Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft.

3
22.07.12 15:07 Druckansicht Seite 1 von 3 http://www.gfbv.de/popup_druck.php?doctype=inhaltsDok&docid=191 Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft Nationalitätenkonflikte mit langer Geschichte Tilman Zülch aus pogrom - bedrohte völker Heft 2 / 2001 01. März 2001 Wie die meisten Balkanstaaten hat sich Griechenland seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich in Jahrzehnten blutiger Auseinandersetzungen erkämpft. Erst 1826 konnte das südliche Griechenland seine Unabhängigkeit erklären. 600 Jahre lang war das griechische Siedlungsgebiet von Istanbul aus beherrscht worden. Noch heute spricht man in Griechenland, Bulgarien oder Serbien mit Ranküne vom "Osmanischen Joch" – und verdrängt damit auch die großen Errungenschaften osmanischer Kultur und viele Jahrzehnte guten oder erträglichen Zusammenlebens von Muslimen und Christen. Anfang des 20. Jahrhunderts bewohnten die Griechen alle Küsten der Ägäis und des Schwarzen Meeres bis nach Trapezunt im Osten (heute Türkei) und nach Burgas im Norden (heute Bulgarien). Erst im Balkankrieg 1912/13 eroberten griechische Truppen den südlichen Epirus, Südmazedonien und Westthrakien. Griechen bildeten dort nur Minderheiten innerhalb der Bevölkerung. Weite Teile dieser Regionen waren von christlichen Bulgaren, Pomaken (bulgarischsprachigen Muslimen) und Aromunen, von Albanern christlichen und muslimischen Glaubens, von Türken und von muslimischen Roma bewohnt. In vorangegangenen Jahrhunderten hatten Albaner Regionen Südgriechenlands bis hinunter zum Peloponnes und sogar einzelne griechische Inseln besiedelt und den griechisch-orthodoxen Glauben angenommen. Viele dieser gräzisierten christlichen Albaner nahmen an den griechischen Unabhängigkeitskämpfen teil. Letzte Reste dieser Bevölkerungsgruppe bezeichnen sich heute als Arvaniten und treten für Förderung und Anerkennung ihrer Kultur ein. 1922 versuchte Griechenland, die Siedlungsgebiete an der östlichen Ägäisküste, in Ostthrakien und Konstantinopel an sich zu reißen. Mit Zustimmung Englands und Frankreichs marschierten griechische Truppen Richtung Ankara und wurden vor der türkischen Hauptstadt von Kemal Atatürk vernichtend geschlagen, nachdem die Alliierten ihre Waffenlieferungen eingestellt hatten. Die griechischen Siedlungsgebiete in Ionien und Ostthrakien wurden von türkischen Truppen erobert. Hunderttausende, überwiegend Zivilisten, verloren ihr Leben. Im Vertrag von Lausanne wurde - auch durch britischen Druck - die Vertreibung von 1,5 Millionen Griechisch- Orthodoxen aus der Türkei sanktioniert. Sie wurden in

description

Tilmann Zülch. Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft. Nationalitätenkonflikte mit langer Geschichte; in: Pogrom – bedrohte völker / Heft 2 / 2001:

Transcript of Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft.

Page 1: Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft.

22.07.12 15:07Druckansicht

Seite 1 von 3http://www.gfbv.de/popup_druck.php?doctype=inhaltsDok&docid=191

Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarnund Minderheiten ist verkrampftNationalitätenkonflikte mit langer GeschichteTilman Zülch aus pogrom - bedrohte völker Heft 2 / 2001

01. März 2001Wie die meisten Balkanstaaten hat sich Griechenland seineUnabhängigkeit vom Osmanischen Reich in Jahrzehnten blutigerAuseinandersetzungen erkämpft. Erst 1826 konnte das südlicheGriechenland seine Unabhängigkeit erklären. 600 Jahre lang war dasgriechische Siedlungsgebiet von Istanbul aus beherrscht worden. Nochheute spricht man in Griechenland, Bulgarien oder Serbien mitRanküne vom "Osmanischen Joch" – und verdrängt damit auch diegroßen Errungenschaften osmanischer Kultur und viele Jahrzehnteguten oder erträglichen Zusammenlebens von Muslimen und Christen.

Anfang des 20. Jahrhunderts bewohnten die Griechen alle Küsten derÄgäis und des Schwarzen Meeres bis nach Trapezunt im Osten (heuteTürkei) und nach Burgas im Norden (heute Bulgarien). Erst imBalkankrieg 1912/13 eroberten griechische Truppen den südlichenEpirus, Südmazedonien und Westthrakien. Griechen bildeten dort nurMinderheiten innerhalb der Bevölkerung. Weite Teile dieser Regionenwaren von christlichen Bulgaren, Pomaken (bulgarischsprachigenMuslimen) und Aromunen, von Albanern christlichen undmuslimischen Glaubens, von Türken und von muslimischen Romabewohnt. In vorangegangenen Jahrhunderten hatten AlbanerRegionen Südgriechenlands bis hinunter zum Peloponnes und sogareinzelne griechische Inseln besiedelt und den griechisch-orthodoxenGlauben angenommen. Viele dieser gräzisierten christlichen Albanernahmen an den griechischen Unabhängigkeitskämpfen teil. LetzteReste dieser Bevölkerungsgruppe bezeichnen sich heute als Arvanitenund treten für Förderung und Anerkennung ihrer Kultur ein.

1922 versuchte Griechenland, die Siedlungsgebiete an deröstlichen Ägäisküste, in Ostthrakien und Konstantinopel ansich zu reißen. Mit Zustimmung Englands und Frankreichsmarschierten griechische Truppen Richtung Ankara und wurden vorder türkischen Hauptstadt von Kemal Atatürk vernichtend geschlagen,nachdem die Alliierten ihre Waffenlieferungen eingestellt hatten. Diegriechischen Siedlungsgebiete in Ionien und Ostthrakien wurden vontürkischen Truppen erobert. Hunderttausende, überwiegend Zivilisten,verloren ihr Leben. Im Vertrag von Lausanne wurde - auch durchbritischen Druck - die Vertreibung von 1,5 Millionen Griechisch-Orthodoxen aus der Türkei sanktioniert. Sie wurden in

Page 2: Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft.

22.07.12 15:07Druckansicht

Seite 2 von 3http://www.gfbv.de/popup_druck.php?doctype=inhaltsDok&docid=191

Nordgriechenland angesiedelt. Gleichzeitig mussten über 500.000Muslime – unter ihnen Türken, Albaner, Pomaken und Roma –Nordgriechenland verlassen. Die Schrecken von Flucht, Vertreibungund Völkermord werden seither als beispielhafter"Bevölkerungsaustausch" umschrieben. Nur die muslimischenMinderheiten Westthrakiens wurden, geschützt durch einSonderstatut, ebenso von der Umsiedlung ausgenommen wie 250.000Griechen in Konstantinopel/Istanbul und auf den Inseln Imbros undTenedos.

Mit dem unseligen Mittel des Bevölkerungsaustauschs fördertenebenfalls in den 20er Jahren auch bulgarische und griechische Politikerdie weitere Homogenisierung ihrer Länder. Die griechischeBevölkerung musste die Südküste Bulgariens verlassen, slawischeMazedonier wurden von Griechisch Mazedonien nach Bulgarienumgesiedelt. Während des griechischen Bürgerkrieges 1945-48mussten weitere Zehntausende Slawomazedonier Griechenlandverlassen und wurden auf die kommunistischen Staaten Osteuropasverteilt. Bis heute dürfen die meisten von ihnen nicht in ihre Heimatzurückkehren. Die damals im Land Zurückgebliebenen und ihreNachfahren sind seither nur noch eine kleine Minderheit.

Während der Befreiungskämpfe der Völker des südlichen Balkansgegen die Türken hatte sich die große Mehrheit der Slawomazedonieran Bulgarien orientiert. Die mazedonischen Dialekte galten als Teil desBulgarischen bis Tito-Jugoslawien 1944 eine eigene mazedonischeHochsprache schuf. Seither wurde Alexander der Große, der fast einJahrtausend vor der slawischen Besiedlung des Balkan Mazedonienbeherrschte, eine Art mythischer Begründer Mazedoniens. Als es dersüdlichsten Republik des alten Jugoslawien gelang ohne kriegerischeAuseinandersetzung mit Belgrad die Unabhängigkeit zu erlangen,nahm der neue Staat Mazedonien das antike mazedonischeSonnensymbol in seine Flagge auf.

Jetzt wirkten die Nationalitätenkämpfe in Nordgriechenland nach. Eswaren wohl die größten Massendemonstrationen in Griechenland seitEnde des Zweiten Weltkrieges, als 1994 fast zwei Millionen Griechenmit antimazedonischen Parolen durch Athen und Salonikimarschierten. Griechenland gelang es, eine internationale Diskussionzu entfachen, Skopje zu erpressen und die europäischen Institutionenin Sachen Mazedonien zu paralysieren. Bis heute erleben vieleGriechen Affekte des Chauvinismus, die sich aus Unsicherheit speisen.Vielleicht auch aus schlechtem Gewissen wegen der Vertreibung derMehrheit der mazedonisch- und bulgarischsprachigen Bevölkerung ausGriechenland und der gnadenlosen Unterdrückung der dortzurückgebliebenen Minderheiten.

Noch viel bedenklicher sind die Folgen der antitürkischenRessentiments. Die griechische öffentliche Meinung folgte SerbiensAgitation gegen Bosnien, als es dessen südslawische Muslime mitAggression und Genozid überzog und zu Türken erklärte. Griechenlandnahm entschieden Partei für den Krieg des Milosevic. DessenSchlächter Karadjic erhielt einen Griechischen Menschenrechtspreis.Griechenland unterlief über Serbien verhängte Sanktionen und lieferte

Page 3: Griechenlands Verhältnis zu seinen Nachbarn und Minderheiten ist verkrampft.

22.07.12 15:07Druckansicht

Seite 3 von 3http://www.gfbv.de/popup_druck.php?doctype=inhaltsDok&docid=191

Griechenland unterlief über Serbien verhängte Sanktionen und lieferteNachschub für Belgrad, nicht zuletzt Petroleum aus dem Nahen Osten.Das Milosevic-Regime durfte seine finanziellen Transaktionen überAthen und selbst über das ferne Zypern abwickeln.

Erst eine tolerante griechische Minderheitenpolitik nach denMaßstäben des Europarates und der Europäischen Union, erst dieAnerkennung der Rechte von Aromunen, Arvaniten undSlawomazedoniern, die Beendigung diskriminierender Gesetze undRegierungspraxis gegenüber den drei muslimischen Minderheiten derTürken, Pomaken und Roma, wird verkrustete Ressentiments auflösenund das Verhältnis Griechenlands zu den Nachbarn in Südosteuropaentkrampfen.

Aber jede Beschäftigung mit den griechischenMinderheitenproblemen bedarf eines Blickes in RichtungTürkei. Alle türkischen Regierungen haben den Vertrag vonLausanne missachtet. In den 50er und sogar noch in den 70erJahren des 20. Jahrhunderts kam es zu schrecklichen Pogromen anden Griechen von Istanbul/Konstantinopel und den Inseln Imbros undTenedos. Seit 1974 müssen 80 Prozent der Bevölkerung Nordzypernsals Flüchtlinge im griechischen Südteil der Insel leben. Sogar dieHälfte der türkischen Zyprioten hat das von türkischem Militärbesetzte Nordzypern verlassen. Wenn wir diese Tatsachen im Augehaben, werden unsere Forderungen nach Toleranz für dieMinderheiten in Griechenland umso glaubwürdiger

EINE PUBLIKATION DER GESELLSCHAFT FÜR BEDROHTE VÖLKER -Postfach 2024 -D-37073 Göttingen - Fax: +49/551/58028 - Tel: +49/551/49906-0 -E-Mail: [email protected] - www.gfbv.de * WEITERVERBREITUNG BEINENNUNG DER QUELLE ERWüNSCHT *