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Gründung der DDR: Auferstanden aus Ruinen Vor 60 Jahren Neues Deutschland und Rosa-Luxemburg-Stiftung 7. 7. Oktober 2009 * Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt, Laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, Und wir zwingen sie vereint, Denn es muß uns doch gelingen, Daß die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :| Glück und Frieden sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, Reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, Schlagen wir des Volkes Feind! Laßt das Licht des Friedens scheinen, Daß nie eine Mutter mehr |: Ihren Sohn beweint. :| Laßt uns pflügen, laßt uns bauen, Lernt und schafft wie nie zuvor, Und der eignen Kraft vertrauend, Steigt ein frei Geschlecht empor. Deutsche Jugend, bestes Streben Unsres Volks in dir vereint, Wirst du Deutschlands neues Leben, Und die Sonne schön wie nie |: Über Deutschland scheint. :| »Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück ...«, wusste Homer über den mythischen Helden zu be- richten. War das Mühen von Millionen DDR-Bürgern ver- gleichbar der Sisyphosarbeit? »Die Flucht des Sisyphos« heißt diese Arbeit von Wolfgang Mattheuer von 1972. Vision der Massenflucht ’89? Die in dieser Beilage veröffentlichten Ge- mälde stammen aus der im Verlag Neues Leben erschienenen Mappe »40 Kunstwerke aus der DDR« (36x52 cm, 49,90 ¤). Text der DDR-Hymne von Johannes R. Becher; vertont von Hanns Eisler. Seit Anfang der 1970er Jahre wurde der Text offiziell nicht mehr gesungen.

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Gründung der DDR:

Auferstanden aus RuinenVor 60 Jahren Neues Deutschland und Rosa-Luxemburg-Stiftung 7. 7. Oktober 2009*

Auferstanden aus RuinenUnd der Zukunft zugewandt,Laß uns dir zum Guten dienen,Deutschland, einig Vaterland.Alte Not gilt es zu zwingen,Und wir zwingen sie vereint,Denn es muß uns doch gelingen,Daß die Sonne schön wie nie|: Über Deutschland scheint. :|

Glück und Frieden sei beschiedenDeutschland, unserm Vaterland.Alle Welt sehnt sich nach Frieden,Reicht den Völkern eure Hand.Wenn wir brüderlich uns einen,Schlagen wir des Volkes Feind!Laßt das Licht des Friedens scheinen,Daß nie eine Mutter mehr|: Ihren Sohn beweint. :|

Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,Lernt und schafft wie nie zuvor,Und der eignen Kraft vertrauend,Steigt ein frei Geschlecht empor.Deutsche Jugend, bestes StrebenUnsres Volks in dir vereint,Wirst du Deutschlands neues Leben,Und die Sonne schön wie nie|: Über Deutschland scheint. :|

»Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen:wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren,fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend,stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihnüber die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewichtzurück ...«, wusste Homer über den mythischen Helden zu be-

richten. War das Mühen von Millionen DDR-Bürgern ver-gleichbar der Sisyphosarbeit? »Die Flucht des Sisyphos« heißtdiese Arbeit von Wolfgang Mattheuer von 1972. Vision derMassenflucht ’89? Die in dieser Beilage veröffentlichten Ge-mälde stammen aus der im Verlag Neues Leben erschienenenMappe »40 Kunstwerke aus der DDR« (36x52 cm, 49,90 ¤).

Text der DDR-Hymne von Johannes R. Becher; vertont von Hanns Eisler. Seit Anfang der 1970er Jahre wurde der Text offiziell nicht mehr gesungen.

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2 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

»Es gibt nichts Heilsameresals eine zerstörte Illusion.«

Li Si

Die DDR war ein Experiment. Dies hat siegemeinsam mit allen Staatsgründungen.Viele solche Experimente hat das 20. Jahr-hundert gesehen, und nicht alle haben dasJahrhundert überlebt.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg und derBefreiung vom Faschismus von den Westal-liierten eingesetzten Eliten in Westdeutsch-land hatten auf Westanbindung, einen regu-lierten Kapitalismus und parlamentarischeDemokratie gesetzt. In Ostdeutschlandwirkten die von der Sowjetunion an dieMacht gebrachten und in der SED vereinig-ten Kommunisten und Sozialdemokratenfür Integration in das sozialistische Welt-system, das Modell der sowjetischen Plan-wirtschaft und eine Volksdemokratie unterFührung einer kommunistischen Staatspar-tei. Die Ansätze einer eigenständigen Ge-stalt des Aufbaus des Sozialismus gerietenseit 1948 in die Defensive. Der Kalte Kriegließ Dritte Wege weder in Ost noch in Westzu.

Es gab gute Gründe dafür, das Experi-ment DDR zu wagen. Um es durchzusetzen,musste deutlich mehr Gewalt als in West-deutschland ausgeübt werden. PolitischeVerfolgung Andersdenkender, Berufsverbo-te, Einschränkungen elementarster Freihei-ten haben im Osten viel größere Gruppenerfasst als im Westen und spitzten sich zumEnde hin wieder zu. Und trotzdem: Führen-de kommunistische und sozialdemokrati-sche Funktionäre, geprägt durch die Nie-derlage der Arbeiterbewegung 1933, wieUlbricht, Pieck, Grotewohl, Ebert, triebendas Experiment DDR voran. Eine diszipli-nierte Kaderpartei sicherte es mit hohemEngagement. Viele ihrer jungen Mitgliederhatten aus den Verbrechen des Hitlerfa-schismus die Schlussfolgerung gezogen,dass ein grundsätzlicher Gegenentwurf zumKapitalismus die Bedingung für eine Weltohne Krieg, Ausbeutung, Unterdrückungsei. Wie Christa Wolf, die 1945 gerade 16Jahre alt war, später sagen sollte: Marxis-mus und SED waren »für mich genau dasGegenteil von dem, was im faschistischenDeutschland geschehen war … Ich wolltegenau das Gegenteil. Ich wollte auf keinenFall mehr etwas, was dem Vergangenenähnlich sehen könnte«. Eine bedeutendeund relevante Minderheit der ostdeutschenBevölkerung unterstützte das sozialistischeExperiment, während sich viele neutralverhielten und drei Millionen die DDR zwi-

schen 1949 bis 1989 verließen. Währendaus dem Westen 550 000 zuzogen.

Jedes historische Experiment ist auf Zeitgestellt. Wenn nicht neue Generationen fürsich in seiner Weiterführung eine eigeneZukunft erkennen, wenn darum nicht er-folgreich gekämpft wird, wenn es sich inden Augen großer Gruppen der Bevölkerungnicht immer wieder als legitim erweist undanderen Alternativen gegenüber überlegen,wird es abgebrochen. Dies geschah mitdem sowjetischen Staatssozialismus zwi-schen 1988 und 1991 auf europäischemBoden und auch in der DDR.

Dies sagt nichts über und schon garnichts gegen die Leistungen von 40 JahrenDDR aus – wirtschaftlich, sozial, kulturell,international. Bis in die frühen 1980er Jah-re hinein wurde die DDR von der Mehrheitihrer Bürgerinnen und Bürger als lebens-werter Ort mit Zukunftsperspektive akzep-tiert. Wohlstand, Sicherheit und Friedenschienen im Innern garantiert. Aber dieFreiheitsansprüche neuer Generationen,die ökologische Frage, globale Gefährdun-gen und der wachsende technologisch-öko-

nomische Rückstand gegenüber der Bun-desrepublik stellten das Erreichte in Frage.Welche Antwort konnte darauf gefundenwerden?

Die Ursache dafür, dass das ExperimentDDR nicht fortgesetzt werden konnte, wa-ren die Strukturen des sowjetischen Sozia-lismus. Der Versuch, die grundlegenden De-fizite zu überwinden, sprengte unvermeid-lich das System. Drei Beispiele dazu: (1)Schon in den 1960er Jahren waren wirt-schaftliche Reformansätze und zentralisti-sche Planwirtschaft in einen unlösbarenKonflikt geraten. Die VR China ging seit1978 dazu über, eine Mehrsektorenwirt-schaft mit einem global sich öffnenden ka-pitalistischen Unternehmensbereich aufzu-bauen. (2) Da der Führungsanspruch derSED »wissenschaftlich« gerechtfertigt wur-de, war öffentliches Andersdenken unterStrafe gestellt. Die Führung der KPdSU un-ter Michail Gorbatschow entwickelte eine

Politik von Glasnost, die bald alle Säulendes Marxismus-Leninismus zum Einsturzbrachte. (3) Verbot der Bildung unabhängi-ger politischer Organisationen und umfas-sende Kontrolle über die Kader machtenpolitische Erneuerung unmöglich. Die pol-nische Gewerkschaft Solidarnosc erkämpftedagegen ihre Anerkennung und saß seit1988 mit der Staatspartei Polens, derPVAP, am Runden Tisch. Sie erzwang 1989halbfreie Wahlen, bei denen sie die über-wältigende Mehrheit der Stimmen erhielt.Jeder radikale Versuch der Öffnung zerstör-te institutionelle Grundlagen des Systems.

Der Sozialismus war historisch entstan-den mit dem Anspruch, die Freiheitsfort-schritte der bürgerlich-kapitalistischen Mo-derne zu verallgemeinern und auch denMitgliedern der unteren sozialen Gruppenzugänglich zu machen. Eine klassenloseGesellschaft der Freien und Gleichen sollteentstehen. Das Experiment DDR als Teil dessowjetischen Experiments scheiterte, weildie Strukturen, mit denen dieses Ziel er-reicht werden sollte – Zentralverwaltungs-wirtschaft, Diktatur einer Staatspartei,

Herrschaft ei-ner Ideologie– sich nichtals Durch-gangsstufe aufdem Weg zuhöherer glei-cher Freiheiterwiesen,sondern alsSackgasse ei-nes Wenigeran Freiheit.

Die zivilisa-torische Katas-trophe desErsten undmehr noch desZweiten Welt-kriegs hattenauf das völligeGegenteil zumKapitalismusverwiesen.Aber es zeigtesich: Die Zen-tralverwal-tungswirt-schaft ist zwar

das genaue Gegenteil eines entfesseltenKapitalismus, aber dem regulierten Kapita-lismus nicht überlegen. Die Diktatur einerStaatspartei steht im Gegensatz zur parla-mentarischen Demokratie, aber sie warschlechter. Den Faschisten hätte nicht dieFreiheit gegeben werden dürfen, 1933 dieMacht an sich zu reißen. Aber deshalb kannnicht die Freiheit des Andersdenkens ver-boten werden, soll Erneuerung nicht blo-ckiert werden. Das bloße Gegenteil vonschlecht hat sich nicht als hinreichend guterwiesen.

Neue Generationen wollten 1989 dasExperiment DDR nicht fortsetzen. Der Sozi-alismus aber als eine höhere Ordnung derFreien und Gleichen ist damit nicht von derTagesordnung der Weltgeschichte. NeueExperimente auf dem Weg dahin werdenjedoch offen sein müssen für immer neueAufbrüche – wirtschaftlich, sozial, ökolo-gisch, politisch und geistig.

Jedes historischeExperiment ist aufZeit gestellt. Wenn

nicht neueGenerationen für

sich in seinerWeiterführung eine

eigene Zukunfterkennen, wird es

abgebrochen.

Prof. Michael Brieist Direktor des

Instituts für Gesell-schaftsanalyse derRosa-Luxemburg-

Stiftung.

DasExperiment

Wagnis und Enttäuschung

Von Michael Brie

Wolfgang Peukerschuf sein Bild»A. P., geboren1949« im Jahre1986.

Impressum

Herausgegeben von:Neues Deutschlandund Rosa-Luxemburg-Stiftung

Franz-Mehring-Platz 110243 Berlin

Internet:www.nd-online.dewww.rosalux.de

Redaktion: WolfgangHübner, Detlef Nakath,Karlen Vesper, JürgenReents (V.i.S.d.P.),

Druck: DruckhausSchöneweide

Anzeigen:ND-Anzeigenservice+49-30-29781841

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7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 3

Von Martin Hatzius

Stephan, 19 Jahre alt, Polizeischüler ausdem Vogtland, hat von seinen Eltern undGroßeltern »nur Gutes« über die DDR ge-hört. Und in der Schule? »Da wird dir im-mer nur die schlechte Seite beigebracht.«Woran, will ich wissen, hält Stephan sich,wenn er sich selbst ein Bild von der DDRmacht? An beide, an keinen: »Es gibt haltimmer gute und schlechte Seiten. DieSchwarz-Weiß-Malerei muss abgeschafftwerden.«

Vor gut einem Jahr sorgte ein Studie desForschungsverbundes SED-Staat der FU Ber-lin für Aufsehen, die Schülern gravierendeWissenslücken in Sachen DDR bescheinigte.Nur die Bayern schnitten einigermaßen be-friedigend ab. Besonders in Ostdeutschlandstellten die Politologen Klaus Schroederund Monika Deutz-Schroeder indes parallelzu »alarmierendem« Unwissen eine »Ver-klärung und Verharmlosung« der DDR fest,für die sie die brüchige Erinnerung der El-tern und starke Versäumnisse an den Schu-len verantwortlich machten.

»Was wir in der Schule gelernt habenund was meine Eltern über die DDR erzählthaben, das passt schon im Großen undGanzen zusammen«, sagt Fabian zu mir,ein 18-jähriger Abiturient und Fußballfanaus der Gegend um Leipzig. »Aber wennman das immer nur aus Erzählungen erfährtund nicht selbst erlebt hat, dann kann mansich eben nur irgendwas zusammendenken.Wie es wirklich war, das erzählt dir ja kei-ner.«

Die Schroeder-Studie mit dem Titel »So-ziales Paradies oder Stasi-Staat?« löste ei-nen Sturm des Widerspruchs aus. Schon dasmethodische Vorgehen wurde als unzulässigbewertet. »Diese Studie weiß immer schonvorher, was richtig ist«, urteilte der Ham-burger Historiker Bodo von Borries. Als»richtig« sollte so wohl die Zustimmung zudem Satz gelten: »In der DDR war der Alltagfür viele durch Diktatur und Überwachunggeprägt.« Im Westen punkteten rund dreiViertel der Schüler, im Osten nur 50 Pro-zent.

»Alltag« und »Diktatur« – beides in ei-nem Atemzug zu nennen, stößt vielen Ost-deutschen übel auf. Ihre Studie brachteden Schroeders haufenweise zornige Postein. »Oh, wie schön ist die DDR« heißt zy-nisch die jetzt von Klaus Schroeder undMonika Deutz-Schröder publizierte Doku-mentation der heftigen Reaktionen. »In nurwenigen Zuschriften wird Entsetzen geäu-ßert über das positive DDR-Bild vieler ost-deutscher Jugendlicher und die damit ein-hergehende Verklärung des SED-Staates alssoziales Paradies«, konstatierten die Polito-logen kürzlich auf »Welt Online«. »Die weitüberwiegende Mehrzahl der E-Mails undBriefe verteidigt indes die Sichtweise derostdeutschen Schüler leidenschaftlich.«

Anfang 2008, kurz bevor die FU-StudieSchlagzeilen machte, sprach ich mit jungenMännern und Frauen, die 1989, im Jahr derWende, geboren worden sind. Ich fragtesie, was sie über die DDR denken, die sienicht mehr erlebt haben. Und ich wolltewissen, welche Rolle dieses ferne Land für

ihr heutiges Leben spielt. Das DDR-Bildmeiner Gesprächspartner war – trotz Her-vorhebung der »fehlenden Arbeitslosigkeit«,der »menschlichen Nähe« und der »sozialenAbsicherung« – keineswegs durchweg posi-tiv. Es war differenziert. So äußert Marie,die einem christlichen Leipziger Elternhausentstammt, den Wunsch, »die Gemein-schaft, zum Beispiel in der FDJ«, einmalhautnah zu erleben. »Ob es wirklich so war,dass der Eine auf den Anderen gebaut hatund aufgepasst, das würde mich interessie-ren. Ich würde das gut finden.« Nach einerPause fügt sie hinzu: »Aber für den, der indieser Gemeinschaft nicht dabei war, ist essicher beengend gewesen.«

Ja-Nein-Optionen taugen nicht dazu, dasDDR-Bild derjenigen zu erfassen (und zubewerten), die neben dem Schulbuchwissenüber die DDR auch Eindrücke von Famili-enmitgliedern und Bekannten zu verarbei-ten haben, die eben nicht ständig das Ge-fühl hatten, in einem »Unrechtsstaat« zuleben. »In der Schule wird das Thema sobesprochen, wie jedes andere geschichtli-che Thema auch«, sagt Claudia, eine19-jährige Gymnasiastin, »das geht hierrein und da raus.« Was wirklich interes-siert, sind die eigenen Erfahrungen der Ge-genwart – Überwachungskameras in derStraßenbahn, Polizeiwillkür beim Fußball-spiel, Nazis in der Nachbarschaft. Ist dasdie Demokratie, die der »Diktatur DDR« soüberlegen ist?

Jeder, mit dem ich sprach, fühlt sich »ir-gendwie« als Ossi. Keiner wünscht sich dieDDR zurück. Aber mal einen Tag in diesesLand hineinzuschnuppern, von dem sie soWidersprüchliches hören, das wünschen sichalle.

»Wie es wirklich war,erzählt dir ja keiner«

Was wissen die Kinder der Wende von der DDR?

Martin Hatzius,geboren 1976in Berlin (0st),ist Feuilleton-Redakteur dieserZeitung.

Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung BerlinKopenhagener Straße 76 - 10437 Berlin-Prenzlauer Berg

Tel: 030/47 53 87 24 – Fax: 030/47 37 87 78 oder 030/47 37 87 75E-mail: [email protected] Internet: www.helle-panke.de

Von der „doppelten Staatsgründung“ zur „europäischen Zentralmacht“

„Deutsch-deutsche“ Außenpolitik von 1949 bis heute13. Potsdamer Kolloquium zur Außen- u. DeutschlandpolitikDonnerstag, 12. November 2009, 18.00 bis 21.00 Uhr Eröffnung und Begrüßung: Otto Pfeiffer, Präsident des Verbandes für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. Berlin Außenpolitik und Diplomatie zwischen NATO-Konsens im Kosovo und Kriegsverweigerung im Irak Podiumsdiskussion: Dr. Hans Voß, Prof. Egon Bahr, Dr. André Brie, Dr. Gunter Pleuger – Moderator: René HeiligFreitag, 13. November 200910.00 bis 12.30 Uhr1970 - 1990. Die Treffen von Erfurt und Kassel und die deutsch-deutsche Vertragspolitik Podiumsdiskussion: Dr. Hans Schindler, Prof. Dr. Claus Montag, Dr. Hermann Freiherr von Richthofen - Moderator: Dr. Detlef Nakath 12.30 bis 13.30 Uhr Mittagsimbiss 13.30 bis 15.30 Uhr 1949 - 1975. Zwischen Hallsteindoktrin und europäischer Ent-spannungspolitik Podiumsdiskussion: Dr. Werner Kilian, Prof. Dr. Wilhelm Ersil, Julij Kwizinskij (Moskau) Moderator: Prof. Dr. Siegfried Prokop 15.30 bis 16.00 Uhr Schlusswort Dr. Detlef Nakath

Eine Kooperationsveranstaltung der „Hellen Panke“ e. V. Berlin mit der RLS Brandenburg und dem Verband für Internationale Politik und Völkerrecht e.V. Berlin

Wir bitten um Ihre Anmeldung bis zum 6. November 2009: RLS Brandenburg e.V., Dortustr. 53, 14467 Potsdam, Fon: 0331/817 04 32,E-Mail: [email protected]ühr: 2 Euro / 5 Euro (inkl. Imbiss und Getränke)Tagungsstätte: Altes Rathaus Potsdam, Am Alten Markt 9, 14467 Potsdam

Was ich mir gernemal hautnahangucken würde,ist dieGemeinschaft, dieja immer da war,zum Beispiel beider FDJ. Ob eswirklich so war,dass der Eine aufden Anderengebaut hat undaufgepasst. Daswürde ich gutfinden, ja. Aber fürden, der in dieserGemeinschaft nichtdabei war, ist essicher beengendgewesen.

Marie, 19 Jahre

Rudolf BergandersBild »Junge Men-schen« entstand1962.

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4 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

● Hans Modrow, wie haben Sie die Grün-dung der DDR am 7. Oktober 1949 erlebt?

Ich kam im Januar 1949 aus sowjeti-scher Kriegsgefangenschaft und habe alsSchlosser in Hennigsdorf angefangen. Daswar eine Empfehlung meines Lehrers in derAntifa-Schule: Wenn du zurück bist, gehein deinen Beruf, lerne das Leben kennen,bevor du in einer politischen Funktion tätigwirst. Das hat leider nur ein halbes Jahrgedauert.

● Warum leider?

Weil ich gerne wenigstens ein Jahr imBetrieb geblieben wäre. Das wäre solidergewesen. So wurde ich schnell Leiter derAbteilung Arbeiterjugend im Brandenbur-ger FDJ-Landesvorstand. Und als FDJler warich Teilnehmer an der großen Demonstrati-on, am Fackelzug am 10. Oktober 1949 inBerlin Unter den Linden, wo Erich Hone-cker den Schwur der Jugend zur DeutschenDemokratischen Republik ablegte.

● Deutsche Demokratische Republik – dieserStaatsname bedeutete einen hohen An-spruch. Welche Erwartungen haben Sie da-mals damit verbunden?

Ich war mit 17 Jahren überzeugt in denKrieg gezogen und nach vier Jahren Kriegs-gefangenschaft zurückgekommen mit derÜberzeugung, dass ein neues Deutschlandnötig ist, wenn es nicht wieder Krieg gebensoll. Das war zunächst das Hauptempfin-den meiner Generation, die ja verheiztwerden sollte. Wir wollten ein Deutschland,das wieder in der Welt geachtet wird, unddaran wollte ich mitarbeiten. Demokratischoder sozialistisch, darüber habe ich im Ok-tober 1949 nicht nachgedacht. Dieser 10.Oktober mit unserer Demonstration abendswar ein Schritt in ein neues Leben.

● Wie ist der Anspruch der Demokratie, alsoim Wortsinne der Volksherrschaft, in denersten Jahren der DDR verwirklicht worden?In der Verfassung von 1949 stand der Satz:Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.

Für mich als Abgeordneten – anfangs immecklenburgischen Landtag, dann in derVolkskammer – war Demokratie nicht zu-erst eine theoretische Angelegenheit. Son-

dern ein Raum, um praktisch etwas für dieInteressen der Jugend zu tun. Ab 1952 kamder Begriff der sozialistischen Demokratie;das war damals noch keine Streitfrage indem Sinne, ob sie gewährt wird oder nicht.Unser Empfinden war: Wir sind in einemdemokratischen Aufbau. Wenn man in Dör-fern, wo noch die Petroleumlampen brann-ten, mit organisierte, dass Strom in dieHäuser kommt, wenn man dabei war, wiedas Licht angeschaltet wurde – das gehörtefür mich zum Erleben von Demokratie.

● Am 7. Oktober 1949 hieß es auf der Titel-seite des ND, das Ziel sei die Schaffung einessouveränen, unabhängigen, selbstständigendeutschen Staates. Wie unabhängig, souve-rän und selbstbestimmt war diese DDR?

Ein erster Schritt war, dass die sowjeti-sche Militäradministration einen nicht ge-ringen Teil ihrer Rechte auf die neue Regie-rung übertrug. Natürlich blieb die Sowjet-union Siegermacht mit ihren Einflussmög-lichkeiten. Die DDR hatte eine einge-

schränkte Souveräni-tät, ganz eindeutig.Wie die Bundesre-publik auch.

● In den 50er, stär-ker noch in den 60erJahren setzte die SEDihre führende Rolledurch – bis hin zurFestschreibung in derVerfassung 1968.

Um 1950 habe ichden DemokratischenBlock der fünf Par-teien als eine sehrstreitbare Zusam-menkunft erlebt.

● Zeitungsberichtevon damals vermit-

teln den Eindruck von Gleichberechtigung,obwohl man das Ulbricht-Zitat von 1945kennt: Es muss demokratisch aussehen, aberwir müssen alles in der Hand haben.

Ich habe noch Persönlichkeiten wie OttoNuschke von der CDU kennen gelernt. Daswaren keine Leute, die sich über den Löffelbalbieren ließen. Aber im Übergang zu den60er Jahren rückten neue Personen an dieSpitze der Parteien, da hat sich manchesverändert. Manfred Gerlach in der LDPD,Gerald Götting in der CDU – die hatten einStück FDJ-Geschichte zusammen mit ErichHonecker erlebt. Da gab es einen anderenUmgang miteinander. Ich möchte nicht sa-gen Kumpanei, aber neben der gegenseiti-gen Abstimmung der Parteien entstandenneue Spielregeln, über die sich die Füh-rungsrolle der SED durchsetzte.

● Im Rückblick – war das System von vorn-herein so angelegt?

Wenn man es im Rückblick nur so wer-tet, vergisst man eine Besonderheit derDDR. Es gab kein zweites osteuropäischessozialistisches Land mit einem solchen Par-teiensystem. Dass es bei uns anders war,hatte mit zwei Momenten zu tun: mit der

Geschichte der Weimarer Republik, die bisin die erste DDR-Verfassung reichte, undder Klugheit der sowjetischen Militäradmi-nistration. Die ging davon aus, dass die po-litische Landschaft in allen Besatzungszo-nen zunächst eine Ähnlichkeit besitzensollte. Auch in den westlichen Besatzungs-zonen gab es SPD, KPD, die Liberalen, dieCDU. Man hatte ja damals noch den ge-samtdeutschen Rahmen vor Augen.

● Trotzdem musste doch die Sowjetunionein großes Interesse daran haben, dass dieSED im Osten den Haupteinfluss hat.

Gewiss hatte sie ein Interesse daran.Aber es saßen auch kluge Leute in der so-wjetischen Militäradministration, die umGleichgewichte gerungen haben und diemanchmal mit ihrer Politik nicht die Zu-stimmung in Moskau fanden. Aber sie wa-ren dem Leben in Deutschland näher undwussten, dass man ganz ohne Beachtungdes Westens keine Politik machen konnte.

● Sie haben Ende der 60er, Anfang der 70erJahre in der Abteilung Agitation im Zentral-komitee der SED gearbeitet. In der DDR-Ver-fassung von 1949 steht der schöne Satz: Ei-ne Pressezensur findet nicht statt. In derVerfassung von 1968 heißt es, die Mei-nungsfreiheit sei gemäß den Grundsätzender Verfassung gewährleistet, ebenso dieFreiheit von Presse, Rundfunk und Fernse-hen. Wie hat sich davon ausgehend dieenorme ideologische Bevormundung undSteuerung entwickelt?

Wie in anderen Bereichen gab es auch inder Medienpolitik wellenförmige Entwick-lungen. Wir wollten nach dem 8. Parteitag1971 neue Möglichkeiten für die journalis-tische Arbeit schaffen, im Sinne höhererQualität und einer größeren Leserschaft,Zuschauerschaft, Zuhörerschaft. Denn wirstanden ja in einer Auseinandersetzung mitden Medien der Bundesrepublik Deutsch-land. Damals entstanden im Fernsehen dieUnterhaltungssendung »Ein Kessel Bun-tes«, ein Kulturmagazin und anderes.Gleichzeitig gab es eine Steuerung der Me-dien; jede Woche nach den Politbüro-Sit-zungen kamen die Chefs der wichtigstenRedaktionen bei uns zusammen. Das hatteden Charakter der Hintergrundinformationund Orientierung durch Minister und ande-re Politiker, die auch Fragen beantwortenmussten. Es war der Versuch, eine Lücke zuschließen, denn Pressekonferenzen von Po-litikern waren bis zum Ende der DDR sehrunüblich.

● Dennoch gab es keinen freien Nachrich-tenfluss. Kein Chefredakteur hatte alle In-formationen zur Verfügung, um dann frei zuentscheiden, was er damit macht.

Die Nachrichtenagentur ADN war dieStelle, über die die Nachrichtengebung amstärksten beeinflusst wurde. Im Zweifelsfallhaben die ADN-Diensthabenden bei uns imZK gefragt, ob bestimmte Nachrichten frei-gegeben werden sollen. Die Redaktionenbekamen verschiedene ADN-Bulletins, mitdenen bestimmte Sicherheitsstufen ver-bunden waren. Dadurch wurde gelenkt undWissen selektiert.

Die innerenProbleme wurden

verdrängtWolfgang Hübner sprach mit Hans Modrow

über Demokratieanspruch und -defizit der DDR

Wenn man nachdem Krieg in den

Dörfern, mit orga-nisierte, dass Strom

in die Häuser kam– das gehörte fürmich zum Erleben

von Demokratie.

Hans Modrow warjahrzehntelang FDJ-bzw. SED-Funktio-när sowie Abge-ordneter der Volks-kammer. Währendder Wendezeit warer Ministerpräsi-dent der DDR. Spä-ter wurde er für diePDS in den Bundes-tag und ins EU-Par-lament gewählt.

ND-Foto:Burkhard Lange

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7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 5

Fortsetzung von Seite 4

● Mitte der 70er Jahre gab es den KSZE-Pro-zess, die Schlussakte von Helsinki wurde un-terzeichnet. Für die DDR bedeutete das eingroßes Stück Anerkennung, aber auch dieUnterschrift unter die Gültigkeit politischerMenschenrechte. Warum hat sich die DDR-Führung mit diesen Menschenrechten immerso schwer getan?

Diese Schlussakte von Helsinki war einKompromiss. Beide Seiten – Westen undOsten – glaubten, dass sie dabei für sichden größeren Vorteil erzielen. Egon Bahrhat einmal gesagt: Beide Seiten haben Krö-ten geschluckt, aber der Westen war derÜberzeugung, dass die Zugeständnisse desOstens in Sachen Menschenrechte die grö-ßere langfristige Wirkung haben würden.Die Geschichte zeigt, dass er Recht hatte.Erich Honecker hat die Schlussakte unter-schrieben, aber die SED hatte keine Kon-zeption für den Umgang mit den Festlegun-gen im Korb 3.

Ich möchte noch einen anderen Fakt er-wähnen. Beide deutsche Staaten sind 1973zur selben Stunde in die UNO aufgenom-men worden und keiner der beiden Staatenhat den anderen etwa vor die Tribüne derVereinten Nationen gebracht, um über Pro-bleme zu diskutieren. Auch nicht über dasThema Grenze mit all ihren Zwängen undtragischen Ereignissen. Beide Blöcke warennicht interessiert, Fragen des Kalten Krie-ges oder der deutschen Teilung in die UNOzu tragen. Das war nach meinem Empfin-den in den folgenden Jahren die Basis, vonder aus die DDR-Führung die Welt betrach-tet hat. Hinzu kam die schnelle internatio-nale Anerkennung. Honecker begann seineReisen. Die inneren Probleme wurden da-bei verdrängt und sie drückten doch immerstärker, auch wegen der Vereinbarungenvon Helsinki.

● Wäre in der DDR etwa bei der Meinungs-freiheit mehr möglich gewesen oder hättejede Öffnung einen Schritt zum Zusammen-bruch des gesamten Systems bedeutet, wieer 1989/90 geschah?

Letzteres ist eine gewisse Übertreibung,denn es kam im DDR-System vieles zu-sammen. Das Problem der Menschenrechtein der DDR erfuhr ja eine ständige Zuspit-

zung durch die Frage der Reisens und Aus-reisens. Dieses Problem hatte kein anderessozialistisches Land in dieser Dimension,und daraus erwuchsen und verschärftensich viele Schwierigkeiten. Wir hatten bei-spielsweise eine breite Medienlandschaft,aber wir hatten in den Redaktionen nebenAnleitung und Zensur auch das, was manals Schere im Kopf bezeichnet. In ihremGlauben, dass ihre Überzeugungen die Ge-sellschaft tragen, hat die SED nicht oder zuspät den wachsenden Vertrauensverlustbemerkt. Der ist nicht erst im Herbst 1989entstanden, das war das Ende eines Pro-zesses. Begonnen hat er viel zeitiger.

● Mit der Wende im Herbst 1989 entstandfast über Nacht eine Atmosphäre offener po-litischer Debatten ohne Tabus, etwa an denRunden Tischen. Wenn man Demokratie alsVolksherrschaft und Republik als öffentlicheAngelegenheit wörtlich nimmt – wurde derAnspruch im Namen DDR Ende 1989, An-fang 1990 am besten erfüllt?

Ja, ich glaube sogar, das war überhauptdie demokratischste Zeit, die wir inDeutschland jemals hatten. Da gab es einWechselspiel zwischen der Regierung undder Opposition, zwischen der Volkskammerund dem Runden Tisch. Dazu gehört aberauch: Der Runde Tisch hätte nicht dieseWirkung gehabt, sondern wäre ein Tisch inder Ecke geblieben, wenn die Regierungnicht entschieden hätte, seine Tagungen imFernsehen direkt zu übertragen und alle fi-nanziellen und materiellen Voraussetzun-gen seiner Tätigkeit zu gewährleisten.

● Sie waren damals Ministerpräsident.

In dieser Zeit kamen zu den Ministernaus den fünf so genannten etablierten DDR-Parteien noch Minister ohne Geschäftsbe-reich aus acht Oppositionsgruppen, diesich schon als Parteien verstanden. DieseAcht wären nie in die Regierung gegangen,wenn sie das Gefühl gehabt hätten, dieFünf wollten sie über den Tisch ziehen. Wirhaben gemeinsam für die Volkskammer-wahl 1990 ein Wahlgesetz ohne Fünf-Pro-zent-Klausel in Kraft gesetzt. Mit einer sol-chen Klausel, wie sie in der Bundesrepubliküblich war und ist, wären die Oppositions-gruppen nicht mit einem einzigen Mandatin die Volkskammer gekommen.

● Die PDS ist nicht, wie viele wünschten,untergegangen, sondern in der Linksparteiaufgegangen. Diese hat eine Programmde-batte vor sich. Was sollte sie aus dem Um-gang mit der Demokratie in DDR lernen?

Wir müssen zweierlei leisten: Erstensmüssen wir uns weiter mit der Analyse desSozialismus im 20. Jahrhundert befassen,seinen Defiziten, den Gründen für seinScheitern. Dazu gehört die Demokratiefra-ge. Zweitens stehen wir heute in einerweltweiten Debatte u.a. darüber, wie esmit dem Eigentum, mit der Macht des Kapi-tals und der Banken weitergeht. Auch da-rüber, ob die gegenwärtige parlamentari-sche Parteiendemokratie das letzte Wortsein soll. Ich glaube nicht daran, dass manden Kapitalismus mit Moral und Ethik bän-digen kann. Der Staat, die Gesellschaft sindda in Verantwortung. Wie kann die Gesell-schaft stärker in wichtige Entscheidungeneinbezogen werden – bei dieser Frage gehtes um ein zentrales Element von Demokra-tie.

In ihrem Glauben,dass ihreÜberzeugungen dieGesellschafttragen, hat die SEDnicht oder erst zuspät denwachsendenVertrauensverlustbemerkt.

»Opfer des Faschis-mus« von HansGrundig, 1946/47

Unsere Publikationen aus 12 Jahren„Potsdamer Kolloquia zur Außen- und Deutschlandpolitik“��Jürgen Hofmann/Detlef Nakath (Hrsg.):� ���������������� ����������� ������������������������������������� ��������� ���������� ������� �!��� "�#$$%����Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):�� &'���������(����������������&�)��������������� ���������������* ��� !��� "�#$$$���Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):�� +��������� �������,�����-.�����/ �������0 ���� "�$��1���"'���#$%$ � !��� "�2333���Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):� ��������������0��� ���� ��������������4��������������������5���������� �������������6����� �!��� "�233#���Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):�� �������������������7����� ������� ���8"�4��� �(�������� � 9��������� �!��� "�233:���Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):� ���������0 ���� ������������������&�)��������������� ���������������*��� �"�������� ����������������� �!��� "�233;���Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):� ��������������,'�������9���������������� ""�� �'������6���� ��� <�� ������������6���'�������(�������� �!��� "�233=���Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):�� +(��������4���""���.������&�)��������������� ��������� "�6���������� ��������� ��� �!��� "�233>���Daniel Küchenmeister/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.):� ����?������������������������<��'���������<��� ������������ �!��� "��� 233%���Detlef Nakath (Hrsg.):� &���������� ���/���� �����@�7����4����"����"�&�)��������� ������� �����������6����� �� �!��� "�233%��

Einzelpreis pro Publikation 10�g

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Wolfgang Hübnerist stellvertreten-der Chefredakteurdes ND. Er berich-tete u.a. vomWahlkampf und derVolkskammerwahlim März 1990.

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6 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

»Mensch, das sinddoch unsere

Kerzen, die habenwir doch

hergestellt! Nur dieVerpackung liefern

sie uns.«Lisa Kämpfer:

Bestarbeiterin, drei Kinder

Dreizehn ist sie, als der Krieg vorbei ist,und sie hat Kummer: Gerade erst hat sie dieGroßmutter verloren, bei der sie aufge-wachsen ist; die Mutter zeigt an ihr kaumInteresse. Lisa steht praktisch allein da.Gern würde sie Verkäuferin werden, aber»Eine« aus solchen Verhältnissen will kei-

ner. Das Arbeitsamt schickt sie zum Bauern,zum Kartoffelnlesen und Rübenverziehen.Kein Wunder, dass sie, als sie sich verliebt,Hals über Kopf einem jungen Mann folgt,nach Lutherstadt Wittenberg an der Elbe.Niemand hat Lisa aufgeklärt, so bringt sie1953 ihr erstes Kind zur Welt, eine Tochter.Der frischgebackene Vater macht sich ausdem Staub. 1955 und 1961 werden ihreSöhne geboren, auch deren Vater lässt siesitzen. Lisa hat kein Glück mit Männern.

Aber ein bisschen Glück hat sie doch.Nach der Geburt ihrer Tochter findet sieArbeit im VEB Haushaltschemie Witten-berg, der wenig später VEB Wittol heißenwird. Die junge Industrie sucht Arbeiterin-nen. Lisa Kämpfer muss Geld verdienen.

Der Betrieb produziert Schuhcreme undKerzen. Sie fängt in der Kerzenproduktionan, ungelernt. Gearbeitet wird in dreiSchichten. Die Frühschicht beginnt um5.30 Uhr, die Mittelschicht um 14 Uhr, dieSpätschicht um 22 Uhr. Gut, dass sie späterihre Söhne zunächst in der Wochenkrippe,dann im Wochenkindergarten des Betriebesunterbringen kann. Ein schlechtes Gewis-sen hat sie nicht, das kann sie sich nichtleisten. »Man war froh, dass man’s hin-kriegte. Zwischendurch konnte ich ja auchnach ihnen schauen, ein bisschen mit ihnenspazierengehen.« So einfach, wie es heute

klingt, war es damals nicht. »Man hat sichdann dran gewöhnt.«

Die Kinder geraten gut, bald gehen siezur Schule. Die Nachbarn staunen: Stetssehen alle drei Kämpfer-Kinder wie ausdem Ei gepellt aus. Aber oft müssen siemorgens allein aufstehen, die Mutter istdann schon im Betrieb. Die Frühstücks- unddie Schulbrote hat sie ihnen aber noch ge-schmiert. Immerhin, wenn sie Früh- oderNachtschicht hat, kann sie nachmittagsaufpassen, dass die Kinder ihre Schulauf-gaben erledigen – da ist sie hinterher.

Lisa Kämpfer geht gern arbeiten. Mit denKollegen versteht sie sich. Anfangs ziehensie die Kerzen von Hand, dann mit Hilfe vonHalbautomaten, später haben sie Ziehau-tomaten. Jetzt ist sie Chemiefacharbeiterin,den Abschluss hat sie in der Erwachsenen-qualifizierung erworben. Sie stellen Haus-haltskerzen, Tafelkerzen, Adventskerzen,Raureifkerzen und Altarkerzen her, auch fürden Export. Einmal gibt eine Bekannte miteiner hübschen Kerzenpackung aus demWesten an. Lisa schaut in die Schachtel undruft: »Mensch, das sind doch unsere Ker-zen, die haben wir doch hergestellt! Nur dieVerpackung, die liefern sie uns.«

Sie verdient 500 Mark im Monat, später600. Die Kinder fahren im Sommer ins Be-triebsferienlager, ins Erzgebirge oder inden Harz. Alle zwei, drei Jahre macht LisaKämpfer mit ihnen gemeinsam Urlaub, ineinem Ferienheim der Gewerkschaft. ZwölfJahre lang ist sie in ihrer Brigade der Ge-werkschaftsvertrauensmann, dabei leistetsie mehr als mancher Mann. Sie Vertrau-ensfrau zu nennen, das kommt niemandemin den Sinn. Trotzdem gibt es Frauentags-feiern. Ebenso Brigadefeiern, -versamm-lungen und -ausflüge. Sie werden als »Kol-lektiv der sozialistischen Arbeit« ausge-zeichnet, Lisa Kämpfer als Bestarbeiterin.Wie andere alleinstehende Frauen fährt sienun, da die Kinder groß sind, Sonder-schichten, um den Plan zu sichern. »Ihrhabt doch Zeit«, sagen die Verheirateten,allen voran die Männer.

36 Jahre hat Lisa Kämpfer im VEB Wittolgearbeitet. 1990, eines Tages vor derNachmittagsschicht, wurden die Kollegenaus der Kerzenproduktion zusammengeru-fen. »Es tut uns sehr leid«, sagte man ih-nen, »ihr braucht Montag nicht wiederzu-kommen.« Einer von Lisa Kämpfers Söhnenarbeitet im Reichsbahnausbesserungswerk,

der andere, ein Maschinenbauingenieur, istarbeitslos. Ihre Tochter, einst Kranfahrerinim Stickstoffwerk, bezieht Hartz IV.

Hildegard Siems:

Zwanzig Patente

Hilde Siems ist nur elf Jahre jünger als LisaKämpfer – schon eine andere Generation.1957 beginnt sie ihre Lehre als Chemielabo-rantin im VEB Stickstoffwerk Piesteritz. EineNotlösung, denn eigentlich wollte sie Sport-lehrerin werden. Die Aufnahmeprüfung inHalle hatte sie schon bestanden, aber dannmochte sie doch nicht von zu Hause fort.Während der Lehre im Stickstockwerk durch-läuft sie auch die Forschungsabteilung: Dortwird sie eine neue Leidenschaft finden.

Hildes Arbeitstage beginnen zunächst wiedie Lisa Kämpfers um 5.30 Uhr. Viertel vorFünf muss sie los. Hilde nimmt den Bus insWerk oder das Rad. Vierzehn Jahre lang wirdsie Laborantin in der Forschungsabteilungbleiben und am Monatsende 300 Mark nachHause tragen – die wissenschaftlich-techni-sche Intelligenz verdient weniger als Produk-tionsarbeiter, und sie arbeitet nicht inSchichten, so dass Zuschläge wegfallen. Hil-de kann sich trotzdem Wünsche erfüllen: abund zu eine hübsche »Klamotte« kaufen(wenn denn eine zu finden ist), tanzen, zel-ten. Zufrieden ist sie dennoch nicht: Sie willweiterkommen, sich weiterbilden.

1971 delegiert sie der Betrieb an die In-genieurschule Berlin, zum Frauensonderstu-dium. So eine Studium ist eine Auszeich-nung und zugleich eine Chance für Frauenund Mütter: Sie werden freigestellt, abernach wie vor bezahlt. Ein weiterer Glücks-fall: Die Vorlesungen und Seminare findennicht in Berlin, sondern in der Betriebsaka-demie Piesteritz statt. 1972, mitten im Stu-dium, heiratet Hilde den angehenden Di-plomsportlehrer Peter Siems, 1973 bekom-men sie einen Sohn. Peter absolviert zu die-ser Zeit ein Fernstudium an der DeutschenHochschule für Körperkultur in Leipzig, auchHilde will keinen Stoff versäumen, so dasssie nur zwei Wochen nach der Entbindungwieder im Hörsaal sitzt. Den Sohn bringt Pe-ter in die Krippe, Hilde holt ihn nachmittagsgegen halb drei wieder ab, gelegentlichübernimmt die Oma. Die Krippe kostetnichts, nur das Essengeld. Abends, nachdemsie den Kleinen ins Bett gebracht hat, büffelt

Frauen inder Chemie

Von Christina Matte

Lisa Kämpfer Hildegard SiemsRenate Guhl Fotos: Joachim Fieguth

Christina Matte,Reporterin beimND, porträtiertedie drei Chemie-arbeiterinnen.

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7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7

Fortsetzung von Seite 6

sie. Hart ist das. Heute sagt sie, sie würdees wieder so machen, sogar »noch ein Stu-dium dranhängen«.

Nach drei Jahren ist Hildegard Siems Di-plom-Ingenieurin und in ihrer Abteilungwieder voll einsetzbar. Sie leitet jetzt einLabor, in dem ausschließlich Frauen arbei-ten, in der anorganischen Forschung. Au-ßerdem überträgt man ihr »Projektbetreu-ungen«, darunter Projekte für die »Messeder Meister von Mor-gen«: »Unsere wur-den wirklich ge-braucht.« Ihre Arbeitbietet viel Abwechs-lung, sie kniet sichhinein. Wenn die an-deren in die Kantinezum Mittag gehen,bleibt Hilde an ihremPlatz und macht wei-ter – essen wird sieabends mit der Fami-lie. In ihrem Laborstellt sie Selteneer-deverbindungen her,analysiert diese undprüft sie auf ihreVerwendbarkeit inder Glas- und der op-tischen Industrie. Ei-nige dieser SeltenenErden sind radioak-tiv, so dass sie im-mer ein Gamma-Do-simeter, ein kleinesPlättchen, in der Brusttasche ihres Kittelsträgt, welches in der Betriebspoliklinikkontrolliert wird. Die Zielstellung für dieForscher lautet: teure Importe abzulösen.Hildegard Siems ist gut darin: Sie bringt esauf zwanzig Patente.

Bis 1994 war sie in der Forschung tätig.Danach ging ihr Arbeitsverhältnis mit derStickstoffwerke AG Wittenberge-Piesteritzauf die Chemischen Werke Piesteritz über.Sie arbeitete als Laborleiterin im Phos-phorsalzbetrieb und war zudem für dieEntsorgungsanlage phosphorhaltiger Mas-sen verantwortlich – viele Tonnen konta-minierten Erdreichs, Betons sowie Phos-phorschlämme wurden dort nach einemvon ihr patentierten Verfahren entgiftet.2001 waren alle Phosphorschlämme ent-sorgt. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan unddurfte gehen. Ihr Sohn ist Diplom-Kauf-mann geworden und arbeitet heute bei ei-ner Finanzdienstleistungs AG in Rostock.

Renate Guhl:

Betriebsleiterin, Kämpferin

Jahrgang 1941. Renate wächst heran, ohnewirklich zu wachsen, klein und schmal, sobleibt sie lange. Ein rotblondes Mädchen,knabenhaft, das sich noch auf der Erweiter-ten Oberschule nicht wahr-, nicht ernstge-nommen fühlt. Das macht aus ihr dieKämpferin. Neben ihr Bild in der Abi-Zei-tung setzen die Schulkameraden denSpruch: »Wer kratzen, beißen, boxen ler-nen will, der komme zu mir.«

Renate will Chemie studieren. Auf derPenne hat sie einen Aufsatz geschrieben:

»Chemie bringt Brot, Wohlstand undSchönheit.« Den Studienplatz hat sie in derTasche. Doch vor das Chemiestudium hatdie DDR zu jener Zeit ein praktisches Jahrgesetzt. Renate beginnt dieses Jahr im Sep-tember 1959 im VEB Stickstoffwerke Pies-teritz. Dummerweise wird ihr ständigschlecht. Schwanger! Die Pille gab es nochnicht. Die Familien üben Druck aus. Sie willnicht, sie »muss« heiraten.

Der Sohn Thomas wird geboren. SechsWochen später arbeitet sie wieder, Thomas

gibt sie in die Wochenkrippe. Aus einempraktischen Jahr werden zwei. Erneut Druck,diesmal von der Mutter. Die Tochter sollschaffen, was ihr verwehrt war: studieren.

Von 1961 bis 1964 studieren sie und ihrMann chemische Technologie in Köthen.Sie werden sich als Freunde trennen. DieMutter betreut in dieser Zeit Thomas: Siewird stets zur Stelle sein, wenn eines vonRenates Kindern krank wird. Denn Renateheiratet wieder, 1968 wird Karsten gebo-ren, 1971 Karla. Da hat sich die jungeTechnologin, inzwischen durchaus einVollweib, bereits einige Jahre durch dasStickstoffwerk gebissen, gekratzt, geboxt,gekämpft. In die Produktion wollte sie! AlsFrau? Das traute man ihr nicht zu. Mansteckte sie ins Hauptlabor. Dort überwach-te man zwar die Produktionsprozesse, aberim Grunde war sie doch nur eine besserbezahlte Laborantin. Auch als man sie zurInstrukteurin für Hoch- und Fachschulkadermachte – eine Tätigkeit, die ihr Auge fürMenschen schärfte –, war nicht die Techno-login gefragt. Dann jedoch, Ende der 60erJahre, beginnt man über Umweltschutz zureden. In der Stadt wird viel über den Zu-stand der Elbe »gemeckert«, mit derenWasser das Werk die Anlagen kühlt und dases anschließend wieder zurückleitet. EinFachbereich Umweltschutz wird gegründet,Renate Guhl übernimmt das Wasserlabor.Ihre Liebe zum Wasser erwacht.

Bewirken kann sie zunächst wenig. DasWichtigste bleibt die Produktion, die Ziffernmüssen erfüllt werden. Anfang der 70erwird das Nordwerk gebaut. Im Fernstudiumhat sich Renate Guhl zur Ingenieurin fürWasseraufbereitung und Abwasserbehand-

lung qualifiziert, nun baut sie die Wasser-aufbereitungs- und Rückkühlwerke mitauf. Sie hausen in Bauwagen, bis die An-lage in Betrieb geht – ein Riesenfortschritt.1000 bis 1500 Kubikmeter Wasser kann siepro Stunde aufbereiten, der Schlamm wirdnun auf eine Halde und nicht mehr in dieElbe gespült.

»Die Guhl« beherrscht jeden Arbeitsgang,kann jeden Arbeitsplatz ausfüllen. Als sieBetriebsleiterin werden soll, will einer derSchichtleiter nicht unter einer Frau arbei-

ten. Beißen, boxen,kratzen muss sienicht mehr. Kämpfenkann sie noch immer.40 Beschäftigte hatder Betrieb. Die Be-triebsleiterinschrubbt Bereit-schaftsdienste eben-so wie Leitungsbe-reitschaft, oft wirdsie nachts ins Werkgeholt, häufig auchan Wochenenden.Sie setzt sich durch.Nicht immer gelingtihr das gegenüberder Parteileitung, dievieles besser weißals die Fachleute.Und stets der Kampfum Ersatzteile wieSchieber an den Ab-sperrarmaturen. Diemuss sie in Reservehaben, sind aber

kaum aufzutreiben – sie fährt in Maschi-nenbaubetriebe, im Kofferraum einen SackDünger. Die DDR-Industrie: eine Tausch-börse.

1000 Mark verdient sie nun, dafür ist siemit ihrer Anlage verheiratet. Eines aber istGesetz: Wenn die Kinder Ferien haben,macht die ganze Familie Urlaub. Zum Win-tersport geht es in die CSSR, zum Zelten imSommer mit dem Trabi nach Ungarn. Undwie ihre Mutter einst auf sie übt RenateGuhl auf ihre KinderDruck aus: Lernen,gut lernen sollen sie.Ihr Sohn Thomas istDiplom-Ingenieur fürInformatik gewordenund arbeitet heuteals Administrator inHalle. Karsten wurdeChemiefacharbeiter,er lebt in Bayern. Kar-la, die Diplom-Fi-nanzwirtin, ist Be-amtin in einem Ber-liner Finanzamt.

Renate Guhl hatden Betrieb bis 1995geleitet, dann wurdesie entlassen. Ihrletztes Gehalt betrug4800 D-Mark, aberums Geld ging es ihrnie. Deshalb ist siebei ihrer Partei ge-blieben, die zunächstzur PDS, dann zurLINKEN gewordenist.

Auf der Penne hatsie einen Aufsatzgeschrieben:»Chemie bringtBrot, Wohlstandund Schönheit.«

Wilfried FalkenthalsBild »VeronikasMannschaft« ent-stand 1981/82.

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. • Dreizehnmorgenweg 24 • 53175 Bonn Tel. 0228/23 80 83 • Fax 0228/23 41 04 • [email protected]

www.dietz-verlag.de

»Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört.«

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8 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

DieÜberlebenden

Markenzeichen aus der Planwirtschaft

ABF.Arbeiter- und Bauern-Fakultät – höhere Bil-

dung für bislangAusgegrenzte.

Bienchen.Belobigungsstempel

für fleißigeSchulanfänger.

Campingbeutel.Rucksack für

Freizeit und Sport.

Dederon.Was im Westen

Perlon hieß undnicht gebügelt

werden musste.

Erichs Krönung.Statt Jacobs und Edu-

scho gab’s Kaffeemix.

Feierabendbrigade.Manch einer verdankt

»Freizeit«baumei-stern Haus, Garage

und Swimmingpool.

Gehhilfe.Liebevolle Umschrei-

bung für einenTrabant.

Hausbuch.Anwesenheitsnach-

weis, in dem keinWestbesucher uner-fasst bleiben sollte.

Intershop.Für D-Mark-Lose ein

Neidtempel

Jahresendprämie.Eine Art

Weihnachtsgeld fürzumeist ausgefallene

Leistungen.

Kulturschaffender.Jeder, der irgendwie

im Verdacht stand,Künstler sein zu

wollen.

LPG.Landwirtschaftliche

Produktions-genossenschaft.

MMM.Messe der Meister von

Morgen – Erfinder-und Tüftlerbewegung

der FDJ.

VerloreneWorte

Trabant, Sandmännchen, Grüner Pfeil – diese Kreati-onen der DDR kennt noch heute fast jeder. Und zwarin Ost und West. Vieles von dem, was in der DDR aus-gedacht und produziert wurde, ist im Orkus der Ge-schichte verschwunden. Manches wollte niemandmehr, anderes hatte bei der Treuhandanstalt und inder plötzlich hereinbrechenden Marktwirtschaft keineChance. Es gibt aber auch Überlebende – Marken ausdem Osten, die die turbulenten Nachwendejahre über-standen haben oder die aus dem Nichts wieder aufge-taucht sind – und von denen manche inzwischen denWesten erobern. Einige von ihnen stellen wir hier vor.

Scharf wie Westsenf– das war in der

DDR eine anerken-nende Floskel. Doch

eigentlich mussteman in dieser Frage

nicht nach »drüben«schielen. Dass

Bautzner Senf kon-kurrenzfähig ist,

beweist er seit derWende. Marktanteil

im Osten: 63 Pro-zent. Im Westen:

Tendenz steigend.

Foto: bautzner.de

1920 wurde derName Florenabeim Reichspa-tentamt angemel-det. In der DDRwurde der Betriebverstaatlicht; dieberühmte blau-weiße Cremedosegibt es seit 1960.Seit 2002 gehörtFlorena komplettder Beiersdorf AG –wie die Konkur-renzmarke Nivea.

Foto: florena.de

1958 zur bes-seren Versor-gung mit al-koholfreienGetränkenentwickelt,war Vita Colaein Renner.1994 neu ge-startet, stehtVita aus Thü-ringen heuteim Osten hin-ter Coca aufPlatz 2.

Foto:vita-cola.de

Die RiesaerZündhölzerüberlebtenWende undTreuhand –werden nunaber vor allemin Osteuropaproduziert.Zuletzt setzteihnen nichtdie Krise zu,sondern dasRauchverbot.

Foto: zuendholzriesa.de

Die Liebesperlestammt aus Görlitz.

In der ostsächsi-schen Stadt erfandder Süßwarenfabri-kant Rudolf Hoinkis

1908 die kleinenbunten Zuckerku-

geln. Er widmete sieseiner Frau, doch

ihm fiel kein Namefür das Produkt ein.

Den steuerte dieGemahlin bei: Lie-besperlen. In der

DDR verstaatlicht,ging der Betrieb

1990 wieder in dieHände der FamilieHoinkis über. Die

Firma exportiert diePerlen und andereSüßwaren in über

20 Länder.

Foto:hoinkis.de

Der Klassiker vonFit – die Halbliter-

flasche – ist demRoten Turm in

Chemnitz nach-empfunden. Dortbegann 1954 die

Produktion. Heuteverkauft die Firma

aus Hirschfeldemonatlich mehr

als eineinhalb Mil-lionen Flaschen

Fit und ist damitdrittgrößter Mar-kenhersteller von

Spülmitteln inDeutschland. ImJahr 2000 über-

nahm Fit diewestdeutschen

Marken Rei, Rei inder Tube und

Sanso.

Foto: fit.de

Wer in den 60erJahren DDR-Pro-duktwerbung im

Fernsehen sah,kennt die Melo-

die noch: Badenmit Badusan,geträllert von

züchtig gefilm-ten Menschenin der Wanne.

Das Schaumbadin der Ente oderdem Fisch fehlte

in kaum einemHaushalt. Badu-

san überstandeine Firmenplei-te in der Markt-

wirtschaft, istheute bei Dres-

den zu Hauseund wird zur

Zeit über Inter-net verkauft.

Foto:badusan.de

Page 9: Gründung der DDR: Auferstanden aus Ruinen · PDF file · 2009-11-23Gründung der DDR: Auferstanden aus Ruinen Vor 60 Jahren Neues Deutschland und Rosa-Luxemburg-Stiftung 7. 7. Oktober

7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 9

Ochsenkopf-antenne.TV-Antenne für West-empfang, benanntnach dem SenderOchsenkopf im Fich-telgebirge.

Poliklinik.Erst abgewickelt,dann vielerorts alsÄrztehaus nocheinmal erfunden.

Queck Junior.Campinganhänger,500 kg leer, 350 kgFerienglück-Zula-dung.

Rentnervolvo.In Anspielung auf dieNobelkarossen derParteiführung wurdenrollende Einkaufsta-schen so benannt.

SERO.Annahmestelle fürSekundärrohstoffe,also Flaschen, Lum-pen, Altpapier.

Taigatrommel.Diesellok aus der So-wjetunion.

UTP.Unterrichtstag in dersozialistischen Pro-duktion, ein pädago-gischer Grundsatz ab7. Klasse

Vitamin B.Beziehungen, um be-gehrte Waren oderDienstleistungen zuerlangen.

WBS 70.Wichtigster Neubau-Wohnungstyp ab1970.

X und Y.Kennzeichen für Kraft-fahrzeuge aus denBezirken Karl-Marx-Stadt und Dresden.

Zellophanbeutel.Plastik-Beutel für denEinkauf und ähnlicheGelegenheiten. Be-sonders begehrt mitWest-Werbung.

Zusammengestelltvon René Heilig undWolfgang Hübner

Wenn im Osten ge-feiert wird, dannsteht unweigerlichRotkäppchen aufdem Tisch. Der Sektaus Freyburg an derUnstrut übernahm2002 als erstes Ost-unternehmen einengroßen Westkonkur-renten – die Sekt-marken Mumm, Ju-les Mumm und MMExtra. Die Ursprüngeder Firma reichenbis 1856 zurück;der Name Rotkäpp-chen entstand1894. Nach einemWendeknick fingsich das Unterneh-men und ist heuteeine feste Marktgrö-ße mit allgegenwär-tiger TV-Werbung.

Foto:rotkaeppchen.de

SpreewälderGurken sind fast so

alt wie der Spree-wald selbst. Schon

Fontane befand, un-ter den Spreewald-produkten stünden»die Gurken oben-

an«. Der Ruf derSpreewald-Gurkenaus der Lausitz istso gut, dass in der

MarktwirtschaftTrittbrettfahrer auf

den Plan traten. Seit1999 allerdings ist

der Name Spreewäl-der Gurken in der

gesamten EUgeschützt.

Foto: Archiv

Zeitung lesen – oderzumindest anschau-en – fing in der DDRzeitig an. Die Zeit-schrift Bummi rich-tete sich an Drei- bisSechsjährige und er-reichte eine Auflagevon über 700 000Exemplaren. DerName Bummi warohnehin populär –so hieß auch eineFigur im Kinderfern-sehen. Heute er-scheint »Bummi« ineinem Verlag in Ra-statt.

Foto: bummi.de

Kathi – das Kürzelsteht für den Fir-

mengründer. 1951ließ Kurt Thiele sei-ne Nährmittelfabrik

in Halle an der Saaleins Handelsregister

eintragen. Um 1970verstaatlicht, wurde

die Firma nach derWende wieder vonder Familie Thieleübernommen. Das

mittelständische Un-ternehmen erhielt

für seine Mehle,Back- und Brotmi-

schungen sowie Zu-taten zahlreiche Un-ternehmer- und In-

novationspreise.

Foto: kathi.de

Burger Knäckebrot kommt ursprünglich garnicht aus Burg, sondern aus Berlin-Lichter-felde. Allerdings verlegte der Ernährungs-wissenschaftler Wilhelm Kraft, der sich sei-ne Knäcke-Begeisterung in Skandinaviengeholt hatte, seine Firma »Erste DeutscheKnäckebrotwerke Dr. Wilhelm Kraft« 1931nach Burg bei Magdeburg, weil in der Bördedas ideale Getreide wächst. Burger Knäcke-brot – dann freilich aus dem VEB – war wohlallen DDR-Bürgern ein Begriff. Nach derWende folgten mehrere Besitzerwechsel;heute ist die Firma nach eigener Darstellungwieder klarer Marktführer im Osten und dieNummer 2 im Bundesmaßstab.

Foto: burger-knaecke.de

Johann Bollhagen begann 1835, in der Gra-bower Marktstraße Brezeln, Pfeffernüsse,Waffeln und andere Backwaren herzustellen.Seit 1951 hieß der Betrieb im Mecklenbur-gischen VEB Grabower Dauerbackwarenund belieferte die Nordbezirke der DDR. Dieberühmten Schaumküsse gehören schonjahrzehntelang zum Sortiment. Seit den90ern übernahm die Firma zahlreiche Kon-kurrenten; sie exportiert in 54 Länder undhat sich auch auf dem deutschen Markt festetabliert: Bei den Lebensmitteldiscounternhat sie nach eigenen Angaben bundesweiteinen Marktanteil von 50 Prozent.

Foto: grabower.de

Wernesgrüner Bier zählte dereinst zu denRaritäten. Viel kann man über die Biere derDDR sagen – aber nicht, dass sie alle gutwaren. Getrunken wurden sie trotzdem, weiles von fast allem fast nie genug gab. Wer-nesgrüner dagegen war sagenumwoben,denn man ergatterte es selten; das Bier ausdem Vogtland war eigentlich nur mit West-geld zu bezahlen. Schließlich kam es ausdem VEB Exportbierbrauerei. Seit 2002 ge-hört das Jahrhunderte alte Traditionsunter-nehmen, das sein Produkt als Pils-Legendevermarktet, der Bitburger Gruppe – die Glo-balisierung kommt auch aus dem Zapfhahn.

Foto: wernesgruener.de

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10 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

Die Urteile über die Wirtschaft des verbli-chenen Staates gehen weit auseinander.Die einen haben noch die zu Zeiten WalterUlbrichts aus Prestigegründen in Umlaufgesetzte These im Ohr, die DDR belege –gemessen am absoluten Produktionsum-fang – Rang 10 unter den Industrienatio-nen der Welt. Tatsächlich war die in Men-geneinheiten erfasste Produktion im inter-nationalen Vergleich beachtlich. Nur wardamit nichts über den Arbeitsaufwand,mithin über die Produktivität gesagt. Fürandere glich der zweite deutsche Staat ei-nem Bankrotteur. Diese Schmähthese solldazu dienen, die überstürzte Art und Weiseder D-Mark-Übertragung auf die DDR wieauch die Privatisierungsorgien der Treu-hand mit dem hinterlassenen Schuldenbergvon 257 Milliarden D-Mark als alternativloszu rechtfertigen und die Bevölkerung de-mütig zu machen.

Beide Sichten widerspiegeln die Realitätverzerrt. Fakt ist, dass die DDR ein hochindustrialisiertes Land mit modernerLandwirtschaft und weltweiten Außenhan-delsbeziehungen war. Ihre größten Ex- undImportpartner waren die Sowjetunion unddie BRD. Bis zum Ende ihrer Existenz beleg-te sie unter den RGW-Ländern in der Wirt-schaftsleistung pro Kopf den ersten Rang.In Wissenschaft und Technik nahm sie ei-nen Spitzenplatz ein. Das traf auch auf denLebensstandard der Bevölkerung zu. Mitvielen entwickelten westlichen Ländernkonnte sie sich ebenfalls messen.

Im Vergleich mit der BRD erwies sich dieProduktivität der Wirtschaft als Achillesfer-se. Bereits in den ersten 15 Nachkriegsjah-ren war gegenüber dem Marshall-Plan-be-günstigten Nachbarn ein Rückstand einge-treten, der bis zuletzt nicht mehr aufgeholtwerden konnte. Neben systemeigenen Ur-sachen waren dafür äußere Erschwernissemaßgebend, so umfangreiche Reparations-leistungen an die UdSSR in Form von De-montagen und Entnahmen aus der laufen-den Produktion, Embargomaßnahmen kapi-talistischer Länder, die offene Grenze zumWesten und die Abwanderung hochqualifi-zierter Männer und Frauen, die Zugehörig-keit zu einem Verbund ökonomisch undökologisch weniger entwickelter Länder.

Ende der 1980er Jahre hatte sich dieökonomische Lage der DDR zugespitzt.Erich Honeckers Kurs der Einheit von Wirt-schafts- und Sozialpolitik war durch die re-ale Leistungsfähigkeit der Wirtschaft nicht

abgedeckt. Das ökonomische Wachstumwar gegenüber vorangegangenen Zeiträu-men abgeschwächt, die Akkumulation rück-läufig. Die knappen Investitionsmittel wur-den auf ausgewählte Zweige (Mikroelektro-nik, Veredelungschemie, Erdöl- und Erd-gaschemie) konzentriert. Das ging zu Las-ten vor allem der verarbeitenden Industrie.Deren Kapitalstock alterte, in Infrastrukturund Umweltschutz stauten sich die Rück-stände. Die Versorgung der Bevölkerungmit Waren des gehobenen Bedarfs stockte.Der Kaufkraftüberhang stieg. Die Auslands-verschuldung schwoll an, ein immer größerwerdendes Inlandsprodukt musste für dieDevisenerwirtschaftung aufgewendet wer-den, um den Schuldendienst zu leisten. Ei-ne grundlegende Reformierung der Wirt-schaft war überfällig.

Aber war die DDR pleite? Nein! Pleite istein Staat, wenn er seinen fälligen Zah-lungsverpflichtungen nicht nachkommenkann und als nicht mehr kreditwürdig gilt.Beides traf Ende 1989 nicht zu. Ob das beiunveränderter Politik in zwei, drei oder vierJahren eingetreten wäre, ist Spekulation.Woher aber stammt die von Politikern derBRD ab Februar 1990 verbreitete Alarm-meldung, die DDR sei bankrott?

Welche Ironie! Als »Kronzeugen« geltenbis heute der Vorsitzende der StaatlichenPlankommission, Gerhard Schürer, und derChef des Außenhandelsbereiches Kommer-zielle Koordinierung, Alexander Schalck-Golodkowski, sowie drei weitere Autoreneiner von Egon Krenz am 24. Oktober 1989in Auftrag gegebenen Geheimen Ver-schlusssache zur »Analyse der ökonomi-schen Lage der DDR mit Schlussfolgerun-gen«. Darin gehen sie von einer unmittel-bar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeitaus. Für Ende 1989 erwarteten sie Brutto-schulden in konvertierbarer Währung inHöhe von 49 Milliarden Valutamark bzw. D-Mark.

Daran hätte die Volkswirtschaft tatsäch-lich ersticken können, weniger wegen dernominalen Höhe der Verbindlichkeiten,sondern weil die Mittel für den Schulden-dienst mit immer höherem Inlandsaufwanderwirtschaftet werden mussten. In den1980er Jahren waren 4,40 Mark der DDRfür eine Valuta-/D-Mark aufzubringen. Dashatte die inländische Verwendung immerempfindlicher geschmälert, worunter die

Bevölkerungsversorgung litt. Es zeigte sichjedoch bald, dass die Westverschuldungüberhöht angegeben war. Doch die Panik-ziffer wurde von der BRD sofort aufgegrif-fen und als Hebel für die Durchsetzung ei-gener Interessen genutzt.

Bis heute werden genüsslich Verschul-dungszahlen aus dem sogenannten Schü-rer-Papier kolportiert, obwohl diese mehr-mals öffentlich korrigiert wurden. Schürerhatte bereits Ende November 1989 dieVolkskammer der DDR darüber informiert,dass die Westverschuldung der DDR nicht49 Milliarden D-Mark beträgt, wie im Ge-heimpapier genannt, sondern 38 MilliardenD-Mark. Unter dem Druck der Ereignissehatte der Bereich Kommerzielle Koordinie-rung zu einem Teil seine bis dahin strenggeheim gehaltenen, außerhalb der offiziel-

len Zahlungsbilanz geführten Devisenreser-ven offengelegt. Voll aufgedeckt waren siezu diesem Zeitpunkt immer noch nicht. Am11. Mai 1990 gab der Finanzminister derde-Maizière-Regierung, Walter Romberg,vor dem Parlament bekannt, dass die Aus-landsverschuldung gegenüber westlichenLändern per 31. März 1990 in D-Mark um-gerechnet 27,2 Milliarden betrug. Im Mo-natsbericht der Bundesbank vom Juli 1990wurden die zu diesem Zeitpunkt erfasstenVerpflichtungen in konvertierbaren Devisenmit 24,7 Milliarden D-Mark angegeben. DieLage hatte sich also entdramatisiert.

Schließlich wies die Deutsche Bundes-bank in einem Bericht vom August 1999als Netto-Schuldenstand der DDR in kon-vertierbaren Devisen am 30. Juni 1990, al-so einen Tag vor Beginn der Währungsuni-on, 19,8 Milliarden D-Mark aus. Zum Ver-gleich: Berlin allein steckt heute mit über60 Milliarden Euro in den roten Zahlen.

Was um die Jahreswende 1989/90 an-stand, war: Modernisierungs- und Wachs-tumsblockaden lösen und zukunftsfähigeStrukturen ausbauen. Auf bundesdeutscherSeite fehlte aber die Bereitschaft, der ost-deutschen Wirtschaft Zeit und Mittel dafürzu gewähren. Mitglieder der ost-west-ge-mischten Kommission zur Vorbereitung derWährungsunion berichteten, die Ost-Ver-treter hätten immer am kürzeren Hebel ge-sessen, weil über allen Verhandlungen er-schreckende Zahlen aus dem »Schürer-Pa-pier« schwebten. Die Annäherung an diehistorische Wahrheit ist langwierig.

Fakt ist, dass dieDDR ein hochindu-strialisiertes Land

mit modernerLandwirtschaft und

weltweitemHandel war.

Prof. Christa Luftwar in der DDR

Rektorin derHochschule für

Ökonomie »BrunoLeuschner« in Ber-

lin. In der Regie-rung unter Hans

Modrow nahm siedas Amt des Wirt-

schaftsministerswahr.

EinBankrotteur?

Ein Wirtschaftszwerg, aber nicht pleite

Von Christa Luft

Eberhard HeilandsBild »Die Aura derSchmelzer« stammtaus dem Jahr 1988.

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7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 11

Von Thomas Klein

Es kostet schon einige Überwindung, sichheute ausgerechnet im ND, inzwischen vom»Zentralorgan« zur »sozialistischen Tages-zeitung« gewendet, zum bevorstehenden20. Todestag der DDR zu äußern. Wer zuLebzeiten der DDR an einem »Republikge-burtstag« das ND aufschlug, sah sich ge-wöhnlich einer Überdosis der auch sonstgängigen Selbstbeweihräucherung ausge-setzt. Die Mitteilungen von journalistischenKopflangern der SED-ZK-Abteilung Agitati-on zwangen den Leser sowieso, zwischenden Zeilen zu lesen, um einen Zipfel Wirk-lichkeit zu erwischen. Doch an einem 7.Oktober nutzte selbst das nichts. Als geüb-ter Zeitungsleser konnte man höchstens anden Häufungspunkten überbordendenSelbstlobs die Zentren bereits ausgewach-sener Krisen erahnen.

Ob das diesjährige Gedenken an 60 Jah-re Bundesrepublik bessere Noten verdient,mag verschieden beurteilt werden. DiesesGeburtstagsfest wurde jedenfalls effektvollin Beziehung gesetzt zur Totenfeier derDDR. Solche Inszenierungen erlauben zu-weilen auch tiefe Einblicke in den Zustandder gegenwärtigen Gesellschaft. In diesersoll nun alles anders sein. Was ist anders?Damaliger Abwesenheit kritischen Journa-lismus’ steht heute dessen Folgenlosigkeitgegenüber. Die Funktion früherer Erfolgs-propaganda in der vertuschten Krise über-nimmt heute die Konditionierung der Bür-ger auf ihre willkommene Opferbereitschaftfür das »Gemeinwohl« mit gleichzeitigemAusblick auf künftige Besserung, wenn dieKrisenopfer den Gürtel zugunsten der Kri-sengewinner noch enger schnallen. DasBild wird bestimmt durch die Schamlosig-keit galoppierenden Sozialabbaus beigleichzeitiger Begünstigung der Ober-schichten, die Kommerzialisierung bzw.den Verfall aller Sektoren gesellschaftlicherWohlfahrt (Kultur, Bildung, Verkehrs- undGesundheitswesen) sowie die sich immerweiter öffnende Schere zwischen Arm undReich.

Was hat das alles nun mit dem zeitge-nössischen Erinnern an die DDR zu tun? Eshat fatale Folgen. Angesichts der gegen-wärtigen sozialen Unsicherheit in ganzDeutschland und tief greifender Enttäu-schungen über einige Resultate von 20 Jah-ren deutscher »Einheit« in großen Teilender ostdeutschen Bevölkerung scheint sichvielerorts auch das Erinnern an 40 JahreDDR zu verändern. Die berechtigte Sehn-sucht nach einem Zustand sozialer Sicher-heit und öffentlicher Wohlfahrt mischt sich

mit einer unreflektierten »Ostalgie», diezwar wenig mit dem Wunsch nach einerRückkehr zur SED-Diktatur, aber viel mitdem hilflosen paternalistischen Hang nachsozialem Autoritarismus á la DDR zu tunhat. Die gesamtdeutsche mangelnde Eman-zipation vom obrigkeitsstaatlichen Denkenhat im Osten die Gestalt einer unabge-schlossenen Verarbeitung von vergangenerpolitbürokratischer Stellvertreter-Ermäch-tigung. Die Erinnerung an die Massende-monstrationen des Herbstes 1989 und dieWucht des Rufes »Wir sind das Volk« wirdaufgegeben zugunsten der Hoffnung auf dieRettung beim Urnengang. In Vergessenheitgerät, dass die Verteidigung und Auswei-tung sozialer Rechte nur in der Selbsttätig-keit derer, die sie erkämpft haben, gut auf-gehoben ist. Wo sich autoritäre Parteien-gläubigkeit mit den neuen Realitäten einerneoliberalen Barbarei mischt, haben derKlassenkampf von oben und die Aushöh-lung demokratischer und sozialstaatlicherErrungenschaften beste Chancen.

Doch es kommt noch Einiges hinzu: Na-türlich ist auch die Erinnerung an die DDRanhaltend von tagespolitischen Kämpfender Konkurrenten auf dem Markt der veröf-fentlichten Meinung und politischen Par-teien gezeichnet. Im publizistischen Main-stream fungiert die DDR, an der es wenigPositives hervorzuheben gibt, umso mehrals negative Projektionsfläche demagogi-scher Verherrlichung gegenwärtiger Staat-lichkeit. Die mitunter haarsträubendeDümmlichkeit, mit der solche geschichtspo-litischen Konstruktionen den ehemaligenBewohnern dieses untergegangenen Staa-tes zugemutet werden, feuert die unange-brachte Beschönigung dessen vergangenerExistenz nun auch noch an.

Früher, in der DDR, funktionierte die De-legitimierung der Perspektive eines frei-heitlichen, demokratischen Sozialismusdurch das Erleben der Realität einer stali-nistischen und parteibürokratischen Des-potie nachhaltiger, als es der real existie-rende Kapitalismus je vermochte. Heuteproduziert die gegenwärtige Gesellschaft(natürlich ungewollt) materielle und »ideo-logische« Ressourcen zur fragwürdigen Re-habilitierung und Verklärung einiger Mo-mente autoritärer Wohlfahrtsstaatlichkeitin der DDR. Ohne die Überwindung damalsentstandener als auch gegenwärtiger Auto-ritätshörigkeit wird es nichts werden miteiner wirklichen Emanzipation.

Im vereinigten Deutschland treffen wirheute auf ein bemerkenswertes Spektrumder Verarbeitung vergangener und gegen-wärtiger Zumutungen. Zwei Beispiele: Mehr

als einmal haben ehemalige Funktionsträ-ger der SED, die mir früher in der DDRbeinhart und drohend als Sachwalter derpolitischen Reinheit gegenübertraten unddie Verwerflichkeit gerade linker Oppositi-on in der DDR begreiflich zu machen ver-suchten, mich nach dem Anschluss der DDRan die Bundesrepublik von den Vorzügender jetzt herrschenden Ordnung überzeu-gen wollen – und mich vor der Sinnlosig-keit linker Opposition in Deutschland ge-warnt. Zu dieser eher komischen Spielartsystemübergreifenden Opportunismus’ ge-sellt sich jedoch auch eine vorwiegend de-primierende Variante neudeutscher Fried-fertigkeit: Viele »ehemalige Bürgerrechtler«(so lautet heute die Sprachregelung) – inder DDR mutig und unbestechlich gegendie nominalsozialistische Diktatur, für De-mokratie und Menschenrechte kämpfend –sehen heute keinen Anlass, etwa die zeit-genössische Entwürdigung der vom Kapitalunverwertbaren Arbeitskräfte durch dieHartz–IV-Gesetze wenigstens als Men-schenrechtsfrage zu entdecken.

Als sich die Aushöhlung bürgerlicherdemokratischer Standards durch den Aus-bau des hoch technisierten Überwachungs-staates beschleunigte, gedachte man »inder Szene« gerade des Überfalls der Stasiauf die Berliner Umweltbibliothek 20 Jahrezuvor. Während dieses Gedenkens wurdenu. a. Autoren des »telegraph«, der Nachfol-gezeitschrift der damals von der Umweltbi-bliothek herausgegebenen »Umweltblät-ter«, von der Bundesanwaltschaft mit gro-tesken Beschuldigungen und Ermittlungs-verfahren überzogen. Den meisten Feier-gästen war das zeitgenössische Geschehenum die nach allen Regeln der Kunst vonden Staatsschutzorganen observierten Au-toren nur ein dröhnendes Schweigen wert.Doch anderswo gab es Solidarität, und siewar – wie damals auch – nicht vergeblich.Nach wie vor gilt: Vorwärts und nicht ver-gessen …

GeisterfahrerAutoritätsgläubigkeit und Paternalismus

Ohne dieÜberwindung in derDDR entstandenerals auchgegenwärtigerAutoritätshörigkeitwird es nichtswerden mit einerwirklichenEmanzipation.

Der Bürgerrechtlerund HistorikerThomas Klein war1979/80 in derDDR inhaftiert,gründete Mitteder 80er Jahredie Gruppe Gegen-stimmen und warim Herbst 1989Mitbegründer derVereinigten Linken.

»Berliner Vorort-straße« von KonradKnebel aus dem Jah-re 1956

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Unbestritten stellte die Zeit nach dem XX.Parteitag der KPdSU auch für die DDR einegroße Chance dar, mit dem Konzept dessowjetisch geprägten autoritären Sozialis-mus zu brechen und stattdessen dem de-mokratischen Sozialismus den Weg zu bah-nen. Der Literaturwissenschaftler undQuerdenker Hans Mayer schrieb: »Zeitwei-lig glaubten wir, es gab eine reale Chance.Die Situation mit Ulbricht konnte nichtdauern. Dass 1956, in der Periode des so-genannten Tauwetters, eine Mannschaftaus Kadern der Partei, der anderen Organi-sationen und der übrigen Bevölkerung be-reitstand, um das Ulbricht-System zu stür-zen, ist sicher.« Mayers Bewertung wirdman kaum widersprechen können.

Es gab 1956 nicht nur unter den Intel-lektuellen des Kulturbundes eine alternati-ve Programmatik, die in Texten von Walter

Janka und Gustav Just sowie in WolfgangHarichs »Memorandum« und »Plattform«gipfelte; dieser Ansatz war auch mit KarlSchirdewan im Politbüro und in Regie-rungskreisen feststellbar. Selbst Otto Gro-tewohl ging davon aus, dass nach dem XX.Parteitag der KPdSU das Ziel im Aufbau ei-nes »westlichen Sozialismus« bestünde.Das theoretische Denken erlebte in derDDR einen Aufschwung wie in keinem an-deren Land.

Auf Initiative von Ernst Bloch, WolfgangHarich und Georg Klaus fand vom 8. bis 10.März 1956 an der Akademie der Wissen-

schaften die Konferenz »Das Problem derFreiheit im Lichte des wissenschaftlichenSozialismus« statt. Dieser erste Versuch ei-ner philosophischen Neubestimmung derinternationalen Linken nach Stalins Todführte Ernst Fischer, Roger Garaudy, LeszekKolakowski, Ernst Bloch, Hermann Duncker,Friedrich-Karl Kaul, Rudolf Schottlaenderund Kurt Hager mit den Konferenz-Initiato-ren zusammen. Der ebenfalls eingeladeneGeorg Lukács konnte nicht teilnehmen. Ha-rich, der eine »marxistische Anthropologie«verlangte, sprach über »Das Rationelle inKants Konzeption der Freiheit«. Dieser ers-te Versuch einer theoretischen Neubestim-mung sollte zugleich die letztmalige Be-gegnung eines so erlauchten Gremiums lin-ker Denker in der DDR werden.

Hätte sich die SED-Führung diesemschöpferisch-kritischen Denken gegenüberaufgeschlossen verhalten, wäre es schondamals möglich gewesen, den Bruch mitdem Stalinismus zu vollziehen. Doch derim Ergebnis der sowjetischen Interventionin Ungarn möglich gewordene Sieg Ul-brichts über seine innerparteilichen Kriti-ker führte zur rigorosen Abrechnung mitden unbequemen Geistern Bloch, Harich,Janka und Just. Die nach Chruschtschowshalbherziger Kritik am Personenkult umStalin 1956 kaum in Gang gesetzte Rück-kopplung zwischen Theorie und Politik kamnun wiederum ins Stocken, alte Dogmenblieben letztlich unangetastet. Ulbricht warallerdings zu klug, diese Rückkopplungvollends zu unterbinden. Mit der 1957vollzogenen Gründung des Forschungsratesder DDR kanalisierte er sie auf das weiteFeld der Naturwissenschaft und Technik.Außerdem bemühte er sich, Elemente derHarichschen Plattform trotz deren öffentli-cher Verunglimpfung als »konterrevolutio-när« in seine Politik einzubauen, in seinKonzept des »realen Sozialismus«.

In Politik, Gesellschaft und Staat beför-derte Ulbricht jedoch auch angesichts dererneuten Krise von 1960/61 die parteipoli-tische Zentralisierung. Als kurzzeitiges Kri-senmanagement hätte dies gewiss Sinngemacht, wenn sodann der notwendige ge-sellschaftliche Modernisierungsschritt nicht

blockiert worden wäre, den nun Robert Ha-vemann mit Demokratisierung als denwichtigen zweiten Schritt der Revolutioneinforderte. Wir wissen, dass trotz der be-achtlichen Reformfähigkeit, die das NeueÖkonomische System beinhaltete, es zukeinem Fortschritt bei der Reform des poli-tischen Systems kam. Man kam hier überAnsätze wie die These des VI. Parteitagesder SED vom »Übergang von der Diktaturdes Proletariats zum Staat des Volkes« so-wie den Mitgliederzulauf zur CDU, DBD,LDPD und NDPD Mitte der 60er Jahre nichthinaus. Obwohl Ulbricht selbst mit derAufnahme der Kybernetik in die Gesell-schaftstheorie der SED 1967 vorsichtig zuerkennen gab, dass ihm die alten ML-Dog-men als Führungsinstrumentarium nichtmehr genügten. Doch das Pendel schlug inder zweiten Hälfte der 60er Jahre zu Guns-ten der reformfeindlichen Honecker-Gruppeim Politbüro aus, die sich nach Chru-schtschows Sturz auf die Breshnew-Admi-nistration in Moskau stützen konnte.

Nach der militärischen Intervention zurZerschlagung des Prager Frühlings ent-schied sich die Niederlage der kritischenTheorie gegenüber der Politik. Die DDRbewegte sich nach 1968 wie andere osteu-ropäische Länder Schritt für Schritt undblindlings sicher auf den Untergang zu.Honecker ging mit dem Reform-Potenzial inder SED ähnlich rigide um wie Ulbricht1956/57. Die Kritik Wolf Biermanns, Ru-dolf Bahros und Hermann von Bergs wurdeabgeblockt; Biermann ausgewiesen, Bahroeingesperrt und von Berg erst eingesperrt,dann beruflich kaltgestellt und schließlichaus dem Land hinaus »komplimentiert«.

Der Ökonom Fritz Behrens musste seinehöchst aufschlussreichen Studien versteckthalten. Gerade seine Analysen, die erstnach der Wende publiziert werden konnten(»Abschied von der sozialen Utopie«, Ber-lin 1992), verdeutlichen, in welchem Maßeder »reale Sozialismus« als »linker Staats-monopolismus« in die historische Sackgas-se geraten war. Dies erkennend, hatte Beh-rens eindringlich systemtranszendente Re-formen angemahnt. Doch auch dieser Intel-lektuelle ward nicht erhört worden.

12 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

VersäumteChancen

Wie kritische Geister der Macht unterlagen

Von Siegfried Prokop

Hätte sich dieSED-Führung dem

schöpferischen,kritischen Denken

gegenüberaufgeschlossen

verhalten, wäre esschon damals

möglich gewesen,den Bruch mit dem

Stalinismus zuvollziehen.

Jüngste Bücherdes Berliner Ge-

schichtsprofessorsSiegfried Prokop:»1956 – DDR am

Scheideweg« und»Der versäumte

Paradigmenwech-sel 1978«

»Brecht, Weigel, Eis-ler in Buckow« vonArno Mohr, 1977

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In der Dritten Welt ist die Erinnerung andie DDR noch nicht verblasst. Das hat sei-ne guten Gründe. Man erinnert sich an dievielfältige Unterstützung des ostdeutschenStaates für den nationalen Befreiungs-kampf gegen die alten Kolonialmächte.Von DDR-Bürgern aufgebaute Fabriken undSchulen sind in einigen afrikanischen, asi-atischen und lateinamerikanischen Län-dern noch heute in Betrieb. Auch die kul-turellen Kontakte waren mannigfaltig. Dasist alles bekannt. Weniger hingegen sicherder UN-Blauhelmeinsatz von DDR-Bürgern.

Als die DDR in ihr letztes Jahr eintrat,sollte sich für das bis dato von Südafrikabesetzte Namibia das Tor zur Unabhängig-keit öffnen. Wahlen unter UN-Aufsicht ent-ließen 1989 nach jahrzehntelangem Be-freiungskampf die letzte Kolonie in dieUnabhängigkeit. Beteiligt war die DDR.

Nach zehnjähriger Verzögerung des UN-Unabhängigkeitsplans für Namibia durchdas von der Reagan-Administration in Wa-shington gestützten Südafrika sollte dieseram 1. April 1989 endlich in die Realitätumgesetzt werden. Der UN-Plan beinhalte-te Rückzug der südafrikanischen Truppen,Rückkehr der Flüchtlinge sowie Wahlen un-ter Kontrolle der UN-ÜbergangshilfsgruppeUNTAG und die Proklamierung von Nami-bias Unabhängigkeit im Verlauf eines Jah-res. Streit in den Vereinten Nationen umdas UNTAG-Budget verzögerte jedoch de-ren Einsatz. Der UN-Sonderbeauftragte fürNamibia, Martti Ahtisaari, verfügte am 1.April nur über einen Bruchteil der vorge-sehenen Polizeikräfte. An jenem Tag mel-dete Südafrika das Eindringen von Kämp-fern der Befreiungsbewegung SWAPO ausAngola, forderte den Einsatz der eigenenTruppen zur »Wiederherstellung der Ord-nung« und drohte mit dem Scheitern desgesamten UN-Plans. Ahtisaari mussteohnmächtig zähneknirschend einem be-grenzten südafrikanischen Einsatz zustim-men.

Tatsächlich waren SWAPO Kämpfer inNordnamibia einmarschiert, wo die UNnoch nicht präsent war. Südafrika nahmdies zum Vorwand für einen massiven Mili-tärschlag mit Hunderten von Toten auf Sei-ten der SWAPO. Der UN-Namibiaplan warakut gefährdet und damit die politischeKonfliktlösung in der Region insgesamt be-droht. Nach einer Woche hektischer diplo-matischer Verhandlungen zwischen Vertre-tern von Angola, Kuba, Südafrika, der USAund Sowjetunion konnte ein Ende derKämpfe erreicht werden. Ahtisaari kamnun erst wieder zum Zuge. Er etablierteUNTAG landesweit, hatte es aber nichtleicht, die Vertrauenskrise seiner Einheitenangesichts der blutigen April-Ereignisse zuüberwinden. Schließlich gelang es ihm je-doch, die Intentionen der UN gegenüberSüdafrika durchzusetzen, unterstützt durchdiplomatische Beobachtermissionen aus40 Ländern, darunter der DDR.

42 000 Flüchtlinge kehrten nach Nami-bia zurück, auch mit Interflug-Sonderma-schinen, die zudem dringend benötigte Zel-te und Hilfsgüter aus der DDR ins Landbrachten. SWAPO-Präsident Sam Nujomaführte kurz vor der Rückkehr in seine Hei-mat noch Konsultationen in Berlin. DieDDR hatte den von westlichen Staaten er-arbeiteten UN-Namibiaplan 1978 noch als

einen Versuch abgelehnt, eine Machtüber-nahme der SWAPO zu verhindern. Inzwi-schen wurde der Plan als realistischerKompromiss für eine politische Konfliktlö-sung aktiv unterstützt. Auch deshalb wurdedie DDR-Beobachtermission trotz sowjeti-schen Widerspruchs nach Windhoek ent-sandt.

Bei der Verwirklichung des UN-Planskam der Polizei-Funktion der UNTAG eineSchlüsselrolle zu. Mitte 1989 wurde be-schlossen, ihre Stärke zu verdreifachen.Hier kamen nun auch beide deutsche Staa-ten zu ihrem ersten Blauhelmeinsatz – 50Mann vom Bundesgrenzschutz und 30 Po-lizeibeobachter aus der DDR. Da patrouil-lierten an der angolanischen Grenze auchschon mal Volkspolizei und Bundesgrenz-schutz gemeinsam im UN-Schützenpanzer.Die UNTAG-Polizeibeobachter trugen dazubei, latente Konflikte zu entschärfen undunter Kontrolle zu halten. Die Verleihungder UN-Friedensmedaille war dann auchmehr als nur eine Geste.

Zu den Wahlen vom 7. bis 11. Novem-ber reisten weitere 1200 internationaleBeobachter nach Namibia, wiederum auchaus der DDR. Die internationale Präsenztrug zum Erfolg der Wahlen bei, an denensich beeindruckende 95 Prozent der Be-völkerung beteiligten. Während auf Wind-hoeks Straßen der Wahlsieg der SWAPOgefeiert wurde, bilanzierte die UNO eineihrer erfolgreichsten Missionen. UNTAG-Stabschef Cedric Thornberry erwähnt inseinen Erinnerungen an Namibia lobendauch explizit die DDR-Mission.

7. Oktober 2009 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 13

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politik mit Alternativen. Er untersucht aktuelle Debat-

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Dr. Hans-GeorgSchleicher, Bot-schafter a.D., istheute noch oft inAfrika unterwegs,u. a. für SODI.

Die erste undletzte UN-Mission

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Von Hans-Georg Schleicher

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14 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

Von Heinrich Niemann

1989 gehörte das Gesundheitswesen derDDR international zu den leistungsfähigenund anerkannten Systemen der Gesund-heitsversorgung der Bevölkerung. Die Welt-gesundheitsorganisation (WHO) schätztebeispielsweise die medizinische Basisver-sorgung der Bevölkerung.

Trotz des beträchtlichen Unterschieds inder ökonomischen Leistungskraft befandensich die DDR und die Bundesrepublik in den

wesentlichen medizinischen Standards undgesundheitlichen Kennziffern auf einemvergleichbar hohen Niveau. Das beruflicheKönnen der 52 000 Ärzte und Zahnärztewurde nie in Frage gestellt. Ihr hoher Aus-bildungsstand verweist auch auf das aner-kannt hohe Niveau der Lehre an den medi-zinischen Hochschulen der DDR. Waren inder BRD medizintechnische Geräte oderHeilmittel für die Behandlung bestimmterKrankheiten besser verfügbar, so standendem in der DDR bessere Ergebnisse auf demGebiet der Vorbeugung, der Kindergesund-heit und des Impfschutzes gegenüber. Nichtzu bestreiten sind manche Engpässe, so diezu langen Wartezeiten bei Untersuchungenmit modernen Importgeräten wie Compu-

tertomografen, die nicht in ausreichenderZahl vorhanden waren. Immerhin waren dieGründe nachvollziehbar – im Gegensatz zurheutigen Situation, in der es unerträglicheWartezeiten gibt, obwohl an Geräten keinMangel herrscht.

An ihrem Gesundheitssystem ist die DDRsicher nicht zugrunde gegangen. In der be-nachbarten Bundesrepublik wusste man zujener Zeit sehr wohl von den Vorzügen einerpoliklinischen Struktur oder anderen Stär-ken, die möglicherweise gern übernommen

worden wären. Aber was ist einBundesminister oder ein Ärzte-kammerpräsident gegen eine Kas-senärztliche Vereinigung oder dieLobby der Pharmaindustrie? DerenOhnmacht zieht sich durch alle Re-formen des bundesdeutschen Ge-sundheitssystems, die wir in denletzten Jahren erlebt haben. Trotzdes enormen medizinisch-wissen-schaftlichen Fortschritts der letz-ten beiden Jahrzehnte mit denMöglichkeiten der digitalen Daten-verarbeitung und den deutlichenbaulichen Verbesserungen in vie-len DDR-Krankenhäusern seit derVereinigung bleibt der Umbau desGesundheitssystems eine höchstaktuelle Aufgabe.

Das zweifellos hoch entwickeltebundesdeutsche Gesundheitssys-tem leidet an steigenden Kosten,zunehmender Zwei-Klassen-Medi-zin und territorialen Disproportio-nen, die nur mit strukturellen Ver-änderungen grundsätzlicher Art zubeheben sind. Ein zentrales Merk-mal der DDR war der staatlicheCharakter ihres Gesundheitswe-sens, verbunden mit dem pro-grammatischen Ansatz, den Ge-sundheitsschutz als gesamtgesell-schaftliches Aufgabe zu verstehenund zu gestalten. Das steht denheutigen Tendenzen der Privatisie-

rung und Unterwerfung unter die Marktge-setze diametral entgegen. Mit dem Wort»staatlich« waren nicht nur die Eigentums-verhältnisse angesprochen. Es beinhaltetedie unmittelbare Verantwortung des Staa-tes für die Gesundheitspflege. Ein Beispiel:Eine gesetzliche Pflicht etwa zu bestimmtenImpfungen oder für Reihenuntersuchungenvon Kindern festzulegen, implizierte auchdie Verpflichtung, dafür die Voraussetzun-gen zu schaffen. Das setzte die DDR um.

Die einheitliche Krankenversicherung derDDR war transparent, sozial gerecht, kos-tengünstig und unbürokratisch. Ambulanteund stationäre Behandlung bildeten eineEinheit, ebenso Prophylaxe, Diagnostik,Therapie und Nachsorge. Der vorbeugende

Gesundheitsschutz spielte eine große Rolle– besonders bei Kindern und in Betrieben.Es existierte ein abgestimmtes System derAus-, Weiter- und Fortbildung für Ärzte undandere Gesundheitsberufe. Aus all diesenGrundsätzen wurde eine sinnvolles, fach-lich und territorial abgestimmtes Systemder medizinischen Grundbetreuung, derspezialisierten und der hoch spezialisiertenBetreuung entwickelt. Ein Dispensairebe-treuungssystem für Patienten mit Krankhei-ten wie Tuberkulose, Lungenkrankheiten,Rheuma oder Diabetes wurde aufgebaut,dessen Stärke die Erfassung und Betreuungpraktisch aller Betroffenen, stringente me-dizinische Standards und entsprechendeWeiterbildung des Personals waren.

Es wurden sinnvolle gesetzliche Rege-lungen für komplizierte Probleme gefun-den. So galt bei Organspenden die Nicht-einwilligungsregelung. Wer eine Spendenicht ausdrücklich abgelehnt hatte, galt alsSpender – ein System, das in anderen Län-dern heute noch existiert und das sich eini-ge Experten für die Bundesrepublikwünschten, weil es Leben retten könnte.Dem Ministerium für Gesundheitswesen zu-geordnete Institute befassten sich mit Spe-zialfragen wie dem Kinder- und Jugendge-sundheitsschutz, der Arbeitsmedizin oderder Organisation des Gesundheitsschutzessowie mit der Facharztaus- und Fortbil-dung. Beispielhaft war die Gesundheitssta-tistik – darunter das Krebsregister. Fast aufall diesen Feldern besteht in der Bundesre-publik Handlungsbedarf, weil oft nicht allebetroffenen Bürger oder Patienten mit denheutigen Strukturen erreicht werden undauch in fachlicher Hinsicht nicht seltenMängel festgestellt werden.

Ein Wort ist inzwischen fast zum Syn-onym für das DDR-Gesundheitswesen ge-worden: Poliklinik. Die Zerstörung diesesSystems ist der gesundheitspolitische Sün-denfall der Vereinigung. Polikliniken warenkeine Erfindung der DDR. Ihre historischenWurzeln liegen in der Idee einer »SozialenMedizin« Rudolf Virchows ebenso wie inden in der Weimarer Republik entstande-nen Ambulatorien der Krankenkassen. Nichtnur die Sowjetunion, sondern auch westeu-ropäische Länder nahmen sie sich nach1945 zum Vorbild. Polikliniken sind mehrals Praxisgemeinschaften. Ihr Prinzip istdie Einheit vorbeugender, kurativer und re-habilitativer sowie sozialer Maßnahmen.Das erfolgt in einer abgestimmten Zusam-menarbeit mehrerer für die ambulante Be-treuung notwendiger Fachdisziplinen, inder Regel unter einem Dach. Ärzte und an-dere Berufsgruppen arbeiten gleichberech-tigt zusammen und sind als Angestellte be-schäftigt. So ist das individuelle ärztlicheHandeln nicht unmittelbar vom finanziellenWert der einzelnen ärztlichen Maßnahmenbeeinflusst. Der Patient ist kein Kunde, dieGesundheit keine Ware. Eine Poliklinikkann einen vorbeugenden Ansatz und eineaufsuchende medizinische Arbeit im Unter-schied zur Einzelpraxis viel besser organi-sieren. Die Poliklinik kann sozialen Belan-gen des Patienten besser Rechnung tragenund kommunale Funktionen zu Gesund-heitsfragen in ihrer Stadt erfüllen. Be-triebswirtschaftlich, also bei den Kosten,liegt ihr Vorteil allein mit Blick auf die bes-sere Auslastung vieler Geräte auf der Hand.

Patient statt KundeAn ihrem Gesundheitswesen ging die DDR nicht zugrunde

Ein Wort istSynonym für das

Gesundheitswesender DDR:

Poliklinik.DieZerstörung dieses

Systems ist einSündenfall der

Vereinigung.

Dr. med. HeinrichNiemann ist Fach-arzt für Sozialme-dizin und war von1992-2001 Ge-sundheitsstadtratin Berlin-Hellers-dorf.

»Schwimmer« vonWilli Sitte, 1971

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EIN DEUTSCH-DEUTSCHES GESCHICHTENBUCH. EIN DEUTSCH-DEUTSCHES GESCHICHTSBUCH.EIN GEGENWARTSBUCH. EIN VERGANGENHEITSBUCH.EIN DIE-GEGENWART-IN-DER-VERGANGENHEIT-BUCH.

Immer wieder, immer wieder neu, machen die Autoren Kerstin und Gunnar Decker dieselbe Erfahrung: ohne dass dieses Land auch die DDR-Geschichte als ihre eigene annimmt, wird die Einheitsnarbe nicht heilen, blei-ben wir dümmer, als wir eigentlich sind.

Doch gerade im 20. Jahr des Mauerfalls, im 60. Jahr der Bundesrepublik scheint nichts unpopulärer zu sein als die Kunst, ungeteilt zu erben. Besitzt Deutschland nur eine westliche Vergangenheit? Neueste Bilder- und Geschichtsausstellungen zum Thema »60 Jahre Bundesrepublik« legten es nahe.

Wann wird die innere Einheit des Landes vollendet sein? Vielleicht erst, wenn wir nicht nur eine gemeinsame Gegenwart und eine gemeinsame Zukunft, sondern auch eine gemeinsame Vergangenheit haben.

Zeit für eine neue Deutschstunde.

AUSGEWÄHLTE VERANSTALTUNGEN

Kerstin und Gunnar DeckerÜber die unentwickelte Kunst, ungeteilt zu erben

Eine DeutschstundeKarl Dietz Verlag Berlin GmbH 2009, 320 Seiten, Broschur, 19,90 Euro, ISBN 978-3-320-02194-8

4. NOVEMBER AB 10:30»EINES LANGEN TAGES REISE ... DER 4. NOVEMBER 1989 IN BERLIN – DER WEG ZUR DEMOKRATIE« MULTIMEDIALE REKONSTRUK TION DIESES EREIGNISSES UND PODIUMS-DISKUSSION MIT ZEITZEUGINNENREIHE «GESCHICHTSJAHR 2009»Mit: Lothar Bisky, Konrad Elmer-Herzig, Gregor Gysi, Luc Jochimsen, Johanna Schall, Hennig Schaller, Friedrich Schorlemmer, Franz So-dann, Joachim Tschirner u. a.Ort: KINO BABYLON-MITTE Rosa- Luxemburg-Str. 30, 10178 BerlinKontakt: WOLFGANG BEY Tel. 030 44310-161, [email protected]

13. NOVEMBER 17:00 BIS 14. NOVEMBER 24:00ÜBERLEBEN IN DEN «CREATIVE INDUSTRIES»ZWISCHEN LUST UND LAST DES INFOR-MELLEN. INTERNATIONALE KONFERENZWissenschaftiche Analyse trifft auf zugespitzte publizistische Meinung und literarische, fi lmische und darstellende künstlerische Form.Ort: VOLKSBÜHNE IM PRATER Kastanienalle 7–9, 10435 Berlin Kontakt: MARIO CANDEIAS Tel. 030 44310-179,[email protected]

17. NOVEMBER 17:00 BIS 20:0020 JAHRE NACH DER MODROW-REGIERUNGSYMPOSIUM IN KOOPERATION MIT FRAKTION DIE LINKE IM ABGEORDNETENHAUS VON BERLIN, »HELLE PANKE E. V.« UND ROSA-LUXEM-BURG-STIFTUNG BRANDENBURG Mit: Carola Bluhm, Matthias Platzeck, Hans Modrow, Heinz Vietze, Christa Luft, Gabriele Lindner, Siegfried Prokop, Juri Kwisinski (angefragt),

Detlef Nakath u. a. Ort: ALTES STADTHAUS Bärensaal, Eingang Jüdenstr. 42, 10179 BerlinKontakt: WOLFGANG BEYTel. 030 44310-161, [email protected]

20. NOVEMBER 17:00 BIS 22. NOVEMBER 16:00MARX – WELCOME BACK?MARX-HERBSTSCHULE 2009Thema: Die zentralen Begriffe des Zirkulations- und Kreislaufprozesses des KapitalsOrt: ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin Kontakt: SABINE NUSS Tel. 030 44310-448, [email protected]

BERLIN BUNDESWEIT

24. OKTOBER 9:00 BIS 25. OKTOBER 17:00NEONAZIS, IHRE ORGANISATIONEN UND NEOFASCHISTISCHE FORMIERUNG IN DEUTSCHLAND EIN WORKSHOP-WOCHENENDEAn historischer Stätte wird sich mit der Geschichte und der Gegenwart des Faschismus in Deutschland auseinandergesetzt.Mit: Prof. Dr. Kurt Pätzold; Dr. Chris-toph Busch; Martina Renner; Kevin Stützel; Yves Müller; Michael Weiss; Friedrich Burschel, Anke Hoffstadt, Dr. Horst Helas, Michael Brühl, u. a. Ort: NS-DOKUMENTATIONSZENTRUM RHEINLAND PFALZ. GEDENKSTÄTTE KZ OSTHOFEN Ziegelhüttenweg 38, 67574 Osthofen Kontakt und Anmeldung: RLS-REGIO-NALBÜRO MAINZ Tel. 06131 6274703, [email protected]

5. NOVEMBER 19:00 «DIE MAUER FIEL UND ICH BIN SCHULD»LESUNG MIT GÜNTER BROCK, AUTOR UND TEILNEHMER DER SPÄTER SO BERÜHMT GEWORDENEN PRESSE-

KONFERENZ MIT GÜNTER SCHABOWSKI, DIE NOCH IN DER SELBEN NACHT ZUM MAUERFALL FÜHRTEOrt: HAUS DER KULTUR Arsenalstr. 8, 19053 Schwerin Kontakt: RLS MECKLENBURG- VORPOMMERN Tel. 0381 4900450, [email protected]

12. NOVEMBER 18:00 BIS 13. NOVEMBER 16:0013. POTSDAMER KOLLOQUIUM ZUR AUSSEN- UND DEUTSCHLANDPOLITIK: 1949 – 1989/90 – 2009 TAGUNG ZUR GESCHICHTE DER AUSSENPOLITIK DER DDR, DER BRD UND DES VEREINIGTEN DEUTSCHLANDMit: Prof. Egon Bahr, Dr. André Brie, Dr. Werner Kilian, Prof. Dr. Wilhelm Ersil, Botschafter a. D. Julij Kwi-zinskij (Moskau), Prof. Dr. Claus Montag, Dr. Hermann Freiherr von Richthofen u. a.Ort: KULTURHAUS ALTES RATHAUS Am Alten Markt, 14467 Potsdam Kontakt: RLS BRANDENBURGTel. 0331 8170432, [email protected]

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16 Vor 60 Jahren: Gründung der DDR 7. Oktober 2009

Oddo und Rischard, zwee Sachsen, sitzenauf der Parkbank und klagen über die Ko-lonisatoren aus’m Westen. Beim Überflie-gen besudelt eine Amsel, die mal muss,Oddos Jackenärmel. Rischard, verbittert:»Was hab’ch dir gesagt, mei Oddo, unsscheißen se an, un for de Westler sing’ se!«

Wenn auch die Jahre enteilen, bleibt demgelernten DDR-Bürger doch unauslöschlichdie Erinnerung an die politischen Witzevon einst. In dieser Hinsicht musste dieDDR den internationalen Vergleich nichtscheuen: Über Spanien lachte nur die Son-ne, über die DDR jedoch die ganze Welt.

Mehr als mir lieb sein konnte, bestimm-ten solche Flüsterpointen meine Jugend. Inmeiner Leipziger Studentenzeit gehörte ichdem Kabarett »Rat der Spötter« an, wurde1961 nach der Errichtung des unvergessli-chen Antifaschuwa gemeinsam mit fünfFreunden verhaftet und in der Stasi-Unter-suchungshaft monatelang von einem Ober-leutnant der Schutz- und Sicherheitsorganeverhört. Witze, die wir schätzten, nannte erFeindwitze. Er kannte sie alle. Im Gegen-satz zur Bevölkerung jedoch mochte er da-rüber nicht lachen.

Läuft ein Sowjetbürger über den RotenPlatz in Moskau, hat aber nur einen Schuhan. Ein Passant ruft ihm zu: »Eh, du, Ge-nosse, du hast’n Schuh verloren!« – »Nee,gefunden, gefunden!«

Versorgungsmängel waren das ThemaNummer eins; denn die frühen Jahre derDDR waren geprägt von den Schwierigkei-ten des Wachstums, die späten Jahre vomWachstum der Schwierigkeiten. Die sozia-

listische Wartegemein-schaft vor dem KONSUMObst & Gemüse löstesich endgültig erst auf,als auch die DDR sichauflöste.

Sagt eine Hausfrau zuranderen Hausfrau: »Ichhab gehört, morgensoll’s Schnee geben.«Sagt die andere Haus-frau: »Mir egal, ichstell’ mich nicht an.«

Was gab es früher,Henne oder Ei? Frühergab es beides.

Warum ist die Bananekrumm? Damit sie umdie DDR einen großenBogen machen kann.

Unser Handel hattealles, was wir nichtbrauchten. Sobald in der Kaufhalle eine Ap-felsine golden erstrahlte wie der Stern vonBethlehem, wussten wir auch ohne Kalen-der: Aha, das ist die Festtagsversorgung,bald nun ist Weihnachtszeit, fröhliche Zeit.Den Südfrüchten zum Trotz kreisten dieGedanken der Verbraucher jedoch nicht umden sonnigen Süden, sondern um den gol-denen Westen. NSW-Reisekader wurdenglühender beneidet als Filmstars.

Preisfrage: Es ist schwarz, fliegt durch dieLuft und darf nicht nach’m Westen, was istdas? Na, was schon: ein Pechvogel.

Mehr und mehr wurde auch die betagtePartei- und Staatsführung zum Gegenstandvon Hohn und Spott.

Aus dem Programm des XII. Parteitags:1. Hereintragen des Präsidiums2. Synchronisieren der Herzschrittmacher3. Absingen der Weise »Wir sind die jungeGarde des Proletariats«

Die Pointen wurden brutaler von Jahr zuJahr.

Der Parteisekretär krönt in der Versamm-lung sein Referat mit der Prophezeiung:

»Der Sozialismus siegt!« In der ersten Rei-he sitzt Paule und sagt unbeeindruckt: »Mirkannste nich mehr drohen, ich hab Krebs.«

Standardfrage seinerzeit: Welcher Spaß-vogel erfindet eigentlich all diese subversi-ven Scherze? Erich Honecker, hieß es,kannte die Antwort: Der Gegner erfindetsie, der Genosse verbreitet sie, die FreieDeutsche Jugend verwirklicht sie. Urheber,soviel immerhin lässt sich sagen, ist einkollektiver Autor – nennen wir ihn Volks-mund. Hinter vorgehaltener Hand meldet ersich immer dann zu Wort, wenn es riskantwird, die Wahrheit auf offenem Markteauszuposaunen. Bis in die obersten Füh-rungsgremien hinein empfand die Bevölke-rung politische Witze als kurzweiligsteForm der Volkskunst. Nostalgiker sindüberzeugt davon, dass die Witze in denFarben der DDR besser waren als der deut-sche Humor der Gegenwart.

Der Kleinanleger betritt die Sparkasse. DerKassierer begrüßt ihn mit den Worten:»Zwei Nachrichten für Sie, eine gute undeine schlechte.« – »Zuerst die gute, bitte.«– »Ihr Geld ist noch da.« – »Und nun dieschlechte?« – »Es gehört leider nicht mehrIhnen.«

Witze, die dasLeben riss

Die kurzweiligste Form der Volkskunst

Von Ernst Röhl

Nostalgiker sindüberzeugt davon,dass die Witze in

den Farben der DDRbesser waren als

der deutscheHumor der

Gegenwart.

Ernst Röhl ist Sati-riker und Witze-sammler. Zu seinenzahlreichen Bü-chern gehört »ZehnJahre sind zuviel.Deutsch-deutscheWitze der Jahrtau-sendwende« von1998.

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Sighard Gille schufdas Bild »Autofah-rer« 1972.