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GREENPEACE MAGAZIN 5.08 andra lebt mitten in Hamburg. Eigentlich hat sie einen beneidenswert kurzen Weg zur Arbeit. Zweihundert Meter, dann steht sie vor der Parfümerie Douglas in der Mönckebergstraße. Aber sie muss jeden Morgen zwei Umwege gehen. Zuerst schlurft sie in den „Stützpunkt“ von der Caritas. Dort packt sie ih- ren Schlafsack und die Isomatte in ein Schließfach. Anschließend geht sie in die Altstädter Twiete, ins Büro von „Hinz&Kunzt“. Am Tresen trägt sie sich ein, für ihren Verkaufsplatz in der größten Hambur- ger Einkaufsstraße. Gegen elf Uhr steht sie dann vor Douglas, an der Jacke den gelben Ausweis mit der Nummer 4228. Seit elf Monaten verkauft Sandra das Obdachlo- senmagazin „Hinz&Kunzt“. Sie ist 19 Jahre alt und stammt aus Nordrhein-Westfalen. Ihre verspiegelte Sonnenbrille hat sie lässig ins Haar gesteckt, das rechts noch die Reste einer gelben Tönung zeigt. Di- ese Farbe hat ihr nicht gefallen, sehr zufrieden ist sie dagegen mit dem Punker-Grün auf der Strähne über der Stirn. „Ein Pott Farbe kostet acht Euro und hält einen Monat“, sagt Sandra. Duschen und Haare waschen kann sie im „Herz As“, einer Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose. Sandra macht Platte: Sie schläft un- ter freiem Himmel. Ihr Platz für die Nacht ist der Bürgersteig vor C&A in der Mönckebergstraße. Der Geschäftsführer hat einen Deal mit den Obdachlosen gemacht: Sie dürfen sich in die Nische an seinem Ein- gang legen. Aber morgens um acht, wenn die Putz- frauen kommen, müssen sie den geschützten Platz besenrein verlassen. Nach offizieller Statistik leben in Hamburg rund 1200 Obdachlose, dazu kommen etwa 3000 Men- schen in Männerwohnheimen und Notunterkünften. Vor 15 Jahren hat das Diakonische Werk der evange- lischen Kirche „Hinz&Kunzt“ gegründet. Dies war das zweite Straßenmagazin in Deutschland (siehe Seite xx). Im Sozialgefüge der reichen Hansestadt hat dieses Blatt einiges verändert. Vor allem hat es die Obdachlosigkeit sichtbar gemacht. Auch in den feinen Vierteln wie Blankenese, wo man Penner für ein abseitiges Problem der Gegend um den Haupt- bahnhof halten kann, steht vor dem Feinkostladen ein Verkäufer mit dem Straßenmagazin. Rund 400 Hinz&Künztler verkaufen jeden Monat etwa 65.000 Magazine. Zuletzt hat Sandra bei ihrer Mutter gelebt, gemein- sam mit ihrem Bruder. Nach zwei Jahren hat sie ihre Ausbildung zur Friseurin geschmissen. „Das war so gar nicht mein Ding“, sagt sie lethargisch. Ihre blau- en Augen blicken matt, ihr rundes Gesicht hat eine depressive Ausstrahlung. Auf ihren Rucksack hat sie ein stilisiertes Cannabis-Blatt gepinnt. Mit ihrem Bru- der habe es ständig Zoff gegeben. „Einer von euch muss gehen“, habe ihre Mutter gesagt. „Mein Bruder war sowieso ihr Liebling, da bin ich halt nach Ham- burg.“ Der Sozialarbeiter ist skeptisch. Zu oft hat Stephan Karrenbauer schon solche Geschichten gehört. Und er kennt die Version der Mutter nicht. Seit 13 Jahren betreut er die Verkäufer von Hinz&Kunzt. Von einem Sozialromantiker ist er weit entfernt. Er lässt die Obdachlosen nicht in die bequeme Rolle der Opfer schlüpfen, denen die Umstände übel mitgespielt ha- ben. Vielmehr nimmt er sie als Menschen ernst, die Verantwortung für ihr Leben tragen. Es macht ihn fuchtig, wenn sich jemand apathisch in die Obdachlosigkeit ergibt. Und die Entwicklung erschreckt ihn: Die Verkäufer werden immer jünger. Vergangenes Jahr hat Hinz&Kunzt in der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jah- ren 60 neue Verkäuferausweise ausgegeben. „Bei denen gibt es keine geglückte bürgerliche Sozialisation, an die man anknüpfen könnte“, sagt Karrenbauer, „die sind direkt von zu Hause in die Obdachlosigkeit geschliddert“. Das Büro von Hinz&Kunzt liegt im Innenhof eines stattlichen Altbaus. „Olym- piajahr 1936“ steht unter dem Relief eines Fackelläufers auf den roten Klinkern, die kleinen Balkone sind mit Blumen geschmückt. Der schmale Gang vor dem Büro ist für die Hinz&Künztler der wärmste Ort im Leben. Neben dem Eingang stehen vier große Aschenbecher und eine Schüssel Wasser für die Hunde. Sandra hockt auf dem Geländer, umringt von Männern mit Zahnlücken. Unbeholfen flirten sie mit ihrer Prinzessin. Sie lächelt und kokettiert. „Du bist zwar schwul, aber bleib weg von meiner Zunge.“ Die Tür steht offen. Drinnen sitzt ein Verkäufer am Tisch, liest „Bild“ und trinkt Apfelsaft vom Biobauern. Vom Tresen kommt ein Grundgeräusch wie aus der Spielhalle, in der Sortiermaschine klimpert Münzgeld. Hier bekommen Raessi eniam dio odio aodignis non ulla ditnul- lupt at. Sitve nt consequat DAS GELÄNDER Raessi eniam dio odio aodignis non ulla ditnulluptat. Sitve nt consequeniam dio odio aod ignis non ulla ditnullupt aonseqconsequeniamat S VON JOHANNES SCHWEIKLE UND BLINDTEXT (FOTOS)

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Raessi eniam dio odio aodignis non ulla ditnulluptat. Sitve nt consequeniam dio odio aod ignis non ulla ditnullupt aonseqconsequeniamat Raessi eniam dio odio aodignis non ulla ditnul- lupt at. Sitve nt consequat von johannes schweikle und blindtext (fotos) Greenpeace MaGazin 5.08 raessi eniam dio odio raessi eniam dio odio aodignis n non u non u aodignis n non u non u non uon ulla ditnullupt non uon ulla ditnullupt at. sitve nt consequat at. sitve nt consequat Greenpeace MaGazin 5.08

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andra lebt mitten in Hamburg. Eigentlich hat sie einen beneidenswert kurzen Weg zur Arbeit. Zweihundert Meter, dann steht sie vor der Parfümerie Douglas in der Mönckebergstraße. Aber sie muss jeden

Morgen zwei Umwege gehen. Zuerst schlurft sie in den „Stützpunkt“ von der Caritas. Dort packt sie ih-ren Schlafsack und die Isomatte in ein Schließfach. Anschließend geht sie in die Altstädter Twiete, ins Büro von „Hinz&Kunzt“. Am Tresen trägt sie sich ein, für ihren Verkaufsplatz in der größten Hambur-ger Einkaufsstraße. Gegen elf Uhr steht sie dann vor Douglas, an der Jacke den gelben Ausweis mit der Nummer 4228.

Seit elf Monaten verkauft Sandra das Obdachlo-senmagazin „Hinz&Kunzt“. Sie ist 19 Jahre alt und stammt aus Nordrhein-Westfalen. Ihre verspiegelte Sonnenbrille hat sie lässig ins Haar gesteckt, das rechts noch die Reste einer gelben Tönung zeigt. Di-ese Farbe hat ihr nicht gefallen, sehr zufrieden ist sie dagegen mit dem Punker-Grün auf der Strähne über der Stirn.

„Ein Pott Farbe kostet acht Euro und hält einen Monat“, sagt Sandra. Duschen und Haare waschen kann sie im „Herz As“, einer Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose. Sandra macht Platte: Sie schläft un-ter freiem Himmel. Ihr Platz für die Nacht ist der Bürgersteig vor C&A in der Mönckebergstraße. Der Geschäftsführer hat einen Deal mit den Obdachlosen gemacht: Sie dürfen sich in die Nische an seinem Ein-gang legen. Aber morgens um acht, wenn die Putz-frauen kommen, müssen sie den geschützten Platz besenrein verlassen.

Nach offizieller Statistik leben in Hamburg rund 1200 Obdachlose, dazu kommen etwa 3000 Men-schen in Männerwohnheimen und Notunterkünften. Vor 15 Jahren hat das Diakonische Werk der evange-lischen Kirche „Hinz&Kunzt“ gegründet. Dies war das zweite Straßenmagazin in Deutschland (siehe Seite xx). Im Sozialgefüge der reichen Hansestadt

hat dieses Blatt einiges verändert. Vor allem hat es die Obdachlosigkeit sichtbar gemacht. Auch in den feinen Vierteln wie Blankenese, wo man Penner für ein abseitiges Problem der Gegend um den Haupt-bahnhof halten kann, steht vor dem Feinkostladen ein Verkäufer mit dem Straßenmagazin. Rund 400 Hinz&Künztler verkaufen jeden Monat etwa 65.000 Magazine.

Zuletzt hat Sandra bei ihrer Mutter gelebt, gemein-sam mit ihrem Bruder. Nach zwei Jahren hat sie ihre Ausbildung zur Friseurin geschmissen. „Das war so gar nicht mein Ding“, sagt sie lethargisch. Ihre blau-en Augen blicken matt, ihr rundes Gesicht hat eine depressive Ausstrahlung. Auf ihren Rucksack hat sie ein stilisiertes Cannabis-Blatt gepinnt. Mit ihrem Bru-der habe es ständig Zoff gegeben. „Einer von euch muss gehen“, habe ihre Mutter gesagt. „Mein Bruder war sowieso ihr Liebling, da bin ich halt nach Ham-burg.“

Der Sozialarbeiter ist skeptisch. Zu oft hat Stephan Karrenbauer schon solche Geschichten gehört. Und er kennt die Version der Mutter nicht. Seit 13 Jahren betreut er die Verkäufer von Hinz&Kunzt. Von einem Sozialromantiker ist er weit entfernt. Er lässt die Obdachlosen nicht in die bequeme Rolle der Opfer schlüpfen, denen die Umstände übel mitgespielt ha-

ben. Vielmehr nimmt er sie als Menschen ernst, die Verantwortung für ihr Leben tragen. Es macht ihn fuchtig, wenn sich jemand apathisch in die Obdachlosigkeit ergibt. Und die Entwicklung erschreckt ihn: Die Verkäufer werden immer jünger. Vergangenes Jahr hat Hinz&Kunzt in der Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jah-ren 60 neue Verkäuferausweise ausgegeben. „Bei denen gibt es keine geglückte bürgerliche Sozialisation, an die man anknüpfen könnte“, sagt Karrenbauer, „die sind direkt von zu Hause in die Obdachlosigkeit geschliddert“.

Das Büro von Hinz&Kunzt liegt im Innenhof eines stattlichen Altbaus. „Olym-piajahr 1936“ steht unter dem Relief eines Fackelläufers auf den roten Klinkern, die kleinen Balkone sind mit Blumen geschmückt. Der schmale Gang vor dem Büro ist für die Hinz&Künztler der wärmste Ort im Leben. Neben dem Eingang stehen vier große Aschenbecher und eine Schüssel Wasser für die Hunde. Sandra hockt auf dem Geländer, umringt von Männern mit Zahnlücken. Unbeholfen flirten sie mit ihrer Prinzessin. Sie lächelt und kokettiert. „Du bist zwar schwul, aber bleib weg von meiner Zunge.“

Die Tür steht offen. Drinnen sitzt ein Verkäufer am Tisch, liest „Bild“ und trinkt Apfelsaft vom Biobauern. Vom Tresen kommt ein Grundgeräusch wie aus der Spielhalle, in der Sortiermaschine klimpert Münzgeld. Hier bekommen

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die Verkäufer ihre Magazine. Sie zahlen 80 Cent Vor-kasse für jedes Exemplar und verkaufen es für 1,70 Euro. Als Startkapital bekommt jeder zehn Hefte um-sonst. Aber er muss nachweisen, dass er obdachlos ist. Hinz&Kunzt hat klare Regeln. Verkauft werden darf nur an ausgewiesenen Plätzen, vor Ladenge-schäften nur mit Zustimmung des Inhabers. Und die Verkäufer dürfen nicht besoffen sein, sonst wird der Ausweis eingezogen. Aber der Sozialarbeiter zu rea-listisch, um in diesem Punkt strikt zu sein: „Mancher braucht halt seine drei Jägermeister zum Frühstück, damit er die Zeitung gerade halten kann.“

Die durchschnittliche Lebenserwartung der Ob-dachlosen liegt bei 46 Jahren. Es sind Erfolgserleb-nisse für Stephan Karrenbauer, wenn einer kommt und sagt: „Ich will zum Zahnarzt – kannst du mich begleiten?“ Oder wenn einer gar eine Entziehung be-antragt. Im Büro hängt ein Lebensbaum, auf dem alle toten Verkäufer verewigt werden. Am Totensonntag veranstaltet Hinz&Kunzt auf einem großen Hambur-ger Friedhof eine Gedenkfeier. Vergangenes Jahr hat Gunter Gabriel gesungen.

Direkt neben dem Büro liegt eine Boutique für Männergeschenke. Dort gibt es zum Beispiel das Modell eines Ferrari, handverchromt bis auf die Fel-gen, für 249,95 Euro. Die Handelskammer als Inte-ressenvertretung der Hamburger Kaufleute forderte vor drei Jahren gemeinsam mit dem Innensenator ein Bettelverbot für die Innenstadt. In der öffentlichen Diskussion trat Hinz&Kunzt mit Vehemenz für die Obdachlosen ein. Die Lobbyarbeit hatte Erfolg: Eine große Mehrheit schmetterte das Bettelverbot ab. Die reiche Stadt hat sich mit den Obdachlosen in ihrer Mitte arrangiert. Die Hamburger sind stolz auf ihre Liberalität. Und denken sich kleine Tricks aus, mit denen sie den öffentlichen Raum unbequemer ge-stalten. Neue Bänke in den Fußgängerzonen sind so konstruiert, dass man nicht drauf schlafen kann. Und das Modehaus Peek&Cloppenburg hat an seinen Ein-gängen Spritzdüsen montiert, um die Obdachlosen zu vertreiben. Angeblich dienen sie der Reinigung. Sie sprühen nachts in unregelmäßigen Abständen kaltes Wasser.

Es gehört zu den Widersprüchen der Stadt, dass

auf der anderen Seite viele Bürger eine erstaunliche Hilfsbereitschaft zeigen. Sandra muss sich um ihr Essen wenig Sorgen machen. Am Nachmittag liefert die „Hamburger Tafel“ Lebensmittelspenden ins Bü-ro von Hinz&Kunzt. Wenn die nahe gelegene Tank-stelle ihre belegten Brötchen nicht verkauft, bringt ein Angestellter diese am Abend zu Sandra und den fünf Männern, die vor C&A schlafen. Jeden Sonntag bekommt die Gruppe Besuch von einer Frau. „Die bringt uns Kaffee und Brot“, sagt Sandra, „und jeder kriegt eine Zigarette“.

Von der Arbeitsagentur bekommt sie Hartz IV, 351 Euro im Monat. Offiziell darf sie 100 Euro dazuver-dienen. Aber Hinz&Kunzt gibt keine Zahlen heraus, wie viele Magazine sie verkauft, und die Agentur akzeptiert das.

Für Sandra ist das Straßenmagazin wie ein Ge-länder im Leben. Es gibt Halt. Und verhilft zu auf-rechtem Gang. Sie ist nicht nur auf Almosen und Unterstützung angewiesen. Sie verdient etwas, das gibt ihrem Leben etwas Würde. Und in der Hierar-chie der Straße steht sie nicht ganz unten. „Wenn die Schnorrer vor Douglas Kunden belästigen“, sagt sie, „dann geben wir im Geschäft Bescheid, und die holen die Polizei“.

Als Hinz&Kunzt gegründet wurde, seien die Erwartungen realitätsfern gewe-sen, sagt Stephan Karrenbauer. Das Straßenmagazin sollte ein Sprungbrett sein, das Obdachlosen wieder in die sesshafte Bürgerlichkeit verhilft. Inzwischen sieht man es als Glücksfall, wenn ein Verkäufer eine Wohnung oder gar einen festen Job findet. Und ist froh, wenn man schlingernde Existenzen stabilisieren kann.

Ursprünglich lautete die Regel: Wer eine Wohnung gefunden hat, darf nicht mehr die Obdachlosenzeitung verkaufen. Aber dann gab es Fälle, die lieber keine feste Bleibe wollten, weil ihnen der Verkauf und die Kollegen bei Hinz&Kunzt wichtiger waren. Deshalb hat man die Regel geändert: Auch wer ein Dach über dem Kopf gefunden hat, darf seinen Ausweis behalten.

An einem Abend im Juli schleppt Sandra Dietrich eine große Tasche durch die Mönckebergstraße. Ihre blauen Augen strahlen. Neben ihr geht Sven, ihr Freund. Er hat Isomatte und Schlafsack geschultert. Die beiden sind auf dem Weg an den nördlichen Stadtrand von Hamburg. Dort haben sie ein Zimmer in einem Übergangswohnheim bekommen.

„Mein Ziel wär eine richtige Wohnung“, sagt Sandra. Aus ihrem Mund weht eine Alkoholfahne.

Der Sozialarbeiter zeigt keine Euphorie. Viele Verkäufer pendeln zwi-

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beatrice Gerst hat das prinzip der selbstausbeutung perfektioniert.

die sozialpädagogin arbeitet in stuttgart für die straßenzeitung

„Trott-war“. der name verballhornt das französische trottoir, so sagt

man im schwäbischen zum bürgersteig. das blatt erscheint jeden

Monat mit einer auflage von 27.000 exemplaren. beatrice Gerst akqui-

riert die anzeigen, kümmert sich um spender und die Öffentlichkeitsar-

beit, fungiert als stellvertreterin des Geschäftsführers und als sozialar-

beiterin für die zeitungsverkäufer. nebenbei führt sie noch den Vorsitz

im bundesverband der sozialen straßenzeitungen. „in berlin will gera-

de jemand das vierte obdachlosenmagazin der stadt gründen“, sagt

beatrice Gerst, „ich versuche, ihm das auszureden“.

in deutschland erscheinen 30 straßenzeitungen mit einer monatlichen

Gesamtauflage von mehr als 300.000 exemplaren. die namen sind so

bunt wie die konzepte hinter den blättern: in kiel gibt’s „Hempels“, in

braunschweig die „Parkbank“, in rostock den „Strohhalm“, in jena

den „Notausgang“. der Vertriebsweg ist bei allen der gleiche: obdach-

lose verkaufen die zeitungen.

die beteiligung der betroffenen ist oberstes prinzip. „wir geben den

Verkäufern arbeit“, sagt beatrice Gerst, „das macht aus den empfän-

gern von almosen wieder vollwertige Mitglieder der Gesellschaft,

die anderen bürgern auf augenhöhe begegnen können“. jede dieser

zeitungen leistet widerstand gegen die gesellschaftspolitische ent-

wicklung: der sozialstaat schraubt seine leistungen drastisch zurück.

die Magazine bieten obdachlosen hilfe zur selbsthilfe. ein gemein-

sames thema verbindet die zeitungen inhaltlich: sie bieten ein Forum

für soziale themen, die in anderen Medien nicht vorkommen.

die erste obdachlosenzeitung erschien im oktober 1993 in München:

BISS – bürger in sozialen schwierigkeiten. ein paar wochen später

kam hinz&kunzt auf die straßen von hamburg. es hat mit 65.000

exemplaren die größte auflage, die kleinsten blätter wie der UHU in

recklinghausen kommen auf 2000 bis 6000 hefte.

„am anfang hätten wir auch klopapier verkaufen können, so groß war

die euphorie über das neue projekt“, sagt birgit Müller, die chefredak-

teurin von Hinz&Kunzt. die hamburger fühlten sich gut, wenn sie

dem armen obdachlosen seine zeitung abkauften. deren inhalt war

egal. seit 15 jahren leitet Müller die redaktion, und sie weiß, wie sehr

sich die lage geändert hat. ein hamburger Unternehmen hat dem

Magazin eine repräsentative Umfrage spendiert, und die hat klar erge-

ben: „der käufer erwartet etwas für sein Geld. er will ein journalistisch

professionell gemachtes blatt. am liebsten liest er erfahrungsberichte

zur obdachlosigkeit, hamburg-Geschichten und kulturtipps.“

Manchmal stößt die redaktion bei ihrer recherche auf skandale, die

den großen zeitungen entgangen sind. in der jüngsten ausgabe berich-

In Deutschland erscheinen 30 Straßenzeitungen. Sie schreiben mit an einer weltweiten Erfolgsgeschichte: Obdachlose bekommen Arbeit. Und eine Stimme.

tet sie von einem türken, 44 jahre alt und Familienvater, der für einen

logistik-dienstleister leere Flaschen sortierte. er arbeitete 40 stunden

die woche und bekam einen bruttolohn von 298,41 euro im Monat.

„bild“ griff die Geschichte gierig auf.

am anderen ende des publizistischen spektrums der straßenzeitungen

stehen die sogenannten betroffenen-projekte: obdachlose machen

ein blatt über und für sich. FREIeBÜRGER in Freiburg versteht sich als

ein solches sprachrohr. in stuttgart pflegt man diese tradition einmal

im jahr: die august-ausgabe gehört komplett den Verkäufern. hier

dürfen sie von ihrem leben auf der straße erzählen.

Manche Magazine tragen sich selbst. in hamburg gab das diakonische

werk der evangelischen kirche 50.000 Mark als startkapital, zeitweilig

gab es einen Mietzuschuss von der bürgerschaft, dem parlament des

stadtstaats. darüber hinaus muss keine institution Geld zuschießen.

redaktion und Verlag beschäftigen 18 Mitarbeiter, unter ihnen sieben

ehemals obdachlose. Vergangenes jahr lag der erlös bei 1,3 Millionen

euro, davon waren 560.000 spenden.

in stuttgart verweist man selbstbewusst auf den beitrag, den das

trott-war zur entlastung der öffentlichen kassen leistet. das blatt hat

16 Verkäufer fest angestellt, zahlt sozialabgaben und ein dreizehntes

Monatsgehalt.

„andererseits ist auf manchen redaktionen das Geld so knapp“, sagt

beatrice Gerst, „dass die Fahrt zur Mitgliederversammlung des bundes-

verbandes nicht drin liegt“. auf seiner letzten sitzung hat der Verband

beschlossen, sich aufzulösen. weil seine arbeit ineffizient war. die Mit-

glieder sollen stattdessen als deutschsprachige sektion dem Verband

der internationalen straßenzeitungen beitreten. der bietet seinen Mitglie-

dern professionellen service: sie können sich kostenlos aus einem pool

bedienen, den die angesehene nachrichtenagentur reuters mit texten

und Fotos füllt.

im „international network of street papers“ (insp) sind 88 zeitungen

aus 37 ländern auf allen kontinenten vertreten. zu den Gründungsmit-

gliedern gehört „The Big Issue“, 1991 in london gegründet. das blatt

erscheint wöchentlich mit fünf regionalausgaben in Großbritannien.

der weltverband gibt an, im jahr 32 Millionen leser zu erreichen.

die straßenzeitungen haben eine alte art von arbeit neu geschaffen:

einfache hilfstätigkeiten für Ungelernte. Früher gab es auf den bauernhö-

fen die knechte, in den städten die kohlenträger. die technische entwick-

lung hat ihre arbeitskraft überflüssig gemacht, am deutlichsten ist dieser

wandel im hamburger hafen zu sehen: wo noch vor 50 jahren tausende

säcke und kisten schleppten, bedienen heute ein paar Mann container-

brücken. wer nur begrenzt leistungsfähig ist, kommt für eine dieser stellen

nicht in Frage. die straßenzeitungen haben arbeit geschaffen für die

von johannes schweikle und blindtext (fotos)

auf rauem asphalt

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