Grenzenlose Solidarität?

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DIE FURCHE • 38 | 17. September 2015 DAS THEMA DER WOCHE | Braucht Nächstenliebe Grenzen? | 5 Foto: Shutterstock | Von Martin Tauss N eben der aktuellen Flüchtlingskrise sollte derzeit eine weitere „Causa prima“ nicht übersehen werden, sagt der Wiener Demograf Wolfgang Lutz, und verweist auf die kommende UN-Vollversammlung in New York. Dort sollen ab 25. September nicht weniger als 169 nachhaltige Entwick- lungsziele beschlossen werden, darunter erstmals auch der Klimaschutz: „Wenn wir es nicht schaffen, die globale Erwär- mung einzudämmen, würde das wohl viel mehr Flüchtlinge bedeuten, als wir uns heute vorstellen können“, sagt der Pro- fessor für Sozialstatistik an der WU Wien. Und zwar durch in- direkte Effekte: Denn von den Auswirkungen des Klimawan- dels seien vor allem ärmere Länder betroffen, wodurch sich die globale Ungleichheit weiter verschärfen würde. Bei zuneh- mendem Lohngefälle oder schwindenden Ressourcen steigt das Risiko von Konflikten, die dann – weit eher als Naturkata- strophen – zu neuen Flüchtlingswellen führen könnten. Kampf um Ressourcen „In vielen Teilen des Nahen Ostens herrscht schon jetzt eine eklatante Wasserknappheit“, bemerkt Lutz. „Und es gibt Stim- men, die behaupten, dass im Syrien-Konflikt der Kampf um das Wasser bereits einer der treibenden Faktoren ist.“ Auch für die Länder Nordafrikas und der Sahelzone, die weiterhin ein starkes Bevölkerungswachstum aufweisen, wird eine zuneh- mende Trockenheit prognostiziert. „Die Menschen dort werden mit noch schwierigeren Bedingungen zu kämpfen haben“, so der Forscher. Umgekehrt könnten etwa in Nordkanada und Sibi- rien riesige Flächen an neuem Lebensraum entstehen, wenn diese Gebiete durch Klimaerwärmung landwirt- schaftlich fruchtbarer werden. Dass die Migrationsströme aufgrund des Klimawandels jedenfalls nicht mit der starken Flüchtlingsbewegung von heu- te vergleichbar sein werden, meint der Geograf Heinz Faßmann, Vizerektor der Universität Wien. Denn der Klima- wandel führe schrittweise zu verschlech- terten Lebensbedingungen in manchen Re- gionen: „Es wird sicher auch klimabedingte Wanderungen geben, aber die manifestieren sich wohl unterhalb der Wahrnehmungsgrenze – und werden dann in eine Form von Arbeitsmigra- tion übersetzt.“ In der Forschung werden Migra- tionsströme stets über das Zusammenwirken dreier Faktoren erklärt: „Push“-Faktoren sind je- ne Umstände, die Menschen aus ihrer Region vertrei- ben, etwa Krieg oder miserable wirtschaftliche Zustän- de. „Pull“-Faktoren wiederum sind die Anreize, die von den Migrationszielen ausgehen. Der dritte Faktor ist die Höhe der Hürden, die es zu über- winden gilt: Dazu zählen nicht nur Stacheldraht- zäune, sondern auch Kosten oder rechtliche Rahmenbedingungen. Auf allen drei Ebenen sind Ansatzpunkte zur Lösung des Flüchtlingsproblems zu erörtern. „Jetzt ist humani- täre Hilfe das Gebot der Stunde; und alles Menschenmögliche muss unternommen werden, um den Krieg in Syrien zu been- den“, sagt Lutz. „Längerfristig muss die globale Entwicklung gefördert werden, und da heißt die Priorität ganz klar Bildung.“ Bildung ist auch von zentraler Bedeutung für die Integration, die von der Bundesregierung nun mit einem Sondertopf von 75 Millionen Euro bedacht wird: Mobile Einsatzteams aus Päda- gogen, Psychologen und Sozialarbeitern etwa sollen im Schul- bereich zum Einsatz kommen. Zudem soll es für Asylwerber künftig möglich sein, in Branchen mit Fachkräftemangel sämt- liche Lehrberufe antreten zu können. „Klar, dass es Grenzen der Aufnahmefähigkeit gibt“, resümiert Heinz Faßmann. „Aber denken Sie nur an die Wiener Bevölkerung im 19. Jahrhundert, als die Mehrheit davon aus Zuwanderern bestand. Moderne Ge- sellschaften sind sehr dynamisch; das stimmt mich mit einem gewissen Optimismus.“ ich rede über Werte, die Basis von Politik. DIE FURCHE: Bleiben wir trotzdem bei den Emotionen: Österreich hat sich in den letz- ten zwei Wochen von seiner solidarischsten Seite gezeigt – am augenfälligsten gleich ne- benan am Westbahnhof. Doch wir waren nur die „Jausenstation der Völkerwande- rung“, wie die Journalistin Sibylle Hamann geschrieben hat. Nun können wir die Men- schen nicht mehr durchwinken, sondern müssen sie beherbergen. Glauben Sie, dass die neue Solidarität nachhaltig sein wird? Wallner: Das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Meine Hoffnung ist wie ge- sagt, dass sich Österreich, Deutschland und andere Länder zusammentun und sagen: Wir schaffen das gemeinsam! Ich glaube je- denfalls, dass unsere Gesellschaft in den letzten Tagen reicher geworden ist durch die Erfahrung „Ich kann helfen“ und durch die Konfrontation mit so vielen Menschen in enorm herausfordernden Situationen. Das habe ich selbst am Westbahnhof erlebt. Winkler: Ich anerkenne natürlich diese Hilfsbereitschaft, die hoffentlich weiter an- halten wird. Nur werden die Leute auch rea- listischer werden und sehen, dass wir nicht unbeschränkt größere Zahlen von Men- schen aufnehmen können. Außerdem wird es mit dem bloßen Unterbringen von Flücht- lingen nicht getan sein. Die Politik muss al- so mit offenen Karten spielen. DIE FURCHE: Damit sind wir beim Thema Inte- gration: Die Regierung hat zuletzt ein Maß- nahmenpaket im Umfang von 75 Millionen Euro beschlossen – inklusive Deutsch- und Wertevermittlungskursen, besserer Aner- kennung von Abschlüssen und einem Inte- grationsjahr für anerkannte Flüchtlinge oh- ne Job. Sind Sie damit zufrieden? Wallner: Es ist einmal ein erster Schritt und man müsste sofort damit beginnen. Ankün- digungen habe ich schon oft gehört. Winkler: Hier bin ich völlig d’accord. Nur muss man sich auch von der Illusion ver- abschieden, dass alles freiwillig geht. Man muss auch Zwang ausüben und soziale Hilfe an Integrationswilligkeit koppeln. Wallner: Jetzt kommt wieder die Rohrsta- berl-Pädagogik! Es gibt genug Willen bei den Leuten, nur können wir ihnen noch gar kein Angebot machen! DIE FURCHE: Etwas, worauf anerkannte Flüchtlinge Anspruch haben, ist die Min- destsicherung von 828 Euro monatlich. Sie, Herr Winkler, fordern in Ihrer Streitschrift „Herausforderung Migration“, dass sich das ändert. Warum? Winkler: Das ist nicht meine Idee, das hat die Migrations-Expertengruppe im Innen- ministerium vorgeschlagen, der auch Heinz Faßmann (s. rechts) angehört. Es geht da- rum, Geldleistungen zum Teil in Sachleis- tungen umzuwandeln, weil die Mindestsi- cherung in dieser Höhe oft kein Anreiz ist, sich eine Arbeit zu suchen. Das gilt übrigens auch für Inländer. Wallner: Das ist wieder eine Pauschaldiffa- mierung. Die Leute, die aus Syrien fliehen, schauen sich ja nicht an, wo es welche Sozi- alleistungen gibt, sondern sie fliehen in der Regel deshalb in ein bestimmtes Land, weil sie dort Verwandte oder Freunde haben. Winkler: In Rumänien, Serbien und im Ko- sovo bitten die Politiker die europäischen Kollegen: Kürzt die Sozialleistungen! Wenn jemand in Bulgarien ein 400-Euro-Durch- schnittsgehalt hat und anderswo mehr oder das Doppelte als Sozialhilfe bekommt, dann ist er nicht mehr zu halten. Wallner: Sorry, aber jemand, der aus Rumä- nien herkommt, hat nicht sofort Zugang zur Mindestsicherung. Er muss längere Zeit in Österreich gearbeitet haben. DIE FURCHE: Kommen wir am Ende noch zur Kirche, die von der Flüchtlingskrise beson- ders herausgefordert ist – und für die Sie sich beide engagiert haben: Sie, Herr Wink- ler, als Generalsekretär der Katholischen Aktion Kärnten, und Sie, Herr Wallner, als Generalsekretär der Katholischen Hoch- schuljugend und der Caritas. Papst Franzis- kus hat alle Pfarren und Klöster aufgefor- dert, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Der Bischof von Szeged, László Kiss-Rigó, hat hingegen zur „Washington Post“ gesagt, die muslimischen Flüchtlinge seien eine „In- vasion“ und bedrohten die christlichen Wer- te. Was sagen Sie zu dieser Frontstellung? Winkler: Dass jede Pfarre oder jedes Kloster eine Familie aufnehmen soll, ist ein Appell, den hoffentlich möglichst viele beherzigen werden. Und das passiert auch in Österreich wie auch in Ungarn. Aber das löst das Ge- samtproblem überhaupt nicht. Und punkto Muslime möchte ich noch darauf hinweisen, dass Saudi-Arabien zwar keine syrischen Flüchtlinge aufnimmt, aber in Deutschland für Flüchtlinge 200 Moscheen bauen will. Dass eine gewisse Besorgnis gegenüber dem Islam und seiner Präsenz in Europa be- steht, halte ich also nicht für unverständlich. Wallner: Also ich bin froh, dass der Papst hier sehr klar und unmissverständlich ist. Die wesentliche Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter ist ja, dass wir uns unseren Nächsten nicht aussuchen können. Ich bin nicht in der Situation zu sa- gen: Ich nehme das kleine Mädchen und den älteren Mann lasse ich liegen. Und diese Nächstenliebe und Nächstenhilfe ist von al- len Christinnen und Christen gefordert. DIE FURCHE: Der Szegeder Bischof sieht das punkto Flüchtlinge anders. Er hat sogar ge- meint, Papst Franziskus habe „keine Ah- nung von der tatsächlichen Situation“ … Winkler: Bei diesem Thema gibt es zwei Ebenen: Die eine ist die unmittelbare Hilfs- bereitschaft, und die andere ist die europä- ische Politik. Der humanitäre Aufruf des Papstes ist natürlich richtig und wichtig – und wird auch angenommen. Aber ich glau- be tatsächlich, dass er mit so prophetischen oder pastoralen Aufrufen nicht das Gesamt- problem abdeckt. Mit der Bergpredigt allein kann man eben keine Politik machen. Wallner: Das ist die klassische politisch- konservative Ausflucht, die christliche Bot- schaft auf den individualethischen Aspekt zu reduzieren und bei strukturellen Fra- gen zu sagen, hier handle es sich um Sach- zwänge oder die Leute verstünden nichts da- von. Ich glaube, dass dieser Papst sehr viel Ahnung davon hat, wie Politik, Soziales und Menschenrechte zusammenhängen, schon auf Grund seiner Herkunft. Es gibt, ich zi- tiere Johannes Paul II., „Strukturen der Sün- de“, und die sind anzugehen. DIE FURCHE: Wollen Sie dazu noch etwas sa- gen, Herr Winkler? Winkler: Nein, der Pfarrer hat gesprochen. Zwischen Sibirien und der Sahelzone Ist die aktuelle Flüchtlingskrise nur ein Vorbote einer neuen Epoche massiver Migrationsbewegungen? Migrations- ströme Historisch sind größere Wande- rungsbewegungen nichts Ungewöhn- liches. Zur Bewälti- gung der aktuellen Herausforde- rungen ist Bildung der zentrale Fak- tor, sagt Demograf Wolfgang Lutz. Refugees Welcome Am Wiener West- bahnhof zeigte sich die Zivilgesell- schaft von ihrer schönsten Seite. Doch wie nachhal- tig ist die Hilfs- bereitschaft? Bei zunehmendem Lohngefälle oder schwindenden Ressourcen steigt das Risiko von Konflikten, die dann zu neuen Flüchtlingswellen führen könnten. Ich frage mich, wie sich ein Herr Strache oder ein Herr Kurz das Grenzendichtmachen konkret vorstellt: Geht das mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Tränengas – oder mit scharfer Munition? Päpstlicher Appell Angesichts der Flüchtlingskri- se hat Papst Fran- ziskus die Län- der Europas zur Aufnahme aller Schutzsuchenden aufgerufen. Die ak- tuelle Krise sei „nur die Spitze des Eis- bergs“, so Franzis- kus. Ursache des Problems sei „ein schlechtes und ungerechtes sozio- ökonomisches System“.

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Seite 2 der "Furche"-Debatte zwischen Hans Winkler und Stefan Wallner

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Neben der aktuellen Flüchtlingskrise sollte derzeit eine weitere „Causa prima“ nicht übersehen werden, sagt der Wiener Demograf Wolfgang Lutz, und verweist auf

die kommende UN-Vollversammlung in New York. Dort sollen ab 25. September nicht weniger als 169 nachhaltige Entwick-lungsziele beschlossen werden, darunter erstmals auch der Klimaschutz: „Wenn wir es nicht schaffen, die globale Erwär-mung einzudämmen, würde das wohl viel mehr Flüchtlinge bedeuten, als wir uns heute vorstellen können“, sagt der Pro-fessor für Sozialstatistik an der WU Wien. Und zwar durch in-direkte Effekte: Denn von den Auswirkungen des Klimawan-dels seien vor allem ärmere Länder betroffen, wodurch sich die globale Ungleichheit weiter verschärfen würde. Bei zuneh-mendem Lohngefälle oder schwindenden Ressourcen steigt das Risiko von Konfl ikten, die dann – weit eher als Naturkata-strophen – zu neuen Flüchtlingswellen führen könnten.

Kampf um Ressourcen

„In vielen Teilen des Nahen Ostens herrscht schon jetzt eine eklatante Wasserknappheit“, bemerkt Lutz. „Und es gibt Stim-men, die behaupten, dass im Syrien-Konfl ikt der Kampf um das Wasser bereits einer der treibenden Faktoren ist.“ Auch für die Länder Nordafrikas und der Sahelzone, die weiterhin ein starkes Bevölkerungswachstum aufweisen, wird eine zuneh-mende Trockenheit prognostiziert. „Die Menschen dort werden mit noch schwierigeren Bedingungen zu kämpfen haben“, so der Forscher. Umgekehrt könnten etwa in Nordkanada und Sibi-

rien riesige Flächen an neuem Lebensraum entstehen, wenn diese Gebiete durch Klimaerwärmung landwirt-

schaftlich fruchtbarer werden. Dass die Migrationsströme aufgrund des Klimawandels jedenfalls nicht mit der

starken Flüchtlingsbewegung von heu-te vergleichbar sein werden, meint der Geograf Heinz Faßmann, Vizerektor der Universität Wien. Denn der Klima-

wandel führe schrittweise zu verschlech-terten Lebensbedingungen in manchen Re-

gionen: „Es wird sicher auch klimabedingte Wanderungen geben, aber die manifestieren

sich wohl unterhalb der Wahrnehmungsgrenze – und werden dann in eine Form von Arbeitsmigra-tion übersetzt.“ In der Forschung werden Migra-tionsströme stets über das Zusammenwirken

dreier Faktoren erklärt: „Push“-Faktoren sind je-ne Umstände, die Menschen aus ihrer Region vertrei-

ben, etwa Krieg oder miserable wirtschaftliche Zustän-de. „Pull“-Faktoren wiederum sind die Anreize, die von den

Migrationszielen ausgehen. Der dritte Faktor ist die Höhe der Hürden, die es zu über-winden gilt: Dazu zählen nicht nur Stacheldraht-zäune, sondern auch Kosten oder rechtliche Rahmenbedingungen. Auf allen drei Ebenen sind Ansatzpunkte zur

Lösung des Flüchtlingsproblems zu erörtern. „Jetzt ist humani-täre Hilfe das Gebot der Stunde; und alles Menschenmögliche muss unternommen werden, um den Krieg in Syrien zu been-den“, sagt Lutz. „Längerfristig muss die globale Entwicklung gefördert werden, und da heißt die Priorität ganz klar Bildung.“

Bildung ist auch von zentraler Bedeutung für die Integration, die von der Bundesregierung nun mit einem Sondertopf von 75 Millionen Euro bedacht wird: Mobile Einsatzteams aus Päda-gogen, Psychologen und Sozialarbeitern etwa sollen im Schul-bereich zum Einsatz kommen. Zudem soll es für Asylwerber künftig möglich sein, in Branchen mit Fachkräftemangel sämt-liche Lehrberufe antreten zu können. „Klar, dass es Grenzen der Aufnahmefähigkeit gibt“, resümiert Heinz Faßmann. „Aber denken Sie nur an die Wiener Bevölkerung im 19. Jahrhundert, als die Mehrheit davon aus Zuwanderern bestand. Moderne Ge-sellschaften sind sehr dynamisch; das stimmt mich mit einem gewissen Optimismus.“

ich rede über Werte, die Basis von Politik. DIE FURCHE: Bleiben wir trotzdem bei den Emotionen: Österreich hat sich in den letz-ten zwei Wochen von seiner solidarischsten Seite gezeigt – am augenfälligsten gleich ne-benan am Westbahnhof. Doch wir waren nur die „Jausenstation der Völkerwande-rung“, wie die Journalistin Sibylle Hamann geschrieben hat. Nun können wir die Men-schen nicht mehr durchwinken, sondern müssen sie beherbergen. Glauben Sie, dass die neue Solidarität nachhaltig sein wird? Wallner: Das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Meine Hoffnung ist wie ge-sagt, dass sich Österreich, Deutschland und andere Länder zusammentun und sagen: Wir schaffen das gemeinsam! Ich glaube je-denfalls, dass unsere Gesellschaft in den letzten Tagen reicher geworden ist durch

die Erfahrung „Ich kann helfen“ und durch die Konfrontation mit so vielen Menschen in enorm herausfordernden Situationen. Das habe ich selbst am Westbahnhof erlebt. Winkler: Ich anerkenne natürlich diese Hilfsbereitschaft, die hoffentlich weiter an-halten wird. Nur werden die Leute auch rea-listischer werden und sehen, dass wir nicht unbeschränkt größere Zahlen von Men-schen aufnehmen können. Außerdem wird es mit dem bloßen Unterbringen von Flücht-lingen nicht getan sein. Die Politik muss al-so mit offenen Karten spielen. DIE FURCHE: Damit sind wir beim Thema Inte-gration: Die Regierung hat zuletzt ein Maß-nahmenpaket im Umfang von 75 Millionen Euro beschlossen – inklusive Deutsch- und Wertevermittlungskursen, besserer Aner-kennung von Abschlüssen und einem Inte-grationsjahr für anerkannte Flüchtlinge oh-ne Job. Sind Sie damit zufrieden? Wallner: Es ist einmal ein erster Schritt und man müsste sofort damit beginnen. Ankün-digungen habe ich schon oft gehört. Winkler: Hier bin ich völlig d’accord. Nur muss man sich auch von der Illusion ver-abschieden, dass alles freiwillig geht. Man muss auch Zwang ausüben und soziale Hilfe an Integrationswilligkeit koppeln. Wallner: Jetzt kommt wieder die Rohrsta-berl-Pädagogik! Es gibt genug Willen bei den Leuten, nur können wir ihnen noch gar kein Angebot machen! DIE FURCHE: Etwas, worauf anerkannte Flüchtlinge Anspruch haben, ist die Min-destsicherung von 828 Euro monatlich. Sie, Herr Winkler, fordern in Ihrer Streitschrift „Herausforderung Migration“, dass sich das ändert. Warum? Winkler: Das ist nicht meine Idee, das hat die Migrations-Expertengruppe im Innen-ministerium vorgeschlagen, der auch Heinz Faßmann (s. rechts) angehört. Es geht da-rum, Geldleistungen zum Teil in Sachleis-tungen umzuwandeln, weil die Mindestsi-

cherung in dieser Höhe oft kein Anreiz ist, sich eine Arbeit zu suchen. Das gilt übrigens auch für Inländer. Wallner: Das ist wieder eine Pauschaldiffa-mierung. Die Leute, die aus Syrien fl iehen, schauen sich ja nicht an, wo es welche Sozi-alleistungen gibt, sondern sie fl iehen in der Regel deshalb in ein bestimmtes Land, weil sie dort Verwandte oder Freunde haben. Winkler: In Rumänien, Serbien und im Ko-sovo bitten die Politiker die europäischen Kollegen: Kürzt die Sozialleistungen! Wenn jemand in Bulgarien ein 400-Euro-Durch-schnittsgehalt hat und anderswo mehr oder das Doppelte als Sozialhilfe bekommt, dann ist er nicht mehr zu halten.Wallner: Sorry, aber jemand, der aus Rumä-nien herkommt, hat nicht sofort Zugang zur Mindestsicherung. Er muss längere Zeit in Österreich gearbeitet haben. DIE FURCHE: Kommen wir am Ende noch zur Kirche, die von der Flüchtlingskrise beson-ders herausgefordert ist – und für die Sie sich beide engagiert haben: Sie, Herr Wink-ler, als Generalsekretär der Katholischen Aktion Kärnten, und Sie, Herr Wallner, als Generalsekretär der Katholischen Hoch-schuljugend und der Caritas. Papst Franzis-kus hat alle Pfarren und Klöster aufgefor-dert, eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen. Der Bischof von Szeged, László Kiss-Rigó, hat hingegen zur „Washington Post“ gesagt, die muslimischen Flüchtlinge seien eine „In-vasion“ und bedrohten die christlichen Wer-te. Was sagen Sie zu dieser Frontstellung? Winkler: Dass jede Pfarre oder jedes Kloster eine Familie aufnehmen soll, ist ein Appell, den hoffentlich möglichst viele beherzigen werden. Und das passiert auch in Österreich wie auch in Ungarn. Aber das löst das Ge-samtproblem überhaupt nicht. Und punkto Muslime möchte ich noch darauf hinweisen, dass Saudi-Arabien zwar keine syrischen Flüchtlinge aufnimmt, aber in Deutschland für Flüchtlinge 200 Moscheen bauen will. Dass eine gewisse Besorgnis gegenüber dem Islam und seiner Präsenz in Europa be-steht, halte ich also nicht für unverständlich. Wallner: Also ich bin froh, dass der Papst hier sehr klar und unmissverständlich ist. Die wesentliche Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter ist ja, dass wir uns unseren Nächsten nicht aussuchen können. Ich bin nicht in der Situation zu sa-gen: Ich nehme das kleine Mädchen und den älteren Mann lasse ich liegen. Und diese Nächstenliebe und Nächstenhilfe ist von al-len Christinnen und Christen gefordert.DIE FURCHE: Der Szegeder Bischof sieht das punkto Flüchtlinge anders. Er hat sogar ge-meint, Papst Franziskus habe „keine Ah-nung von der tatsächlichen Situation“ … Winkler: Bei diesem Thema gibt es zwei Ebenen: Die eine ist die unmittelbare Hilfs-bereitschaft, und die andere ist die europä-ische Politik. Der humanitäre Aufruf des Papstes ist natürlich richtig und wichtig – und wird auch angenommen. Aber ich glau-be tatsächlich, dass er mit so prophetischen oder pastoralen Aufrufen nicht das Gesamt-problem abdeckt. Mit der Bergpredigt allein kann man eben keine Politik machen. Wallner: Das ist die klassische politisch-konservative Ausfl ucht, die christliche Bot-schaft auf den individualethischen Aspekt zu reduzieren und bei strukturellen Fra-gen zu sagen, hier handle es sich um Sach-zwänge oder die Leute verstünden nichts da-von. Ich glaube, dass dieser Papst sehr viel Ahnung davon hat, wie Politik, Soziales und Menschenrechte zusammenhängen, schon auf Grund seiner Herkunft. Es gibt, ich zi-tiere Johannes Paul II., „Strukturen der Sün-de“, und die sind anzugehen.DIE FURCHE: Wollen Sie dazu noch etwas sa-gen, Herr Winkler?Winkler: Nein, der Pfarrer hat gesprochen.

Zwischen Sibirien und der Sahelzone

Ist die aktuelle Flüchtlingskrise nur ein Vorbote einer neuen Epoche massiver Migrationsbewegungen?

Migrations-strömeHistorisch sind größere Wande-rungsbewegungen nichts Ungewöhn-liches. Zur Bewälti-gung der aktuellen Herausforde-rungen ist Bildung der zentrale Fak-tor, sagt Demograf Wolfgang Lutz.

Refugees WelcomeAm Wiener West-bahnhof zeigte sich die Zivilgesell-schaft von ihrer schönsten Seite. Doch wie nachhal-tig ist die Hilfs-bereitschaft?

„ Bei zunehmendem Lohngefälle oder schwindenden Ressourcen steigt das Risiko von Konflikten, die dann zu neuen Flüchtlingswellen führen könnten. “

„ Ich frage mich, wie sich ein Herr Strache oder ein Herr Kurz das Grenzendichtmachen konkret

vorstellt: Geht das mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Tränengas – oder mit scharfer Munition? “

Päpstlicher AppellAngesichts der Flüchtlingskri-se hat Papst Fran-ziskus die Län-der Europas zur Aufnahme aller Schutzsuchenden aufgerufen. Die ak-tuelle Krise sei „nur die Spitze des Eis-bergs“, so Franzis-kus. Ursache des Problems sei „ein schlechtes und ungerechtes sozio-ökonomisches System“.