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193 Grundlagen der Hämostase: Physiologie, Pathophysiologie und klinisch-praktische Perspektiven R. E. SCHARF Einleitung Mit dem Hämostasesystem hat die Natur einen komplexen, ausgeklügelten Apparat ent- wickelt, der dafür sorgt, dass wir nicht schon bei banalen Schnittverletzungen verbluten. Dies setzt voraus, dass das Blutstillungssystem bei Bedarf aktiviert und anschließend wieder inaktiviert wird. Hierzu bedarf es genau gesteuerter Regelkreise, die blutstillungs- fördernde und gegenläufige, also hämostasehemmende Prozesse in einem fein austarier- ten Gleichgewicht, der hämostatischen Balance, halten. Aber wie so viele biologische Systeme hat auch der Hämostasemechanismus seine Kehrseite: Wird die Blutstillung zur „falschen Zeit“ und am „falschen Ort“ in Gang gesetzt, kann eine Thrombose und bei Verschleppung thrombotischen Materials in andere Gefäßabschnitte eine Embolie resul- tieren. Dieser Beitrag befasst sich mit physiologischen, pathophysiologischen und klini- schen Aspekten der Hämostase. Komponenten des Hämostasesystems Die Blutstillung wird durch ein koordiniertes, empfindlich geregeltes Zusammenspiel aus zellulären und humoralen (plasmatischen) Komponenten gewährleistet. Hierzu zählen: Gefäßwand: Endothel, Subendothel; Vasokonstriktion Megakaryozyten-Thrombozyten-System Gerinnungssystem: Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren (z.B. Antithrombin, Protein C oder Protein S) Fibrinolysesystem: Fibrinolysekomponenten und Inhibitoren (z.B. Antiplasmin). Zum Hämostaseapparat gehört aus physiologischer und pathophysiologischer Sicht auch das Monozyten-Makrophagen- bzw. retikuloendotheliale System (RES). Im RES werden gealterte oder antikörperbeladene Plättchen (bei Immunthrombozytope- nien), aber auch aktivierte Gerinnungsfaktoren mit ihren Gegenspielern (z.B. Thrombin- Antithrombin-Komplexe) sowie Fibrinolysekomponenten und deren Degradationspro- dukte aus dem Kreislauf eliminiert. Klinisch relevant ist, dass Störungen der Clearance- funktion des RES bei akuten oder chronischen Lebererkrankungen (fulminante Hepatitis; Leberzirrhose), abgesehen von hepatozellulären Synthesedefekten mit eingeschränkter Bildung nahezu aller Gerinnungs- und Fibrinolysekomponenten, zu komplexen Hämosta- sestörungen führen können [1, 2]. Hämostasestörungen statt „Gerinnungsstörungen“ In Anbetracht der Zusammensetzung des Blutstillungsapparats mit seinen zellulären und plasmatischen Komponenten sollten wir korrekterweise von Hämostasestörungen spre- chen. Die häufig noch synonym verwendete Bezeichnung „Gerinnungsstörungen“ wird dieser Komplexität nicht gerecht, da plasmatische Hämostasestörungen eben nur einen Teil des Gesamtsystems darstellen. Diese Differenzierung hat auch unmittelbare diagno- stische und therapeutische Implikationen. Übersetzt in die klinische Praxis bedeutet dies: Mit routinemäßig durchgeführten Gerinnungssuchtests wie aktivierter partieller Throm- boplastinzeit (aPTT), Prothrombinzeit (nach Quick) bzw. INR, Fibrinogen und Thrombin- zeit werden lediglich plasmatische, aber eben nicht thrombozytäre Hämostasestörungen erfasst. Reine Gerinnungsstörungen sind im Gegensatz zur weit verbreiteten Auffassung selten und machen bei präoperativen unselektionierten Patienten weniger als 1% aus [3].

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Grundlagen der Hämostase: Physiologie, Pathophysiologie und klinisch-praktische Perspektiven

R. E. SchaRf

Einleitung

Mit dem Hämostasesystem hat die Natur einen komplexen, ausgeklügelten Apparat ent-wickelt, der dafür sorgt, dass wir nicht schon bei banalen Schnittverletzungen verbluten. Dies setzt voraus, dass das Blutstillungssystem bei Bedarf aktiviert und anschließend wieder inaktiviert wird. Hierzu bedarf es genau gesteuerter Regelkreise, die blutstillungs-fördernde und gegenläufige, also hämostasehemmende Prozesse in einem fein austarier-ten Gleichgewicht, der hämostatischen Balance, halten. Aber wie so viele biologische Systeme hat auch der Hämostasemechanismus seine Kehrseite: Wird die Blutstillung zur „falschen Zeit“ und am „falschen Ort“ in Gang gesetzt, kann eine Thrombose und bei Verschleppung thrombotischen Materials in andere Gefäßabschnitte eine Embolie resul-tieren. Dieser Beitrag befasst sich mit physiologischen, pathophysiologischen und klini-schen Aspekten der Hämostase.

Komponenten des Hämostasesystems

Die Blutstillung wird durch ein koordiniertes, empfindlich geregeltes Zusammenspiel aus zellulären und humoralen (plasmatischen) Komponenten gewährleistet. Hierzu zählen: • Gefäßwand: Endothel, Subendothel; Vasokonstriktion• Megakaryozyten-Thrombozyten-System• Gerinnungssystem: Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren (z.B. Antithrombin, Protein C

oder Protein S)• Fibrinolysesystem: Fibrinolysekomponenten und Inhibitoren (z.B. Antiplasmin).Zum Hämostaseapparat gehört aus physiologischer und pathophysiologischer Sicht auch das • Monozyten-Makrophagen- bzw. retikuloendotheliale System (RES).Im RES werden gealterte oder antikörperbeladene Plättchen (bei Immunthrombozytope-nien), aber auch aktivierte Gerinnungsfaktoren mit ihren Gegenspielern (z.B. Thrombin-Antithrombin-Komplexe) sowie Fibrinolysekomponenten und deren Degradationspro-dukte aus dem Kreislauf eliminiert. Klinisch relevant ist, dass Störungen der Clearance-funktion des RES bei akuten oder chronischen Lebererkrankungen (fulminante Hepatitis; Leberzirrhose), abgesehen von hepatozellulären Synthesedefekten mit eingeschränkter Bildung nahezu aller Gerinnungs- und Fibrinolysekomponenten, zu komplexen Hämosta-sestörungen führen können [1, 2].

Hämostasestörungen statt „Gerinnungsstörungen“In Anbetracht der Zusammensetzung des Blutstillungsapparats mit seinen zellulären und plasmatischen Komponenten sollten wir korrekterweise von Hämostasestörungen spre-chen. Die häufig noch synonym verwendete Bezeichnung „Gerinnungsstörungen“ wird dieser Komplexität nicht gerecht, da plasmatische Hämostasestörungen eben nur einen Teil des Gesamtsystems darstellen. Diese Differenzierung hat auch unmittelbare diagno-stische und therapeutische Implikationen. Übersetzt in die klinische Praxis bedeutet dies: Mit routinemäßig durchgeführten Gerinnungssuchtests wie aktivierter partieller Throm-boplastinzeit (aPTT), Prothrombinzeit (nach Quick) bzw. INR, Fibrinogen und Thrombin-zeit werden lediglich plasmatische, aber eben nicht thrombozytäre Hämostasestörungen erfasst. Reine Gerinnungsstörungen sind im Gegensatz zur weit verbreiteten Auffassung selten und machen bei präoperativen unselektionierten Patienten weniger als 1% aus [3].

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Hämostatisches Gleichgewicht

Unter physiologischen Bedingungen stehen hämostasefördernde und hämostasehemmen-de Vorgänge in einer fein austarierten Balance. Vereinfacht dargestellt (Abb. 1a), wirken Plättchenadhäsion, Plättchenaggregation und Fibrinbildung hämostasefördernd, Fibrino-lyse, antiaggregatorische Mechanismen und Inhibition der Fibrinbildung hingegen hämo-stasehemmend. Defizite, Defekte und genetisch determinierte Varianten plasmatischer oder zellulärer Hämostasekomponenten können zur Dysbalance führen und Blutungen oder Thrombosen hervorrufen. Dies lässt sich an der Thrombophilie veranschaulichen: angeborene oder erworbene Mangelzustande an Antithrombin, Protein C oder Protein S führen ebenso wie bestimmte Autoantikörper („Lupusantikoagulans“) beim Antiphos-pholipid-Syndrom zu einer prothrombotischen Verlagerung des hämostatischen Gleichge-wichts. Auch genetisch bedingte Punktmutationen bestimmter Gerinnungsfaktoren, z.B. die G20210A-Mutation von Prothrombin und die G1691A-Mutation von Faktor V (FV„Leiden“) können als gain-of-function mutations ein prokoagulatorisches Überge-wicht bedingen und Ursache venöser Thromboembolien sein. Umgekehrt kennen wir etliche genetische Defekte, die als loss-of-function mutations or deletions die Balance in Richtung hämorrhagische Diathese bzw. manifeste Blutung verschieben. Beispiele sind die Hämophilie A oder B und das angeborene von-Willebrand-Syndrom.

Abb. 1 (a) Hämostatische Balance und (b) Mechanismen bei primärer und sekundärer Hämostase.

Primäre Hämostase

Plättchen sind kernlose, zelluläre Elemente. Sie stammen aus dem Zytoplasma ihrer Vor-läuferzellen im Knochenmark, den Megakaryozyten. Nach Eintritt in die Blutbahn gewährleisten zirkulierende Plättchen die Integrität des Gefäßsystems. Unter physiologi-schen Bedingungen interagieren sie nicht mit der inneren Oberfläche intakter Gefäße. Werden Endothelien geschädigt und subendotheliale Matrix-Strukturen dem strömenden Blut exponiert, so reagieren zirkulierende Plättchen sofort: innerhalb von Millisekunden tritt eine Plättchenadhäsion an der Gefäßwandläsion auf [4,5]. Dieser Schritt ist gleicher-maßen kritisch für Hämostase und Thrombogenese, da Plättchenreaktionen nicht zwi-schen traumatischer und pathologischer Gefäßwandschädigung unterscheiden können [4]. Die physiologische Rolle der Plättchen besteht also in ihrer Funktion, durch Bildung eines hämostatischen Pfropfs die initiale Gefäßabdichtung mit nachfolgender Blutstillung zu vermitteln und zur Wundheilung beizutragen. Unter pathologischen Bedingungen können Plättchen okkludierende Thromben als Folge degenerativer oder entzündlicher Gefäßpro-zesse im Bereich arteriosklerotischer Läsionen hervorrufen.

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Primäre und sekundäre HämostaseDie Einteilung in primäre und sekundäre Hämostase folgt dem physiologischen Ablauf der Blutstillung (Abb. 1b). Während die erste Phase von thrombozytären Funktionsäuße-rungen (Adhäsion, Aktivierung und Aggregation der Plättchen) bestimmt wird und zur Bildung eines hämostatischen Pfropfs führt, tritt nachfolgend eine Aktivierung des Gerin-nungssystems auf (Thrombinbildung, Umwandlung von Fibrinogen in Fibrin). Unlösli-ches Fibrin umspannt den hämostatischen Propf wie ein Maschenwerk, stabilisiert das initial gefäßabdichtende Plättchenaggregat und verhindert sein Abreißen durch den Blut-strom. Eine effektive Blutstillung setzt das koordinierte Zusammenspiel zwischen primä-rer und sekundärer Hämostase voraus. Angeborene Defekte der primären und sekundären HämostaseUnsere Patienten lehren uns, dass beide Komponenten, die primäre ebenso wie die sekun-däre Hämostase, unerlässlich für eine intakte Blutstillung sind. Angeborene Defekte können hier quasi als Natur- oder „humane Knockout“-Modelle dienen. So bedingen hereditäre Plättchenfunktionsstörungen (Thrombozytopathien) mit defekter primärer Hämostase ebenso wie angeborene Mangelzustande bestimmter Gerinnungsfaktoren (F), etwa des FVIII oder FIX bei Hämophilie A oder B, mit defekter sekundärer Hämostase eine hämorrhagische Diathese, obgleich die jeweils andere Komponente des Hämostase-apparats intakt ist. Für die klinische Diagnostik relevant ist der unterschiedliche hämor-rhagische Phänotyp je nach Störung:• Petechien und mukokutane Blutungen mit unscharf begrenzten Hämatomen bei throm-

bozytären (oder seltenen vaskulären) Defekten, hingegen • scharf abgegrenzte Hämatome bei plasmatischen Hämostasestörungen, • typischerweise Gelenk- und Weichteileinblutungen bei Hämophilie. Ein weiteres Naturmodell stellt das angeborene von-Willebrand-Syndrom (s. unten) dar.

Rolle des von-Willebrand-Faktors Der von-Willebrand-Faktor (vWF) ist ein ungewöhnliches multimeres Adhäsivprotein. In Abhängigkeit von der Anzahl an Monomeren erreicht der vWF die enorme Molekülgröße von bis zu 20.000 kD. Es ist der größte lösliche Eiweißkörper im menschlichen Organis-mus und kann ein Plättchen in seiner Zirkumferenz umspannen. Der vWF ist ein multi-funktionelles Protein mit zentraler Rolle im Hämostasesystem. Die wichtigsten Funktio-nen des vWF sind:• Carrierfunktion durch Bindung von FVIII; hierdurch wird zirkulierender FVIII vor

vorzeitigem Abbau (z.B. durch das Protein C-System, s. unten) geschützt.• Vermittlung der Plättchenadhäsion ans Subendothel bei Gefäßläsionen; hierbei kommt

es nach Bindung des vWF an Kollagen zur spezifischen Interaktion über Glykoprotein (GP) Ibα, der Teil eines thrombozytären Adhäsionsrezeptors, des GPIb-IX-V-Komple-xes, ist.

• Vermittlung der Plättchenaggregation in Gefäßabschnitten mit hohen Scherraten (Mikrozirkulation, Arteriolen, arterielle Stenosen); hierbei wird vWF im Plasma über den thrombozytären GPIIb-IIIa-Rezeptor (Integrin αIIbβ3) gebunden.

Aus physiologischer und pathophysiologischer Sicht ist relevant, dass die vWF-Monome-re verschiedene funktionelle Domänen aufweisen, die spezifische Bindungsregionen für die Interaktion mit FVIII, Kollagen, GPIbα und GPIIb-IIIa darstellen. Hochmolekulare vWF-Multimere haben hohe hämostatische Kapazität, da sie - gegenüber niedermoleku-laren Formen - ein Vielfaches derartiger Bindungsstellen besitzen. Der vWF wird entwe-der ins Plasma freigesetzt (Konzentration 10 μg/ml) oder ist konstitutiv in Endothelzellen (Weibel-Palade Bodies) und Thrombozyten (α-Granula) gespeichert. Werden zirkulieren-

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de Plättchen aktiviert, sezernieren sie vWF. Pharmakologisch kann eine Freisetzung des vWF aus seinem endothelialen Speicherkompartiment durch Desmopressin, einem Vaso-pressin-Analogon, induziert werden.

Nach Sekretion des vWF in die Blutbahn wird das hochmolekulare Protein physiologi-scherweise durch eine spezifische Metalloprotease (ADAMTS13) degradiert. Fehlt diese Protease oder ist sie durch inaktivierende Antikörper ausgeschaltet, resultieren supranor-male vWF-Multimere, die zu arteriellen Thrombosen in der Mikrozirkulation führen können und z.B. bei thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura gefunden werden [6]. Vice versa, besteht bei abnormer Hämodynamik mit pathologisch erhöhten Scherkräf-ten, typischerweise bei hochgradiger Aortenklappenstenose, eine gesteigerte Empfind-lichkeit des vWF gegenüber ADAMTS13, so werden die hochmolekularen vWF-Multi-mere derart vermehrt degradiert, dass eine Blutungsneigung resultiert [7]. Dieses Beispiel illustriert, wie das hämostatische Gleichgewicht in beide Richtungen verschoben werden kann, diesmal über die „Stellgröße“ vWF-Multimere infolge fehlender oder erhöhter ADAMTS13-Aktivität. Quantitative oder qualitative Störungen des vWF rufen ein von-Willebrand-Syndrom (s. unten) hervor [8]. Initiale Plättchen-Gefäßwand-Interaktionen und konsekutive Thrombinbildung Wie dargestellt, werden zirkulierende Plättchen als Antwort auf eine Gefäßwandver let zung hin rekrutiert und stimuliert. Hierbei tritt eine Sequenz von Interaktions- und Akti vie-rungsschritten auf. Die folgende Numerierung (1-7) entspricht den Angaben in Abb. 2.

Abb. 2 Rekrutierung und Aktivierung zirkulierender Plättchen nach Gefäßwandläsion. Sequenz initialer Plättchenreaktionen und Mechanismen der primären (1-6) und sekundären Hämostase (7) bis zur Bildung eines Plättchen-Fibrin-Thrombus, der eine effektive Blutstillung gewährleistet (aus: Scharf [9]).

(1) Bei Freilegung des Subendothels adhärieren zirkulierende (ruhende) Plättchen sofort im Bereich der Gefäßverletzung. Bestandteile der extrazellulären Matrix sind ver-schiedene Kollagene und adhäsive Plasmaproteine wie von-Willebrand-Faktor (vWF) und Fibrinogen (Fg). Diese Adhäsivproteine werden an die extrazelluläre Matrix adsorbiert, somit immobilisiert. Dadurch erfahren sie spezifische Konformationsän-derungen, die ihrerseits Interaktionen mit ihren jeweiligen Rezeptoren auf der Plätt-chenoberfläche auslösen [4].

(2) Die korrespondierenden Plättchen-Rezeptoren sind: GPIbα im GPIb-IX-V Komplex mit einer essentiellen Bindungsstelle für vWF (gebunden an Kollagen); GPVI und GPIa-IIa (Integrin α2β1), die beide direkt mit Kollagen interagieren; und GPIIb-IIIa (Integrin αIIbβ3), das in seiner Ruheform lokal adsorbiertes Fibrinogen und Fibrin erkennt [10].

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(3) Infolge zahlreicher Rezeptor-Ligand-Interaktionen heften sich Plättchen an und wer-den durch ein von außen nach innen gerichtetes Signal („outside-in signaling“) akti-viert.

(4) Während nichtaktiviertes αIIbβ3 kaum lösliche Liganden zu binden vermag, werden nun aktivierte Rezeptor-Moleküle auf der zum Gefäßlumen hin gerichteten Plätt-chenoberfläche exprimiert und stellen so hochaffine Bindungsstellen für lösliche Plasmaproteine wie Fg, vWF, Thrombospondin (TSP), Vitronektin (Vn) und Fibro-nektin (Fn) dar [4, 10].

(5) Nachdem sich eine erste Schicht adhärierender und anschließend aktivierter Plättchen auf der thrombogenen Oberfläche gebildet hat, binden aktivierte αIIbβ3-Moleküle folglich adhäsive Plasmaliganden (in Abb. 2 am Beispiel von vWF und Fg veran-schaulicht).

(6) Die Plättchenaktivierung wird in vivo bei einer Gefäßwandverletzung also durch die Adhäsion direkt ausgelöst (s. Schritt 3). Sie wird wesentlich beschleunigt durch Ago-nisten wie ADP, Serotonin und Thromboxan A2 (TXA2), die aus stimulierten Plätt-chen freigesetzt werden. Außerdem kommt es bei der Aktivierung und Sekretion zur Expression von Neoepitopen auf der Plättchenoberfläche (in Abb. 2 am Beispiel von p-Selektin illustriert).

(7) Nach ihrer Aktivierung bieten die Plättchen eine katalytische Membranoberfläche für die Aktivierung von FX (Tenase-Komplex) und von FII (Prothrombinase-Komplex), die zu einer lokal begrenzten Bildung von Thrombin führt. Diese Thrombinmengen beschleunigen die Rekrutierung und Aktivierung zirkulierender Plättchen und ihre Einbeziehung in das Plättchenaggregat. Thrombin bewirkt zudem die Bildung von Fibrin (sekundäre Hämostase), die notwendig ist, um den hämostatischen Plättchen-pfropf bzw. Thrombus zu stabilisieren. Die Verfestigung des Plättchen-Fibrin-Throm-bus („clot retraction“) ist essentiell, um seine Ablösung durch hämodynamische Kräfte zu verhindern [4, 10, 11].

Plasmatische Hämostase (Gerinnung) und Fibrinolyse

Das vor ca. 50 Jahren formulierte Kaskadensystem der Blutgerinnung hat auch heute noch Bestand (Abb. 3). Analog zur Gerinnung läuft über eine mechanistisch ähnliche Protea-senkaskade die Aktivierung der Fibrinolyse ab. Direkte Querbeziehungen zwischen Gerinnung und Fibrinolyse gewährleisten unter physiologischen Bedingungen eine pha-sengerechte Regulation der Hämostasekinetik [12]. Hierbei nimmt Thrombin eine zentra-le Rolle ein (Abb. 5).

Bleibt die Gefäßläsion nicht auf einen Endotheldefekt mit Freilegung subendothelialer Strukturen beschränkt (Abb. 2), sondern reicht in tiefere Schichten (glatte Gefäßmuskel-zellen, Fibroblasten), wird Tissue Factor (TF), früher Gewebsthromboplastin genannt, freigesetzt. TF stellt den hochaffinen Rezeptor für FVII/VIIa dar. FX als Substrat wird durch diesen Enzymkomplex (extrinsische Tenase) aktiviert (FXa). In Folge bindet FXa in enger Nachbarschaft an seinen membranassoziierten Partner FVa, der auch von Plätt-chen und Endothelzellen bereitgestellt wird. Nur in dieser Konstellation wird Prothrom-bin (FII) durch den Prothrombinasekomplex aktiviert. Hierbei entstehen zunächst nur minimale Konzentrationen an Thrombin. Erst über positive Thrombin-induzierte Rück-kopplungsschleifen (FV→FVa; FVIII→FVIIIa) und Verstärkermechanismen über den intrinsischen Teil der Gerinnungskaskade (FIX→FIXa) kommt es zur explosionsartigen Beschleunigung der Thrombinbildung („thrombin burst“).

Gerinnungsaktivierung, Amplifikation und Propagierung laufen nicht „frei im Plasma“ ab, sondern auf der Oberfläche aktivierter Thrombozyten. Ihre Plasmamembran erfährt bei Plättchenstimulaltion eine Umverteilung, bei der bestimmte Phospholipide (PL)

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enzymgetrieben (Floppase) von innen nach außen wechseln („flip-flop“) und nun eine katalytische Oberfläche („platelet procoagulant activity“) für Gerinnungsfaktoren bieten. Die Bildung des Tenase- (FIXa-FVIIIa-Ca2+-PL) und Prothrombinase-Komplexes (FXa-Va-Ca2+-PL) und die sterisch optimale Anlagerung der Reaktionspartner auf der gleichen Oberfläche beschleunigt die katalytischen Prozesse dramatisch und steigert die Throm-binbildung mehr als 300.000fach.

Vitamin Kabhängige γ-Carboxylierung. Voraussetzung für die Ca2+-abhängige spezifi-sche Bindung an negativ geladene Phospholipide (PL) auf Zelloberflächen sind kalzium-bindende Domänen der Gerinnungsfaktoren. Dies setzt negativ geladene Gruppen voraus, die für die Vitamin K-abhängigen Faktoren (FII, FVII, FIX, FX) und Inhibitoren (Protein C, Protein S) durch eine γ-Carboxylierung (=Einführung einer COO–-Gruppe) endständi-ger Glutaminsäurereste und für andere Gerinnungsfaktoren durch posttranslationale Modifikationen erreicht werden. Unterbleibt die γ-Carboxylierung bei Vitamin K-Man-gel, werden funktionell defekte FII, FVII, FIX und FX synthetisiert, sog. PIVKA („pro-teins induced by vitamin K absence“), die Gerinnungsaktivierung ist gehemmt. Hierauf basiert die pharmakologische Hemmung durch orale Vitamin K-Antagonisten (VKA). Klinisch relevant ist die Kenntnis der Halbwertszeiten (HWZ) Vitamin K-abhängiger Gerinnungsfaktoren (FVII 2-5h, FIX 20-24h, FX 32-48h, FII 48-120h) im Vergleich zu nicht Vitamin K-abhängigen Faktoren (FV 15-36h, FVIII:C 9-18h, XI 40-80h, Fibrinogen (FI) 72-96h und FXIII 12 Tage) [13]. Änderungen der FVII-Aktivität zeigen also am empfindlichsten einen Vitamin K-Effekt bzw. -Antagonismus (bei oraler Antikoagulation mit VKA) an. Da die Gerinnungsfaktoren und ihre Inhibitoren ebenso wie die Fibrinoly-sekomponenten und ihre Gegenspieler in der Leber synthetisiert werden, ist die Bestim-mung der Prothrombinzeit (nach Quick) ein sensitiver Indikator der hepatozellulären Synthesekapazität, vorausgesetzt, dass kein Vitamin K-Mangel vorliegt. Zur Differential-diagnose Synthesedefekt vs. Vitamin K-Mangel eignet sich die Aktivitätsbestimmung nicht Vitamin K-abhängiger Komponenten wie FV oder Antithrombin. Für Protein C (PC) beträgt die HWZ 10h, für aktiviertes PC < 25 min.

Abb. 3 Initiierung, Amplifikation und Propagierung der Gerinnungskaskade. Entscheidend für die Initiie-rung ist die extrinsische Aktivierung von FVII durch Bindung an TF, der den Rezeptor für FVII und FVIIa darstellt. Für die Amplifizierung und Propagierung sind Verstärkermechanismen (FVa, FVIIIa, FIXa) essentiell. Erst sie gewährleisten eine explosionsartige Beschleunigung der Thrombinbildung („burst“).

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Neuere Modelluntersuchungen zeigen, dass auch ohne Endothelschädigung oder Gefäß-wandläsion eine Initiierung der Gerinnung über den extrinsischen Weg durch TF aus Monozyten oder in Assoziation mit zellulären Mikropartikeln ausgelöst werden kann [14]. Dies erklärt klinische Befunde einer intravaskulären Aktivierung des plasmatischen Hämostasesystems, etwa bei Bakteriämien oder Sepsis. Diagnostisch läßt sich hierbei mittels Durchflusszytometrie ein erhöhter Gehalt an Plättchen-Leukozyten-Konjugaten nachweisen [15].

Faktor XII. Aktuelle tierexperimentelle und klinische Studien belegen, dass FXII keine Rolle für die Blutstillung spielt. Zwar führt FXII-Mangel zu einer deutlich verlängerten aPTT, verursacht jedoch keine Blutungen. Hingegen zeigt sich im Knockout-Modell FXII-defizienter Mäuse (FXII-/-), dass diese Tiere einen schweren Defekt der arteriellen Thrombusbildung haben. Für die Thrombusstabilisierung dürfte eine FXII-getriebene Bildung ausreichender Mengen an Fibrin essentiell ist sein [16]. Damit wäre FXII eine ideale pharmakologische Zielstruktur, um die arterielle Thrombogenese selektiv zu blok-kieren, ohne die physiologische Blutstillung zu beeinträchtigen. Allen bislang verfügba-ren Antithrombotika (ob mit antikoagulatorischem oder antithrombozytärem Wirkmecha-nismus) haftet der gravierende Nachteil an, dass ihre antithrombotische Potenz um den Preis erhöhter Blutungsraten und -komplikationen erkauft wird [17]. Nunmehr eröffnet sich die Perspektive, dieses Dilemma über eine selektive FXII-Blockade zu lösen [18]. Ob FXII-Mangel auch beim Menschen vor arteriellen Thromboembolien schützt, ist gegen-wärtig Gegenstand klinischer Studien.

Fibrinolyse. Parallel zur Bildung von Fibrin (Abb. 3) und eines Fibrinnetzwerks (Abb. 1), (das das Plättchenaggregat gegenüber der Blutströmung stabilisiert), wird der Abbau dieses Fibrins initiiert. Entscheidend für die Kinetik der physiologischen Fibrinolyse ist ihr verzögerter Beginn [12]. Der durch verschiedene Agonisten (u.a. Thrombin) aus Endothelzellen freigesetzte tissue-type Plasminogen-Aktivator (t-PA) bindet gemeinsam mit Plasminogen an entstandenes Fibrin. Hierdurch wird eine Fibrin-abhängige Proteo-lyse erreicht. Ein lokal geformter Multikomponenten-Enzymkomplex aus t-PA (Enzym), Plasminogen (Substrat) und Fibrin (Kofaktor) katalysiert die Bildung von Plasmin, dem Schlüsselenzym der Fibrinolyse.

Abb. 4 Aktivierung der Fibrinolyse und Bildung Plasmin-induzierter Fibrin-Spaltprodukte.

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Plasmin spaltet Fibrin an definierten Molekülabschnitten; es entstehen Fibrinfragmente, die ihrerseits profibrinolytisch wirken und die Polymerisation von Fibrin durch FXIII hemmen. Typische Plasmin-induzierte Degradationsprodukte sind D-Dimere (Abb. 4), mit fortschreitender Gerinnselauflösung auch quervernetzte D-Dimere. Sie können dia-gnostisch als empfindlicher Indikator einer Thrombusbildung herangezogen werden, sind aber keineswegs thrombosespezifisch, sondern werden postoperativ und bei einer Viel-zahl klinischer Zustände und Erkrankungen (Blutungen, Trauma, Tumorkrankheit, Ent-zündungen, Schwangerschaft) erhöht gefunden. Die Bestimmung der D-Dimere eignet sich also weniger für den Nachweis als vielmehr für den Ausschluss venöser Thrombo-embolien, da das Verfahren hohe Sensitivität und hohen negativen prädiktiven Wert hat [19]. Plasmin-induzierten Fibrinfragmente besitzen C-terminale Lysinreste, die über Wechselwirkungen der Lysinbindungsstellen von Plasminogen und t-PA die Interaktion des Multienzymkomplexes mit dem Gerinnsel verstärken und so zur Amplifikation und Propagierung der Fibrinolyse führen [12]. Unter physiologischen Bedingungen bleibt die Plasminbildung aber lokal limitiert, da eine effektive Plasminogenaktivierung durch t-PA nur nach Bindung an Fibrin erreicht wird. Eine systemische Plasminämie wird außerdem durch regulatorische Mechanismen und Gegenspieler verhindert. Hierzu zählen: TAFI, ein Thrombin-aktivierbarer Fibrinolyse-Inhibitor, PAI-1, ein Plasminogen-Aktivator-Inhibitor, und α2-Antiplasmin mit Bildung von Plasmin-Antiplasmin (PAP)-Komplexen. Klinisch relevant ist, dass Mangelzustände an Plasminogen oder t-PA bzw. Mutationen dieser Komponenten (z.B. in ihren Lysinbindungsstellen) zur Hypofibrinolyse führen und dadurch eine Thromboseneigung begünstigen können. Umgekehrt kennen wir etli-che klinische Situationen, in denen bei initial überschießender oder persistierender Akti-vierung der Hämostase (z.B. Polytrauma, Sepsis) eine reaktive Hyperfibrinolyse ausge-löst werden kann. Typisch ist eine solche reaktive Hyperfibrinolyse in der Phase der Plasminämie bei DIC (Tabelle 1). Demgegenüber sind primäre Hyperfibrinolysen (infolge massiver Freisetzung von Plas-minogenaktivatoren ohne vorausgehende Hämostaseaktivierung und Thrombenbildung) vergleichsweise selten. Sie treten präferentiell auf als postpartale oder intraoperative Komplikationen, etwa beim Prostatakarzinom mit Freisetzung von Plasminogenaktivato-ren vom Urokinasetyp (u-PA), sowie als Paraneoplasie, etwa bei Promyelozytenleukämie. Pathologisch gesteigerte Fibrinolysen führen zur Degradation von Fibrinogen mit ausge-prägter Hypofibrinogenämie und deutlichem Anstieg Plasmin-induzierter Fibrinogen-spaltprodukte.

Stadien Laboratoriumsbefunde

HyperkoagulabilitätStadium I Abfall der Thrombozyten, Verkürzung von aPTT und TZ

Phase der DICStadium II

Zunahme des Thrombozytenabfalls, aPTT und TZ normal bis verlängert, RZ verlängert, FSP nachweisbar, Abfall von Quickwert und Einzelfaktoren

PlasminämieStadium III

aPTT, TZ und RZ deutlich verlängert, weiterer Abfall von Quickwert und Einzelfaktoren, insbesondere von Fibrinogen, FSP deutlich erhöht

DekompensationStadium IV

Massive Thrombozytopenie, Hypofibrinogenämie, Quickwert und Einzelfak-toren drastisch erniedrigt

Tab. 1 Stadien und Befundkonstellationen bei disseminierter intravasaler Gerinnung (DIC). Beachte, dass diese Phasen mit unterschiedlicher Dynamik ablaufen können. RZ=Reptilasezeit, FSP= Fibrin- und Fibrinogen-spaltprodukte.

Kontrolle von Gerinnung und Fibrinolyse durch negative Feedback-MechanismenThrombin nimmt im Hämostasesystem eine zentrale Rolle ein als (i) Schlüsselschlüssel-enzym für die Gerinnselbildung (Umwandlung löslichen Fibrinogens in unlösliches

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Fibrin), als (ii) Stimulator der genannten Amplifikationsmechanismen, als (iii) einziger Gerinnungsfaktor, der Thrombozyten aktiviert und als (iv) Induktor der Fibrinolyse. Wie gelingt es dem Organismus, die Thrombinbildung zu steuern, lokal zu limitieren und den Thrombin-„Burst“ einzudämmen? Gegenspieler des gerinnungsaktiven Thrombins ist zum einen Antithrombin (AT). Durch Bildung von Thrombin-Antithrombin (TAT)-Komplexen wird lösliches, gerinnungsaktives Thrombin inhibiert. Diese Hemmung reicht aber keineswegs aus. Um Thrombin zu eliminieren, seine prokoagulatorischen Effekte „abzuschalten“ und nach erfolgter Blutstillung das hämostatische Gleichgewicht wieder-herzustellen, hat die Natur mit dem Thrombomodulin- und Protein C-System ausgeklü-gelte Mechanismen entwickelt. Sie bedingen eine Produkthemmung der Thrombinbildung und initiieren eine intrinsische Antikoagulation.

Thrombomodulin (TM) ist ein endothelialer Rezeptor, der mit hoher Affinität freies, gerinnungsaktives Thrombin bindet. Hierdurch verliert Thrombin seine prokoagulato-rische Wirkung. Der entstandene Thrombin-Thrombomodulin-Komplex katalysiert zugleich die Umwandlung von zirkulierendem (inaktiven) Protein C in aktiviertes Protein C (APC). Nach Bindung an TM erlangt Thrombin also neue Substratspezifität (Abb. 5). Das Protein C-System basiert (wie das Gerinnungssystem) auf der regulierten Aktivie-rung von Serinproteasen. Nach Umwandlung von Protein C in aktiviertes Protein C (APC) hemmt APC in Gegenwart seines Kofaktors Protein S die aktivierten Gerinnungs-faktoren V (FVa) und VIII (FVIIIa). APC wirkt also wie ein intrinsisches Antikoagulans. Hierbei werden FVa und FVIIIa durch spezifische Proteolyse inaktiviert; FVa wird u.a. durch Spaltung an Arg506 und Arg306 degradiert. Punktmutationen an diesen Positionen verzögern den Abbau, somit die FVa-Inaktivierung und induzieren eine prothromboti-schen Zustand (s. APC-Resistenz).

Abb. 5 Thrombomodulin (TM)- und Protein C (PC)-System. Der TM-Rezeptor wirkt wie ein Schalter, der bei Bindung von Thrombin dessen Substratspezifität ändert: das Prokoagulans induziert über Aktivierung von PC einen intrinsischen Antikoagulationsmechanismus. TM fungiert wie eine Drehtüre für Thrombin (Inset).

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Thrombophile Diathesen

Angeborene Mangelzustände an Antithrombin (AT), Protein (PC) oder Protein(PS) sind Ursache eine familiären Thrombophilie [20, 21]. Die Prävalenz dieser hereditären Defekte in der Normalbevölkerung ist selten und beträgt für AT-Mangel <1%, für PC-Mangel 0.3% und für PS-Mangel <1% [22]. Unterschieden werden Typ I- (Aktivität und Konzentration vermindert) und Typ II-Mangelzustände (Aktivität bei normaler Konzen-tration reduziert). Bei diesen Defekten kann sich eine venöse Thromboembolie (VTE) bereits vor dem 20. Lebensjahr manifestieren. AT-Mangel stellt in ca. 1-2% aller Fälle die Ursache dar [22, 25].

Resistenz gegenüber aktivierten Protein C (APC-Resistenz)APC wirkt, wie oben erläutert (Abb. 5), als endogenes Antikoagulans. Dies läßt sich auch in vitro simulieren: Zusatz von APC in steigender Konzentration zu einer Plasmaprobe ruft eine linear zunehmende Verlängerung z.B. der APTT hervor. 1993 identifizierten Dahlbäck et al. einen Patienten, dessen Plasma nicht mit adäquater Verlängerung seiner Gerinnungszeit auf APC-Zugabe reagierte und bezeichneten dieses abnorme Verhalten als Resistenz gegenüber APC [23]. Ursache der APC-Resistenz ist eine Punktmutation im Faktor V-Gen, die nach ihrer Erstbeschreibung (in Leiden, NL) FV „Leiden“-Mutation genannt wird [24].

Abb. 6 Mutierter Faktor V (FV „Leiden“). Primärstruktur des FV-Moleküls mit Substitution von Arginin (Arg) durch Glutamin (Gln) an Position 506 infolge der G1691A-Mutation des FV kodierenden Gens.

Faktor V „Leiden“-MutationDie Punktmutation im Faktor V kodierenden Gen mit Substitution von Guanin durch Adenin (G1691A) bedingt im FV-Molekül einen Austausch von Arginin gegen Glutamin an Position 506 (Abb. 6). Hierdurch resultiert ein funktionell abnormer FV, der im Ver-gleich zu nichtmutiertem FVa 10fach langsamer durch APC inaktiviert wird (Abb. 7). Infolgedessen wird das Gleichgewicht im Hämostasesystem in prothrombotischer Rich-tung verlagert. Die Prävalenz dieser gain-of-function-Mutation liegt in der westeuropä-ischen Bevölkerung bei 5-8% [25]. Bei unselektionierten Patienten mit venösen Throm-bosen läßt sich in 20-25% und bei Patienten mit familiärer Thrombophilie in ca. 50% eine FV „Leiden“-Mutation nachweisen [22, 25]. Bei heterozygoten Merkmalsträgern ist das venöse Thromboserisiko 5fach, bei homozygoten Individuen gar 50fach erhöht. Faktor II (Prothrombin) G20210A-MutationEin Basenaustausch (G→A) an Position 20210 in der nichttranslatierten 3’-UT-Region des Prothrombin-Gens führt zu erhöhten Prothrombin-Spiegeln [26]. Diese gain-of-function-Mutation ist mit einer Prävalenz von 2-3% in der westeuropäischen Bevölkerung ebenfalls häufig. Merkmalsträger haben ein etwa 3fach erhöhtes venöses Thromboserisi-ko. Bei ca. 6% aller Patienten mit venösen Thromboembolien läßt sich diese Variante nachweisen [22, 25].

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Weitere genetisch determinierte RisikofaktorenDer Deletions-/Insertions-Polymorphismus (4G/5G) im Plasminogen-Aktivator-Inhibitor-1-Gen beeinflußt die PAI-1-Synthese: 4G/4G- und 4G/5G-Genotypen sind mit erhöhten PAI-1-Spiegeln assoziiert [27]. Allerdings ist die Datenlage zu dem damit verbundenen Thromboserisiko keineswegs eindeutig [28]. Der homozygote 677TT-Genotyp der Methylentetrahydrofolat-Reduktase kann zu Hyperhomocysteinämie führen und mit erhöhter Thromboserate verbunden sein [25, 29]. Die Prävalenz dieser thermolabilen Enzymvariante liegt bei 10% [25]. Träger einer Mutation der Fibrinogen-Gammakette (C10034T-Variante) haben ein etwa 2fach erhöhtes Thromboserisiko [25]. Auch funktio-nell abnorme Fibrinogene (Dysfibrinogenämien) können Ursache venöser Thromboem-bolien (VTE) sein (Tab. 2).

Abb. 7 Primärstruktur des Faktors V (FV), trombininduzierte Aktivierung (FVa) und APC-vermittelte Inaktivierung (FVi). Bei seiner Inaktivierung durch APC wird das Faktor V-Molekül an spezifischen Positio-nen degradiert. Eine der Spaltstellen ist die Position 506. Mutierter Faktor Va (FV „Leiden“) wird 10fach lang-samer inaktiviert als nichtmutierter FVa. APC=aktiviertes Protein C.

Genetische KombinationsdefekteIm Vergleich zu den angeborenen Mangelzuständen (Antithrombin, Protein C, Protein S), die Hochrisikofaktoren einer VTE darstellen, ist die Thrombosegefährdung bei einer Fak-tor V „Leiden“- oder Prothrombin G20210A-Mutation auf Grund zahlreicher epidemio-logischer Studien eher moderat [25]. Dies gilt aber nur, solange keine genetischen Kom-binationsdefekte vorliegen und keine expositionellen Risikokonstellationen hinzutreten. Allein auf Grund der hohen Prävalenzen der FV „Leiden“- und Prothrombin-Mutation ergibt sich eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass beide Varianten bei einzelnen Individuen in Kombination auftreten. Heterozygote Merkmalsträger beider Mutationen haben bereits ein 20fach gesteigertes Thromboserisiko im Vergleich zu Individuen ohne FV „Leiden“- oder Prothrombin-Mutation.

ThrombophilieAls übergeordnete Bezeichnung einer Thromboseneigung wurde 1952 von Rudolf Marx - in Analogie zur Hämophilie - der heute international übliche Begriff Thrombophilie eingeführt. Dieser primär klinisch geprägte Terminus läßt sich nunmehr durch entspre-chende laboranalytische Korrelate, vor allem durch die Identifikation genetisch determi-nierter Varianten plasmatischer und thrombozytärer Hämostasekomponenten belegen und, bezogen auf den einzelnen Patienten, als individuelles Risikoprofil definieren.

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Aktuelle Konzepte zur Entstehung venöser Thrombosen Die Entstehung tiefer Venenthrombosen wird heute multikausal und multifaktoriell gese-hen. Hierbei können unspezifische Gefährdungspotentiale (Alter, Übergewicht, Bewe-gungsmangel), expositionelle Risikokonstellationen (Immobilisation, Operationen, orale Kontrazeption, Hormonersatztherapie), dispositionelle, also genetisch bedingte Risiko-faktoren, und Risikodeterminanten, die erworben oder hereditär sind, zusammenwirken (Tabelle 2). Neben bestimmten Krankheitsbildern, die geradezu regelhaft mit venösen Thromboembolien assoziiert sein können, etwa Antiphospholipid-Syndrom, solide Tumo-ren (Hirntumoren, Tumoren des Magen-Darm-Trakts und Bronchialsystems) und häma-tologische Malignome (aus dem Formenkreis der myeloproliferativen Syndrome) zählen auch Schwangerschaft und Wochenbettphase zu einer Risikokonstellation mit signifikant erhöhter Thrombosegefährdung.

Erworben (“expositionell”) Hereditär (“dispositionell”) Erworben o. hereditär

Alter (> 60 Jahre) G1691A-Mutation im F V-Gen(Faktor V „Leiden“) Hyperhomocysteinämie

Immobilisation G20210A-Mutation im F II-Gen(Prothrombin-Mutation)

Erhöhte Aktivitäten / Konzentra-tionen von:

Operationen 4G/5G Mutation im PAI-1-Gen(4G/5G-Deletion/Insertion) Faktor I (Fibrinogen)

Pille und Hormonersatztherapie C677T-Mutation im MTHFR-Gen Faktor II

Schwangerschaft und Wochenbett C10034T-Mutation im Fg-γ-Gen Faktor VII

Thrombosen in der Vorgeschichte Antithrombin-Mangel Faktor VIII:C

Tumorkrankheit Protein C-Mangel Faktor IX

Antiphospholipid-Syndrom Protein S-Mangel Faktor XI

Myeloproliferative Syndrome Dysfibrinogenämie von-Willebrand-Faktor

Tab. 2 Risikokonstellationen und Risikodeterminanten bei venöser Thrombogenese. Bei den meisten Patien ten wird eine venöse Thrombose erst durch das Zusammentreffen expositioneller und dispositioneller Risiken ausgelöst (aus: Scharf et al. [29]). Fg-γ=Fibrinogen-Gamma-Kette, MTHFR=Methylentetrahydrofolat-Reduktase, PAI-1=Plasminogen-Aktivator-Inhibitor 1.

Ursachen der venösen Thrombogenese können Veränderungen des Blutflusses (Stase), Veränderungen der Venenwandung (Entzündungsprozesse) oder Veränderungen der „Blutzusammensetzung“ mit gesteigerter Gerinnungsneigung (Hyperkoagulabilität) sein. Diese Virchowsche Trias ist unvermindert aktuell und hat durch Aufklärung molekularer Mechanismen, die eine Hyperkoagulabilität hervorrufen, ihre Bestätigung erfahren. Gewichtung genetischer RisikofaktorenKongenitale Mangelzustände an Antithrombin, Protein C oder Protein S bedingen ein hohes Thromboserisiko [25]. Demgegenüber ist dieses Risiko bei heterozygoter Faktor V „Leiden“- oder Prothrombin G20210A-Mutation moderat. Die Präsenz eines hereditären Risikofaktors allein löst keinesfalls eine tiefe Venenthrombose aus. Basierend auf der Virchowschen Trias beruht die Ätiologie venöser Thromboembolien nach aktuellem Ver-ständnis vielmehr auf dem multifaktoriellen und multikausalen Zusammenwirken erwor-bener und genetischer Risikofaktoren und daraus resultierender Gefährdungspotentiale. Exemplarisch für diesen Synergismus ist die Interaktion zwischen genetischen Risikofak-toren und Schwangerschaft. Rolle genetische Risikofaktoren am Beispiel der Schwangerschafts-ThrombosenBei Patientinnen mit venöser Thromboembolie (VTE) während vorausgegangener Schwangerschaft haben wir die Prävalenzen genetischer Risikofaktoren ermittelt [30]: eine Faktor V „Leiden“-Mutation bestand bei 43.7% der Patientinnen mit VTE gegenüber

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7.7% bei gesunden Frauen (rel. Risiko 9.3), eine Prothrombin-Mutation bei 17% der Patientinnen gegenüber 1.3% (rel. Risiko 15.2). Die Kombination beider Mutationen wurde bei 9.3% der Patientinnen, hingegen bei keiner Frau ohne VTE gefunden (geschätz-tes rel. Risiko 107). Diese Daten lieferten die Grundlage, erstmals eine statistisch gesi-cherte Abschätzung der individuellen Thrombosegefährdung während Schwangerschaft und Puerperium vorzunehmen (Tabelle 3).

Konstellation Thromboserisiko

Kein genetischer Risikofaktor 0.07 % 1:1500

Faktor V „Leiden“-Mutation (heterozygot) 0.25 % 1:400

Prothrombin G20210A-Mutation (heterozygot) 0.33 % 1:300

Faktor V „Leiden“- und Prothrombin G20210-Mutation (jeweils heterozygot) in Kombination 5.0 % 1:20

Tab. 3 Thromboserisiko in der Schwangerschaft und Postpartalphase bei genetisch determinierten thrombophilen Einzel- oder Kombinationsdefekten. Statistisch gesicherte Abschätzung der Thrombosege-fährdung (aus Gerhardt et al. [30]).

Liegt kein genetisch determinierter thrombophiler Risikofaktor vor, ist von einer Throm-boseinzidenz von 1:1500 Schwangerschaften auszugehen. Bei heterozygotem Faktor V „Leiden“ oder heterozygoter Prothrombin G20210A-Mutation muss mit 1 Thrombose auf 400 bzw. 300 Schwangerschaften gerechnet werden. Das absolute Thromboserisiko ist also niedrig. Hingegen steigt bei kombiniertem Vorliegen beider thrombophiler Mutatio-nen in heterozygoter Konstellation das Thromboserisiko überproportional auf ca. 1 thromboembolisches Ereignis bei jeder 20. Schwangerschaft an (Tabelle 3). Die Interak-tion mehrerer Risikofaktoren wirkt sich also nicht additiv, sondern multiplikativ auf das Thromboserisiko aus. Angesichts der hohen Prävalenz kombinierter Defekte von ca. 1 auf 1000 Individuen hat dieses Ergebnis besondere Relevanz. Zugleich stützen die Resultate das Konzept einer multikausalen Genese schwangerschaftsassoziierter Thrombosen als Folge einer Interaktion kombinierter Defekte bzw. als Folge des Zusammentreffens expo-sitioneller und dispositioneller Risiken.

Hämorrhagische Diathesen

Angeborene Thrombozytopathien und hereditäre Mangelzustände bestimmter Gerin-nungsfaktoren sind Raritäten und spielen im klinischen Alltag (außerhalb spezialisierter Zentren) eine untergeordnete Rolle. Anders verhält es sich mit dem von-Willebrand-Syndrom, der häufigsten vererbbaren Bluterkrankheit (Prävalenz 0.8 bis 1.3%). Neben hereditären Formen werden zunehmend Patienten mit erworbenem von-Willebrand-Syndrom diagnostiziert, z. B. bei Aortenklappenstenose (s. oben).

Das von-Willebrand-Syndrom (vWS) wird die durch quantitative und/oder qualitative Veränderungen des von-Willebrand-Faktors (vWF) hervorgerufen. Pathophysiologisch können Defizienz oder Defekt des vWF je nach Art und Schweregrad eine Erniedrigung der FVIII:C-Aktivität und Störungen der Plättchenadhäsion und -aggregation bedingen (s. oben). Definitionsgemäß handelt es sich um einen plasmatischen Hämostasedefekt, der klinische Phänotyp entspricht aber einer Plättchenfunktionsstörung (Schleimhautblutun-gen, Petechien, Neigung zu Hämatomen). Zur Klassifikation werden quantitative Störun-gen (Typ 1: vWF vermindert; Typ 3: vWF nahezu fehlend) und qualitative Defekte (Typ 2 mit zahlreichen Varianten) unterschieden [8]. Kritisch kann gerade ein mildes vWS Typ 1 sein, das unter Alltagsbedingungen symptomarm verläuft, aber bereits z.B. bei Zahnextraktion zu erheblicher Blutung führt. Diagnostisch ergibt sich zudem das Pro-blem, dass mit üblichen Suchtests ein vWS nicht ausreichend erfasst wird: weder eine

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normale aPTT noch ein normaler FVIII:C schließen ein vWS aus. Erforderlich ist ein Hämostaseprofil mit Bestimmung der In-vitro-Blutungszeit (PFA-Technik) sowie der Aktivität und Konzentration des vWF. Eine exakte Klassifikation macht Zusatz- und Spe-zialuntersuchungen (z.B. vWF-Multimeranalyse) erforderlich. Prophylaxe und Akutbe-handlung: Desmopressin (DDAVP, Minirin®) bei Typ 1, vWF-haltige Plasmakonzentrate (Haemate P®) bei Typ 2 und Typ 3. Zusätzliche Gabe eines Antifibrinolytikums (Tra-nexamsäure, Cyklokapron®). Zu Einzelheiten wird auf Übersichten [5, 8] verwiesen. Primäre HämostasestörungenHauptursache unerwarteter Blutungskomplikationen in der klinischen Praxis sind - außer dem von-Willebrand-Syndrom - erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen [9]. Sie sind am häufigsten medikamentös bedingt [3, 5]. Der pharmakologische Wirkmechanis-mus der wichtigsten antithrombozytären Substanzen ist in Abb. 8 schematisch dargestellt. Neben den „Klassikern“ wie Azetylsalizylsäure (ASS), Thienopyridinen (Clopidogrel, z.B. Iscover®, Plavix®; Prasugrel, z.B. Efient®; Ticlopidin, z.B. Tiklyd®), der Vielzahl nichtsteroidaler Antirheumatika und den GPIIb-IIIa-Rezeptorantagonisten sind für über 250 Pharmaka, Nahrungsmittel, Gewürze, Diäten und Vitamine Hemmeffekte auf die Plättchenfunktion bekannt.

Abb. 8 Plättchenfunktionshemmende Substanzen und ihr Wirkmechanismus (aus: Scharf [9]).

Nicht unterschätzt werden sollte die antithrombozytäre Wirkung von β-Laktam-Typ-Antibiotika (z.B. Penicilline und Cephalosporine). Sie können Blutungen verstärken oder auslösen. Dies gilt insbesondere bei kritisch Kranken mit latenten Hämostasestörungen, die kompensiert bleiben, solange die Plättchenfunktion nicht medikamentös beeinträch-tigt wird. Neben pharmakologischen Effekten sind es bestimmte Erkrankungen, die häu-fig mit Hämostasestörungen einhergehen und zu Blutungen führen. Hierzu zählen:

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• Urämie, bei der kleine toxische Stoffwechselprodukte mit plättchenfunktionshemmen-der Wirkung vorhanden sind [9];

• Leberzirrhose, bei der schwere Blutungen auftreten, wenn verminderte Aktivitäten der Gerinnungsfaktoren, Dysfibrinogenämie, Thrombozytopenie und Plättchenfunktions-defekte gleichzeitig auftreten und durch gestörte Clearancefunktion des retikuloendo-thelialen Systems noch aggraviert werden können [1, 3];

• akute Leukämien, myeloproliferative und myelodysplastische Syndrome mit dys-funktionellen Plättchenpopulationen (infolge klonaler Proliferation abnormer Megaka-ryozyten) [9];

• monoklonale Gammopathien und antithrombozytäre Autoantikörper [9]; • kardiopulmonaler Bypass und Hämodialyse, bei denen die Thrombozyten künstli-

chen Oberflächen ausgesetzt werden mit dem Resultat einer Aktivierung und Degranu-lierung zirkulierender Plättchen („exhausted platelets“) [1, 9].

Zur Häufigkeit primärer Hämostasedefekte sind die Ergebnisse der eingangs zitierten prospektiven Studie von Koscielny et al. aufschlussreich [3]. Diese Autoren untersuchten über 5600 konsekutive (unselektionierte) Patienten (Alter: 17-87 Jahre) vor elektiven Operationen (Fragebogen zur Blutungsanamnese und standardisiertes Test-Panel zum Hämostase-Screening einschließlich In-vitro-Blutungszeit-Bestimmung mittels PFA-100). Eine negative Blutungsanamnese hatten 89% der Patienten, in der Gruppe mit Blutungsanamnese (11%) war bei 256 von 628 Patienten das Labor-Screening auf einen Hämostasedefekt positiv (41%).

Die detaillierte Untersuchung dieser 256 Patienten ergab Plättchenfunktionsdefekte in 73%, Koagulopathien in 0.8% und kombinierte Hämostasestörungen in 26.2% (mit einem hohen Anteil an Patienten mit von-Willebrand-Syndrom). Unter 187 Patienten mit primä-ren Hämostasedefekten fand sich bei 87% eine Medikamenten-induzierte Plättchenfunk-tionsstörung [3]. Diese Ergebnisse illustrieren insgesamt klinisch wichtige Aspekte:• Erworbene Plättchenfunktionsdefekte sind viel häufiger als vermutet.• In der Mehrzahl liegt eine medikamentös induzierte Plättchenfunktionsstörung vor.• Das Screening auf primäre Hämostasedefekte erfordert adäquate Labortests (z.B.

PFA).• Plättchenzählung und Gerinnungstests (aPTT, Prothrombinzeit nach Quick) sind unge-

eignet, um Plättchendefekte zu detektieren.• Echte Gerinnungsstörungen sind, wie dokumentiert (2 von 256 Patienten), wesentlich

seltener als gemeinhin angenommen.

Schlussbemerkungen

Die Resultate der Studie [3] unterstreichen, dass wir in der klinischen Praxis zumeist Hämostasestörungen begegnen. Mit „Gerinnungsstörungen“ sollten also nur die (selte-nen) Abweichungen bezeichnet werden, auf die der Begriff auch wirklich zutrifft. In Anbetracht der demographischen Entwicklung dürften beide Facetten eines gestörten Hämostasesystems, Thrombosen und Blutungen, ein Problem bleiben [17]. Dies betrifft die mit zunehmendem Alter steigende Inzidenz venöser und arterieller Thrombosen eben-so wie die Blutungskomplikationen unter intensivierter antithrombotischer Behandlung oder Sekundärprophylaxe. Strategien, die ausschließlich antithrombotisch, nicht aber antihämostatisch wirken, sind entworfen, entsprechende Substanzen aber noch nicht ver-fügbar [17, 18].

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