicht mehr; sie gelten als überholt, obwohl sie doch eigentlich in einem Land mit so häufigen Stromausfällen wie in Albanien eine gute Sache wären. Die Elektrizitätsversorgung ist eines der großen Probleme des Landes. Fast jeden Tag gibt es in Tirana für ein paar Stunden keinen Strom. Auf dem Land soll es noch wesentlich schlimmer sein. Öffentliche Gebäude, darunter auch die Universität, werden grundsätzlich nicht geheizt. Bleibt der Strom länger weg, ist auch die Wasserversorgung nicht sicher, da die Pumpen nicht gehen. Das Internet, für mich in Albanien das wichtigste Kommunikationsmittel, fällt dann natürlich, aber auch sonst, häufig aus.

Eigentlich hätte Albanien genug Wasserkraft, um das Land mit Strom zu versorgen. Aber die Kraftwerke sind – wie alle Industrieanlagen aus der kommunistischen Zeit – veraltet. Das staatliche

Page 3: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Elektrizitätsunternehmen, KESH, verwaltet die Knappheit, indem es mal in diesem und mal im nächsten Stadtteil den Strom abschaltet. Es gibt keine verlässlichen Stromzähler. Der Verbrauch wird in nicht nachzuvollziehender Weise geschätzt. Dies führt dazu, dass viele ihren Strom nicht bezahlen, da sie ja sowieso nur die halbe Zeit welchen bekommen. KESH rechnet umgekehrt. Aus einem Bezirk gehen nur soundso viel Stromeinnahmen ein; also hat dieser Bezirk auch nur Anrecht auf soundso viel Stunden Strom und danach wird abgedreht.

Neben der Kälte macht mir die Umweltverschmutzung zu schaffen. Die Luftverschmutzung ist in Tirana zehnmal höher als erlaubt. Auf vielen Straßen ist der Asphalt so kaputt, dass der Staub bei jedem Windstoß hochfliegt. Es staubt von den vielen Baustellen und rußt aus den Auspuffen der alten Mercedes-Diesel, die die Albaner so lieben. Es gibt keine organisierte Müllabfuhr. Die Straßen sind zwar in der Stadt jeden Morgen sauber gefegt, auch eine Errungenschaft von Bürgermeister Edi Rama. Doch der Plastikmüll am Straßenrand wird vom Wind gleich wieder in der Gegend verstreut, vor allem die hauchdünnen Einkaufsbeutel, in die hier alles verpackt wird.

Gefährlich sind die Löcher auf Straßen und Bürgersteigen. Man muss immer auf den Boden schauen und, wenn es dunkel ist, am besten eine Taschenlampe mitnehmen. Ich trage fast nur die kräftigen flachen Schuhe, die ich vorsichtshalber mitgebracht habe. Die modischen Tirane-r-innen gehen in spitzen Schuhen mit hohen spitzen Absätzen. Wie machen die das bei diesen Wegen? Meine albanische Freundin, selbst immer sehr elegant, sagt: In diesem Punkt gibt es einen Wettbewerb; man muss das machen.

Integrimi Europian

Albanien war unter dem kommunistischen Regime Enver Hoxhas fast 50 Jahre von der Außenwelt isoliert; voraus gingen fast fünf Jahrhunderte osmanischer Herrschaft. Nun bemüht sich das Land, wieder Anschluss an den Westen zu finden und das Stichwort ist „Integrimi Europian“, die Europäische Integration Albaniens. Albanien ist Partner im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAp), den die Europäische Union für die Staaten des westlichen Balkans eingeführt hat. Ziel ist eine stufenweise Integration in das europäische System, was die Option einer EU-Mitgliedschaft einschließt, wenn die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllt werden.

Im Rahmen von SAp fordert die EU von Albanien grundlegende Reformen. Ein enormes Hindernis für die Entwicklung des Landes ist die Korruption in Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Viele Reform- und Gesetzesmaßnahmen wurden zwar inzwischen erlassen, werden aber nicht durchgeführt, da einflussreiche Interessengruppen dies verhindern. Manchmal fehlt es in Justiz und Verwaltung auch einfach an notwendigem Wissen und Erfahrung. Ausbildung und Training, oder im EU-Jargon „Institution Building“, sind ein Schwerpunkt ausländischer Unterstützung für Albanien. Die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) führt verschiedene Projekte dieser Art durch, zum Teil in Zusammenarbeit mit dem neu geschaffenen albanischen Integrationsministerium.

Europäische Integration war auch das Thema meiner Lehrveranstaltungen in Tirana und der Vorträge, die ich an anderen albanischen Universitäten gehalten habe. Das Interesse ist groß, die Kenntnis über die Europäische Union, ihre Entstehung und Ziele, Verträge, Institutionen und Zuständigkeiten aber noch sehr gering. Bei manchen scheint auch der Eindruck zu bestehen, dass die EU von Albanien viel zu viel verlangt. Warum brauchen Albaner nun, nach der EU-Osterweiterung, auch noch ein Visum für Polen? Albaner möchten reisen und arbeiten gern im Ausland, warum lässt man sie nicht? Ich erkläre, dass es bei der albanischen Regierung liegt, Verhältnisse zu schaffen, die der EU eine Aufhebung der Visapflicht erlauben würden. Eine effektivere Kontrolle von Schmuggel und anderen illegalen Machenschaften durch die albanischen Behörden ist ein zentrales Brüsseler Anliegen. Die Anforderungen der EU zu erfüllen, mag für Albanien schwer sein, sage ich, aber die Albaner tun es nicht als Gefallen für die EU, sondern für sich selbst.

Die Europäische Kommission hat Albanien im Stabilisierungs- und Assoziierungsbericht 2004 ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt: Kaum etwas hat sich bewegt, das politische Klima im Land lässt keine Reformen zu. 2)

Rivalitäten verhindern -Reformen

Im Februar 2004 versuchte der Oppositionsführer der Demokratischen Partei, Sali Berisha, die sozialistische Regierung unter Fatos Nano durch Demonstrationen zum Rücktritt zu zwingen. Nachdem es am 7. Februar zu einer gefährlichen Konfrontation zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen war, worüber auch das deutsche Fernsehen berichtete, verlief die 14 Tage später angesetzte

Page 4: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Demonstration friedlich. Im Vorfeld hatten EU-Botschafter Lutz Salzmann und der amerikanische Botschafter, James Jeffrey, Berishas Vorgehensweise scharf kritisiert. Die Regeln der Demokratie müssten eingehalten werden. Ein Umsturzversuch würde das Vertrauen der Investoren zunichte machen und der albanischen Wirtschaft schweren Schaden zufügen.

Zwischen Nano und Berisha gibt es eine kaum zu überwindende persönliche Feindschaft. Beide haben eine kommunistische Vergangenheit: Nano in der Partei und Berisha als Arzt Enver Hoxhas. 1992 wurde Berisha erster demokratisch gewählter Staatspräsident und brachte Nano, der in der Wendezeit die Regierung geführt hatte, mit Korruptionsvorwürfen ins Gefängnis. Als die fragwürdigen Finanz- oder Pyramidengeschäfte, die Berisha mitzuverantworten hat, den Albanern ihre Ersparnisse raubten und 1997 bürgerkriegs-ähnliche Unruhen ausbrachen, kam Nano wieder frei und konnte seine Position in der inzwischen sozialistischen Partei festigen.

Das gespannte Verhältnis zwischen Regierungschef und Oppositionsführer verhindert eine konstruktive Zusammenarbeit bei der Umsetzung dringender Reformen. Beide sind in erster Linie an der Erhaltung ihrer Macht interessiert. Wie der Albanian Daily News urteilt: „Some believe Albania would be better off without either leader“. Innerhalb der Sozialistischen Partei spielt sich außerdem ein Machtkampf zwischen Nano und dem früheren sozialistischen Premierminister, Ilir Meta, ab.

Im nächsten Jahr sind in Albanien Parlamentswahlen. Bei den Kommunalwahlen 2003 gab es große Unstimmigkeiten, unter anderem bei der Registrierung der Wähler und der Auszählung der Stimmen. Mit Unterstützung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wird an einer Neufassung des Electoral Codes in den kritischen Punkten gearbeitet. Bei den Wahlen 2005 wird sich zeigen müssen, ob sich das System verändern kann. Vorher wird sich in Sachen „europäische Integration” kaum etwas tun. Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU, das seit Januar 2003 verhandelt wird, ist technisch im Wesentlichen abgeschlossen. Aber es wird wohl erst unterzeichnet werden, wenn die Wahlen ohne Beanstandungen verlaufen sind.

Eine „einmalige“ Sprache

Albanisch ist eine einmalige Sprache, wie das Ungarische mit keiner anderen Sprache verwandt. Die Albaner führen ihre Sprache auf die Illyrer zurück, von denen sie abstammen.

Sie waren Nachbarn der Griechen. Der Norden Albaniens war so gut wie ausschließlich von illyrischen Stämmen bewohnt; im Süden scheinen sich die Siedlungsgebiete vermischt zu haben. Dort findet man Spuren der Illyrer wie auch der Griechen.

Ich nehme ein paar Stunden, um wenigstens eine Idee von der Struktur dieser einmaligen Sprache zu bekommen. Um korrekt zu sprechen, müsste man die Grammatik mit ihren vielen Formen beherrschen. Auch die richtige Aussprache ist nicht ganz leicht. Das albanische Alphabet hat 36 Buchstaben, wozu auch Doppellaute wie ll, nj, rr, sh, xh und zh gehören. Jeder Buchstabe wird gesprochen, auch das angehauchte „h“! Es gibt mindestens fünf unterschiedliche S-ähnliche Zischlaute: c, s, dh, th, x. Reine Zungenbrecher sind ftohte (kalt) und ngrohte (warm). Fremdwörter und Namen werden phonetisch geschrieben, und so finde ich in einem Buchladen Cvajg, Gete und Zigmund Frojd (Zweig, Goethe und Freud).

In der Türkenzeit durften die Albaner die eigene Sprache offiziell nicht benutzen. Es gibt kaum schriftliche Überlieferungen. Die erste Schule, in der heimlich Albanisch unterrichtet wurde, entstand Ende des 19. Jahrhunderts in Korca, im Südosten nahe der Grenze zu Griechenland gelegen. Es war eine Mädchenschule, wohl damit es weniger auffiel, und die Mädchen gaben das Gelernte dann zu Hause an ihre Brüder weiter. Von Korca aus wurde auch eine in London gedruckte albanische Bibelübersetzung in Umlauf gebracht, von Christen und Moslems gleichermaßen als Möglichkeit begrüßt, die eigene Sprache zu lesen

Die lateinische Schreibweise wurde 1908 eingeführt. Es war ein politischer Schritt, um gegenüber Slawen, Griechen und Türken die albanische Identität zu unterstreichen. Damit legten sich die Albaner mit den Jungtürken an, auf die sie wegen der verkündeten Reformpolitik zunächst gesetzt hatten. Albanische Zeitungen wurden verboten und Schulen geschlossen. Unter zunehmendem Druck von Außen versuchte das osmanische Reich wenigstens die albanischen Provinzen zu retten. Albanien saß damit zwischen allen Stühlen und musste bei der Aufteilung des Türkenreichs sehr um seine staatliche Existenz kämpfen.

Page 5: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Niemand kennt Karl May

Wissen die Albaner eigentlich, dass das Bild über ihr Land in Deutschland vor allem durch das Buch „Durch das Land der Skipetaren“ von Karl May geprägt wurde? Wen immer ich frage, die Antwort ist „nein“. Viele deutsche Schriftsteller wurden ins Albanische übersetzt. Aber von Karl May hat auch die freundliche Buchhändlerin nie gehört. Alle kennen dagegen Edith Durham, die „Queen of the Albanian Mountains“, und natürlich Lord Byron. Beide haben zu ihrer Zeit mit viel Sympathie über Albanien geschrieben.

M. Edith Durham, Tochter einer angesehenen englischen Familie, hat seit 1900 den Balkan bereist, für sie wohl auch eine Emanzipation aus dem Leben, das von jungen Frauen im viktorianischen Zeitalter erwartet wurde. Nach Aufenthalten in Montenegro und Serbien entdeckte sie ihre Liebe für Albanien, das sie bis zu ihrem Tod im November 1944 regelmäßig besuchte. Sie hat ihre Eindrücke in vielen „wilden“ Büchern festgehalten, die hier sehr verbreitet sind. Ich kaufe „Albania and the Albanians“, Selected Articles and Letters 1903–1944“ 3).

Mit ihren Albanienberichten, die auch im britischen Foreign Office gelesen wurden, hat die Autorin für ein unabhängiges (Groß-) Albanien gekämpft – und sich damit den Verdacht eingehandelt, mit Österreich-Ungarn zu kooperieren. Um den deutschen Einfluss einzudämmen, unterstützten die Briten bei der Aufteilung des Balkans die serbische Seite, zusammen mit Frankreich und Russland. Harry Hodgkinson erinnert im Einführungskapitel des Buches an die damalige europäische Großmachtkonstellation mit ihren fatalen Folgen.

Sehr bekannt und geschätzt ist Lord Byron, der 1809 auf dem Pferd von Janina nach Tepelena reiste. Byron war Gast des mächtigen Ali Pascha von Tepelena, der sich im Kampf gegen die Stammesfürsten im südlichen Teil Albaniens ein großes „Paschalik“ geschaffen hatte, zu dem auch das heute griechische Ioannina gehörte. Nachdem ihm das gelungen war, strebte er eine Vereinigung mit Shkodra an, dem zweiten großen Paschalik, das im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts im nördlichen Albanien unter der Familie der Bushatis entstanden war. Die Herrschaft von Ali Pascha war ebenso grausam wie die der Türken. Er war ein Tyrann, sagen meine albanischen Gesprächspartner. Er wird aber auch als die Figur betrachtet, die nach Skanderbeg noch einmal versucht hat, die Albaner zu einigen.

Um das Land wieder fester in den Griff zu bekommen, wurde Albanien ab 1865 in Verwaltungseinheiten mit türkischen Gouverneuren und Garnisonen aufgeteilt, Shkodra, Monastir (Mazedonien), Janina und Kosovo. Zuvor hatte die Pforte alle albanischen Stammesfürsten zu einem Versöhnungsfest eingeladen, und sie dort umgebracht. Ismail Kadare hat das Ereignis in der Erzählung „Die Festkommission“ festgehalten. 4)

Hoxha’s Bunker

Der Film Colonel Bunker wurde schon vor einigen Jahren gedreht, aber noch nicht öffentlich gezeigt. Die Geschichte, die dort abläuft, hat einen wahren Hintergrund. Der Colonel erhält den Auftrag, zur Verteidigung Albaniens den Aufbau der kleinen Zwei-Mann-Bunker zu organisieren, die sich wie eine Kette durch das ganze Land ziehen. Sie sehen wie eine Art Iglu aus und sind einfach überall. Im Film ist eine Szene, wie einer der Bunker auf dem Friedhof errichtet wird, gegen den verzweifelten Widerstand einer Witwe, die das Grab ihres Mannes schützen will.

Page 6: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Colonel Bunker kommt seiner Aufgabe zunächst mit Akribie und Überzeugung nach, bis ihm klar wird, wie unsinnig das Unternehmen ist. Man sieht, wie die ganze Bevölkerung mit ihren Händen die Bunker bauen muss; alles andere liegt brach. Junge Leute, die sich zu einem Rendezvous in den Bunker zurückziehen, werden im Bunker erschossen – so soll es tatsächlich gewesen sein. Der Colonel bittet, aus seiner Aufgabe entlassen zu werden; man lässt ihn nicht. Er wird erniedrigt und gequält. Als das kommunistische Regime zu Ende geht, wird er befreit, doch sein Leben ist zerstört.

Bei einer Veranstaltung der Deutschen Botschaft liest der Schriftsteller Fatos Kongoli vor, übersetzt von Joachim Röhm (aus Stuttgart). Bisher in Deutschland erschienen ist „Die albanische Braut“, Fischer Taschenbuch Verlag. Das Buch beeindruckt mich sehr und hilft mir zu verstehen, wie es in der kommunistischen Zeit wohl gewesen sein mag. Es ist die Geschichte eines Mannes, der 1990 im letzten Moment das Schiff wieder verlässt, mit dem er nach Italien fliehen wollte. Er geht zurück und erinnert sich. Man erfährt, wie bedrückend die kommunistische Herrschaft war, wie aussichtslos es wurde, wenn jemand den persönlichen Rachegefühlen eines der Mächtigen ausgesetzt war, und wie schnell und tief auch Mächtige stürzen konnten. Die Menschen in Albanien sprechen wenig über diese Zeit.

Und die Religion?

Wir wissen nicht, was wir sind, sagt ein junger Albaner, als ich ihn nach seiner Religion frage. In der kommunistischen Verfassung stand, Albanien ist ein atheistischer Staat. Religion wurde nicht ausgeübt, Kirchen und Moscheen zerstört. Inzwischen wurden viele mit ausländischer Hilfe von den Religionsgemeinschaften wieder aufgebaut. Die Menschen rechnen sich meist der Religion zu, der die Familie früher einmal angehörte. Man geht davon aus, dass etwa 60% der Bevölkerung muslimisch sind, 20% orthodox und 10–15% römisch-katholisch. Es gibt keine genauen Zahlen. Unter Muslimen ist der Orden der Bektashi relativ stark verbreitet, eine liberale und weltoffene Auslegung des Islams. Nach meinem Wissen handelt es sich dabei um den aus Anatolien (Konja) stammenden Derwish-Orden, der in der Türkei seit 1925 verboten ist. Dies bestätigt auch das Lexikon, das ich zu Rate ziehe. Albanische Bektashi betrachten ihre Glaubensrichtung jedoch als etwas, das in Albanien hervorgebracht wurde, und begründen gerade auch damit ihre Anhängerschaft.

Die Unabhängigkeit des eigenen Glaubens scheint für das so lange von Fremden beherrschte Land ein wichtiger Bestandteil albanischer Identität zu sein. Die orthodoxe Kirche hat in den 1920er Jahren ihre Unabhängigkeit vom griechischen bzw. serbischen Patriarchat durchgesetzt und legt großen Wert darauf, dass ihre Kirchen byzantinisch und nicht etwa griechisch sind. Die ausdrückliche Distanzierung von der griechischen Kirche deutet an, wie schwierig die Beziehungen zwischen diesen beiden Nachbarländern nach wie vor sind. Auf beiden Seiten gibt es Minderheitenprobleme.

Shkodra im Norden Albaniens stand zeitweise unter venezianischem Einfluss; die Jesuiten und Franziskaner spielten und spielen hier insbesondere auch im Schulwesen eine wichtige Rolle. Kurz vor der Macht-übernahme der Kommunisten wurden alle Kirchendokumente aus den Klöstern in den Vatikan gebracht. Es ist jedoch nicht so, dass man einzelne Regionen jeweils einer Religion zuordnen könnte. Die Islamisierung fand im ganzen Land statt. Sie begann Anfang des 18. Jahrhunderts: Wer Moslem wurde, bekam Vergünstigungen, zum Beispiel Land, und musste weniger Steuern bezahlen. Nach 200 Jahren türkischer Herrschaft hatte die Bevölkerung die Hoffnung, „nach Europa“ zurückzukehren, verloren, und man arrangierte sich, erklärt einer meiner albanischen Gesprächspartner.

Unterschiedliche Religionszugehörigkeiten spielen für die meisten Albaner keine Rolle. Sie tolerieren den Glauben des anderen und die Albaner sind stolz auf ihre religiöse Toleranz. Es gibt viele Mischehen. Als ich Ostern für ein paar Tage nach München fuhr, sagte jemand: Ostern feiern wir auch; meine Frau und meine Söhne sind katholisch, ich bin Muselmann. Begangen werden die großen Festtage aller drei Religionsgemeinschaften, das heißt, die Tage sind arbeitsfrei.

Mit dieser liberalen Einstellung ist Albanien aber auch ein offenes Betätigungsfeld für „Missionsarbeit“ geworden. Die Zeugen Jehova haben ein Zentrum in Tirana errichtet. Jungen Muslimen wird eine Ausbildung in arabischen Staaten angeboten und sie kehren von dort als Fundamentalisten zurück. Ich sehe auf der Straße immer wieder einzelne junge Frauen mit einem strengen Kopftuch, begleitet von einem streng blickenden jungen Mann. Es gibt Bestrebungen, eine muslimische Partei zu gründen, was aber nach albanischem Gesetz nicht erlaubt ist.

Page 7: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Kinderhäuser und kleine Künstler

Ganz in meiner Nähe liegt eine kleine Villa mit Garten, in der ein Heim für Straßenkinder untergebracht ist. Ich komme jeden Tag daran vorbei. Man kennt mich dort offensichtlich schon, denn in dem kleinen Viertel hat sich meine Anwesenheit schnell herumgesprochen. Eines Mittags werde ich herein gebeten: Ob ich mir das Haus nicht einmal ansehen möchte?

An zwei Tischen sitzen die Kinder gerade beim Essen. Sie haben zum Teil ihre Eltern noch, die sie aber nicht bei sich haben wollen oder oft nicht können. In dem Heim, das von den Niederlanden finanziert wird, wird auch für den Schulbesuch und die Erledigung der Hausaufgaben gesorgt. Alles ist einfach, aber ordentlich. Ich hatte zufällig den Fotoapparat dabei und fragte, ob ich ein paar Aufnahmen machen dürfe. Das Hallo war groß, als ich den Kindern dann ihr Konterfei im Display zeigte.

Ich habe die Fotos farbig ausgedruckt und im Copyshop auf einen Karton mit einer Folie aufziehen lassen. Jeder bekam sein Bild und ich erhielt ein vielstimmiges Faleminderit, d. h. Dankeschön. Bei solchen Gelegenheiten hätte ich mir gewünscht, selbst etwas besser Albanisch zu sprechen. Ein paar der Kinder besuchten mich später und wir tranken Limonade. Was wollen sie einmal werden? Ein kleiner Junge sagt stolz „Artist“, ein kleines Mädchen „Sängerin“. Zwei Schwestern wollen Lehrerin bzw. Zahnärztin werden. Für den zweiten Berufswunsch meine ich später auch den Grund zu wissen: Als ich das Mädchen das nächste Mal treffe, wurde ihr gerade ein Zahn gezogen.

Bei einem von der Deutschen Botschaft eingerichteten Jour Fixe lernte ich die beiden Leiter eines anderen Kinderhauses kennen, das mit deutschen Stabilitätspaktmitteln 5) und Unterstützung des Landes Thüringen aufgebaut wurde. Dort werden etwa 80 Kinder betreut; sie gehen zur Schule, erhalten Hilfe bei den Hausaufgaben und andere Anleitungen, bekommen eine medizinische Versorgung und machen gemeinsame Ausflüge. Soweit möglich, sind sie abends bei ihren Eltern. Es gibt aber auch Schlafräume für Kinder, die gar kein Zuhause haben.

Ich war Ende Juni dort, als der bisherige deutsche Leiter nach fünfjähriger Tätigkeit verabschiedet wurde. Die Kinder hatten ein Programm vorbereitet, alles kleine Künstler, die selbstverfasste Lieder und Gedichte vortrugen. Man sieht ihnen an, dass sie in dem Haus viel Zuwendung und Liebe bekommen. Die Stabilitätspakthilfe war eine Art Anschubfinanzierung, die nun eingestellt wird. Es wird versucht, andere Geber zu finden; die Schweiz beteiligt sich, aber die Finanzierung steht auf unsicherem Fuß. Der albanische Staat soll bisher leider nicht bereit gewesen sein, auch nur einen kleinen Teil der Ausgaben zu übernehmen.

Der zerrissene April

In den abgelegenen Berggegenden im Norden Albaniens gilt immer noch der Kanun, früher eine Art Verhaltenskodex, der das Leben in der Gemeinschaft regelte. Heute wird der Begriff nur noch für die Blutrache verwendet. Im Albanian Daily News lese ich, dass etwa 600 Kinder das Haus nicht verlassen können, da sie in einen Blutrachefall verwickelt sind. Es werden „sichere“ Heime eingerichtet, in denen sie Unterricht bekommen. Gefährdet sind auch die Kinder, die nach dem Kanun Blutrache begehen müssen. Wenn man durch Tirana geht, kann man es kaum glauben, aber es soll auch hier ein Haus geben, das die

Page 8: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Einwohner nicht verlassen können, da ihnen Blutrache droht. Die Zuwanderung aus dem Norden bringt die Blutrache in die Stadt. Es wird berichtet, dass ein bedrohtes Kind aus dem Kinderhaus samt seiner Familie mit Hilfe der OSZE an einen sicheren Platz gebracht werden musste.

Ismail Kadare, aus dessen Büchern ich viele Einblicke in albanische Traditionen und Zusammenhänge gewonnen habe, erzählt in „Der zerrissene April“ (erschienen bei dtv) das Schicksal eines Betroffenen. Er hat Blutrache ausgeführt und nach dem Kanun nun noch 30 Tage Schonzeit, bevor er damit rechnen muss, dass nun an ihm Rache genommen wird. In dieser Zeit laufen genau festgelegte Rituale ab. Er muss an der Beerdigung des von ihm Getöteten und dem anschließenden Beerdigungsessen teilnehmen und verschiedene andere Pflichten erfüllen. Wenn die Frist abgelaufen ist, wird er sich in einem der dafür bestimmten Türme verstecken müssen, den er nicht mehr verlassen darf. Die 30 Tage „zerreißen“ den Monat April, den kommenden Frühling wird er nicht mehr in Freiheit erleben. Bedrückend sind vor allem auch die Verkettungen, die zu der Verfeindung der beiden Familien geführt haben, zu erklären nur mit den Zwängen des Kanun.

Das albanische Hinterland

Neben meiner Lehrtätigkeit in Tirana habe ich an verschiedenen anderen albanischen Universitäten Vorträge gehalten, für mich eine willkommene Gelegenheit, das Land kennen zu lernen, auf das ich immer neugieriger wurde. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nicht empfehlenswert. Ich fand einen zuverlässigen Fahrer, der mich fuhr, wie fast immer in Albanien mit einem alten Mercedes. Die Straßen sind schlecht, und auch wenn die Entfernungen in diesem kleinen Land kurz sind, braucht man Zeit.

Ende April fahre ich nach Korca. Die Fahrt führt zunächst durch das Gebirge zwischen Tirana und Elbasan. Die Straße war für einige Wochen durch einen Erdrutsch infolge der starken Regengüsse vom März nicht passierbar, wurde dann aber ein paar Tage vor unserer Fahrt wieder geöffnet. Sonst hätten wir den Umweg über Durres nehmen müssen, um von dort bereits der Route der römischen Via Egnatia durch das Shkumbini-Tal zu folgen, die wir nun in Elbasan erreichen. Die Strecke geht weiter zum Ohrid-See und biegt dann nach Korca ab.

Auf der Fahrt von Tirana nach Elbasan sehe ich zum ersten Mal das albanische Hinterland. Der Blick reicht weit über grün bewachsene Berge, kahle, sehr steile Felsabhänge und Strecken starker Bodenerosion. Das Land ist nicht erschlossen, es gibt keine Straßen zu den Dörfern, die ich verstreut sehe. Wie leben die Menschen dort, frage ich, Schule, medizinische Versorgung, alles ist ein Problem. Die jungen Leute ziehen nach Tirana. Die Armut in den Landgebieten ist groß.

In der kommunistischen Zeit wurde das Land durch Terrassenanbau für die Landwirtschaft zu nutzen versucht. Sogar an den Steilhängen sind kleine Felder angelegt. Alles wird mit der Hand bearbeitet. Auch in der Ebene sehe ich keine Maschinen im Einsatz. Bei einer EU-Veranstaltung treffe ich einen Iren, der für eine NGO arbeitet und versucht, landwirtschaftliche Genossenschaften und Maschinenpools zu organisieren, was durch die Erinnerung an die früheren Kollektive nicht leicht gemacht wird. Die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie gelten als potenzieller Wachstums- und Exportsektor. Im Augenblick liegt dieser Wirtschaftszweig jedoch brach. Wie mir gesagt wird, soll dazu auch beitragen, dass hohe Stellen im Landwirtschaftsministerium von den Agrarimporten profitieren.

Page 9: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Nach der Passhöhe liegen Elbasan und das Shkumbini-Tal vor uns. An der Straße verkaufen die Bauern ihre Produkte; später nehme ich einen

vorzüglichen Honig und ein gutes Olivenöl mit. Elbasan wurde in der kommunistischen Zeit Industriezentrum; man sieht auf das Stahlkombinat, das die Chinesen gebaut haben; dann irgendwelche Förderanlagen und ein Zementwerk – zum Teil stillgelegt, aber die Umweltbelastung merkt man immer noch.

Nach Elbasan wird die Straße zur Baustelle. Wir wollen eine Kaffeepause einlegen, aber es gibt dort keinen Strom und so fahren wir weiter. Neben der Straße verläuft mit Brücken und Tunneln die Bahnlinie Durres-Pogradec (Ohrid-See). Die romantische Vorstellung, einmal mit dieser Bahn zu fahren, habe ich bald wieder aufgegeben. Es dauert zehn Stunden und die Umstände in den Wagons sind so, dass man es besser lässt. Die Via Egnatia steigt an und dann liegt der Ohrid-See vor uns; die Berge auf der anderen Seite haben auf den Höhen noch Schnee. Auf der Rückfahrt werden wir dort in einem kleinen, sehr ordentlichen Hotel direkt am See übernachten, nachdem sich die Empfehlung des Blue Guide, ein gerade renovierter „Han“ in Korca 6), als Fehlinformation herausstellte. Renoviert war nur die äußere Fassade.

Korca war einmal eines der geistigen Zentren Albaniens, ebenso wie Girokastra und Berat. Die Provinzstadt Tirana wurde erst 1920 vom Kongress von Lushnja zur Hauptstadt ernannt. Doch viel findet man nicht mehr in diesen traditionsreichen Städten. Als ich mit meiner Lehre fertig bin, ist es schon späterer Nachmittag. Wir trinken einen türkischen Kaffee im alten „Han“ mit der neuen Fassade; das Innere ist nicht einladend. Gleich daneben wird der Markt im ehemaligen türkischen Basar gerade abgebaut. Die Straßen laden nicht gerade zum Herumlaufen ein. Es ist manchmal schwer, den Charme albanischer Städte aufzuspüren.

Knapp eine Stunde entfernt in den Bergen liegt Voskopoja. Im Mittelalter war hier ein Handelszentrum zwischen Venedig und Konstantinopel und im 18. Jahrhundert war Voskopoja die zweitgrößte Stadt im europäischen Teil des ottomanischen Reichs, nach Konstantinopel. Zu dieser Zeit soll es hier über 20 Kirchen gegeben haben. Einige sind noch erhalten und werden instand gesetzt. Die Straße ist besser, als gedacht und ich freue mich, diesen Abstecher vorgeschlagen zu haben, auch wenn der Tag schon sehr lang war und am Himmel dunkle Wolken aufziehen.

Schauplätze europäischer Geschichte

Die Besiedlung im heutigen Albanien geht bis auf die mittlere Steinzeit zurück. Später haben dann die Illyrer, die Griechen und die Römer ihre Spuren hinterlassen. Die Funde sind u. a. im Historischen und im Archäologischen Museum von Tirana und im Archäologischen Museum in Durres zu sehen. Manches ist noch unerforscht oder unzugänglich, da das Landesinnere nur durch wenige Straßen erschlossen ist. Besonders sehenswert sind die Ausgrabungen in Apollonia, Byllis und Butrint, alle in der Küstenregion südlich von Tirana gelegen. Die Ausgrabungen begannen vor dem zweiten Weltkrieg, wurden in kommunistischer Zeit meist mit russischer Beteiligung fortgesetzt und werden nun von albanischen Archäologen zusammen mit ausländischen Kollegen durchgeführt. Butrint gehört für mich zu den schönsten antiken Stätten, die ich rund um das Mittelmeer gesehen habe.

Relativ wenig erinnert noch an die osmanische Zeit. Dagegen gibt es teilweise noch gut erhaltene byzantinische Kirchen, obwohl in der kommunistischen Zeit noch mehr zerstört wurde als in der Türkenzeit. Bekannt und häufig besucht sind vor allem der byzantinische Teil von Apollonia und das Kloster Ardenica gleich in der Nähe. Eine völlig unbeachtete kleine Kirche mit noch gut erhaltenen Fresken entdecke ich zwischen den Olivenbäumen von Dhermiu, einem beliebten Badeort an der albanischen Riviera. Selbst Tiraner, die jedes Jahr hierher kommen, schienen sie nicht zu kennen. Sie wissen häufig nicht viel über ihre Geschichte. In der kommunistischen Zeit haben sie wenig darüber gehört. Und nun meinen sie, andere Sorgen zu haben.

Ich habe das Glück, Neritan Ceka kennen zu lernen, der wohl bekannteste albanische Archäologe. Sein Vater Hasan Ceka hat die albanische Archäologie begründet und beide haben u. a. in Apollonia gegraben. Er hat viele, reich illustrierte Bücher verfasst, darunter ein Buch über die Illyrer, von dem ich hoffen, dass es irgendwann ins Deutsche oder Englische übersetzt wird. Angelina, seine Frau, betreut seine Publikationen und hat selbst ein Buch über den in den 30er Jahren jung verstorbenen albanischen Dichter und Intellektuellen, Millosh Gjergj Nikolla, genannt Mijeni, herausgegeben, der aus der Familie ihrer Mutter stammt. Der Band enthält viele Fotos aus einer Zeit, als Albanien unter König Zogu eine relative Blüte erlebte. Unter dem 1928 durch einen Militärcoup an die Macht gekommenen König geriet Albanien jedoch wirtschaftlich mehr und mehr in italienische Abhängigkeit; es wurde 1939 von Mussolini annektiert. Wäre dem Land nach all dem doch wenigstens der Kommunismus erspart geblieben, denke ich unwillkürlich.

Page 10: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Neritan und Angelina Ceka nehmen mich mit nach Apollonia und Berat. Apollonia, auf einer Hügelkette westlich von Fier, ist eine griechische Gründung, die von Korfu ausging. Das grüne Flachland, auf das man sieht, muss damals noch Meer gewesen sein. Später kam die Stadt unter römische Herrschaft. Caesar nahm sie im römischen Bürgerkrieg als Stützpunkt, während sich Pompeius in Durrachium aufhielt, dem heutigen Durres. Europäische Geschichte ist in Albanien sehr präsent.

In Berat besichtigen wir die mittelalterliche Burg. Seit der Bronzezeit war die Gegend besiedelt. In den Burgmauern sind ganz unten die Steine aus illyrischer Zeit, darüber die römisch-mittelalterliche Mauer und oben der Aufbau aus türkischer Zeit zu erkennen. Im Burgraum sollen einmal über 40 byzantinische Kirchen gestanden haben, praktisch für jede Familie eine eigene; viele gibt es noch. In Gärten getarnt wurden sie von den Türken geduldet. Die Christen lebten auf der Burg unter sich, die Moslems in ihren Siedlungen weiter unten am Fluss. Diese Koexistenz hat funktioniert. Der berühmte Ikonenmaler Onuphre kommt aus Berat und ist mit seiner „Schule“ im Museum zu sehen. Vor einigen Jahren wurden seine Werke auch in einer Ausstellung in München gezeigt.

Nicht allzu weit weg liegt Byllis auf dem Weg von Fier nach Tepelena. Die Gegend steigt von der Küstenebene an und wird immer schöner; im Hintergrund hohe Berge und ein weiter Blick auf den Golf von Vlora. Mitten in den Feldern verstreut rostige Bohrtürme aus der kommunistischen Zeit, die inzwischen brach liegen. Byllis liegt auf einer Erhebung und ist einer der Orte, der im Laufe der Geschichte die Menschen immer wieder angezogen hat, von den Illyrern bis zu den Römern.

Page 11: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

An der schönsten Stelle befindet sich, wie immer, das griechische Theater. Bau und Kulisse stehen sich nichts nach.

Durres liegt nur etwa 60 km von Tirana entfernt am Meer. Ich sehe mir das römische Amphitheater an; die Anlage ist sehr zerstört, aber immer noch eindrucksvoll. Außerdem habe ich Glück, ein Wärter ist da, der mich auf das Gelände lässt. Er deutet auf einen Gang in der Mauer, den ich herunter klettere. In dem Gewölbe befindet sich eine frühchristliche Kirche mit noch erhaltenen Mosaiken und einer Grabplatte. Später will er wissen, ob ich auch alles gesehen und fotografiert habe. Zufrieden gehe ich weiter an der alten Stadtmauer vorbei, durch kleine Straßen, in denen – wie überall – die Wäsche aus den Fenstern hängt, und alte Kleider und Schuhe aus westlichen Kleidersammlungen verkauft werden. Nun weiß ich endlich, wo die Sachen hinkommen, die wir ausrangieren! Es scheint für die Händler ein Geschäft zu sein; auch in Tirana gibt es solche Märkte.

Burgen und Sagen

Mehrmals war ich aus verschiedenen Anlässen in Shkodra. Dort befand sich im 3. Jahrhundert v. Chr. das Zentrum eines illyrischen Königreiches, das bis zum Golf von Kotor reichte. Oberhalb der Stadt liegt die Burg Rozafat. Die heutige Burganlage stammt von den Venezianern, die das Gebiet 1396 einnahmen und gegen die Türken verteidigten mussten. Der Blick auf den Shkodra-See und die Flüsse Drin und Buna, die von hier zusammen ins Meer fließen, ist großartig.

Mit dem Bau von Rozafat verbindet sich eine Sage, wie man sie ähnlich auf dem Balkan häufiger antrifft: Die Arbeiten gingen nicht voran. Was tags fertig gestellt wurde, war über Nacht wieder eingerissen. Der Teufel hatte seine Hand im Spiel. Um ihn zu besänftigen, musste ein menschliches Wesen in die Burgmauern eingemauert werden, was auch geschah. Die junge Frau, die hierfür ausgesucht wurde, bat sich ein paar Vergünstigungen aus, darunter ein Loch, durch das sie ihrem Kind Milch geben konnte. Und so tropft es in Rozafat noch heute von den Wänden.

Rozafat gehört zu einer Burgkette, die sich auf den Hügeln oberhalb der Küstenebene hinzieht und eine Art Verteidigungslinie gegen die Türken bildete, darunter Kruja, die Burg Skanderbegs, und Petrela, nahe bei Tirana. Sie stehen an strategischen Punkten, die bereits von den Illyrern genutzt wurden und dann von allen nachfolgenden Herrschern.

„Shume mire“

Zu dem Wenigen, was ich verstehe, wenn sich Albaner unterhalten, gehört „shume mire“. Mir geht es gut – das ist sehr gut! Man hört es in jedem zweiten Satz und kann es auch selbst gut verwenden, um freundliche Zustimmung auszudrücken. Für Deutschland gibt es in Albanien große Sympathie. Als ich vor der Fußballeuropameisterschaft einmal fragte, für welche Mannschaft man sei, hieß es, für die Deutsche. Und natürlich hoffen die Albaner, dass ihre Mannschaft in zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Deutschland selbst dabei sein wird.

Englisch ist inzwischen die Sprache, die die jungen Leute zuerst lernen und lernen müssen. Auch meine Lehrveranstaltungen habe ich in Englisch gehalten. Daneben habe ich aber auch ein Seminar über die Europäische Union in deutscher Sprache angeboten. Teilgenommen haben vorwiegend Studenten aus der deutschen Abteilung der Sprachwissenschaftlichen Fakultät, die vorzüglich Deutsch sprechen. Gute deutschsprachige Abteilungen gibt es außerdem in Shkodra und Elbasan.

Page 12: Grüße aus Shqiperi: Als Gastprofessorin in Albanien · Widerstand gegen die Türken geeint, in der Burg Kruja den türkischen Belagerungen standgehalten und damit, wie die Albaner

Das Deutsche Zentrum Tirana, eine Einrichtung des Goethe-Instituts, bietet Aufbaukurse an, in denen die deutsche Sprache systematisch vermittelt wird, und betreut die Deutschlehrer an albanischen Gymnasien. Ich hatte Gelegenheit, an einem Schulfest in Shkodra teilzunehmen. Schüler aus den Deutschklassen führten Sketche auf, die Deutschland, Österreich und die Schweiz zum Thema hatten. Die Freude und das Engagement von Schülern und Lehrern waren eindrucksvoll.

Die Probleme des Landes sind groß. Die eingefahrenen Strukturen zu überwinden, ist außerordentlich schwierig. Die Hoffnung richtet sich vor allem auch an die junge Generation.

Ich habe immer wieder ehemalige Austauschstudenten getroffen, die u. a. im Rahmen von DAAD-Stipendien eine Zeit in Deutschland waren, und nun selbst an der Universität unterrichten oder als Nachwuchskräfte in Ministerien und anderen Institutionen bzw. in der Wirtschaft beschäftigt sind. Im Wintersemester 2004/5 beginnt der Masterstudiengang Europäische Wirtschaft, den die Ökonomische Fakultät Tirana mit Unterstützung der Wirtschaftswissenschaftler der Otto-Friedrich-Universität Bamberg aufgebaut hat und durchführt. Die Universität braucht die Öffnung nach außen, um die Studiengänge zu modernisieren.

Shume mire! Albanien ist ein schönes Land, in dem ich viel Gastfreundschaft erfahren habe. Der Alltag ist oft härter als bei uns. Die Menschen sind jedoch fröhlich und feiern gern. Sie versuchen, mit der Situation zurechtzukommen und hoffen, dass es irgendwann einmal besser wird. Ich wünsche ihnen ihr zuversichtliches „shume mire“!

Fotos: Elke Thiel

Prof. Dr. Elke Thiel lehrt an der Universität Bamberg. Artikel aus "Einsichten und Perspektiven" 04/2004Herausgegeben von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit