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Hochschule für Soziale Arbeit Zürich VORLESUNG: SOZIALE ARBEIT ALS HANDLUNGSWISSENSCHAFT Grundbegriffe der Philosophie der Basis- & Handlungs- wissenschaften Eine thematisch geordnete und kommentierte Zusammenstellung von Begriffen der Vorlesung «Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft» Werner Obrecht Einleitung Das Folgende ist eine Zusammenstellung von Definitionen von Begriffen der Sozia- len Arbeit als Handlungswissenschaft. Deren grösster Teil wird in der gleichnami- gen Vorlesung eingeführt, während es sich beim Rest um Begriffe handelt, die in einer erweiterten Version des Skripts Platz auftreten werden. Da sich Handlungswissenschaften und Professionen auf Basiswissenschaften stüt- zen, schliesst diese Sammlung von Begriffen auch Definitionen von philosophischen Grundbegriffen der Basiswissenschaften mit ein. Da die Definitionen thematisch und nicht alphabetisch geordnet sind, handelt es sich nicht um ein Glossar im strengen Sinne; eine alphabetische Ordnung der Definitio- nen vorgesehen, sodass dieser zweite Teil den Charakter eines Glossars im engen Sinne haben wird. Die Definitionen stammen aus dem Kontext der des Systems von Metatheorien, das Mario Bunge in den vergangenen vier oder fünf Jahrzehnten entwickelt hat, oder sind auf der Grundlage dieses Vokabulars definiert. (Bunge, 2003a; 2003b; Bunge & Mahner 2004) Zu einer Sammlung von Definitionen philosophischer Begriffe gehört auch die Defi- nition des Begriffes einer Definition: D: ‚Definition’: „Eine Definition ist eine Vereinbarung (*Konvention 1 ), nach der ein Begriff oder Ausdruck als gleichbedeutend mit anderen Begriffen oder Ausdrücken gesetzt wird, wie in „2 = df 1+1“ 2 und „emergente Eigenschaft = df Eigenschaft eines Ganzen, das seinen Teilen nicht zukommt“. Nicht zu verwechseln mit Beschreibung oder Annahme (EC: 285). Die erhellenden Begriffe einer Definition bilden das Defi- niens, das Definierende, und der erhellte ist das Definiendum, das zu Definierende.“ Eine einzelne Definition ist von beschränktem Wert. Grund: Die Begriffe des Defi- niens verlangen ihrerseits nach einer Definition. So ist in der Definition des Begriffes einer Definition der Ausdruck ‚Bedeutung’, der im Definiens auftritt, nicht definiert (Bedeutung, Kap. Semantik)). Inhaltsreiche und präzise Begriffe sind deshalb im- mer im Kontext einer Theorie definiert, d.h. sie sind Komponenten irgendeines Sys- tems von Begriffen bzw. begrifflichen Systems. Aus diesem Grund sind die nachstehend definierten Begriffe keine unverknüpften und damit diffuse (sinnlose) Begriffsatome, sondern Komponenten von Theorien, die ihrerseits untereinander verknüpft sind, indem sie einige Begriffe gemeinsam 1 Klammerausdrücke, die mit einem * beginnen, enthalten Synonyme des vorangehenden Begriffs. 2 Zu lesen als „zwei ist gleichbedeutend mit...“ oder „..ist definiert als....

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Hochschule für Soziale Arbeit Zürich

VORLESUNG: SOZIALE ARBEIT ALS HANDLUNGSWISSENSCHAFT

Grundbegriffe der Philosophie der Basis- & Handlungs-wissenschaften

Eine thematisch geordnete und kommentierte Zusammenstellung von Begriffen der Vorlesung «Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft»

Werner Obrecht

Einleitung Das Folgende ist eine Zusammenstellung von Definitionen von Begriffen der Sozia-len Arbeit als Handlungswissenschaft. Deren grösster Teil wird in der gleichnami-gen Vorlesung eingeführt, während es sich beim Rest um Begriffe handelt, die in einer erweiterten Version des Skripts Platz auftreten werden. Da sich Handlungswissenschaften und Professionen auf Basiswissenschaften stüt-zen, schliesst diese Sammlung von Begriffen auch Definitionen von philosophischen Grundbegriffen der Basiswissenschaften mit ein.

Da die Definitionen thematisch und nicht alphabetisch geordnet sind, handelt es sich nicht um ein Glossar im strengen Sinne; eine alphabetische Ordnung der Definitio-nen vorgesehen, sodass dieser zweite Teil den Charakter eines Glossars im engen Sinne haben wird.

Die Definitionen stammen aus dem Kontext der des Systems von Metatheorien, das Mario Bunge in den vergangenen vier oder fünf Jahrzehnten entwickelt hat, oder sind auf der Grundlage dieses Vokabulars definiert. (Bunge, 2003a; 2003b; Bunge & Mahner 2004)

Zu einer Sammlung von Definitionen philosophischer Begriffe gehört auch die Defi-nition des Begriffes einer Definition:

D: ‚Definition’: „Eine Definition ist eine Vereinbarung (*Konvention1), nach der ein Begriff oder Ausdruck als gleichbedeutend mit anderen Begriffen oder Ausdrücken gesetzt wird, wie in „2 = df 1+1“2 und „emergente Eigenschaft = df Eigenschaft eines Ganzen, das seinen Teilen nicht zukommt“. Nicht zu verwechseln mit Beschreibung oder Annahme (EC: 285). Die erhellenden Begriffe einer Definition bilden das Defi-niens, das Definierende, und der erhellte ist das Definiendum, das zu Definierende.“

Eine einzelne Definition ist von beschränktem Wert. Grund: Die Begriffe des Defi-niens verlangen ihrerseits nach einer Definition. So ist in der Definition des Begriffes einer Definition der Ausdruck ‚Bedeutung’, der im Definiens auftritt, nicht definiert (↑ Bedeutung, Kap. Semantik)). Inhaltsreiche und präzise Begriffe sind deshalb im-mer im Kontext einer ↑Theorie definiert, d.h. sie sind Komponenten irgendeines Sys-tems von Begriffen bzw. begrifflichen Systems. Aus diesem Grund sind die nachstehend definierten Begriffe keine unverknüpften und damit diffuse (sinnlose) Begriffsatome, sondern Komponenten von Theorien, die ihrerseits untereinander verknüpft sind, indem sie einige Begriffe gemeinsam 1 Klammerausdrücke, die mit einem * beginnen, enthalten Synonyme des vorangehenden Begriffs. 2 Zu lesen als „zwei ist gleichbedeutend mit...“ oder „..ist definiert als....“

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haben. Folge: In der vorliegenden Zusammenstellung einiger weniger Begriffe, blei-ben viele Begriffe auch undefiniert. Möglichst viele und die wichtigen unter ihnen sollen bei einer geplanten Erweiterung des vorliegenden Vokabulars definiert wer-den. Bei Bedarf sei auf den Philosophical Dictionary von Mario Bunge verwiesen, er enthält weit über 2'000 im Kontext philosophischer Doktrinen definierte Begriffe aus allen Bereichen der theoretischen und praktischen Philosophie. (Mahner & Bunge 2000 enthält auf den ersten 130 Seiten eine Zusammenfassung der Ontologie, Er-kenntnistheorie und Semantik Bunges, in denen zahlreiche Definitionen zu finden sind.)

Funktionen von Definitionen: Begriffe und Aussagen sind der wichtigste Stoff unseres bewussten Denkens3 und sie sind das, was wir im Rahmen von ‚Kommunikation’ anderen in mündlicher oder schriftlicher Form mitzuteilen trachten. Gelingende (nicht nur vermeintliche) Verständigung ist an geteilte Begriffe gebunden, an die auch im Alltag im Rahmen von Kooperation hohe Anforderungen gestellt werden. Dies gilt erst Recht im Rahmen professionellen Handelns – man denke etwa an An-weisungen des operierenden Arztes im Rahmen einer Operation oder zur Verabrei-chung von Medikamenten –, das sich auf wissenschaftliches Wissen stützt. Die Bedeutung präziser Begriffe im Rahmen der Wissenschaften (wo Begriffe aller-dings oft vorläufig nur „operational“ definiert werden), ist die: Wissenschaften sind per definitionem auf Tests ihrer Theorien anhand von logisch aus ihnen abgeleiteten Aussagen angewiesen. Die Ableitung solcher ‚Beobachtungsimplikationen“ aus Theorien ist aber nur möglich, wenn die Theorie konsistent ist und die Bedeutung ihrer Begriffe und damit ihrer allgemeinen Aussagen klar ist. Andernfalls ist eine Theorie nicht testbar, da aus ihr alles folgt und selbst wenn eine solche Aussage noch überprüft werden können, aus dem Bestätigungserfolg nicht auf die Theorie zurück geschlossen werden könnte. Kurz, ohne präzise Begriffe kei-ne präzise Aussagen der Theorie und ohne präzise Begriffe und Aussagen keine Ableitung von testbaren Beobachtungsimplikationen aus der Theorie, ohne solche Beobachtungsimplikationen kein Test und ohne Test keine Wissenschaft, sondern nur weltlicher oder religiöser Dogmatismus und – psychologisch gesprochen – blin-der Glaube.

Braucht es eine besondere Rechtfertigung für eine seriöse Begrifflichkeit in der Sozia-len Arbeit? Eigentlich nicht, denn sie will erstens eine Profession sein (vgl. den E-thikkodex des Schweizerischen Berufsverbandes für Soziale Arbeit oder die Definiti-on Sozialer Arbeit), wird zweitens an Hochschulen für angewandte Wissenschaften gelehrt und die Professionellen sind im Rahmen einer institutionalisierten Praxis tätigt, in deren Rahmen sie massiv ins Leben anderer Menschen eingreifen. Wenn das Wort ethischen Standards in der Sozialen Arbeit (wie auch in anderen Professio-nien) einen Sinn haben soll, dann die Verfügbarkeit einer präzisen Sprache zur Be-schreibung und Begründung der Arbeit von Professionellen eine Voraussetzung. Wer nicht weiss, wovon er spricht, wenn er über sein Handeln redet, weiss nicht was er tut und kann sein Handeln entsprechend weder fachlich noch moralisch verant-worten (sondern nur gegenüber der organisationellen Macht, die ihn vielleicht zu einer moralisch fragwürdigen Praxis zwingt. (Aus diesem Grund gehört zur Ethik von Professionellen faktisch auch eine Ethik des Wissens und professionellen des Handelns als Handlungsform, vergleichbar wie es eine Ethik des wissenschaftlichen Handelns gibt.)

In Tat und Wahrheit gibt es über diese Grundsätze weder an Fachhochschulen noch in der „Praxis keine Übereinstimmung, ja das Problem wird über weite Strecken

3 Der Rest sind nichtbegriffliche Gedächtnisspuren von Dingen (‚Gedächtnisbilder’), Tönen, Repräsentationen von Körperbewegungen.

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nicht einmal ernst genommen. Als Folge davon nennen sich Sozialtätige Professio-nelle, ohne genauer sagen zu können, was sie darunter verstehen, Arbeiten mit ‚Theorien’ (oder lehnen ‚Theorien’ ab), ohne zu wissen, was das ist und welche Funktion Theorien im Rahmen des professionelle Handelns zukommt, bekennen sichzum ‚Systemischen Arbeiten’, können aber weder bestimmen, was ein System ist noch kennen sie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen von System-theorien; sie übernehmen gedankenlos nichtfachliche Sprachregelungen wie die, dass über Lösungen, nicht aber über Probleme gesprochen werden darf (wie wenn es eine Lösung ohne Problem gäbe), sie behaupten, dass Menschenbilder Privatsache und keine Angelegenheit von Fachlichkeit seien, können aber nicht genauer sagen, was ein Menschenbild ist etc.

Im thematischen Mittelpunkt des hier präsentierten Vokabulars stehen die Begriffe des Aktes, der menschlichen Handlung, der sozialen Handlung und der professio-nellen Handlung als einer besonderen Form einer sozialen Handlung, mit inbegrif-fen alle Begriffe, die für deren Verständnis (und Definition) erforderlich sind. Es dürfte schwer zu bestreiten sein, dass diese Begriffe nicht Kernbegriffe der Sozialen Arbeit und darüber hinaus jeder Profession und jeder Handlungswissenschaft sind. Während die Vorlesung den gesamten Rahmen behandelt, der zur Klärung dieser Begriffe erforderlich ist, sind hier über die Verweisstruktur der Begriffe die Begriffe verfügbar, die zu den Definienses dieser zentralen Begriffe allen professionellen Denkens und Redens gehören. Der enorme Rahmen, der durch die Definitionsket-ten ersichtlich wird, die bei diesen Begriffen enden (ausgehen), macht deutlich wie falsch die Vorstellung ist, „Praxis“ sei das Gegenteil von ↑’Theorie’ und habe mir ihre nichts zu tun. Wer so argumentiert, dürfte nicht einmal selber verstehen, was er oder sie behauptet. Wer an diesem Zweifel zweifelt, kann versuchen, die Ausdrücke ‚Praxis’ und ‚Theorie’ zu definieren, die beiden Begriffe also, die in auf denen die Behauptung beruht. Hinweis: einer der beiden Begriffe, jener der ‚Praxis’ bedeutet ↑‚Handeln’ (vgl. ein beliebiges Lexikon) und ↑Theorien sind die Mittel von ↑Beschreibung, ↑Erklärung und ↑Prognose (vgl. ein Lexikon der Wissenschaftstheo-rie). Die Behauptung, wonach ‚Theorie’ nichts mit ‚Praxis’ zu tun habe, lautet also, wenn die Begriffe so definiert werden: „Um (professionell) zu handeln braucht es weder Beschreibungen oder Erklärungen oder Prognosen“ oder anders gesagt, muss man weder etwas über seine Umwelt, noch über seine Beziehung zu ihr wissen um zu Handeln.

Solche Sätze werden zwar heute von Konstruktivistinnen und Vertretern anderer Formen von (subjektivistischen) antirealistischen ↑Erkenntnistheorien geglaubt, die mit der Postmoderne modisch gemacht worden sind und deren Ende überlebt ha-ben. Die Basis- wie die Handlungswissenschaften orientieren sich jedoch – wie auch die Professionen – an der Vorstellung, wonach es ausserhalb unseres Denkens und unserer eigenen Organismen eine reale Welt bestehend aus konkreten und deshalb beobachtbaren Dingen gibt, die zumindest teilweise erkannt werden können. (Alles andere würde es erübrigen, am morgen das Bett zu verlassen und mittels Messin-strumenten in der Welt herumzurennen um die Eigenschaften interessierender Din-ge zu beobachten und nicht zuletzt mit komplexen Messverfahren zu messen.) Und welcher Professionelle würde einen Tag in seiner professionellen Praxis überleben, wenn er seinen KlientInnen zu verstehen gäbe, dass sie gar nicht existieren und wenn schon, dass er nichts über sie wissen könne!

Auch wenn es aus dem Gesagten folgt, sei es explizit formuliert. All das Gesagte wie die Begriffe des Vokabular beschränken sich nicht auf die Soziale Arbeit. Sie gelten vielmehr für alle Handlungswissenschaften und die sich je an ihnen orientierenden Professionen. Mehr noch: Die hier präsentierten Begriffe bilden die Kernbegriffe je-nes metatheoretischen und das heisst philosophischen Bezugsrahmens, der eine

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notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine gelingende interpro-fessionellen Kooperation ist, die mehr ist als die zeitliche und räumliche Koordinati-on von Aktivitäten, die alle darauf zielen, einen gemeinsamen Klienten oder eine gemeinsame Klientin zu verändern, ohne dass jemand weiss oder danach fragt, ob sich die faktischen Wirkungen der verschiedenen Bemühungen zugunsten oder zu-ungunsten der Klient/in überlagern.

Die Existenz von Alternativen: Das hier präsentierte Vokabular und die Metatheorien, innerhalb denen es definiert ist, scheinen innerhalb der Sozialarbeitswissenschaft und möglicherweise auch hinaus gegenwärtig ohne Alternative4. Als Alternative kommt alles in Frage, was die im vorliegenden Code beantworteten Fragen inner-halb eines alternativen begrifflichen Bezugsrahmens kohärent und konsistent be-handelt. D.h. eine Behauptung, wonach die präsentierten Begriffe b oder c falsch, unzureichend oder verzichtbar seien, ist keine solche Alternative. Keine Alternativen sind natürlich die Entwertung der gestellten und beantworteten Fragen und erst recht nicht der Verzicht oder gar die Ächtung einer bestimmten Terminologie, etwa der Verwendung des Wortes „Problem“, wie sie heute verbreitet ist5. Keine Alterna-tiven schliesslich sind auch Lehren, die das Geschehen in und zwischen Menschen und auf der Welt ganz allgemein als das Ergebnis Aktivitäten von immateriellen (und womöglich numinosen) Wesenheiten und Kräften auffassen. Solche Sichtwei-sen liegen ausserhalb dessen, was weltweit als Wissenschaft gilt und damit als Grundlage professionellen Handelns gelten kann. (Dies schliesst die Existenz von Praxen auf der Grundlage solcher Bezugssysteme natürlich nicht aus, sondern wirft die handlungswissenschaftliche Frage nach der Wirksamkeit solcher Praxen und den in ihrem Rahmen faktisch realisierten Mechanismen auf.)

Zum Inhalt: Die thematische Gliederung verlangt, dass zuweilen knappe Kommenta-re inhaltliche Brücken zwischen den thematischen Bereichen von Gruppen von Beg-riffen schlagen. Das letzte Kapitel über interprofessionelle Kooperation hat den Cha-rakter eines Minipapers. Die elementarsten Begriffe der folgenden Zusammenstellung sind die Begriffe rund um den Begriff eines Dinges. Da diese zur Philosophie gehören und innerhalb dieses zur Ontologie, beginnt die Zusammenstellung mit der Definition von Philosophie und ihrer Gebiete, geht dann zu Begriffen der Ontologie (eines ihrer Gebiete), gefolgt von solchen der Basis- und der Handlungswissenschaften und endet mit einem Ab-schnitt über den Professionsbegriff und interprofessionelle Kooperation.

Vollständigkeit: Auch mit Bezug auf die Vorlesung «Soziale Arbeit als Handlungswis-senschaft» ist das präsentierte Vokabular nicht vollständig. So fehlen insbesondere ganze Gruppen von Einträgen, namentlich zu den basiswissenschaftlichen der Theo-rie der Bioevolution, zum biopsychosoziokulturellen Modell des Menschen, aber

4 Eine systematischere handlungswissenschaftliche Diskussion scheint es – unter der Bezeichnung „Theorie der Medizin“ oder „Philosophie der Medizin“ – bisher erst in der Medizin und – in einem eingeschränkterem Sinne, in der Psychologischen Therapie (Grawe) zu geben, gefolgt von Programmen und Arbeiten zu einzelnen Bereichen von Fragestellungen in anderen handlungswissenschaftlichen Disziplinen wie den Pflegewissenschaften, der Gesundheitswissenschaft, der Polizeiwissenschaft etc.. (Für eine transdisziplinäre Konzeption der Handlungswissenschaften vgl. Obrecht 2001). 5 Verboten ist der Ausdruck ‚Problem’ während die Ausdrücke ‚Lösung’ oder ‚Lösungsorientierung’ zugelassen sind. Auf eine seriöse Definition des Begriffs einer ‚Lösung’ (=Definiendum) ohne den Beg-riff „Problem“ im Definiens, wartet die Fachwelt bisher vergeblich. (Über das Wort könnte man noch streiten, falls ein sinnvoller Kandidat vorgeschlagen wird). Diese Art Wortkosmetik operiert auf dem Niveau der Umbenennung von Putzfrauen in Raumpflegerinnen und übersieht, dass dieser Vorgang weder die Arbeit dieser Art von Personal, noch dessen Sozialstatus und Lohn verbessert hat. Eine Sozi-ale Arbeit, deren Vertreterinnen nicht sagen können, was ein Soziales Problem ist, woher solche Prob-leme kommen und was eine Methode ist, geschweige eine Methode der Bearbeitung sozialer Probleme, stellt sich mit solchen Strategien gesellschaftlich nicht besser, sondern verdichtet nur den begrifflichen Nebel, welcher der Profession die Sicht auf ihre äusserst prekäre gesellschaftliche Situation und die Möglichkeiten verdeckt, für ihre schwerwiegenden Probleme wirksame Lösungen zu suchen.

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auch zum Alltagsdenkens (ein Kapitel der Erkenntnistheorie), zur Philosophie der Basiswissenschaften, zur Theorie Sozialer Arbeit wie auch zu anderen, eher neben-geordneten Themenbereichen der Vorlesung. Ferner gibt es auch innerhalb der the-matischen Bereiche da und dort grössere Lücken. Umgekehrt enthält es eine Reihe von Begriffen, die in der vorliegenden Fassung der Vorlesung noch nicht enthalten sind. Dies betrifft vor allem die Definition von philo-sophischen Doktrinen in Termini von „Ismen“. Immer wieder als Zeichen eines ver-schrobenen und erstarrten Denkens denunziert, sind „Ismen“ unverzichtbare Be-zeichnungen für philosophische Lehren und erlauben eine schnelle fachliche Ver-ständigung über aktuelle und vergangene Arten von Antworten auf spezifische Fra-gen. Am systematischsten sind gegenwärtig noch die Verweise auf im Text definierte Begriffe innerhalb der Definienses. Verweise, die in den Originaldefinitionen enthal-ten sind, ohne dass der Begriff im vorliegenden Vokabular definiert ist, sind in Klammern gesetzt (↑). Ferner sind noch nicht alle zitierten Definitionen als Zitate durch Anführungs- und Schlusszeichen kenntlich gemacht, auch wenn bei vielen wenigstens der Hinweis auf die Quelle verfügbar ist. Viele Originalzitate enthalten Beispiele. Wo diese nicht im Aschluss an die Definition sondern in sie integriert sind, wurden sie der Einheitlichkeit halber aus dem Origi-naltext herausgelöst und am Schluss eingerückt genannt. Ferner wurden die Beispie-le gelegentlich ergänzt.

1. Philosophie (allgemein) „a Die Disziplin, die die allgemeinsten Begriffe untersucht (wie jene des Seins, des Werdens, Geist, Wissen und Norm) sowie die allgemeinsten Hypothesen (wie jene der autonomen Existenz und Wissbarkeit der externen Welt). Grundlagenzweige sind Logik (zusammen mit Mathematik), Semantik (zum Teil zusammen mit der Lin-guistik und der Mathematik) der Ontologie und Erkenntnistheorie. Angewandte Zwei-ge sind: Methodologie, Praxeologie, Ethik, und all die Philosophien von..... Gegensatz: Gnosophobie. b Exakte Philosophie ist die Philosophie, die mit der Hilfe formaler Mittel entwickelt wird wie Logik, Mengenlehre und abstrakte Algebra. Die Vorteile exakter Philoso-phie sind Klarheit und die Erleichterung der Systematisierung sowie Deduktion. Umgekehrt minimieren diese Charakteristika das Risiko verzerrter Textinterpretati-on und endloser Debatten. Exaktheit ist jedoch sinnlos ohne Substanz. Es bringt nichts, schwere formale Artillerie zur Bearbeitung von Miniproblemen zu benutzen. c Wissenschaftliche Philosophie ist Philosophie die, über Exaktheit hinaus, mit dem Grossteil der Wissenschaft und Technologie des Tages in Übereinstimmung steht.“ (Bunge 2003: 210; Übersetzung W.O.) d Gebiete der Philosophie

Logik: Das Organ (Mittel) des korrekten (gültigen) Schliessens oder anders gesagt die The-orie der Deduktion. Logik ist formal, d.h. unabhängig vom Inhalt und deshalb von (dessen) Wahrheit. Neben der Standardlogik existieren weitere Logiken. Standard- oder klassische Logik ist die Theorie der Deduktion, auf der die Wissenschaften beruhen. Semantik: Die Untersuchung von Bedeutung und Wahrheit von Aussagen. Nicht zu verwechseln mit „einer reinen Angelegenheit von Worten“. Ontologie: Die philosophische Untersuchung des Seins und des Werdens. (Für eine aus-führlichere Definition vgl. unten.) Erkenntnistheorie: Die philosophische Untersuchung von Kognition und ihrem Produkt: Wissen. Sie kann deskriptiv oder präskriptiv (normativ) sein. Hauptschulen: Skeptizismus, Intuitionismus, Empirizismus, Pragmatismus, Konventionalismus, Fiktionalismus, Ratio-nalismus und Ratio-Empirizismus.

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Axiologie: Werttheorie. Praxeologie: Philosophische Handlungstheorie. Zusammen mit Ethik, politischer Philoso-phie und Methodologie eine Komponente der praktischen Philosophie oder philosophi-schen Technologie. Methodologie: Die philosophische Untersuchung von Methoden. Der Normative Zweig der Erkenntnistheorie; eine Wissenstechnologie. Methodologie wird oft verwechselt mit „Me-thode“ wie in „die in der vorliegenden Forschung benutzte Methodologie“. {Bunge, 2003 #5547: 180.} (Übers. W.O.) Ethik: Die philosophische Untersuchung von moralischen Normen oder Regeln des richti-gen Verhaltens. {Bunge, 2003 #4651: 286} (Übers. W.O.) Politische Philosophie: Die philosophische Untermauerung von politischer Theorie und von Sozialpolitik. Einer der Zweige der philosophischen Technologie. Eine politische Philoso-phie mag säkular oder theokratisch sein, realistisch oder utopisch, wissenschaftlich oder unwissenschaftlich, fair oder unfair, demokratisch oder autoritär, populär oder unpopulär. Von einer humanistischen politischen Philosophie wird erwartet, dass sie säkular, realis-tisch, wissenschaftlich, fair und demokratisch ist. {Bunge, 2003 #5547: 217} (Übers. W.O.) Sozialphilosophie: Der Zweig der Philosophie, der sich mit den verschiedenen Doktrinen der sozialen Ordnung befasst, ihren allgemeinen Charakteristika, ihren erkenntnistheoreti-schen Grundlagen und moralischen Rechtfertigungen. Um relevant zu sein muss eine Sozi-alphilosophie in enger Beziehung zu den Sozialwissenschaften und der Sozialtechnologie stehen. Dies sollte jedoch kein Hindernis zur Entwicklung sozialer Utopien sein. {Bunge, 2003 #5547: 270.} (Übers. W.O.)

2. Ontologie

2.0. Ontologie Die philosophische Untersuchung des Seins und Werdens. Etwas genauer ist Ontologie oder philosophische Kosmologie die seriöse, säkulare Version der Metaphysik, der Zweig der Philosophie, der die allgemeinsten Züge der Wirklichkeit (oder anders gesagt: alles Wirklichen) untersucht, wie Existenz, Wandel, Raum, Zeit, Kausalität, Zufall, Materie, Leben, Geist und Gesellschaft. Für Arten von Ontologien vgl. 7.1.

A. Sein

2.1. Dinge 2.1.1. Ding und Ding an sich

2.1.1.1. Ding Ein Ding (oder konkretes oder materielles oder reales Objekt oder eine Entität) ist ein substanzielles Individuum (↑Substanz) zusammen mit seinen ↑Eigenschaften. (B&M: 22)

Beispiele: Ein Ding kann einfach sein wie ein Elektron oder ein Photon, oder ein System wie ein Molekül, ein Lebewesen oder eine Familie; es kann beobachtbar und greifbar sein wie ein Stein oder eine Frucht oder unbeobachtbar und ungreifbar wie ein Atom, ein Magnetfeld oder ein Ökosystem; es kann natürlich sein wie eine Biomolekül in einem Zellkern oder ein Quarzkristall, oder künstlich wie Plastik, eine Organisation oder eine Stadt.

2.1.1.2. Ding an sich Ding an sich: „Ding, das unabhängig vom Erkennenden oder Wissenden besteht. Syn: Noumenon. Nichtexistierend in der Sicht Berkeleys und der Kopenhagener In-terpretation der Quantenmechanik (Bohr, Heisenberg; W.O.), unwissbar in der Sicht des Phänomenalismus (z.B. Kant und Hume) und sowohl existierend als auch teil-weise erkennbar gemäss dem wissenschaftlichen Realismus. (z.B. Galileo und Ein-stein.)“ (D2: 294)

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Beispiele: vgl. die Beispiele unter ‚Ding’.

2.1.2. Konkret oder materiell sein Die allen konkreten (materiellen) Dingen gemeinsame ↑Eigenschaft ist, dass sie ver-änderlich (wandelbar) sind oder anders gesagt, dass sie in mindestens zwei Zustän-den sein können. Dabei sind diese ↑Veränderungen gesetzmässig (was allerdings nicht verwechselt werden darf mit ↑Kausalität, die eine von mehren Formen von ↑Determinanten ist). (Begriffliche Dinge („Ideen“ o.ä.) sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass ihnen diese Eigenschaft der Veränderbarkeit nicht zukommt.) „Materiell“ ist mit anderen Worten definiert als „veränderlich sein“, d.h. Energie (im physikalischen Sinne) haben. (Energie ist das physikalische Mass für Veränderlich-keit).

2.2. Eigenschaften 2.2.1. Eigenschaften

Merkmal oder Charakteristikum eines konkreten ↑Dinges. (Auch begriffliche und damit fiktive Dinge bzw. Systeme haben Eigenschaften, die entsprechend fiktiv sind wie die Systeme, die sie kennzeichnen; vgl. unten, begriffliche Systeme)

Beispiele: die Fläche einer geschlossenen Figur, die Energie eines Körpers, das Alter eines Organismus, die Gedächtnisleistung eines Individuum. die Struktur einer Gesellschaft.

2.2.2. Arten von Eigenschaften Dinge sind substantielle Individuen zusammen mit ihren Eigenschaften (vgl. 2.1.1.1.). Vier Arten von Eigenschaften seien im Folgenden unterschieden:

2.2.2.1. Emergente, submergente und resultante Eigenschaften

2.2.2.1.1. Emergenz Emergenz ist qualitative Neuheit, eine Eigenschaft von ↑Systemen. Für emergente Eigenschaften gilt: „P ist eine emergente Eigenschaft eines Dinges b wenn und nur wenn entweder b ein komplexes Ding (System) ist, von dessen Komponen-ten keine P besitzt, oder b ein Individuum ist, das P dank dem Umstand besitzt, dass es Komponente eines Systems ist (das heißt b würde P nicht besitzen wenn es unab-hängig oder isoliert wäre).“ (Bunge 1996).

Beispiele in Bezug auf soziale Systeme für das erstere sind die funktionale Differenzierung, die Differenzierung von Gesellschaften in Statussubsysteme und der Grad der Kristallisati-on zwischen Status-Subsystemen, die Kohärenz der Gesellschaft (eines Systems), der Typ des politischen Systems und die Geschichte eines sozialen Systems. Beispiele für letzteres sind: Rollen, Statuskonfigurationen, die Interaktionsdichte, Bürgerrechte oder Knappheit und Preis.

2.2.2.1.2. Submergenz Einmal emergierte Eigenschaften können auch wieder verschwinden, ein ↑Prozess, den man als Submergenz (submergieren) bezeichnet. Dabei gibt es drei Möglichkei-ten für diesen Prozess: 1) einzelne, einmal emergierte Eigenschaften eines Systems verschwinden nach einer

Modifikation (*Veränderung) der Zusammensetzung oder der Struktur des Systems wieder. So zerfallen z.B. im Falle der Alzheimererkrankung im Verlaufe des Lebens erworbene (erlernte) neuronale Netze infolge des Verschwindens der Komponenten, die sie gebil-det haben, den Neuronen, und mit ihnen verschwinden das Wissen und die Fähigkei-

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ten, die die neuronalen Netze verkörpern; oder ein demokratisches politisches Regime verschwindet nach einem Militärputsch);

2) die Eigenschaften eines Systems, das kollabiert (*zerstört wird, stirbt), submergieren Beispiele: Verlust aller biologischen und (bio)psychischen Eigenschaften beim Tod ei-nes Menschen oder eines höheren Säugers); in der Sicht der Wissenschaften kann es, weil es keine „Seele“ gibt, die den Körper verlassen und ein Eigenleben führen könnte, kein „Leben“ nach dem Tod geben – ein Tabu, dass nur selten (wie z.B. hier) gebrochen wird)

3) eine Klasse von Eigenschaften submergiert, weil eine ganze Spezies, die Träger der Eigenschaft war, verschwindet (Selbstbewusstsein im Falle des Aussterbens des Menschen). Beispiele: Das Verschwinden aller spezifischen Eigenschaften der Dinosaurier bei de-ren Aussterben vor ca. 65 Mio. Jahren in der Folge des Einschlags eines Meteoriten im Golf von Mexico [Halbinsel Yukatan] oder natürlich auch aller gegenwärtig jährlich aussterbenden Arten.)

2.2.2.1.3. Resultanz Eigenschaften eines Systems als Ergebnis der Anwendung von mathematische Ope-rationen auf Eigenschaften der Komponenten eines Systems.

Beispiele: Durchschnittliches Zellgewicht; durchschnittliche Lebenserwartung, Heirats-, Scheidungs-, Geburten- und Sterberaten; Kriminalitätsrate, Geschlechterverhältnis, Sprachzusammensetzung.

2.2.2.2. Intrinsische und relationale Eigenschaften

2.2.2.2.1. Intrinsische Eigenschaften Eigenschaften, die dem Ding oder System selber zukommen.

Beispiele: "Radioaktivität", "Leben", „Neugierde“, "Intelligenz", Arbeitsteilung.

2.2.2.2.2. Relationale Eigenschaften Eigenschaften die sich aus der Beziehungen (Bindungen) eines Dinges zu einem oder mehreren anderen ergeben

Beispiele: "Löslichkeit", „Macht“, "Status"; „Kooperativität“

2.2.2.3. Primäre und sekundäre Eigenschaften

2.2.2.3.1. Primäre Eigenschaften

Eine primäre Eigenschaft ist eine, die Dingen unabhängig davon eigen ist, ob sie von einem wahrnehmenden Lebewesen beobachtet wird oder nicht.

Beispiele: die Zahl der Komponenten und die elektrische Ladung eines physikalischen Systems, d.h. z.B. eines Atomkerns oder eines Moleküls.

2.2.2.3.2. Sekundäre Eigenschaften Eine sekundäre Eigenschaft (Qualität) hingegen ist eine gemeinsame Eigenschaft eines materiellen Dinges und eines wahrnehmenden Lebewesens.

Beispiele: "Farbe" (nicht aber Wellenlänge), "Geschmack", "Geruch" (nicht aber die Länge von Molekülen), "Süsse", "Härte" (nicht aber die Bindungskräfte von Molekülen) und "Wärme" (nicht aber Temperatur bzw. die Brownsche Wärmebewegung [alle Kör-per jenseits des absoluten Nullpunktes geben Wärme ab]) sind sekundäre Qualitäten.

Sekundäre Eigenschaften sind Reaktionen des zentralnervösen Erkenntnisapparates (d.h. des Sensor- und Wahrnehmungssystems) auf primäre Eigenschaften von wahrgenom-menen Dingen (Systemen).

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2.3. Systeme

2.3.1. Systeme

Ein System ist ein komplexes Ding oder Objekt, dessen Konstituenten (*Komponenten, Teile) durch starke Bindungen gekoppelt sind und das ↑emergente Eigenschaften aufweist, die seinen Komponenten nicht zukommen. Ein System mag begrifflich sein oder konkret, jedoch nicht beides.

2.3.2. Konkrete Systeme Ein konkretes oder materielles System ist eines, das gebildet wird aus konkreten Dingen, die miteinander durch nicht begriffliche Links verknüpft sind wie physikalische, chemische, bio-logische oder soziale Bindungen.

Beispiele: Atome und Moleküle, Zellen und Organe, Familien, Cliquen und Teams, Wirt-schafts- und nichtgouvernementale Organisationen wie auch Regierungen und informel-le soziale Netzwerke sind konkrete Systeme.“

Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist ein konkretes System s charakterisiert durch sei-ne Zusammensetzung, Umwelt und Struktur oder Organisation.

Zusammensetzung: Die Zusammensetzung von s ist das Gesamt seiner Komponen-ten:

Beispiele: Die Atome eines Kristalls, die Biomoleküle einer Zelle, die Zellen eines Organs im Besonderen die plastischen Neuronen des Gehirns, die Mitglieder einer Familie, die Belegschaft einer Organisation; die Bevölkerung eines Nationalstaates.

Umwelt: Die Umwelt von s ist das Gesamt der Dinge, mit denen die Komponenten des Systems Beziehungen unterhalten.

Struktur: Die Struktur von s ist die Gesamtheit von Bindungen unter den Teilen des Systems wie auch zwischen diesen und Dingen in dessen Umgebung. Die erstere bildet die interne, die letztere die externe Struktur des Systems.

Beispiele für Endostruktur: Die Sozialstruktur eines sozialen Systems; die funktionalen Beziehungen zwischen den Organen eines Organismus; die Verknüpfungen zwischen (begrifflichen) neuronalen Netzen.

Mechanismen: Die Gesamtheit der gesetzmässigen Prozesse, die ein System s in Gang halten

Beispiele: Der Metabolismus im Falle von Organismen, der Parteiarbeit im Falle von Par-lamenten oder die (arbeitsteiligen) Arbeitsprozesse innerhalb einer Wirtschaftsorganisa-tion oder der Parteiarbeit im Falle von Parlamenten.

Ausführlichere Definition des Begriffs des konkreten System: Ein System s ist ein (konkretes) Ding, das 1) aus (konkreten) Komponenten gebildet wird (=Komposition oder Zusammensetzung

von s), zwischen denen 2) ein Netz von Bindungen besteht (= interne Struktur), durch das die Komponenten

untereinander mehr gebunden sind als an andere Dinge (= externe Struktur), 3) als ein "Ganzes" (genauer: ein neues System) von anderen Gebilden abgrenzen, die

damit ihre Umwelt bilden und 4) als ein solches Ganzes eine Reihe von Merkmalen aufweisen, die seinen Komponenten

nicht zukommen.

Dabei wird s 5) durch eine Reihe von inneren Prozessen, seinen Mechanismen, in Gang gehalten,

die es in gewissen Hinsichten verändern, während sie es in anderen Hinsichten er-halten.

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2.3.3. Begriffliche Systeme Ein begriffliches System ist ein System, das aus Begriffen oder Systemen solcher Systeme, d.h. durch Aussagensysteme gebildet wird, die miteinander durch logische oder mathemati-sche Operationen verknüpft sind.

Beispiele: Klassifikationen (Taxonomien), Theorien.

Konkrete und begriffliche Systeme haben nicht den selben ontologischen Status: Während die ersteren materiell, wenn auch nicht notwendig physikalisch sind, wie dies der materialistische Physikalismus behauptet, sind die letzteren fiktional6.

Der begriffliche Zwilling des Begriffs des Systems ist der Begriff der Emergenz; emer-gente Eigenschaften gehören (zusammen mit submergenten und resultanten) zur ers-ten der vier herausragenden Arten von Eigenschaften von konkreten Dingen:

2.4. Arten von Systemen Systeme können auf verschiedene übergeordnete Arten klassifiziert werden, je nachdem, ob man sie aufgrund von intrinsischen oder relationalen und im Besonde-ren sekundären Eigenschaften klassifiziert, d.h. als Systeme an sich (intrinsische –und damit primäre – Eigenschaften) oder als Systeme für uns (relationale oder ge-nauer, sekundäre Eigenschaften).

2.4.1. Arten von Systemen an sich

2.4.1.1. Systeme unterschiedlichen Niveaus oder Systemebenen Systemebenen: Systeme können nach der Art ihrer Komponenten klassiert werden: Die Gesamtheit der Systeme mit der selben Art von Komponenten bildet ein Niveau (*level; eine Systemebene). Systeme mit elementaren Komponenten sind Systeme des 1. Niveaus.

Beispiele: das Niveau der Atome (die Menge aller Atome); das Niveau der Zellen (Menge aller Zellen, ob einzeln oder als Komponenten von Organismen); alle Familien; alle Ge-sellschaften.

(Vgl. dazu die Grafik: Systemebenen der Wirklichkeit)

Wirklichkeitsbereiche: Unter den konkreten Systemen lassen sich grob physikalische, chemische, biologische und soziale Systeme unterscheiden. Dabei handelt es sich um Bündel (Mengen) von Niveaus, bestehend aus Systemarten mit ähnlichen Eigen-schaften.

Menschen: Menschen sind bilden keine eigene Systemebene, sondern sind komplexe Orga-nismen mit einem zentralen und plastischen Nervensystem, das unter geeigneten Bedin-gungen (Integration in eine Gesellschaft) in der Lage ist, eine Sprache zu erlernen und auf ihrer Grundlage Selbstbewusstsein zu entwickeln.

2.4.1.2. Systeme nach ihrer Entstehung: natürliche und artifizielle

Die meisten Systeme sind natürlichen (evolutiven) Ursprungs. Beispiele: das Universum, Galaxien, Sterne, die Sonne und die Planeten, die Gebirge, Pflanzen und Tiere, Ökosysteme.

Ein kleiner Teil der Systeme auf der Erde und in ihrer relativen Nähe sind von Men-schen für bestimme Zwecke geschaffene Systeme, d.h. Artefakte. Artefakte sind 6 D.h. wir tun – aus praktischen Gründen - so, als existierten Begriffe, Aussagen und Theorien unab-hängig von einzelnen Gehirnen. So sprechen wir davon über „die Relativitätstheorie“ oder „die The-orie der Quantenmechanik“ und deren Eigenschaften wie z.B. in den Sätzen „die Theorie X bestätigt, Hypothese Y hat sich als falsch erwiesen“.

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zwar menschenabhängig, doch sie sind, nachdem sie geschaffen worden sind, eigen-ständige konkrete Systeme.

Beispiele: Werkzeuge, Nahrungsmittel, Haustiere, Behausungen und Fortbewegungsmit-tel, Kommunikationsmittel, Organisationen und im Besonderen Staaten,

Beachte: Konkrete artifizielle Systeme sind Systeme mit intrinsischen Eigenschaften, auch wenn sie Menschengemacht sind. Ihre Funktionen, d.h. das, wofür wir sie gebrauchen, sind jedoch relationale Eigenschaften.

2.4.2. Arten von Systemen für uns Arten von Systemen für uns sind Klassifikationen von Systemen aufgrund von rela-tionalen Eigenschaften

2.4.2.1. Empirische und transempirische Systeme Empirische Systeme sind für Menschen direkt (d.h. ohne Hilfsmittel) wahrnehmbare Systeme.

Beispiele: Steine, Berge, Pflanzen, Wälder, Wiesen, Tiere, Schwärme, Herden

Transempirische Systeme sind konkrete Systeme, die , sei es wegen ihrer Kleinheit, sei es weil sie keine geometrische Oberfläche haben, nicht direkt wahrnehmbar sind.

Beispiele: Atome, Moleküle, Zellen, soziale Systeme, Ökosysteme, Galaxien.

2.5. Zustände, Ereignisse, Prozesse und Fakten

2.5.1. Zustände

Zustand (eines Dings): „Die Gesamtheit der ↑Eigenschaften eines ↑Dinges zu einem bestimmten Zeitpunkt“.

Beispiele: Die Eigenschaften des «Great Star of Africa», eines ein Teils der britischen Kronjuwelen und mit 530,2 Karat grössten geschliffenen Diamanten der Welt; einer be-stimmten Zelle im Organismus von Karin Schwerzer, des kognitiven Systems Jaqueline Peters oder der Familie Blankenberg zu einem bestimmten Zeitpunkt.

2.5.2. Ereignisse

Ereignis: „Eine ↑Zustandsänderung eines konkreten Dings in einem Schritt wie ein Quantensprung (falls es einen solchen gibt).“

2.5.3. Prozesse Prozess: „Eine Abfolge von ↑Zustandsänderungen eines konkreten ↑Dings.“

Beispiele: Bewegung, Veränderung in der chemischen Zusammensetzung; Signalausbrei-tung, Atmung und Verdauung, Wahrnehmung; Denken; Arbeiten, Immigration; „Bil-dungsexplosion“ der Nachkriegszeit.

2.5.4. Fakten Faktum: ↑Zustand oder ↑Zustandsänderung eines konkreten ↑Dings.

Beispiele: die Temperatur im Kern von Alpha Centauri; die Lichtabstrahlung einer son-nenbeschienenen Hauswand an einem Sommertag; die Veränderung der Lebenserwar-tung der Bevölkerung von Ghana bei Geburt seit 1950; die Infektion eines Menschen mit Tuberkulosebazillen; der Verlauf des Fiebers eines Menschen während einer Grippeer-krankung; die Veränderung des Gesellschafsbildes eines Menschen im Verlaufe seines Lebens; das Gefühl der Freude N.L’s nach ihrem Sieg im 10-Kampf am 28.7.04 in M.; die Liebeserklärung von H.P an G.R am 2.1.06; die Verabreichung der Giftspritze durch S.N. bei der Tötung von A.K. im Gefängnis von O., Mass., USA, am 6.8.98: 00.30; die Existenz eines Gesundheits- und Sozialwesens innerhalb einer Gesellschaft; der Verteilung des Pro-Kopf-Einkommens eines Landes über eine Periode von 20 Jahren.

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B. Werden

2.6. Werden allgemein: Determination /Indetermination Zwei zentrale ontologische Hypothesen des Emergentistischen Systemismus (*Materialismus) lauten:

H1: Die Welt (*Wirklichkeit, der Kosmos) besteht ausschliesslich aus ↑Dingen, d.h. konkreten oder materiellen Gegenständen (B&M: 21)

H2: Alles was es gibt, wandelt sich.

Es gibt zwei Doktrinen in Bezug auf die Frage nach der Determination von Verände-rungen (*Wandel) in konkreten Dingen: Determinismus und Indeterminsmus

2.6.1. Indeterminismus a Ontologie Radikal These, wonach es keine Gesetzmässigkeiten gibt. Moderat Es gibt nichtkausale (d.h. probabilistische) Gesetzmässigkeiten. a Ethik Die These wonach Individuen in der Lage sind ihren (↑)Freien Willen auszuüben. Ein falscher Aus-druck, denn wenn der Wille frei ausgeübt werden kann, dann geschieht dies dank gewisser neurophysiologischer Gesetzmässigkeiten und bestimmten sozialen Um-ständen.

2.6.2. Determinismus

2.6.2.1. Determinismus a Ontologie Die Doktrin, dass alles, was sich ereignet, entweder gesetzmässig oder durch „Design“ erfolgt. (Letzteres ist die theistische These (↑)religiöser Weltbilder, W.O.). Um es negativ auszudrücken: Es gibt weder ↑Zufälle (accidents) noch ↑objek-tiven Zufall (chance). Der traditionelle Determinismus kannte lediglich kausale, ↑te-leologische (zielgerichtete) und göttliche Determination. Der gegenwärtige wissen-schaftliche Determinismus ist in bestimmten Hinsichten breiter und in anderen en-ger. Er ist identisch mit dem (ontologischen) Prinzip der Gesetzeshaftigkeit (allen Gesehens) zusammen mit dem Prinzip des ↑Ex nihilo nihil fit (*aus nichts entsteht nichts). b Kausaler Determinismus Jedes Ereignis hat eine ↑kausale Ursache. Lediglich teilweise wahr, da es spontane Prozesse gibt wie natürliche radioaktive Desintegra-tion und die (spontane) Entladung von Neuronen sowie probabilistische Gesetze. (...) (D2: 74)

(Weitere Formen des Determinismus sind: c Genetischer Determinismus Wir sind, was unser Genome diktiert. Nur teilweise wahr, denn Umweltfaktoren sind so wichtig wie die genetische Ausrüstung und (↑)Kreativität ist unleugbar. d Kultureller Deter-minismus Wir sind, was unsere Gesellschaft (und im Besonderen unserer Kultur) aus uns macht. Diese Doktrin hat einen wahren Kern, weil wir innerhalb der Gesellschaft lernen und handeln. Doch sind wir auch teilweise geformt durch unsere genetische Ausstattung wie auch durch das, was wir lernen und das, was wir aufgrund unserer eigenen Initiative tun. e Historischer Determinismus Der Lauf der Geschichte ist vor-herbestimmt: Individuen und Zufälle können ihn lediglich beschleunigen oder hemmen. Eine Komponente der kollektivistischen Version des ↑Holismus. Diese Sicht ignoriert die Rolle von günstigen und ungünstigen Umwelten wie auch die von Erfindungsgeist und Initiative, von denen beide nicht vorhersagbar sind.) (D2: 74)

2.6.2.2. Determination Form der Determination wie in „Kausalität, objektiver Zufall und ↑Teleologie (*Zielorientierung) sind Formen der Determination“. (D2: 141)

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2.6.3. Teleologie Die Doktrin, dass es letzte Ursachen gibt. Teleologie kann ↑immanent oder ↑trans-zedental sein sowie radikal oder moderat. Immanente Teleologie ist die Sicht, dass einige oder alle Dinge intrinsische, natürliche Ziele haben, z.B. dass alle Organismus nach Perfektion streben. Transzendente Teleologie behauptet, dass sowohl das Ziel, das ein Ding leitet, ist ihm sowohl äusserlich als auch übernatürlich. Während die transzendentale Teleologie Teil der Teleologie ist, ist immanente Teleologie kompa-tibel mit einer naturalistischen, wenn auch vorwissenschaftlichen Kosmologie (*Weltsicht, Weltbild). Aristoteles’ letzte Ursachen waren immanent; dies gilt mit Bezug auf die Natur auch für jene des Thomas von Aquin, wenn auch nicht im Be-zug auf den Menschen. Radikale Teleologie behauptet, dass alles, von Elektronen über Menschen zu Gesellschaft und Kosmos hat irgend ein Ziel. Die modernen Wis-senschaften und Philosophie lehnen die radikale Teleologie mit Bezug auf die Natur ab. Zum Beispiel sind die farbigen Blumen nicht gemacht, „um“ Bienen anzuziehen, da diese Tiere Farben nicht unterscheiden können. Und die Evolution, weit davon entfernt, zielgerichtet zu verlaufen, ist in ihrer Entwicklung offen. Die Domäne der Determination (*Veränderung) durch Ziele ist die des bewussten Verhaltens, weshalb seine Untersuchung auf die Psychologie und die Sozialwissenschaften beschränkt ist. Die Rede von finalen Ursachen in irgend einer anderen Disziplin ist lediglich ein anthropomorphes Relikt. (Hervorhebung W.O.) (D2: 290)

2.6.4. Immanent Intrinsisch/extrinsisch; innerweltlich/jenseitig; selbsgenügsam/aussengelenkt. Paa-re von vagen Begriffen, die in der Theologie, der Philosophie der Religion und im Idealismus, im Besonderen im Kantianismus von Bedeutung sind. Beispiel 1: Gott ist immanent (Pantheismus), transzendental (Theismus) oder weder noch (Atheismus). Beispiel 2: Die Gesetze der Natur sind immanent (Materialismus), transzendent (Ide-alismus) oder weder noch (Subjektivismus) ↑transzendenal. (D2: 137f.).

2.6.5. Transzendental a Transphänomenal, jenseits der Erscheinungen (*Phänowelt, Mesokosmos) b Jenseits des Bereichs sowohl der Vernunft als auch der Erfahrung, doch angeblich innerhalb des Geltungsbereichs der Religion oder des subjektiven Idealismus. ↑Naturalismus; ↑Pragmatismus und ↑Humanismus haben keine Verwendung für diesen Begriff von Transzendenz. C Transzendentaler Idealismus Die Sicht, vertreten von Vico und Kant, das der Geist lediglich denken kann, was er konstruiert, weshalb die ↑Dinge an sich, falls sie existieren, unwissbar sind. (D2: 296)

2.6.6. Ex nihilo nihil fit Nichts kommt aus nichts und nichts verwindet in nichts. In positiven Ausdrücken: Alles emergiert aus einem bereits existierenden Ding und wird in etwas anderes transformiert. Diese Epikur und Lukrez geschuldeten (ontologischen) Prinzip ist die älteste und allgemeinste Formulierung des Prinzips der Erhaltung der Materie. Seine Übersetzungen in Jargon sind die Sprichwörter „Du kriegst nichts umsonst“ oder „Es gibt kein Gratisessen“. Das Prinzip gilt nicht in der Mathematik, wie durch die Gegenbeispiele 00 = 1, und [∅] = ∅, wobei ∅ die leere Menge bezeichnet. Dies ist nicht überraschend, da Mathematik mit Fiktionen beschäftigt und nicht bei den Ge-setzmässigkeiten der Natur verweilt. Es wird behauptet, dass das Prinzip durch die Quantenkosmologie verletzt würde, die den Ursprung des Universums ex nihilo (*aus dem Nichts) (wenn auch nicht durch Schöpfung) behaupte. Dies ist jedoch nicht wahr. Diese Theorie postuliert, dass es vor dem Big Bang ein so genanntes Va-kuum-Feld mit einer durchschnittlichen Intensität von 0 aber einer positiven Vaku-

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um Energie-Dichte gegeben habe. Wie auch immer, diese Theorie ist reichlich speku-lativ. (D2:95f.).

2.7. Arten des Werdens

2.7.1. Verursachung (Kausalität) Von einem Ereignis (↑Zustandsänderung) c wird gesagt, es sei die Ursache für ein anderes Ereignis e wenn und nur wenn c hinreichend ist für e. Beispiel: Die Erdum-drehung ist die Ursache für die Aufeinanderfolge von Tag und Nacht. Wenn sich auf der anderen Seite c ohne das Auftreten von e ereignen kann, d.h. wenn c notwendig, aber nicht hinreichend ist für e – dann wird von c gesagt, es sei eine Ursache von e. Beispiel: HIV Infektion ist eine Ursache von AIDS. (Eine andere ist eine Bluttransfu-sion mit HIV-verseuchtem Blut.) Eine notwendige, aber nicht hinreichende Ursache wird als kontributorische Ursache bezeichnet. Die meisten wenn nicht alle sozialen Ereignisse haben kontributorische Ursachen. Eine andere wichtig Unterscheidung ist die zwischen linearen und nicht linearen kausalen Beziehungen. Eine lineare kausale Beziehung ist eine, bei der die Grösse des Effekts grössenmässig jener der Ursache entspricht (is commensurate to). Beispiel: Der Wasserstrom, der einen Alternator bewegt, der seinerseits Elektrizität erzeugt. Im Falle einer nichtlinearen kausalen Be-ziehung ist die Grösse des Effekts ein Vielfaches jener der Ursache. Beispiel: Einen Befehl zum Abfeuern einer Kugel oder zum Feuern eines Angestellten geben. Die erstere ist ein Fall von Energietransfer, der zweite ein Fall von Auslösung. Die kau-sale Beziehung existiert ausschliesslich zwischen Ereignissen. So involviert die Aus-sage, dass ein Ding ein anderes verursache oder dass es einen Prozess verursache (wie wenn vom Gehirn gesagt wird, es verursache den Geist), involviert einen fal-schen Gebrauch des Wortes ‚Ursache’. (....) (D2: 38).

2.7.2. Zufall (Chance) und Zufallsereignis

2.7.2.1. Zufall (Chance) Zufall = Ereignis, das zu einer Zufallssequenz gehört, z.B. von der jedes Mitglied eine bestimmte (definite) ↑Wahrscheinlichkeit hat. Beispiel: Radioaktiver Zerfall, das zufällige Mischen von Spielkarten, zufälliges Ziehen von Karten, zufällige Paarung von Insekten. Ontologischer Zufall ist objektiv (*faktisch): Zufallsereignisse haben bestimmte (↑)Propensitäten unabhängig vom wissenden Subjekt. Diese objektiven Propensitäten haben nichts zu tun mit Ungewissheit, die ein Zustand des Geistes ist. Wir mögen unsicher sein über einen objektiven Wahrscheinlichkeitswert, doch der letztere ist eine Eigenschaft von realen Zuständen oder Veränderungen von Zustän-den (Ereignisse). Darüber hinaus sind dies objektive Propensitäten von Individuen, nicht von Kollektiven. Z.B. hat ein Atom in einem Erregungszustand eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten Sekunde ein Photon zu ermittieren. Als Folge davon werden verschiedene Atome, die sich alle im selben Erregungszustand befinden, zu verschieden Zeitpunkten zerfallen. Aufgrund des Wahrscheinlichkeits-gesetzes werden diese Zeitpunkte nicht wild verstreut sein, sondern sich in ein Mus-ter fügen. Ontologischer Zufall ist deshalb, weit davon entfernt, dasselbe wie Inde-terminiertheit zu sein, ein Typ von Gesetzeshaftigkeit oder Determination. Mit ande-ren Worten, es gibt Zufallsgesetze. Ein verwandter, aber anderer Begriff ist ↑Zufalls-ereignis. (Accident) (D2: 39).

2.7.2.2. Zufallsereignis (accident) Unvorhergesehenes Kreuzen von zwei ursprünglich unabhängigen Linien wie beim Treffen auf einen langjährigen Freund ohne Vorsatz. Individuelle Zufallsereignisse

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zeigen keine Muster, deshalb sind sie nicht prognostizierbar. Die biologische und soziale Evolution sind voll von Zufallsereignissen, weshalb sie nicht ausschliesslich in Termini von Mustern (Gesetzmässigkeiten) verstanden werden können. Im Ge-gensatz dazu weisen grosse Gesamtheiten von Zufallsereignissen der selben Art, wie Automobilzusammenstösse oder unbeabsichtigte Feuer, definite statistische Muster auf. So mag, was ein Zufallsereignis auf einem ↑Niveau ist, auf den nächsten ge-setzmässig werden. Dies ist der Grund, weshalb Versicherungsgesellschaften Geld damit machen, gegen solche Zufallsereignisse zu versichern. Aus dem selben Grund weigern sie sich, Schadenersatz für Zufallsereignisse zu leisten, die Acts of God ge-nannt werden. (D2: 8)

2.7.3. Teleonomie -> Teleologie Determination (*Veränderung) durch Ziele bzw. zielgerichtetes Verhalten. Setzt Selbstbewusstsein und damit ein plastisches Nervensystem sowie die Einbettung in eine Gesellschaft voraus.

2.8. Wirklichkeit Wirklichkeit: Die Welt (syn: die Wirklichkeit, der Kosmos) besteht ausschliesslich aus konkreten Dingen, sie ist m.a.W. das Gesamt aller konkreten (realen, existierenden) Dinge. (Die Wirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt ist das Gesamt aller Fakten zu diesem Zeitpunkt.)

3. Erkenntnistheorie

3.0. Grundlagen 3.0.1. Die Träger von Wissen und Erkenntnis: Lebewesen als halboffene

Systeme Lebewesen: Lebewesen sind Biosysteme. Sie sind „halboffen“, d.h. sie erhalten sich über einen permanenten und hochselektiven Austausch von Stoffen mit ihrer Um-welt am Leben (Metabolismus). Als über ihren Metabolismus lebende halboffene Systeme bedürfen alle Lebewesen ↑Mechanismen zur Unterscheidung von für sie günstigen von ungünstigen Stoffen und Situationen (z.B. Chemo- und Phototaxien), sowie, wenn auch nicht notwendig (passive Lokomotion), aktiver Mechanismen der Lokomotion (bei Einzellern: u.a. Geisseln, Zilliarien). Neben der Evolution a) eines Skelettes zur Gewährleistung der Stabilität der Orga-nismen, b) von inneren Organen im Dienste des Metabolismus, c) eines Subsystems aus Muskeln im Dienste des Metabolismus (z.B. Herz- und Magenmuskeln), des Steuerungsapparates (Augenmuskeln), der Stabilität (Skelettmuskulatur) und der Steuerung der Gliedmassen (Bewegungsmuskulatur), ist c) die Evolution biotischer Systeme von Einzellern zu einfachen und dann zu hyperkomplexen Mehrzellern wie dem Menschen eine Evolution eines zentralen Nervensystems. Das Zentralnerven-system ist ein schnelles neuronales interzelluläres Steuerungssystem, das das intra-zelluläre „humorale“ Steuererungssystem ergänzt und zusammen mit dem auf die Steuerung langsamer und wiederkehrender Prozesse spezialisierte endokrine Sys-tem das neuroendokrine Supersystem bildet. Nach innen koordiniert das Nervensys-tem die Aktivität der verschiedenen Organe und synthetisiert einer Reihe von kör-pereigenen Substanzen, nach aussen hin steuert es das Verhalten und – im Falle des Menschen mit seinem besonders komplexen Nervensystem – das Handeln, wobei es in diesem Zusammenhang eine Reihe von Funktionen erbringt, nämlich die Funkti-

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on i) der Orientierung des Organismus in der Welt der Dinge und in der Zeit7, ii) der Planung, Wahl zwischen Optionen und Entscheidung8, iii) der Handlungssteuerung und –überwachung sowie iv) der Evaluation des Handlungsergebnisses.

Als das komplexeste (≠ wertvollstes) Ergebnis dieser Entwicklung sind Menschen mit anderen Worten Biosysteme einer besonderen Art: Ausgestattet mit einem Ner-vensystem, das ihnen den Erwerb von Sprache ermöglicht und davon ausgehend die Entwicklung eines komplexen ↑kognitiven Codes im Verein mit (↑)Selbstbewusst-sein9, orientieren sie sich an einem ↑Bild ihrer Selbst in ihrer ↑Umwelt (Selbst), und entwerfen (↑Ziele und ↑Pläne) und steuern auf deren Grundlage und unter Inan-spruchnahme ihres restlichen ↑Wissens ihre ↑Handlungen, über die sie ihre (↑)Be-dürfnisse zu befriedigen trachten sowie versuchen, die Befriedigung ihrer Bedürfnis-se auf Dauer sicherzustellen. Handeln ist mit anderen Worten einer von drei überge-ordneten plastischen Funktionssystemen innerhalb des Organismus, die sich ihrer-seits auf das starre System von Sinneszellen und -organen stützt: a) Kognition (↑Bild-Code-Theorie), b) Motivation und Affekt sowie c) Handeln.

Bei ihrer Orientierung verlassen sich Menschen auf eine Kombination einer Reihe von Quellen von Wissen .

3.0.2. Epistemische (*erkenntnismässige) Zugänge zur Welt (Quellen von Wissen) und ihre erkenntnistheoretischen Doktrinen

Offenbarung Orientierung an Mitteilungen, von denen behauptet wird, sie stammten von einer Gottheit. Nur Religiöse in formellen Funktionen sind qualifiziert, Offenba-rungen zu beglaubigen. Wenn eine Laienperson behauptet, eine Offenbarung gehabt zu haben, wird eine Täuschung vermutet oder sie des Betrugs bezichtigt. (D2: 252)

Erfahrung: Wahrnehmung oder Handlung (↑menschliche Handlung). Ein Gehirn- oder neuromuskulärer ↑Prozess, kein ↑Ding und keine ↑Eigenschaft. (...) (D2:100)

Intuition: Die Fähigkeit, neue Ideen unmittelbar und ohne vorangehende rationale Untersuchung zu verstehen oder zu erzeugen. Syn ↑Eingebung, Erleuchtung. „Intuitiv“ ist deshalb das Gegenteil von „rational“ und im Besonderen von „exakt“ und „formal“. Das Intuitive und das Formale sind jedoch nur die beiden Extreme einer breiten Skala. Darüber hinaus kommen Intuitionen nie aus dem Nichts, son-dern kulminieren in Prozessen des Lernens und der Forschung. Und, wenn sie viel-versprechend sind, können sie oft exakt gemacht werden. Dies zeigt, dass Intuition oft nur der erste Schritt im Prozess der Begriffsbildung ist. Darüber hinaus stärkt vernunftsorientierte Analyse die Intuition: Der erfahrene Gelehrte entwickelt ein „intuitives Gefühl“ – wenn auch nie ein unfehlbares. (D2: 152)

Praxis: Handeln, das informiert ist durch Wissen wie in „ärztliche Praxis“ und „rechtliche Praxis“, oder in „Alltagspraxis“ (D2: 221)

Vernunft: Das mentale Vermögen in einer stichhaltigen Weise zu denken. Das Kom-plement der Erfahrung und die Richtschnur im wohlüberlegten Handeln. Das Ver-trauen in die Vernunft wird ↑Rationalismus genannt. (D2: 243))

7 Erbracht durch Gehirnfunktionen wie Empfindung, Aufmerksamkeit, Affekt, Gedächtnis und Lernen, Wahrnehmung, Begriffsbildung und Denken. 8 Erbracht durch Funktionen wie Problemdefinition, Zielimagination und -formulierung, Planen, Wäh-len zwischen Alternativen und Wollen der ausgewählten Option. 9 Selbstbewusstsein ist dabei die Fähigkeit zu wissen, dass und was man weiss und dass man selber der Urheber die Urheberin seiner Gedanken ist.

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Selbstbewusstsein erlaubt die Entwicklung von Wissenswissen, d.h. zu Vorstellun-gen (*Wissen) darüber, was gutes und weniger gutes ↑Wissen ist und wie man zu gutem Wissen gelangt. Für Arten von Erkenntistheorien vgl. 7.2.

3.1. (Sinnes)Empfindung, Wahrnehmung und Erfahrung (Sinnes)Empfindung: a Psychologisch Verschwommene und unidentifizierte Empfin-dung des Präsenz von etwas ohne oder vor seiner ↑Wahrnehmung. b Neurobiologisch Aktivität von Sinneszellen oder Sinnessystemen als Folge ihrer Stimulation (↑Akt) durch das Verhalten anderer Dinge innerhalb und ausserhalb des Organismus. (a Freie Übersetzung von D2: 265 und b sinngemäss nach PhPsych)

Wahrnehmung: Der grundlegendste aller kognitiven Prozesse (↑Kognition). Er be-ginnt mit der Empfindung oder Feststellen (z.B. ich fühle (empfinde), dass da draus-sen etwas ist) und mit dem Identifizieren (Interpretieren) des Objektes der Empfin-dung. (z.B. „Ich nehme einen Hund wahr, der dort läuft“). Da Wahrnehmung der elementarste kognitive Prozess ist, meinten die Gestaltpsychologen, er müsse unmit-telbar und global sein. Die gegenwärtige Neuropsychologie hat die enorme Komple-xität der Wahrnehmung wie auch ihrer möglichen Störungen aufgezeigt. So kann z.B. die Wahrnehmung „wovon“ von jener des „Wo“ dissoziiert sein, da beide eine spezifische Funktion eines besonderen Hirnsubsystems sind. In vergleichbarer Weise sind die Wahrnehmung von Farbe, Form und Bewegung je das Ergebnis eines unter-schiedlichen neuronalen Systems. Kurz, obwohl kognitiv elementar ist Wahrneh-mung die Synthese von verschiedenen komplexen parallelen Gehirnprozessen. (D2: 210)

Erfahrung: Wahrnehmung oder Handlung (↑menschliche Handlung). Ein Gehirn- oder neuromuskulärer ↑Prozess, kein ↑Ding und keine ↑Eigenschaft. Gemäss dem ↑Empirizismus die Quelle allen ↑Wissens. Die experimentelle Psycho-logie zeigt, dass es keine reinen Erfahrungen gibt: dass alle Erfahrung gefärbt ist durch Überzeugungen und Erwartungen. Deshalb sind der Primat und die Reinheit der Erfahrung illusorisch. Daraus folgt allerdings nicht, dass alle Beobachtung im strikten Sinne von ↑Theorie theoriegeladen ist. Alltagserfahrung involviert nämlich, obwohl sie nicht vollkommen vorbegrifflich ist, keinerlei Theorien im engeren Sinne (hypothetisch-deduktive Systeme). Nur wissenschaftliche Beobachtung, im Besonde-ren präzise Messungen werden dazu entworfen und werden interpretiert im Lichte von Hypothesen und Theorien. (D2: 230)

Alternative Terminologie: ‚Erfahrung’ im vorstehenden Sinn = ‚Erleben’. ‚Erfahrung’ stattdessen =df. ‚„reflektiertes“ Erleben’ mit den Mitteln des verfügbaren ↑kognitiven Codes. Beispiele: Alltagserfahrung = Erfahrung mit den begrifflichen Mitteln des Alltagsdenkens; Professionelle Erfahrung =df. Ergebnis der Codierung (*Interpretation) von Erlebtem mittels eines professionellen Codes.

Denken: a Psychologisch Komplexer kognitiver Prozess. Begriffsbildung und Sequen-zierung von Wahrnehmungen und Begriffen oder beidem in einer intuitiven (All-tagsdenken) oder systematischen Weise (Wissenschaft und Philosophie). Denken im strikten Sinne ist ein rationaler kognitiver Prozess wie im Falle von Attribution (Be-schreibung und Erklärung), Vergleich, Verallgemeinerung, Instantiierung, Erfin-dung, Deduktion, Berechnung und Entwurf. b psychobiologisch Bildung oder Modifi-

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kation von neuronalen Netzen im plastischen Bereich des Nervensystems und Se-quenzierung solcher Netze. (Teilweise übernommen aus D2: 294; PP:..)

3.2. Kognition und Wissen 3.2.1. Kognition: Das Gesamt aller Prozesse im plastischen Teil des Nervensystems. Ein (kognitions)psychologischer und kein philosophischer Begriff

Beispiele: Lernen, Wahrnehmen, Begriffsbildung und Denken, Selbstbewusstsein

3.2.2. Wissen: Das Ergebnis eines kognitiven Prozesses (↑Kognition) wie Wahrneh-mung, Experiment, Postulation oder Deduktion.

Warnung: Damit sich etwas als Wissen qualifiziert, ist es hinreichend aber nicht notwen-dig, dass es wahr ist. Wahres Wissen ist ein besonderer Fall von Wissen: ein erheblicher Teil unseres Wissens besteht aus Vermutungen und ist nur halb-wahr. Zwei Arten von Wissen müssen unterschieden werden: know-how (implizites durch Vertrautheit oder auch instrumentelles Wissen) und know-that (oder explizites durch Beschreibung oder deklaratives Wissen). Ich weiss, wie man Velo fährt, doch ich kenne den komplizierten Mechanismus dieser Handlung nicht (weder den mechanischen noch den neuromusku-lären). Ich bin intim vertraut mit mir selber, doch ich kenne (weiss) mich nicht gründlich. (03: 157)

4. Semantik 4.1. Begriff und Aussage

4.1.1. Begriffe (Konzepte [*concepts])

Begriffe: Begriffe sind die Einheiten der ↑Bedeutung und die Bausteine des rationalen (*vernünftigen) Diskurses (*Diskussion)

Beispiele: ‚alle’, ‚Atom’, ‚bestehen aus’, ‚und’, ‚Organismus’,, ‚oder’, ‚Persönlichkeit’, ‚sozi-aler Wandel’.

Im Unterschied zu ↑Aussagen können Begriffe nicht wahr oder falsch sein, sondern sind (als Komponenten innerhalb von Aussagen(systemen)) immer nur zweckmässig oder unzweckmässig.

Arten von Begriffen

4.1.1.1. Logische und nichtlogische (inhaltliche) Begriffe Logische Begriffe (vgl. oben, kursiv) verbinden nichtlogische Begriffe oder Aussagen miteinander.

Beispiele: Alle Organismen bestehen aus Proteinen; heute kommt Peter oder Petra an die Sitzung. Die Regierungen der Schweiz und Österreichs haben einen Vertrag geschlossen.

4.1.1.2. Individuenbegriffe (Subjektbegriffe) Individualbegriffe sind Begriffe, die sich auf partikuläre Dinge beziehen.

Beispiele: Konkrete partikuläre Dinge: ‚Alpha Centauri’ (physikalisches Individuum), das Meerschweinchen ‚ Frieda’ (biologisch) und ‚Kaspar Bührer’ (Person, biopsychosozial), die ‚Schweiz’. Begriffliche Dinge: Die Erdbeschleunigung ‚g’; die „spezielle Relativitäts-theorie“. Mythische oder religiöse Dinge: ‚Elfen’, Yamir (aus der germanischen Schöpfungs-sage ‚Edda’) , Gott’, der ‚Teufel’, Hexen’.

4.1.1.3. Klassenbegriffe (Sorten) Begriffe, die sich auf Klassen von Dingen beziehen.

Beispiele für Klassenbegriffe mit konkreten Elementen: "Kaliumionen", ”Häuser”, "Wirbel-stürme", ”Dinge”, (physikalisch) ”Pflanzen”, ”Bedecktsamer”, ”Nadelbäume”, ”Fichten”, "niedere Wirbeltiere" (biologisch); ”Menschen”, "Frauen", (biopsychosozial); "Familien", Netzwerke, “Organisationen”, “Länder” (sozial); mit begrifflichen Elementen: "Mittel-schicht", ‚substanzmetaphysische Codes’, ‚konzeptuelle Bilder’, ‚Wirklichkeitsbereich’.

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 19

4.1.1.4. Prädikate (Eigenschaftsbegriffe) Begriffe, die sich auf ↑Eigenschaften von Dinge beziehen.

Beispiel für Pädikate für Eigenschaften konkreter Systeme: „ist lebendig“, „ist 32°warm“; „hört öfter zu als er spricht“ (objektiv); ist süss“; „ist warm“, „ist sympathisch““ (subjek-tiv); Beispiele für Eigenschaften begrifflicher Systeme: „ist intern inkonsistent“ (einstellig) „erklärt mehr als“ (zweistellig).

Prädikate können einstellig oder mehrstellig sein, wobei ein einstelliges Prädikat eine ↑intrinsische Eigenschaft eines Individuums und ein mehrstelliges eine ↑relationale Eigenschaft zwischen zwei oder mehr Individuen (Dingen) repräsen-tiert: Beispiele „ist lebendig“, „ist alt“ (einstellig); „x stammt von y ab (zweistellig); „y vermittelt zwischen y und z“ (dreistellig) etc. Begriffe sind die elementaren oder Basiskomponenten von kognitiven und kulturel-len Codes. Codale Minisysteme sind Aussagen, Meso- und Makrosysteme sind The-orien (Wissenschaft) und „Ideologien“ (Alltagsdenken).

4.1.2. Aussagen (Minicodes)

Begriffe werden benutzt, um Aussagen (*Propositionen) zu bilden (Beispiele vgl. oben).

Beispiele: Beschreibungen: Hier ist ein Voltmeter; Fibo (Hund) hat Hunger; Peter ist kann sich nicht konzentrieren; die Schweiz ist ein hochentwickelter Kleinstaat (richtig), die USA ebenfalls (falsch); die spezielle Relativitätstheorie ist jünger als die allgemeine (falsch). Erklärungen: die toten Schwäne unten am See starben an der Vogelgrippe; AIDS ist die Strafe für ein sündiges Leben (falsch); soziale Ungleichheit erzeugt Gewalt (rich-tig); Der erst übermorgen geborene Präsident von Klekis schwirrt flätzend aus der Text-mitte des Mondes unter das Erdschrot (syntaktisch richtig, semantisch sinnlos).

Aussagen können durch verschiedene Sätze ausgedrückt werden (d.h. Aussage ≠ Satz), weil wir von ihren materiellen und linguistischen Unterschieden anzusehen (zu „abstrahieren) vermögen:

Beispiel: Ich liebe dich; du wirst von mir geliebt, je t’aime; I love you, ti amo.....

Aussagen sind begriffliche und nicht konkrete Dinge und als solche Fiktionen, wäh-rend Gedanken konkret sind, nämlich konkrete Prozesse in Gehirnen.

4.1.3. Aussagensysteme (Meso- und Makrocodes)

Aussagensysteme: Aussagensysteme sind, wie der Name es sagt, Systeme von Aussa-gen. Die Aussagen solcher Systeme können logisch (Taxonomien) oder auch inhalt-lich (Theorien) verknüpft sein. (Für wissenschaftliche Aussagensysteme vgl. unter ↑Theorien und ↑Taxonomien im Kapitel über Wissenschaftstheorie.)

Funktion von Codes: Die Funktion von Codes besteht im Ordnen und Verknüpfen der dem Gehirn bewusst oder nicht bewusst zugänglichen Wahrnehmungen oder dem Gehirn bereits verfügbarer anderer Begriffe und Aussagen.

Theorien, Doktrinen, Taxonomien, Bezugsrahmen, Alltags“theorien“: Dabei kann die Art der Verknüpfung präzis sein (philosophische und wissenschaftlichen Theorien, Doktrinen, Taxonomien), locker (theoretische Bezugsrahmen) oder diffus (All-tags“theorien“)

Es gibt drei übergeordnete Arten von kognitiven Codes: 1. mythische, religiöse und lebenspraktische Alltagscodes (Alltagsdenken und seine

Unterformen wie Common Sense, Ideologie etc.) 2. wissenschaftliche Codes (Bezugsrahmen, Theorien und Technologien) und

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3. philosophische Codes oder Metacodes (Doktrinen, Theorien).

„Kognitiver Code“ ist damit der Oberbegriff für kognitive Systeme aller Art. Codes exis-tieren als konkrete Systeme in Gehirnen von Lebewesen und im Besonderen von Menschen sowie in fiktiver Form als von einzelnen Gehirnen unabhängigen und deshalb fiktiven „begrifflichen Systemen“ sowie in Form von Texten (semiotischen Systemen).

4.2. Referenz, Sinn und Bedeutung Aussagen beziehen sich auf etwas, bezeichnen daran etwas und haben deshalb eine Bedeutung.

4.2.1. Referenz/Referent Der Referent einer Aussage ist das ↑Ding, auf das er sich bezieht

Beispiel (in Klammern der (die) Referent(en): Die Schweiz ist politisch neutral (Schweiz); Robert Walser ist in Biel geboren (Robert Walser); heute ist Sonntag (der heutige Tag).

4.2.2. Sinn Der Sinn einer Aussage ist das, was sie über den ↑Referenten aussagt

Beispiel (in Klammern der Sinn: Die Schweiz ist politisch neutral; Robert Walser ist in Biel geboren (Robert Walser); heute ist (ein) Sonntag

4.2.3. Bedeutung Die Bedeutung einer Aussage ist ihr ↑Sinn zusammen mit ihrem ↑Referenten

4.3. Wahrheit, Wahrheitstheorien Wahrheit ist keine Wesenheit („die Wahrheit“) und es gibt Wahrheit vor allem nicht im Singular. Vielmehr ist Wahrheit eine Eigenschaft von Aussagen (nicht aber von Begriffen oder Begriffssystemen) und von Aussagensystemen (Theorien). Ferner ist sie, im Unterschied zur wissenschaftlichen Logik, nicht zweiwertig, sondern fakti-sche Wahrheit kann auch partiell sein. Grundlegend ist die Unterscheidung von formaler und faktischer (inhaltlicher) Wahrheit.

4.3.1.1. Wahrheit

Wahrheit, faktisch: Die Übereinstimmung von Ideen mit den Fakten, die sie repräsen-tieren.

Beispiel: „Es regnet“, wenn es wirklich regnet; Patientin b hat ein Lungenkarzinom; heu-te ist Mittwoch, der 15. 2. 06.

Wahrheit, formal: Die Kohärenz einer Idee mit einem vorangehend akzeptierten Satz von Ideen.

Beispiele: Tautologien; (aus Axiomen abgeleitete) Theoreme

Wahrheit, partiell: Die weniger als perfekte Übereinstimmung einer Ideen mit ihren Referenten.

Beispiele: π = 3; die Schweiz hatte 1970 eine Bevölkerung von etwas mehr als 6 und 2004 eine von etwas mehr als 7 Mio. Einwohnern (Wohnbevölkerung).

4.3.2. Wahrheitskriterien

Der Begriff der Wahrheit verlangt nach einem Kriterium, das zur Feststellung der Wahrheit partikulärer Aussage geeignet ist.

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„Ein geeignetes Kriterium ist dies: p ist faktisch vollständig wahr, wenn und nur wenn (a) p mit dem Hintergrundwissen verträglich ist und (b) konsistent ist mit den besten empirischen Belegen für p. Faktische Wahrheit und faktische Falschheit, voll oder teilweise, sind Attribute von Aussagen, die sich auf Fakten beziehen. Wir ver-geben jedes dieser Attribute in Abhängigkeit der Stärke empirischer Tests wie eine Folge von Beobachtungen. Das Ergebnis einer solcher Operationen ist eine Metaaus-sage wie „Die Aussage p, die das Faktum f beschreibt ist wahr im Lichte von Test.“ Kurz, der Pfad von einem Faktum in der externen Welt zur Wahrheit (oder Falsch-heit) und Überzeugung verläuft folgendermassen: Externes Faktum -> Gedanke von F (Gehirnzustand) = p -> Test von p -> Evaluation von p -> Überzeugung oder Nichtüberzeugung von p. Ein Test von p involviert ein Stückchen Wissen über Test-prozeduren (z.B. Chromatografie), die nicht explizit in der vorangehenden Kette erscheint. Ebenso erfordert die Evaluation der Ergebnisse der Testprozedur ein wei-teres Stück Wissen (z.B. Fehlertheorie von Beobachtungen oder von statistischen Schlüssen).“ (D2: 298)

4.3.3. Wahrheitstheorien

Konsenstheorie: Die erkenntnistheoretische These, wonach alle Wahrheiten im Rah-men eines rationalen Diskurses ausgehandelte Übereinkünfte (Konventionen) sind ↑Konventionalismus

Konventionalismus: Die erkenntnistheoretische These, wonach alle Wahrheiten kon-ventionell sind und deshalb durch empirisches Testen nicht zu erschüttern. Eine Form des Idealismus. Konventionalismus ist falsch, sogar in der Mathematik, wo notationale und definitorische Konventionen unverzichtbar sind und sorgfältig so-wohl von Postulaten wie von Theoremen unterschieden werden. Er ist sogar noch in den Faktenwissenschaften und in der Technologie falsch, wo Konventionen im Un-terschied zu Hypothesen und Methoden nicht Gegenstand empirischen Testens sind. Realismus ist entschieden antikonventionalistisch (D2: 58)

Korrespondenztheorie: Die These (noch keine Theorie), dass die Wahrheit von Fakten-aussagen in ihrer Korrespondenz mit oder Angemessenheit in Bezug auf die Fakten besteht, auf die sie sich beziehen.

Beispiel: Die Aussage „Es regnet“ ist wahr wenn und nur wenn es wirklich regnet.

Im allgemeinen ist eine Aussage, die behauptet, dass „Fakt f ist der Fall“, wahr wenn und nur wenn f wirklich (jetzt, tatsächlich, faktisch) der Fall ist. In Wissenschaft und Technologie sind Hypothesen und Theorien nicht konfrontiert mit Fakten, sondern mit empirischen Daten, die zusammen mit ↑Indikatorhypothesen, relevant sind für die Daten.

5. Wissenschaft

5.1. Basiswissenschaft, Angewandte Wissenschaft und Handlungswissenschaft

5.1.1. Basiswissenschaft (oder: die ersten drei Grundbegriffe der Hand-lungswissenschaften

Wissenschaft ist die Untersuchung von Fakten irgend welcher Art mit dem Ziel, diese zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren. Sie tut dies mit den Mit-teln der wissenschaftlichen Methode und damit zwingend mittels „empirischer“ Verfahren, d.h. solchen der Erhebung, Aufbereitung, Analyse und Interpretation von Daten, die so erhoben werden, dass sie etwas über Fakten aussagen (mehr davon im Kap. über Wissenschaft)

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 22

Beispiele: Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Sozialwissenschaften (Soziologie; Ökonomie; Ethnologie, Politologie, Geschichtswissenschaft)

Unter der Wissenschaftlichen Methode versteht man folgende Abfolge von Operatio-nen:

„Übersicht über einen Bereich des Wissens ➞Wahl eines Problems aus dem Bereich ➞ Problemformulierung oder Reformulierung ➞Anwendung oder Erfindung eines Appro-aches zur Bearbeitung des Problems ➞ Lösungsvorschlag (Hypothese, Theorie, experi-mentelles Design, Messinstrument etc. ➞ Überprüfung des Lösungsvorschlags ➞ Evalu-ation des Lösungsvorschlags im Lichte sowohl des Tests als auch des Hintergrundwis-sens ➞ Revision oder Repetition irgendeines der vorangegangenen Schritte ➞ Einschät-zung der Folgen für das Hintergrundwissen ➞ Schlussevaluation (bis zu einem neuen Hinweis).“ (Bunge 2003: 180.)

(Für eine ausführliche Definition, die nicht nur 2 (Ziele und Mittel), sondern ge-gen ein Dutzend Eigenschaften von Wissenschaft umfasst, vgl. die Vorlesung)i.

Eine grafische Darstellung der zentralen Aspekte von Wissenschaft gibt Abb. 1:

Abbildung 1: Der Wissenschaftliche Zugang zur Wirklichkeit und seine philosophischen (metatheo-retischen) Voraussetzungen (exklusive Handlungswissenschaft).

Wissenschaftlicher

Zugang (WZ)

Philosophische Voraussetzungen des Wissenschaftlichen Zuganges zur Wirklichkeit

1. Existenz einer bewusstseins-unabhängigen Wirklichkeit

2. Erkennbarkeit der Welt/Wirkl.

3. Kommunizierbarkeit von Erkenntnis

4. Konkretheit von Erkenntnis (Wissen)

5. Wissen ist ein Biowert

I II

Mittel des WZ: Ziele bzw. Pro-dukte des WZ

Theorien

Beschr.

Techno-logien

bisheriges WissenW

TestT

ProblemPLösungskandidatLK

EvaluationE

neuer Wissensstand W'

Gegenstände von

Wissenschaft

W-> P LK T E W'-> -> -> ->

A. Wiss.Meth. B. Realität C. Wiss.Wissen

Physikal. Systeme

Biol. Systeme

Psych. Syst.

Soz. S.

K. S.

Anwendung

Erfindung

(Konstruktion)

Statuierung Erfindung

(Konstruktion)

Grundlagen-Wissenschaft

Handlungs-Wissenschaft

Erklär Progn

Zu

gän

ge zu

r Wirk

lichk

eit

Erfahrung

Vernunft

Praxis

Intuition

Offenbarung

Die Mittel der Beschreibung, Erklärung und Prognose von Fakten sind Theorien. Während die Beschreibung, Erklärung und Prognose die primären Ziele der Wis-senschaften sind, kann deshalb die Entwicklung von Theorien als ihr sekundäres Ziel bezeichnet werden.

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 23

5.1.2. Theorien

Wissenschaftliche Theorien im strengen Sinne sind Theorien über Gesetzmässigkei-ten. Aus diesem Grund nennt man sie auch nomologische (sich auf Gesetzmässigkei-ten beziehende) Theorien.

5.1.2.1. Nomologische Theorien allgemein

Eine (nomologische) Theorie ist ein hypothetisch-deduktives System von Aussagen über Gesetzmäßigkeiten in der Entstehung und (oder) im Aufbau und im Verhalten sowie im Wandel und im Zerfall einer bestimmten Art von Dingen; die den Dingen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten werden in Form von Aussagen über invariante Beziehungen zwischen Eigenschaften einer bestimmten Klasse von Dingen formu-liert.

5.1.2.2. Beschreibungstheorien Beschreibungstheorien (auch 1-Niveau-, Blackbox- oder phänomenologische Theorien) sind Verallgemeinerungen von (invarianten) Beziehungen zwischen Fakten. Sie be-schreiben in verallgemeinerter Form, was geschieht, aber erklären nichts.

Beispiele: die Thermodynamik und die klassische Elektrodynamik; die klassische Genetik (die Gene als Blackboxes auffasst); die behavioristische Lerntheorie (die von neuronalen Mechanismen absieht).

5.1.2.3. Erklärungstheorien

Erklärungstheorien (auch erklärende, mechanismischeii oder Translucid-Theorien) sind Theorien, die gesetzmäßige Beziehungen zwischen den Eigenschaften eines Systems durch die Interaktion seiner Komponenten erklären, d.h. durch seine Me-chanismen. Eine erklärende Theorie bringt zwei (oder mehr) ontische Niveaus ins Spiel und sagt nicht nur etwas darüber aus, was geschieht, sondern auch darüber, wie und warum es geschieht.

Beispiele: die Quantenelektrodynamik (die die Lichtstrahlen als Photonenströme auffasst und die klassische Elektrodynamik erklärt), die Molekulargenetik (die die klassische Ge-netik erklärt); die Theorie der natürlichen Selektion; die psychobiologische Lerntheorie (die die klassische Lerntheorie erklärt, indem sie Lernen als Verstärkung neuronaler Ver-bindungen auffasst); die biopsychosoziokulturelle (strukturelle) Theorie sozialer Proble-me, die gesellschaftliche Probleme erklärt, indem sie diese als Folge der Versagung von sozialen Bedürfnissen ausweist.

5.1.3. Angewandte Wissenschaft Angewandte Wissenschaft ist die Suche nach neuem wissenschaftlichem Wissen von möglichem praktischem Nutzen. Sie wird betrieben von Mathematikern, Physikern, Chemikern, Pharmakologen, klinischen Psychologen, Soziologen etc. und besteht in der Entwicklung von wissenschaftlichen Lösungen von seitens der Wirtschaft, des Gesundheits- und Sozialwesens, der Politik, des Militärs, der Medien für außerwis-senschaftlich definierte Probleme ausserwissenschaftliche Probleme, die oft – wie die Probleme der Umweltverschmutzung, des Verkehrs, der Zersiedelung der Land-schaft oder der Nachhaltigkeit von Energiesystemen, der Zunahme psychischer Er-krankungen – nicht in den Zuständigkeitsbereich einer der etablierten Disziplinen fallen. Angewandte Forschung, die in der Regel transdisziplinär ist, verlangt nach einer eigenen Methodologie (Jaeger und Scheringer 2000) und kann unter Einbezug von Stakeholdern durchgeführt werden oder auch nicht. Angewandte Wissenschaft ist damit keine Familie von Disziplinen, sondern eine Mischung namentlich aus

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5.1.4. Handlungswissenschaften Während die Basiswissenschaften sich auf die Beschreibung, Erklärung und Prog-nose von Fakten beschränken und sich die Angewandten Wissenschaften als prob-lematisch bewertete Fakten untersuchen und Technologien zu ihrer Veränderung oder Erhaltung entwickeln, machen die Handlungswissenschaften das Technolo-gien nutzende Handeln zu ihrem übergeordneten Thema. Ihre Kernfrage ist damit die nach der gezielten Veränderung oder Verhinderung der Veränderung von Fak-ten durch eine besondere Form der Veränderung von Fakten, nämlich Handlun-gen.

5.1.4.1. Ingenieurwissenschaften oder Handlungswissenschaften im weiten Sinne Handlungswissenschaften im weiten Sinne beschäftigen sich mit der Lösung prak-tischer Probleme in Bezug auf physikalische, chemische und biologische Systeme ohne plastisches Nervensystem.

Beispiele: Bauingenieurwesen des Hoch- und Tiefbaus; Apparatebau; Chemie mit Ver-fahrenstechnik; Umweltschutztechnik

5.1.4.2. Handlungswissenschaften im engen Sinne Handlungswissenschaften im weiten Sinne beschäftigen sich mit der Lösung prak-tischer Probleme in Bezug auf wissens- und selbstwissensfähige Dinge, die sich im zweiten Fall idealiter an der von den Handlungswissenschaften behandelten Logik des rationalen Handelns orientieren, realiter jedoch an eingeschränkteren Formen von Rationalität.

Beispiele: Medizin; Psychiatrie; Sozialarbeitswissenschaft; psychologische Therapie; Ju-risprudenz; Polizeiwissenschaft; Managementwissenschaft.

5.2. Forschung Epistemische (*wissensmässige) Erkundung: Methodische Suche nach Wissen. Nicht zu verwechseln mit bibliografischer Suche, Internetsurfen oder der Ermittlung der Etymologie, d.h. der ehemaligen Bedeutungen von Wörtern. Originäre Forschung bearbeitet neue Probleme oder überprüft frühere Befunde. Rigorose Forschung ist das Markenzeichen von Basiswissenschaft, angewandter Wissenschaft und Hand-lungswissenschaft sowie des „lebendigen“ Zweige der „Geisteswissenschaften“ (Humanities). Sie fehlt typischerweise in den Pseudowissenschaften und der Ideolo-gie. Täglich werden heute weltweit ca. 20 000 wissenschaftliche Studien veröffent-licht.

5.3. Wissenschaftstheorien Wissenschaftstheorie oder Methodologie ist der normative Zweig der Erkenntnis-theorie. Moderne Wissenschaft geht zurück auf Galileo Galilei, die erste professio-nelle Wissenschaftstheorie entstand mit dem Neopositivismus erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

Positivismus Die Familie von Doktrinen, die verlangen, dass Wissenschaft sich nur um „positive“ Fakten (Erfahrungen) kümmert und geltend macht, dass Theorien lediglich Daten zusammenfassen und uns vor dem Denken bewahren. Obwohl Posi-tivisten ↑Szientismus predigen, vertreten sie eine subjektzentrierte Erkenntnistheorie und stutzen die Flügel der Forschung, indem sie verlangen, dass diese sich auf (die Erhebung von) Daten beschränke. Sie beanspruchen ferner Metaphysik zu vermei-den, in Tat und Wahrheit billigen sie aber den ↑Phänomenalismus, der eine subjek-tivistische Metaphysik ist, indem er behauptet, die Dinge der Welt seien nicht er-kennbar und Erkenntnis müsse sich auf die Beschreibung von Phänomenen, d.h. darauf beschränken, wie die Welt uns erscheint. Wichtigste Exponenten: Ptolemäus, d’Alembert, Comte, Mill, Spencer, Mach, Pearson, Duhem und die ↑logischen Posi-

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tivisten, im Besonderen R. Carnap und H. Reichenbach. In der Ethik haben die meis-ten Positivisten den (↑)Emotivismus unterstützt. In der philosophischen Community sind jedoch keine Positivisten mehr übrig geblieben. Die einzigen praktizierenden Positivisten sind zu finden in den rückständigen Zweigen der Natur- und Sozialwis-senschaften, in denen die Hauptbeschäftigung immer noch im Jagen und Sammeln von Daten besteht. (D2:218)

Instrumentalismus: Die Sicht, nach der wissenschaftliche Hypothesen und Theorien lediglich handliche Berechnungsinstrumente oder nützliche Werkzeuge für das Handeln sind und keine wahren oder falschen Repräsenationen der Realität. Wenn dies der Fall wäre, wäre die Wahl zwischen zwei alternativen Theorien entweder unnötig oder nur eine Sache der Konvention oder der Zweckmässigkeit. Der antike Astronom Ptolemäus und Cardinal Bellarmino (Gallilei’s Ankläger) vertraten in-strumentalistische Sichtweisen in Bezug auf das heliozentrische und das geozentri-sche planetarische System. ↑Positivisten und auch ↑Pragmatisten sind Instrumenta-listen. Deshalb sind sie unfähig, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Über-prüfen der Wahrheit von Aussagen und der Versuch der Verbesserung von Model-len normale Beschäftigungen von gewöhnlichen Menschen und von Wissenschaftern ist.

Wissenschafticher Realismus Die hier dargestellte Sicht, die auf eine explizite naturalis-tische und im besonderen systemisch-materialistische Ontologie involviert: Die Sicht, die ↑Realität mit der Gesamtheit aller konkreten Dinge identifiziert, d.h. Din-gen, die fähig sind, sich in dieser oder jener Hinsicht zu wandeln. Nach dem Wissen-schaftlichen Realismus sind Ideen, weit davon entfernt aus sich selbst heraus existie-rende Dinge zu sein, Prozesse, die in den Gehirnen einiger Tiere auftreten. Aus die-sem Grunde kann Ideation wissenschaftlich untersucht werden und haben Ideen haben einen Einfluss10 auf das soziale Verhalten, wenn sie das Handeln inspirieren oder lenken. Die Wahl zwischen den zwei Arten von Realismus hängt von der Art von Philosophie ab, die wir wollen und wo wir sie platzieren wollen. Wenn wir uns lediglich um spekulative Philosophie kümmern und sie dementsprechend in einem Elfenbeinturm situieren, sollten wir den idealistischen Realismus bevorzugen, da er intern konsistent ist und er nach dem geringsten Aufwand verlangt. Doch wenn wir eine Philosophie wollen, die bei der Aufgabe (in the quest) die reale Welt zu verste-hen, von einigem Nutzen ist, sollten wir den Wissenschaftlichen Realismus über-nehmen (und anreichern), denn er postuliert die autonome Existenz der äusseren Welt, eingesteht, dass wir über sie in hohem Masse unwissend sind und ermutigt uns, sie weiterhin zu untersuchen und auf diesem Wege den Fundus der faktischen ↑ Wahrheiten zu erweitern und zu vertiefen. Obwohl der Begriff der faktischen ↑ Wahrheit für den Wissenschaftlichen Realismus zentral ist, involviert dies nicht die Annahme, dass vollständige Wahrheit immer erhalten ist. Es verlangt lediglich die Suche nach Wahrheit, das schliessliche Erreichen von annäherungsweisen Wahrhei-ten und die Korrigibilität der letzteren. (D2: 218)

5.4. Zu den kognitiven Operationen der Basiswissenschaften (4.3.1 – 4.3.3) und der Angewandten Wissenschaften (dito plus 4.3.6) sowie der Handlungswissenschaften (4.3.1 – 4.3.9.)

5.4.1. Beschreibung Beschreibungen: Eine Beschreibung eines Dinges ist eine Aussage über mindestens eine seiner Eigenschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt. Bilder: Im Rahmen einer Handlungswissenschaft werden Beschreibungen auch als begriffliche Bilder bezeichnet: 10 kausalen, könnte man hinzufügen. Hier ist Bunge nicht ganz präzis.

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Ein begriffliches Bild eines Dinges ist die Gesamtheit der Aussagen über Eigenschaf-ten eines Dings, die ein Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt für wahr hält oder die ein Text als wahr behauptet oder insinuiert. Die beschriebenen Zustände können in der Vergangenheit (und) oder in der Gegenwart liegen und auch künftige Zeitpunkte betreffen (vgl. Prognose). Handlungswissenschaftlich werden Bilder danach unterschieden, ob sie vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Zustände eines Dinges beschreiben (Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbilder.

Beispiele: die Beschreibung (das Bild) des 10. Planeten 2003 VB16, die Beschreibung des genetischen Codes eines Lebewesens; die Krankengeschichte einer Person oder eine me-dizinische Diagnose einer Krankheit eines Patienten; eine Sequenz von fMRI-Aufnahmen des Gehirns einer Teilnehmerin an einem Experiment der sozialkognitiven Neurowissen-schaften (Ochsner und Liebermann 2001); eine ‹soziale Diagnose› der biopsychosoziokul-turellen Probleme einer Klientin; eine innerhalb eines Nationalstaates durchgeführte Volkszählung; eine Prognose der durchschnittlichen Lebenserwartung der Bevölkerung eines Landes in den kommenden Jahrzehnten.

5.4.2. Erklärung Eine Erklärung ist eine kognitive Operation, die sich auf ein beschriebenes Faktum bezieht. Ein Faktum erklären heisst Zeigen, wie es zustande kommt, oder anders gesagt im Aufweisen der Mechanismen, die es hervorbringen. Kürzer: Erklären ist das Beschreiben eines Mechanismus.

Beispiele: Der Sonnenaufgang wird erklärt durch die Erdrotation (und nicht als Kreisen der Sonne um die Erde), die geologische Faltung der Erdoberfläche durch die Plattentek-tonik (und nicht z.B. durch die Abkühlung des Erdkerns), AIDS durch eine HIV-Infektion (und nicht durch ein sündhaftes Leben), eine geplante Handlung durch eine Aktivität im Frontallappen des Cortex (und nicht durch die Aktivität eines immateriellen Geistes), die (faktische) partielle Illegitimität der bestehenden vertikalen Differenzierung von modernen Gesellschaften durch deren Struktur, die einem Teil der Population einen sozialen Aufstieg über sozial definierte Gleichgewichte von Investitions- und Beloh-nungsstatus (zugunsten des Letzteren) hinaus ermöglicht (und nicht durch Neid im Sin-ne einer nicht sozialstrukturell bedingten psychischen Disposition).

Mittel der mechanismischen (nicht mechanistischen) Erklärung sind erklärende The-orien (vgl. oben).

5.4.3. Werte und Probleme

5.4.3.1. Werte Werte: Werte existieren, „wo es Organismen gibt, die bestimmte Dinge, Zustände oder Prozesse bewerten, weil sie diese für sie selber zuträglich (gut) oder abträglich (schlecht) sind.“ (2004: 173). Die primären Werte einer biologischen Art sind die Zustände, in denen sie zu sein trachten.

Beispiele: gesund und unversehrt sein, satt sein, sexuell befriedigt sein, körperlich ausge-ruht und ausgeschlafen sein, entspannt sein, anerkannt sein.

Sekundäre oder funktionale Werte sind Unterschied dazu jene Klassen von Dingen, Zuständen, Veränderungen, von denen das Subjekt aufgrund seiner Erfahrung an-nimmt oder weiß, dass sie funktional für die Erreichung seiner primären Werte sind. Sekundäre Werte involvieren mit anderen Worten Kognitionen und sind damit er-lernt im Rahmen einer lokalen Kultur.

Beispiele: „Friede“; „gute Beziehung“; „ein Zuhause“; „Musse“; „Freiheit“, „Vollbeschäf-tigung“; „Biodiversität“; „Umweltschutz“.

5.4.3.2. Probleme Probleme sind bewusste Diskrepanzen zwischen Zielen und Mitteln, d.h. von (inneren und äusseren) Ressourcen im Hinblick auf ihre Erreichung.

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5.4.4. Ziele (praktische) Ein (praktisches) Ziel ist eine mentale Repräsentation (ein begriffliches Bild) eines künftigen Zustandes eines konkreten Dinges (in seinem Kontext) oder von mehreren Dingen, den ein Akteur durch eigene Handlungen (die Handlungen Dritter motivie-ren mögen) herbeizuführen oder zu erhalten beabsichtigt.

Beispiele: Meine Wohnung ist im Zeitpunkt X aufgeräumt (physikalisch); täglich habe ich mich mindestens einmal mit einer (selbst) gekochten Mahlzeit verpflegt und bin dabei angenehm satt geworden (biologisch), dreimal pro Woche habe ich mich im Freien eine Dreiviertelsunde intensiv bewegt (Prozessziel) (biologisch, biopsychisch); eine halbe Stunde nach dem Mittagessen fühle ich mich erholt, weil ich ein Entspan-nungs/Erholungs-Verfahren (z.B. „power nap“ angewendet habe (biopsychisch); bis zum Zeitpunkt X bin ich Mitglied der Organisation Y (sozial: Mitgliedschaft); in einem Dreivierteljahr werde ich verheiratet und Mutter eines Babys sein (biologisch; sozial 1: Erweiterung zur Familie; sozial 2: Mutterschaft als Status; sozial 3: Vervollständigung der Statuskonfiguration); in spätestens drei Jahren werde ich zur stv. Direktorin aufge-stiegen sein (sozial: vertikale Mobilität); ab nächstem Jahr bin ich innerhalb der Arbeits-organisation bin ich in eine komplexere und interessantere Funktion versetzt (sozial: ho-rizontale Mobilität: job enrichment); im kommenden Sommer werde ich von meinem Heimatdorf in die Stadt umgezogen sein (horizontale Mobilität: geografisch).

5.4.5. Ziele (kognitive) Ein (kognitives) Ziel ist eine mentale Repräsentation (ein begriffliches Bild) eines künftigen mentalen Zustandes, d.h. seines Wissens, den ein Akteur durch kognitive Operation wie Wahrnehmen oder Begriffsbildung und Denken herbeizuführen oder zu erhalten beabsichtigt.

Beispiele: Zu einem bestimmten Zeitpunkt: eine bestimmte Situation anhand einer be-stimmten Zahl von Fragen beschrieben zu haben (z.B. anhand der „Denkfigur“); eine a-rithmetische Aufgabe gelöst zu haben; Schlussfolgerungen aus einer Reihe von Aussagen gezogen zu haben, eine Hypothese in Bezug auf ein beobachtetes Faktum formuliert zu haben, das dieses erklärt (integriertes Bild), eine Prognose formuliert zu haben; ein Ziel bestimmt; eine Methode gewählt und einen (Denk- oder Handlungs)Plan formuliert zu haben; ein bestimmtes Vokabular einer Sprache zu kennen.

5.4.6. Prognosen Prognosen, zumal methodologisch gute, sind keine linearen Fortschreibungen vergange-ner Zustandsänderungen (Trends), sondern Voraussagen der Dynamik eines Sys-tems auf Grund der Kenntnisse seiner Mechanismen und seiner Einbettung in seine Umwelt.

Beispiele: 7-Tage-Wetterprognosen basierend auf (Simulations-)Modellen der Dynamik der Atmosphäre oder Prognosen des Klimawandels; Prognosen über das Aussterben von Biospezies und das Verschwinden des Lebens auf der Erde; Prognosen der Lebenserwar-tung in Abhängigkeit des Lebensalters in einer Gesellschaft; die Prognose der psychi-schen Entwicklung eines Menschen nach einer psychologischen Abklärung; Prognose der Demenzkranken in der Schweiz 2005 (89 000) bis 2020 (113 000), des Wirtschaftswachs-tums einer Volkswirtschaft oder des Armutsrisikos verschiedener Klassen von Schulab-gängern.

5.4.7. Methoden (Technologien) Eine Methode ist ein System von Regeln (oder Anweisungen, Vorschriften) darüber, wie ein bestimmtes praktisches oder kognitives Problem gelöst werden kann. Eine Regel ist eine Vorschrift, etwas zu tun11.

11 Beachte: Eine Regel ist keine Norm, eine Norm jedoch eine spezielle Form einer Regel: Eine Norm ist ein in einer sozialen Gruppe als ideal ausgezeichnetes Verhaltensmuster, das in den Augen ihrer Mit-glieder, sei’s zu Recht oder nicht, das im Interesse einiger oder aller ihrer Mitglieder liegt. Die Untersu-chung der Entstehung und Durchsetzung, des Wandels und des Verschwindens von Normen ist ein zentrales Thema der Sozialwissenschaften. Anwendung einer Methode, die sich in einer Profession als Standard durchsetzt, gehört damit zu den Normen der Profession -> Professionalisierung.

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Eine Methode zur Lösung eines praktischen Problems ist ein wohlspezifiziertes und wiederholbares Verfahren, um etwas zu tun: ein System von Regeln zur Steuerung (Auswahl, Sequenzierung und Ausführung) einer geordneten Abfolge von Hand-lungen mit dem Ziel, beschriebene und als erwünscht oder unerwünscht bewertete Zustände und Vorgänge in und zwischen Dingen (Probleme) in einer gewünschten Weise (Ziele) zu erhalten oder zu verändern. Faustregeln und Technologien: Während sich Alltagsmethoden auf Faustregeln stüt-zen, deren Wirkungsweise, wenn überhaupt, durch „Alltagstheorien“ erklärt wer-den, stützen sich professionelle Methoden auf Kenntnisse von wissenschaftlichen ↑Gesetzmässigkeiten und im Besondern von ↑Mechanismen im Interventionsbereich wirkenden Gesetzmässigkeiten

Beispiele für professionelle Methoden: Verfahren der Herstellung von Mikrochips (Nano-technologie); Herstellungsverfahren von Prozac (Chemie bzw. Psychopharmakologie); In-vitro-Fertilisation oder Impfungen gegen Infektionskrankheiten (Medizin); medika-mentöse Behandlungen von Parkinson-Erkrankungen (Psychiatrie) oder verhaltensthe-rapeutische Behandlung von Angststörungen (psychologische Therapie); Beratung als Methode (Gregusch, in Vorbereitung) oder Verfahren der ‹Modellveränderung› (Soziale Arbeit).

Methoden der Lösung von kognitiven Problemen sind (begriffliche) Regeln zur Lö-sung von kognitiven Problemen, d.h. Problemen des Beschreibens, Erklärens, Prog-nostizierens, des Formulierens von Problemen, Zielen und Plänen.

Beispiele: Methoden der systematischen Lösung kognitiver Probleme sind die Logik (für Probleme der Beziehung zwischen Begriffen und zwischen Aussagen), die Methodologie (für Probleme im Zusammenhang mit empirischen Fragestellungen, d.h. der Beschrei-bung, Erklärung und Prognose von Fakten) sowie die Mathematik. Das diesen Methoden übergeordnete, da allgemeinere Verfahren ist die Wissenschaftliche Methode (vgl. unter (Basis)Wissenschaft).

Wir können Faustregeln oder Alltagsmethoden von wissenschaftsbasierten Metho-den unterscheiden. Die ersteren stützen sich auf Erfahrungen über die Wirkung von Handlungen, die letzteren werden auf der Grundlage.

5.4.8. Pläne Ein Plan eines Individuums zur Erreichung eines praktischen Ziels ist eine mentale Repräsentation oder anders gesagt ein (begriffliches) Bild einer Abfolge von Hand-lungen, die es auszuführen gedenkt und von der es erwartet, dass sie den als Ziel vorgestellten Zustand eines konkreten Dinges herbeiführen.

Beispiele: Einkaufsliste mit Reihenfolge der aufzusuchenden Geschäfte; Reiseplan für Hin- und Rückreise einer Wanderung oder einer Ferienwoche; die (mentale) Vorberei-tung auf ein Gespräch mittels eine Themenliste (ev. mit Reihenfolge des Ansprechens) im Hinblick auf ein kommendes Gespräch, ein theoretisch begründeter Gesprächsleitfaden zur Durchführung von Interviews; ein Behandlungsplan zur Bearbeitung eines prakti-schen (physikalischen, biologischen, psychischen oder sozialen) Problems einer Klientin; ein Plan zur Repetition von Lernstoff im Hinblick auf eine Prüfung.

Pläne können mehr oder weniger realistisch und effektiv, moralisch oder unmora-lisch, doch nicht mehr oder weniger wahr sein, und um brauchbar (praktisch) zu sein, müssen Pläne elastisch sein, d.h. offen gegenüber Revisionen im Lichte nicht vorhersehbarer Ereignisse, die im Laufe ihrer Implementierung eingetreten sind so-wie der Ergebnisse, die erreicht worden sind. Professionelle Pläne nutzen technolo-gisches Regelwissen (Technologien), wogegen alltagspraktische Handlungspläne auf persönlicher (aber nicht systematisch evaluierter) Erfahrung und bekannten Faustre-geln beruhen.

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 29

5.5. Handeln: Akte, menschliche Handlungen, soziale Handlungen und Kommunikation

Alle Dinge wandeln sich: angeregt durch die Veränderungen anderer verändern sie sich (↑Kausalität) und verändern durch ihre Veränderungen andere. Soziale Hand-lungen und im Besonderen Kommunikation sind lediglich spezifische Formen sol-chen Wandels:

5.5.1. Akt Ein Akt ist das, was ein konkretes Ding oder System einem anderen tut, das heißt ein Molekül in einer Flüssigkeit einem anderen, ein Tsunami einer Meeresküste, ein In-sekt dem von ihm gestochenen Tier.

5.5.2. Menschliche Handlung Menschliche Handlungen (auch ‹Praxis›) sind Akte einer besonderen Art, nämlich was immer Menschen bewusst oder nicht (voll) bewusst, aber absichtlich einem an-deren Ding tun. Einer selbstbewussten Handlung geht die Entwicklung eines (Hand-lungs-)Plans voraus und einer professionellen Handlung ein Plan, der eine wissen-schaftsbasierte Handlungsregel oder Methode involviert und der am Ende einer Ket-te von kognitiven Operationen steht (vgl. Kap. 4).

Beispiele: Geschirr spülen; einen Strauch pflanzen; unabsichtlich töten (was eine mensch-liche, aber keine soziale Handlung ist).

5.5.3. Soziale Handlungen Eine soziale Handlung als besondere und im Rahmen professionellen Handelns zent-rale Art menschlichen Handelns kann definiert werden als menschliche Handlung, durch die ein Individuum (mindestens) ein anderes menschliches Individuum zu verändern trachtet.

Beispiele: Einer Frau als Hebamme oder als Arzt bei der Geburt helfen (nicht aber gebä-ren); jemanden ermorden; jemandem etwas schenken; ein Kind durch Zeigen und Spre-chen etwas lehren; mit anderen im Hinblick auf die Erreichung eines Ziels kooperieren, einen Verein gründen, Krieg führen.

(Soziale Interkation: eine (wechselseitige) soziale Handlung; Interaktion allgemein: wechselseitige Akte)

5.5.4. Kommunikation Kommunikation ist eine besondere Form einer sozialen Handlung (sozialen Interakti-on), durch die ein Mensch einen anderen auf dem Wege einer Mitteilung zu verän-dern trachtet; Kommunikation kann mimisch, gestisch und taktil unterstützt wer-den.

Beispiele: sich mit einem anderen Menschen unterhalten; einen Vortrag halten; eine Mail oder einen Artikel schreiben.

6. Professionsbegriff und Interprofessionelle Kooperation

6.1. Professionsbegriff In einer wissenschaftsorientierten Sicht ist eine Profession dadurch charakterisiert, dass sich ihre Mitglieder zur Lösung ihrer praktischen Probleme auf wissenschafts-basierte Verfahren bzw. Methoden (Verfahren) stützen. Genauer kann der Begriff der Profession anhand des Methodenbegriffs folgendermassen definiert werden: 1. Eine Methode ist ein System von Regeln (oder Anweisungen, Vorschriften) dar-

über, wie ein bestimmtes praktisches oder kognitives Problem gelöst werden kann (vgl. oben).

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 30

2. eine professionelle Methode ist eine Methode, die auf einem wissenschaftlichen Verständnis der Mechanismen beruht, die im Interventionsbereich wirksam sind sowie jener, die durch die methodischen Interventionen in Gang gesetzt oder modifiziert werden.

3. Unter Professionellen sind davon ausgehend Personen zu verstehen, die eine for-male Ausbildung in der Beschreibung, Erklärung und Bewertung spezifischer Arten von Problemen (grundlagenwissenschaftlicher Aspekt) sowie in der Kenntnis und Verwendung spezifischer professioneller Methoden zur Lösung solcher Probleme genossen haben (handlungswissenschaftlicher und professio-neller Aspekt), und

4. eine Profession ist ein soziales System (*Gebilde, Gefüge), das aus Professionellen einer besonderen Art besteht, die durch die Art der Probleme definiert ist, auf deren Lösung ihre Aktivität gerichtet ist.

6.2. Handlungswissenschaften und Professionen Handlungswissenschaften wie die Medizin, die Psychiatrie, die Rechtswissenschaft, die Pflegewissenschaften oder die Sozialarbeitswissenschaft sind die disziplinäre Grundlage von Professionen wie der Medizin, der psychologischen Therapie, der Jurisprudenz, der professionellen Pflege und der Sozialen Arbeit. Während Hand-lungswissenschaften Handlungsprobleme als kognitive Probleme behandeln und lö-sen, sind Professionen darauf gerichtet, auf der Basis handlungswissenschaftlichen Wissens entsprechende praktische Probleme zu verhindern, zu lindern oder zu lö-sen. Mit anderen Worten: Während emotio-kognitive Prozesse und im Besonderen Den-ken – d.h. Prozesse im plastischen Bereich von Nervensystemen – das primäre Agens der Lösung der kognitiven Probleme von Basis- wie Handlungswissenschaften sind, sind es in den Professionen menschliche Handlungen einer besonderen Art, nämlich durch professionelles Wissen absichts- und planvoll gesteuerte neuromotorische Operationen oder eben professionelle Handlungen. Die handlungswissenschaftlichen Begriffe der Handlung, der selbstbewussten Handlung, der sozialen Handlung und der Kommunikation können folgendermaßen definiert werden (Bunge 2003b):

Professionen können nach der Art der konkreten Systeme oder nach den Bereichen von Systemen unterschieden werden, deren Erhaltung oder Veränderung das primä-re Ziel ihrer professionellen Handlungen ist. So beschäftigen sich die Ingenieurwis-senschaften – eine Profession im weiteren Sinne – primär mit physikalischen und nichtmenschlichen biologischen Systemen; die Humanmedizin primär mit biologi-schen Problemen von Menschen, verstanden als Biosysteme; die psychologische Therapie und insbesondere die Neuropsychotherapie primär mit menschlichen psy-chischen Systemen, verstanden als Subsysteme menschlicher Zentralnervensysteme und damit von menschlichen Organismen; die Soziale Arbeit primär mit Menschen, verstanden als Komponenten von sozialen Systemen, sowie mit sozialen Systemen; die Jurisprudenz mit normativen Problemen von Gesellschaften sowie mit Menschen als Komponenten solcher Systeme und die Betriebswirtschafts- und die Manage-mentlehre – wie die Ingenieurwissenschaften zwei Professionen im weiteren Sinne – mit Problemen des Aufbaus und der Steuerung von Organisationen.

6.3. Professionelles Handeln Professionelles Handeln ist 1. absichtsvolles Handeln, das 2. geplant und auf die Lösung eines expliziten praktischen Problems (Ziel) gerich-

tet ist und das 3. dieses Ziel durch die Anwendung einer wissenschaftsbasierten Methode zu er-

reichen sucht, deren Anwendung

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 31

4. durch eine allgemeine Theorie methodischen Handelns gesteuert wird (für eine grafische Repräsentation (Modell) vgl. Abb. 2), die sich

5. auf eine deskriptive und erklärende Handlungstheorie einschließlich eines Beg-riffes absichtlichen effektiven Handelns stützt.

Die nachstehende Abb. 2 ist ein Modell der Struktur einer professionellen (rationa-len) Handlung. Abb. 2: Das normative Modell professionellen Handelns des Systemtheoretischen Paradig-mas der Wissenschaft der Sozialen Arbeit

Womit?

ExterneRessour-cen d)

Legende:

b) innere Ressourcen des oder der Handelnden: Bilder, Codes, Werte;

c) Handlungstheoretische Operationen des professionellen Handelns (Problemlösens);a) Anlassproblem, Handlungsphasen & handlungstheoretische "W-Fragen";

d) Bekannte und verfügbare ext. Ressourcen, einschliesslich der inneren u. äusseren

Ressourcen der Klient/innen bzw. Patient/innen

Beschreibe die interessierendenFakten

Bestimme zu ver- ändernde proble- matische Fakten

Kognitiver/kultureller

Code

Nomologische Theorien

MethodenTechnologische Theorien

Bewerte die prognostiziertenFakten

MethodenentwicklungHandlungswissensch.

Beschrei-bung

Probleme

Bestimme die zu zu erzeugendenkünftigen Fakten

Ziele

Entwickle Bild zukünftiger eige-ner Handlungen

Plan Hand-lung

Was? Woher? Weshalb ?(Mechanismen)

Wohin ? Was ist gut / was ist nicht gut? Woraufhin?

Prognostizierezu erwartende Fakten

Prognose

Zukunftsbild

Verändere Fakten

Erkläre die Fakten und ihre Beziehungen

Erklä-rung

Werte

Bewer-tung

Wie1?

Metho-den

Wie2?int. Ress.: Fertigkeiten

Beurteilung der bewerteten prognosti-zierten Fakten unter dem Gesichtspunktverfügbarer Methoden und Ressourcen

Theorie als Mittel

der Beschreibung der Erklärung der Prognose

Evalu

ation

a)

c)

b)

Basiswissen-schaftlicheTheorieentwicklung

I. Situationsbeschreibung und -erklärung plus Prognose III. Zielsetzung &Planung IV. Entscheidung

& Handlung

V. Eva-

luation

Entscheidung

durc

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ndes).

Nicht integriertes bzw. integriertes

Vergangenheits- und Gegenwartsbild

Bewertetes Gegen-

warts- & Zukunftsbild

Bild des ange-

strebten künftigen

Zustandes

Bild künftiger

Handlungen

"Anlassproblem"

III. Bewertung & Problemdefinition

Handlu

ngs-

erf

olg

?

Bild der zu verän-

dernden Fakten

Wie die Darstellung zeigt, spielen in den kognitiven Operationen einer professionel-len Handlung – nebst Daten (‹Informationen›) über physikalische, biologische, psy-chische und soziale Fakten sowie expliziten Werten – nomologische Theorien als kognitive Ressourcen eine entscheidende Rolle. Nomologische Theorien sind in dieser Sicht eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung sowohl für die Erzeugung von Bildern (oder Beschreibungen) aller Art wie auch von Systemen wis-senschaftsbasierter Interventionsregeln oder anders gesagt von Methoden im Sinne von speziellen Handlungstheorien. Eine herausragende Rolle spielt das ‹integrierte› Gegenwartsbild (vgl. Abb. 2, c) als Ausgangspunkt aller weiteren Operationen. In ihm sind die beschriebenen Fakten so weit als möglich und nützlich mechanismisch erklärtiii.

6.4. Die 4-Ebenenstruktur des handlungswissenschaftlichen Wissens von Professionen

In der Sicht des Systemtheoretischen Paradigmas und implizit in den vorangehen-den Kapiteln ist handlungswissenschaftliches und damit professionelles Wissen in vier logi-

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 32

sche Ebenen oder Bereiche differenziert, wobei jede Ebene mit der oder den angrenzen-den in einer logischen Beziehung steht. Diese Ebenen werden gebildet durch:

I. Metawissenschaften mit den substantiven Metawissenschaften (wie Geschichte, Soziologie oder Ökonomie der Sozialen Arbeit) und (philosophische) Metatheo-rien (wie Ontologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Semantik, Axiolo-gie, Praxeologie, Ethik);

II. basiswissenschaftliche Theorien (wie biologische, solche der kognitiven und affektiven Neurowissenschaften, der allgemeinen Psychologie sowie Theorien der Sozialwissenschaften);

III. die allgemeine Handlungstheorie und IV. die speziellen Handlungstheorien oder wissenschaftsbasierten Methoden (Ver-

fahren, Procederes).

Abb. 3: 4-Ebenen-Struktur professionellen Wissens, spezifiziert für Soziale Arbeit

Abb. 3 symbolisiert den vierstufigen Aufbau des professionellen Wissens – hier in-terpretiert für die Soziale Arbeit – beginnend mit dem Dreieck (unten) und fortfah-rend mit dem Kreiskegel (von links oben zu einer Seite des Dreiecks) als den beiden Hauptteilen der Darstellung: - Das Dreieck mit den parallel zur Grundlinie verlaufenden Linien symbolisiert

die Wirklichkeit, verstanden als das Gesamt aller existierenden Dinge bzw. Sys-teme, von denen hier fünf Arten unterschieden werden (physikali-sche/chemische, biologische, (bio)psychische, soziale und kulturelle, wobei die Letzteren von besonderer, nämlich begrifflicher Art sind).

- Der Kreiskegel mit den vier eingeschriebenen Scheiben symbolisiert den Aufbau des professionellen Wissens einer Profession. Dieses Wissen hat seinen Sitz in

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 33

den Köpfen (Gehirnen) der Professionellen, die Teil sind der Wirklichkeit (aber nicht eigens symbolisiert) und es ist das Mittel der Bearbeitung der praktischen Probleme der Profession (symbolisiert durch die Pfeile vom Kreiskegel zum Dreieck), im Falle der Sozialen Arbeit also von sozialen Problemen.

Die vier Wissensbereiche und die Beziehungen, die sie untereinander unterhalten, seien in den nächsten Abschnitten kurz umrissen. Sie rekapitulieren die Argumente, weshalb diese logische Differenzierung für handlungswissenschaftliches und damit professionelles Wissen unverzichtbar ist. Aus diesem Grund und wegen des skiz-zenhaften Charakters der Darstellung ist die Präsentation ‹bottom-up›: sie beginnt mit dem Begriff der Methode und führt, die anderen, in den vorangehenden Kapi-teln eingeführten Begriffe benutzend, nach und nach die weiteren Ebenen ein.

1. Methoden (Ebene IV) Professionelle Arbeit ist definiert durch den fachgerechten Gebrauch von wissen-schaftsbasierten Methoden, von denen es in allen Professionen eine große Zahl gibt, die unter verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert werden können (vgl. die Defi-nition von Profession und Methoden in Abschnitt). Es sind die Methoden und ihre angemessene Anwendung, die über den Erfolg oder Misserfolg von Handlungen entscheiden. Methoden sind jedoch keine Handlungen. Vielmehr sind sie kognitive Ressourcen zur Entwicklung von Handlungsplänen, die ihrerseits zur Steuerung von zielgerichteten Handlungsabfolgen dienen. Darüber hinaus ist ihr Gebrauch, obwohl immer wieder mit professionellem Handeln gleichgesetzt, notwendig eingebettet in ihnen vorausgehende und nachfolgende Operationen. Diese sind das Thema der allgemeinen normativen Handlungstheorie.

2. Allgemeine normative Handlungstheorie (Ebene III) Gemeinsam ist professionellen Methoden, dass ihre Anwendung im Rahmen einer bestimmten Abfolge von Operationen erfolgt, die das Thema der allgemeinen nor-mativen oder ‹präskriptiven› Handlungstheorie ist. Eine solche normative Theorie stützt sich auf eine beschreibende und erklärende Theorie des Handelns und na-mentlich auf einen präzisen Begriff einer effektiven Handlung und postuliert die Struktur einer idealen professionellen Handlung. In der Sicht der Allgemeinen Handlungstheorie des Systemtheoretischen Paradig-mas der Sozialen Arbeit (Obrecht 1996a) ist eine professionelle Handlung das Ergeb-nis einer Abfolge von (durch bewusste Werte angetriebenen) methodisch kontrollier-ten kognitiven Operationen, in deren Verlauf nach und nach alle Fragen geklärt werden, die zur Entwicklung eines Handlungsplanes führen, dessen Realisierung die professionelle Handlung darstellt und in dessen Mittelpunkt die Anwendung einer Methode steht. Diese Operationen können als Antworten auf eine unter dem Gesichtspunkt zielgerichteten Handelns logische Sequenz von Fragen oder kogniti-ven Problemen verstanden werden, die – in dieser oder einer anderen Form – auch unter dem Namen ‹W-Fragen› bekannt sind (vgl. Ebene III in Abb. 3). Abb. 2 reprä-sentiert diese Operationen grafisch und hebt besonders die direkte und indirekte Rolle von nomologischen Theorien innerhalb professioneller Handlungen hervor, letzteres in Form von Methoden. Die Darstellung enthält auch die genannten W-Fragen und die mit ihnen verbundenen Vorschriften oder Regeln.

3. Basiswissenschaftliche Objekttheorien (Ebene II) Der Prozess der Handlungsplanung endet mit einem Plan, der die Anwendung einer bestimmten Methode vorsieht, und er beginnt mit dem Beschreiben, Erklären und Prognostizieren von Fakten rund um das ‹Anlassproblem›, nämlich der Beschrei-bung mindestens eines problematischen Zustandes eines Klienten oder einer Patien-tin oder von durch Kund/innen als problematisch bezeichneten Zuständen und Zu-

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 34

standsänderungen von Systemen physikalischer, chemischer, biologischer oder sozi-aler Art. Die Mittel aller drei Operationen sind, nebst Daten (‹Information›) über Klient/innen, basiswissenschaftliche Objekttheorien. Diese sollten nach Möglichkeit erklärend oder mechanismisch sein, da das Verständnis von Mechanismen bei der Entwicklung und Anwendung von Methoden die entscheidende Quelle von Hin-weisen auf wirksame Handlungen und funktionale Artefakte (Hilfsmit-tel/Instrumente) ist. In dieser Abhängigkeit professioneller Handlungen von grundlagenwissenschaftli-chem Wissen liegt der Verknüpfungsbedarf von Basis- und Handlungswissenschaf-ten im Hinblick auf die Überbrückung des handlungswissenschaftlichen hiatus theo-reticus, wie die Kluft zwischen (basiswissenschaftlichen) Theorien und praktischem Handeln oder kurz zwischen ‹Theorie und Praxis› mitunter genannt wird (Paul 1996). (Zur Rolle von basiswissenschaftlichen Theorien im professionellen Handeln der Sozialen Arbeit vgl. Staub-Bernasconi et al. 1980). Während basiswissenschaftliche Disziplinen je eine eng umgrenzte Art von Fakten untersuchen, sind Professionelle immer mit einem – vom Standpunkt der Basiswis-senschaften aus gesehen – disziplinären ‹Mix› von Fakten konfrontiert, die sie zu beschreiben und deren allfällige gesetzmäßige Beziehung sie zu klären haben und von denen sie jeweils einige zu verändern suchen. So reicht der Mix der für die Be-arbeitung der Probleme eines ‹Klientsystems› relevanten Fakten in der Sozialen Ar-beit mitunter über das ganze mögliche Spektrum – von physikalischen (Wohnver-hältnisse), biologischen (Ernährung, Krankheiten), psychischen (Orientierung; Ver-sagung psychischer und sozialer Bedürfnisse), sozialen (strukturelle Marginalität) bis hin zu kulturellen (z.B. religiöse Bezugssysteme); hinzu kommen, was den sozia-len Wirklichkeitsbereich betrifft, oft unterschiedliche Arten und Niveaus sozialer Systeme wie Familie, Nachbarschaft und Gemeinde, Organisationen und Nation (Migration). Als Folge davon verlangt professionelles Handeln nicht nur nach ausreichenden Kenntnissen an basiswissenschaftlichen Theorien, sondern darüber hinaus nach ei-nem Verständnis für das Problem der Fragmentierung des basiswissenschaftlichen Wissens als Folge der Spezialisierung der basiswissenschaftlichen Disziplinen und für die Lösung des Problems in Form theoretischer Integration, im besonderen durch die Verknüpfung von Theorien in Bezug auf die vier ontischen Bereiche von Physis, Bi-os, Psyche und Gesellschaft (Obrecht 2004). Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Begriff des mechanismischen Erklärens, über den Zustände und Prozesse eines Sys-tems durch die Interaktion seiner Komponenten erklärt werden, eine Operation, die für die Komponenten wiederholt werden kann etc. Wissen über logische oder Ver-knüpfungsprobleme wissenschaftlichen Wissens ist aber kein Produkt irgendeiner der Basiswissenschaften, sondern das Thema (philosophischer) Metatheorie. Meta-theorie wird als Wissen über die Grundlagen der Wissenschaften zur unverzichtba-ren vierten logischen Ebene des handlungswissenschaftlichen Wissens.

4. Metatheorien (Ebene I) Die Bedeutung der philosophischen Grundlagen der Basis- wie der Handlungswis-senschaften wird von der Mehrzahl der Wissenschafter/innen (und erst recht von Praktiker/innen) nach wie vor unterschätzt, übersehen oder auf Ethik beschränkt verstanden. Metatheorie ist aber wesentlich mehr als Ethik und umfasst ein ganzes Bündel von Disziplinen, die sich unter anderem mit grundlegenden begrifflichen Problemen der Basis-, aber auch der Handlungswissenschaften beschäftigen und die zwei Gruppen von Disziplinen bilden. Während die eine Gruppe, bestehend aus Ontologie, Erkenntnistheorie, Logik, Semantik und Axiologie oder Werttheorie, Grundlagenprobleme der Philosophie untersucht, bearbeitet die andere angewandte

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 35

Fragestellungen und umfasst die Disziplinen der Methodologie, Praxeologie, Ethik, politischen Philosophie und der Sozialphilosophie sowie die zahlreichen Philoso-phien von ... (....)

5. Interprofessionelle Kooperation a) Interprofessionelle Kooperation ist spontane oder institutionalisierte Interaktion von Mitgliedern von Professionen unterschiedlicher Art und zielt auf die koordinierte systemische statt sektorielle Bearbeitung praktischer Probleme von Klient/innen, Patient/innen oder Kund/innen. Professionen können dabei definiert werden als soziale Systeme, deren Mitglieder folgendermaßen charakterisiert sind: Sie bearbei-ten erstens eine bestimmte Klasse von praktischen Problemen von Menschen im Zu-sammenhang mit der Befriedigung ihrer vitalen Bedürfnisse, von der deren Arbeits- und Liebes- und Beziehungsfähigkeit und damit der Grad ihrer sozialen Integration abhängt; sie machen dabei zweitens Gebrauch von problemspezifischen wissen-schaftsbasierten Verfahren oder Methoden (auch ‹speziellen Handlungstheorien›), deren Einsatz sie drittens im Rahmen der Operationen einer allgemeinen normativen (präskriptiven) Handlungstheorie steuern, wobei diese Theorie methodischen prob-lemlösenden Handelns sich viertens auf ein explizites grundlagenwissenschaftliches Modell des Menschen stützt, das Menschen als eine besondere Art von Biosystemen beschreibt, deren Überleben in ihrer natürlichen und sozialen Umwelt davon ab-hängt, ob sie in der Lage sind, die praktischen Probleme erfolgreich zu lösen, die sich im Zusammenhang mit dem Zwang der Befriedigung ihrer vitalen biologischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse laufend ergeben.

b) Anlässe: Wie nicht jedes praktische Problem nach einer professionellen Lösung verlangt, so verlangt nicht jede professionelle Intervention nach interprofessioneller Zusammenarbeit. Eine solche wird erforderlich, wenn verschiedene Arten wechsel-wirken der Prozesse und im Besonderen biologische, psychische und soziale gleich-zeitig kritisch verlaufen.

c) Ziele: Ziel interprofessioneller Zusammenarbeit ist die Erhöhung sowohl der Effektivi-tät wie auch der Effizienz der Lösung praktischer Probleme von Individuen, sei’s durch eine Veränderung ihrer Endo- oder ihrer Exostruktur für Letzteres.

d) Verfahren: Elementare Operationen des Verfahrens sind: (1) Die Professionellen der beteiligten Professionen bearbeiten einen Fall in der gewohnten professionsspe-zifischen Form, d.h. sie beschreiben, erklären und prognostizieren die kritischen Zu-stände oder Prozesse des in Frage stehenden Individuums oder sozialen Systems, bestimmen das zu bearbeitende Problem und entwickeln ein Behandlungsziel und einen professionsspezifischen Behandlungsplan; (2) im Rahmen eines gestalteten sozialen Prozesses, der in Abhängigkeit des sozialen Settings mehr oder weniger standardisiert und institutionalisiert sein kann, werden die professionsspezifischen Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen problematischer Zustände und Pro-zesse zu einem additiven Gesamtbild des behandelnden interprofessionellen Sys-tems in Bezug auf den aktuellen Fall vereinigt; (3) die Beziehungen zwischen den von den einzelnen Professionen beschriebenen und erklärten relevanten Fakten werden geklärt und zu einem integrierten (transprofessionellen) Bild synthetisiert; (4) die professionsspezifischen Behandlungspläne werden auf Grund von (3) gege-benenfalls modifiziert (transprofessioneller Behandlungsplan des behandelnden interprofessionellen Systems) und davon ausgehend wird (5) die Realisierung der modifizierten Behandlungspläne der beteiligten Professionellen räumlich, zeitlich und operativ koordiniert.

e) Mittel und Voraussetzung: Der beschriebene Prozess basiert auf einer fachlichen Verständigung zwischen den Mitgliedern der beteiligten Professionen (Operationen

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 36

2–5). Diese setzt ein geteiltes handlungswissenschaftliches Hintergrundwissen voraus, das dem Problem der Spezialisierung und dem mit ihm verbundenen Problem der Fragmentierung des Wissens Rechnung trägt. Die Entwicklung solchermaßen inte-grativen handlungswissenschaftlichen Wissens, das die in der Einleitung hervorge-hobene teilweise Entspezialisierung ermöglicht, ist eine lange unterschätzte gemein-same Aufgabe der den Professionen zugrunde liegenden Handlungswissenschaften. Der Trend zu vermehrter Interprofessioneller Kooperation könnte der Anlass sein, damit auch seitens der Handlungswissenschaften einen Beitrag zur Überwindung der Probleme zu leisten, die die Fragmentierung des Wissens unvermeidlich mit sich bringt, und auf diese Weise zu einer effektiveren und effizienteren Arbeit der Profes-sionen beizutragen. Die Sicht der Probleme der Interprofessionellen Kooperation und ihrer handlungswis-senschaftlichen Lösung, wie sie im Rahmen dieser Arbeit diskutiert wird, ist die Antwort des Systemtheoretischen Paradigmas der Sozialarbeitswissenschaft als handlungswissenschaftlicher Disziplin (Staub-Bernasconi 1995; Obrecht 1996b, 2001, 2005) auf die tief greifenden Probleme im Zusammenhang mit dem extrem fragmen-tierten Wissen innerhalb des sozialarbeitswissenschaftlichen Wissens (vgl. insbeson-dere Obrecht 2003b). Diese ‹Theorie der Sozialen Arbeit›, die in ihrer allgemeinen Thematik und Struktur mit der ‹Theorie der Medizin› vergleichbar ist (vgl. z.B. Paul 1996; Sadeg-Zadeh 2001), ist ein (offenes) System von allgemeinen und speziellen handlungstheoretischen, basiswissenschaftlichen und metatheoretischen Theorien. Sie stützt sich auf eine materialistisch-emergentistische Ontologie, wie sie (...) den erfolgreichen Wissenschaften zugrunde liegt, auf eine realistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie (...) auf einen Begriff von Handlungswissenschaft und Profession, wobei sie die Soziale Arbeit als eine Menschenrechtsprofession versteht (Staub-Bernasconi 2003). (...)

7. Philosophische Doktrinen (Ontologie, Erkenntnistheorie, Ethik) (weitere folgen)

7.1. Arten von Ontologien Ontologien haben zahlreiche Eigenschaften, nach denen man sie klassifizieren kann. Drei seien genannt:

7.1.1. Stuff (Stoff)

Mit Bezug auf die Frage nach dem Stoff, aus dem die Wirklichkeit besteht, lassen sich drei Gruppen von Ontologien unterscheiden: 1. pluralistische Ontologien: vor allem die dualistische (*immaterialistische) Ontolo-

gie des Geist-Körper-Dualismus Vertreter: Descartes; Popper & Eccles u.v.a.m. Dualismus: „Die Sicht, wonach die Welt aus zwei Arten von Dingen gebildet wird: mate-riellen und ideellen, weltlichen und ausserweltlichen, profanen und sakralen oder guten und bösen. Ein Spezialfall des ↑Pluralismus. Ontologischer Dualismus ist ein wesentli-cher Bestandteil aller Religionen und der meisten idealistischen Philosophien. Psycho-neuraler Dualismus steht im Widerspruch mit der Neuropsychologie, die postuliert, dass mentale Prozesse eine Teilmenge der Gehirnprozessen bilden. (↑)Leib-Seele-Problem.“ (....). (D2: 80.)

2. monistische Ontologien, wobei dieser eine „stuff“ bestehen kann

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Grundbegriffe der Philosophie der Basis- und Handlungswissenschaften 37

a. aus Ideen: Idealismus, ontologischer12

b. aus Materie: Materialismus, der mit Bezug auf die postulierten Arten von Eigenschaften drei Formen unterschieden werden können, nämlich

i. Physikalismus: Die Familie ontologischer Doktrinen, nach denen alles was es gibt, konkret ist und alles Konkrete physikalisch ist, d.h. die Ontologien, die substanzmonistisch und eigenschaftsmonistisch sind;

ii. der Energetismus: Die monistische Ontogie gemäss welcher alle Dinge aus ↑Energie bestehen. Unhaltbar, das Energie eine ↑Eigenschaft von materiel-len Dingen ist, keine Entität. Der Energetismus wurde am Ende des 19. Jd. von Wilhelm Ostwald als eine Alternative sowohl zum Materialismus als auch zum Idealismus vorgeschlagen und wurde von den Positivisten ge-billigt. Sein zeitgenössischer Erbe ist der ↑Informationismus. (D2: 84) (19.2.06);

iii. der Emergentistische Systemismus oder Materialismus, der in Übereinstim-mung mit Grossteil des wissenschaftlichen Wissens unserer Zeit zwar die ausschliessliche Existenz von Materie, jedoch chemische, biologische und im besonderen biopsychische sowie soziale Systeme als eigenständige, im Rahmen der universellen und terrestrischen Evolution emergierte Formen konkreter Systeme postuliert, d.h. der substanzmonistisch und eigen-schaftspluralistisch ist; er ist die hier dargestellte Ontologie.

c. aus etwas Drittem, wie z.B. Information oder Funitionen Informationismus: Die Sicht, dass Information der Stoff ist, aus dem die Welt gemacht ist. Diese Sicht wurde als eine Alternative zum ↑Materialismus vor-geschlagen – wie auch zum ↑Emergentismus ein Jahrhundert zuvor. Sie ist falsch, denn Information verlangt nach einen Informationssystem und dies ist eine komplexe künstliche Einrichtung, die fähig ist, physikalische oder chemische Signale zu codieren, senden und zu decodieren, von denen alle materiell sind. So ist es „bits from its“. (D2: 147) (19.2.06) Funktionalismus: Die Sicht, wonach Funktion das einzige ist, was zählt nicht aber ‚Substanz' (Materie). Vorherrschend in der Soziologie und Ethnologie der 30er - 60er Jahre – und, wie das Beispiel von Luhmanns antiessentialisti-schem Funktionalismus zeigt, teils bis vor kurzem (W.O.) – sowie in der kognitiven Psychologie vor der Emergenz der affektiven und kognitiven Neurowissenschaften. (EC: 286)

7.1.2. Existenz von Ganzheiten (Systeme)

In Bezug auf die Existenz von Ganzheiten lassen sich drei Arten von Antworten unterschei-den: Individualismus(Atomismus)-Holismus-Systemismus — Individualismus (Atomismus): Die Sicht, wonach die Konstituenten des Univer-

sums separierte Individuen sind und Der methodologische Partner des abwärts- oder Mikroreduktionismus. Entspricht global dem ↑Physikalismus und inner-halb der Sozialwissenschaften dem methodologischen Individualismus.

Beispiele: Biologie: Vitalismus; Psychologie: mentalistische Psychologie; Ökonomie: Neo-klassische Ökonomie; Soziologie: Weber (in seinen methodologischen Schriften); Interaktionsansätze; Coleman; Soziale Arbeit: Psychoanalytische SA (case work); kognitions- und verhaltenstheoretische orientierte Methoden; aufgabenzentrierte SA; stärken- und ressourcenzentrierte Methoden.

12 Idealismus, ontologischer oder objektiver. Die Familie der Ontologien die behaupten, dass Ideen durch sich selber existieren und dass wir sie lediglich „begreifen“ oder entdecken. Beispiele: Plato, Leibniz, Hegel, Bolzano, Dilthey, Frege. Keine der Versionen des Idealismus wird durch Wissenschaft und Technologie gestützt: diese nehmen die konkrete externe Welt für gegeben: dies ist der Grund, weshalb sie sie erforschen und verändern. Achtung: Die Behauptung allein, dass Ideen wichtig sind, qualifiziert sie nicht als idealistisch. Die meisten ontologischen Materialisten und erkenntnistheoreti-schen Realisten anerkennen die Existenz und Bedeutung von Ideen; sie bestreiten lediglich deren auto-nome Existenz. Der objektive Idealismus, der ontologisch ist, ist vom subjektiven Idealismus zu unter-scheiden, der erkenntnistheoretisch ist.

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— Holismus: Die Familie von Doktrinen, nach denen die Dinge unanalysierbare Ganzheiten sind. Der ontologische Partner des Intuitionismus (287) und der me-thodologische Partner des aufwärts- oder Makroreduktionismus. Hatte Varian-ten in den meisten Bereichen des Wissens. In den Naturwissenschaften heute nicht mehr vertreten, während die Sozialwissenschaften zu erheblichen Teilen immer noch zwischen Individualismus und Holismus oszillieren13.

Beispiele: Biologie: Vitalismus (veraltet); Psychologie: mentalistische Psychologie, Soziologie: Durkheim; Parsons; Neomarxismus; Bourdieu; Oevermann; Luhmann (i-dealistisch-prozessualistische Variante); Soziale Arbeit: An der General Systems Theo-rie orientierte Ansätze (Hearn; Pincus/Minehan); „Ökosystemperspektive“ (Ger-main/Gitermann; Bronfenbrenner); Complex Systems Theories (Bolland/Atherton; Warren et al.).

— Systemismus: Ontologie: Alles ist entweder eine System oder eine Komponente eines Systems. Der methodologische Partner der CESM-Analyse, die aufwärts- oder Makroreduktion mit abwärts- oder Mikroreduktion kombiniert. Erkenntnis-theorie: Jedes Stück Wissen ist ein Mitglied eines begrifflichen Systems, wie einer Theorie, oder sollte eines werden.

Beispiele: Gegenwärtig die meisten Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie); Soziologie: viele sozialwissenschaftliche Forschung; im Bereich von sozialwissen-schaftlicher Theorie: Boudon, Heintz, Elias, Esser (mit einem Rational Choice Ak-teurmodell), Bunge. Soziale Arbeit: Das systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit. 7.1.3. Existenz und Art von Wandel

Eine dritte Frage betrifft die Frage nach der Existenz und der Natur von Wandel (Veränderungen): Unterschieden werden können Eleatismus, Prozessualismus (radika-ler) und Systemismus (moderater Prozessualismus)

Eleatismus: Die Sicht, wonach die Konstituenten des Universums separierte und un-veränderliche Individuen sind.

Beisiele: Parmenides von Elea

Eventismus (radikaler Prozessualismus): Die radikale Variante des Prozessualismus, der Sicht, wonach alle Dinge sich verändern. Sie wird repäsentiert durch Alfred N. Whitehead, nach dem reale Dinge Bündel von Prozessen sind. Diese These ist lo-gisch unhaltbar, denn die Vorstellung eines Prozesses setzt jene eines Dings voraus, da ein Prozess definiert ist als die Veränderung des Zustandes einer konkreten Enti-tät.

Beisiele: A.N. Whitehead, B. Russel (zur Zeit der Analysis of Matter)

Systemismus (moderater Prozessualismus) Die Sicht, wonach zwar Wandel allgegen-wärtig, aber eine Veränderungen von konkreten Dingen ist. Zwar ist das Univer-sums in der Tat ein Fluss, doch kein reiner Fluss: Was unaufhörlich „fliesst“ ist Stoff dieser oder jener Art – physikalischer, chemischer, biologischer, sozialer, technischer oder semiotischer. (D2: 229). (22.2.06)

Beispiel: Bunge

13 Zu beachten ist, dass sich selbst als Systemtheoretiker Bezeichnende vielfach Holisten sind (Beispiel Parsons, Luhmann) und sich umgekehrt echte Systemist/innen oft als Holist/innen bezeichnen und nur an ihren Begriffen und ihrer Methodologie als Systemist/innen zu erkennbar sind. Wichtigster Grund: Die Ausdrücke „System“ und „Systemtheorie“ sind durch die fallierten, meist holistischen Lehren (GST; Parsons, Luhmann), die sich unter dieser Etikette präsentiert haben, in Misskredit gera-ten. Abhilfe: Statt nur Wort verwenden, Begriff wie auch Unterschiede zu Holismen erläutern.

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7.2. Arten von Erkenntnistheorien Ausgehend von der Frage nach geeigneten Quellen von gutem Wissen wurden diese Quellen auch zum Gegenstand der theoretischen Analyse (*Reflexion) und damit von Erkenntnistheorien gemacht. Die bekanntesten Erkenntnistheorien, von denen die wichtigsten eine oder mehrer dieser Quellen favorisieren, während andere wei-tere Quellen heranziehen, sind die folgenden: Irrationalismus: Die Familie von Doktrinen, welche die Kraft der Vernunft leugnen oder herabsetzen und sie durch religiöse Erleuchtung (↑)(Mystizismus), (↑)Gefühle (↑)(Emotivismus), ↑Intuition (↑)(Intuitionismus), (↑)(Wille (↑)(Voluntarismus), ↑Handeln (↑Pragmatismus), oder rohe ↑Erfahrung (↑Empirizismus) oder etwas an-deres ersetzen. Ein radikaler und durchgehender Irrationalist (oder eine Irrationa-listin) argumentiert nicht für seine verschwommenen Vorstellungen (Claire) und er bietet keine Argumente gegen seine Opponenten an. Er behauptet und negiert aus-schliesslich: er ist irrational. Heidegger ist vermutlich der bestbekannte persistente (wenn auch nicht konsistente) Irrationalist. Wenn er versucht zu argumentieren, scheitert er, wie wenn er zuerst Wahrheit als Essenz der Freiheit definiert und dann Freiheit als Essenz von Wahrheit. Irrationalismus ist eine Komponente der Bewe-gung der (↑)Gegenaufklärung, doch waren die Anfänge der Moderne nicht frei von ihm. Das Ausschelten der Scholastik als eine Philosophie von Worten und abstrakten Ideen hatte eine unbeabsichtigte irrationalistische Komponente. Dies gilt auch für die Kritiken der reinen Vernunft von Hume und Kant, obgleich sie in gewissen Hin-sichten Mitglieder der Aufklärung waren. Marx und Engels betrachteten sich als Erben der Aufklärung, doch sie teilten eine Reihe von Hegel’s Irrationalismen, im Besondere jene, die der (↑)Dialektik innewohnen. Und obgleich sie so klar sind, dass sie die Faulen anziehen, haben Wittgenstein’s Schriften vier irrationalistische Züge: der Kult der Alltagssprache, Pragmatismus, Dogmatismus und die These, dass es keine philosophischen Probleme gäbe.

Rationalismus: Die erkenntnistheoretische Doktrin, wonach ↑Kognition schlussfol-gerndes Denken und Argumentation involviert. Radikaler Rationalismus: Vernunft ist hinreichend für Wissen. Moderater Rationalismus: Vernunft ist notwendig, um etwas zu verstehen (beschreiben und erklären).

Empiri(zi)smus: Die erkenntnistheoretische Doktrin, wonach ↑Erfahrung die Quelle und der Test jeder Idee ist.

Ratioempirismus: Jede Synthese des moderaten ↑Rationalismus und moderaten ↑Em-pirizismus.

Beispiele: Kant’s Erkenntnistheorie, der Logische ↑Positivismus (*Neopositivismus) und der wissenschaftliche ↑Realismus (D2: 240) (19.2.06)

Der ↑Positivismus und der wissenschaftliche↑Realismus sind ↑Wissenschaftstheo-rien.

Intuitionismus: Die Familie der erkenntnistheoretischen Doktrinen, wonach Intuition, indem sie total und unmittelbar ist, allen anderen Arten von Kognition überlegen ist. (EC: 287). Eine Art des ↑Irrationalismus (D2:..)

Pragmatismus: Die erkenntnistheoretische Doktrin, wonach ↑Praxis (*Handeln) der Ursprung, Test und Wert aller Ideen ist. (EC) Entsprechend existiert reine Forschung entweder nicht oder sie ist entbehrlich; der Test von irgendetwas ist Nützlichkeit; Wahrheit ist entweder ein Euphemismus für praktische Nützlichkeit oder etwas Vernachlässigbares; Überzeugung, auch wenn sie nicht wissenschaftlich begründet ist, kann gerechtfertigt werden, „wenn es für dich befriedigend funktioniert“; und Altruismus ist eine Form von Egoismus. Von einem pragmatischen Standpunkt aus beurteilt ist Pragmatismus offenkundig ambi-valent. Weil er alle unpraktischen Ideen abwertet ist er eine Form des Banausentums und deshalb feindlich gegenüber höherer Kultur, im Besonderen der Mathematik,

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der Basiswissenschaften und der Philosophie – obgleich seine Gründungsväter, C. S. Peirce, W. James und J. Dewey, angesehene Philosophen waren. Pragmatismus ist jedoch gelegentlich nützlich, um Spekulation oder ineffiziente Planung zu diskredi-tieren. Der axiologische und praxeologische Partner ist der ↑Utilitarismus. (D2: 221)

Bibliografie

Bunge, M. (2003a). Emergence and Convergence: Qualitative Novelty and the Unity of Knowledge. Toronto - Buffalo - London, University of Toronto Press.

Bunge, M. (2003b). Philosophical Dictionary. Enlarged Edition. Buffalo - New York, Prometheus Books. Bunge, M. und M. Mahner (2004). Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Stutt-

gart, Hirzel. Mahner, M. und M. Bunge (2000). Philosophische Grundlagen der Biologie. (Foundations of Biophilo-

sophy, 1997). Heidelberg, N.Y., Tokyo, Springer. Obrecht, Werner (2006 [2005]) Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Vorlesungsskript zur gleich-

namigen Vorlesung. (2. Rev. Auflage) Hochschule für Soziale Arbeit Zürich.

Anmerkungen i Wissenschaft ist ein arbeitsteiliger Prozess, in dem jede Wissenschaft (Disziplin) auf die Untersuchung einer bestimmten Klasse von Fakten spezialisiert ist. Da die Entstehung von Disziplinen kein aufgrund eines vorangehend klaren Übersicht über die gesamte Wirklichkeit gesteuerter, sondern ein wildwüch-siger und von Interessen getriebener Prozess war, ist das Verhältnis des Wissens der verschiedenen Disziplinen bis heute unklar und teils kontrovers geblieben. Die Ontologie des Emergentistischen Systemismus, die auf einer Analyse der wichtigsten Theorien innerhalb der führenden Disziplinen stützt, erlaubt erstmals eine systematische Analyse und Ordnung dieser Beziehungen {Bunge, 2003 #4651}. ii Nicht zu verwechseln mit mechanistisch. iii Die Qualität der Operationen einer professionellen Handlung bemisst sich nach handlungswissen-schaftlich festzulegenden Standards, die sich, was die ersten drei Operationen und die Qualität von Methoden betrifft, mit jenen der Wissenschaftstheorie der Basiswissenschaften decken, in deren Zu-ständigkeitsbereich sie fallen. Dabei ist es die professionelle Handlung und nicht lediglich ein allfällig genutztes kausal wirksames Artefakt wie ein Medikament, die rational ist, und sei das Artefakt noch so entscheidend für die erzielte Wirkung. So kann z.B. ein Medikament, das Teil einer Behandlungsme-thode ist – als Folge einer falschen Diagnose oder in einer falschen Dosierung verabreicht –, statt Gene-sung Krankheit und Tod bewirken. Kurz, es sind professionelle Handlungen und nicht funktionale Arte-fakte, die primäre Gegenstände der Handlungswissenschaften und der Professionen sind, während die Entwicklung von Artefakten auch von Sachverständigen einer anderen Art, im Falle von Medikamen-ten von Pharmakolog/innen, besorgt werden kann. Handlungswissenschaften verlangen mit anderen Worten nicht nur nach einer Theorie des Organismus (Paul 1996), sondern nach einer Theorie menschli-cher Individuen und ihrer Einbindung in ihre physico-chemischen, biologischen, sozialen und kulturel-len Umwelten.