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Zeitschrift der Austrian Biologist Association Ausgabe 4/2006 Einzelpreis € 6,50 ISSN 1560-2516 NATURFORSCHER UM MOZART Bernd Lötsch BIOLOGIE UND KOSTEN-NUTZEN ANALYSE John M. Gowdy IST WIRTSCHAFTLICHE EVOLUTION THEORIEFÄHIG? Ulrich Witt BIOLOGIE UND WELTWEISHEIT bioskop 21 36 38 JOHANN BECKMANN (1739 - 1811) Richard Kiridus-Göller WISSEN UND WEISHEIT Konrad Paul Liessmann DIE NATUR DENKT KYBERNETISCH Fredmund Malik 4 9 11

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Zeitschri f t der Austr ian Biologist Associat ion

Ausgabe 4/2006 einzelpreis € 6,50 ISSN 1560-2516

nATurFOrscher um mOZArTBernd Lötsch

bIOLOgIe und kOsTen-nuTZen AnALYseJohn M. Gowdy

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JOhAnn beckmAnn (1739 - 1811) Richard Kiridus-Göller

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skop diesmal ein bioware-special mit Beiträgen zur Warenlehre und evolutionären Ökonomik.

Nicht unerwähnt bleiben darf hier ein Jubiläum – unser Chefredakteur Richard Kiridus-Göller ist 60! Damit freilich kein Alter, aber ein „alter“ und unermüdlicher Kämpfer für die „Sache“, die unser bioskop darstellt: kritische Aufklärung im Geiste einer umfassenden Wissenschaft vom Leben.

Darüber hinaus freue ich mich, dass es wieder gelungen ist, bedeutende Aufsätze aus ebenso bedeutender Feder zu versammeln.

Allen Leserinnen und Lesern, die uns in diesem nunmehr ausklingenden Jahr die Treue gehal-ten haben, möchte ich an dieser Stelle sehr herzlich danken. Mein Dank gilt natürlich auch all jenen, die – auf welche Weise auch immer – zum Gelingen unserer Zeitschrift beigetragen haben; den Autoren und Autorinnen, dem re-daktionellen Beirat, Clemens-G. Göller als „Lay-outer“ und „Setzer“, dem Facultas Verlag …

Ein ebenso fröhliches wie entspanntes Weih-nachtsfest und nur das Beste für 2007 wünscht Ihnen allen,

Franz M. Wuketits

Liebe Leserinnen und Leser,das vor Ihnen liegende bioskop-Heft hat eine lange Vorgeschichte. Es war jedenfalls seit lan-gem geplant, und die ihm zugrunde liegende Idee ist, dass die Biologie eine zentrale Rolle auch in Diszplinen spielt, die mit ihr scheinbar nicht viel zu tun haben. Aber eben nur schein-bar. Weitblickende Wirtschaftswissenschaftler – leider repräsentieren sie in ihrer Zunft noch eine Minderheit – haben erkannt, dass eine ver-nünftige Ökonomie ohne Berücksichtigung bio-logischer Grundtatsachen nicht möglich ist. Die Wirtschaft existiert nicht an und für sich. Wenn uns manche ihrer heutigen Propagandisten das Gegenteil weismachen wollen, dann ist es um so wichtiger, einmal klar zu machen, dass jede Wirtschaft und jedes Wirtschaften von leben-digen Menschen betrieben werden, Lebewesen mit spezifi schen Neigungen und Präferenzen, die ihrerseits in der Evolution herausselektiert wurden.

„Keine gescheite Ökonomie ohne gescheite Öko-logie“ sagte Konrad Lorenz (1903 - 1989) bereits vor knapp einem halben Jahrhundert. Er wurde damals nicht verstanden. Später jedoch fand er, zumindest vereinzelt, sehr wohl Gehör. Man sollte meinen, dass sein Leitgedanke mittlerwei-le zur Selbstverständlichkeit geworden sei. Das ist leider nicht der Fall. Die meisten der in Politik und Wirtschaft „Verantwortlichen“ handeln nach wie vor gerade so, als ob es die tief greifenden (biologischen) Einsichten in die Natur, nicht zu-

edITOrIAL

letzt unsere eigene Natur, gar nicht gäbe. Man blicke nur einmal um sich. Kurzsichtigem Profi t-denken der Großkonzerne wird ohne Weiteres das Wertvollste geopfert, was wir haben: die natürlichen Ressourcen. Und Politiker und Poli-tikerinnen verbeugen sich in Ehrfurcht vor der Allmacht einer Ökonomie, die keine Rücksicht nimmt auf die „wahren“ Bedürfnisse des Men-schen. Das alles ist natürlich wiederum eine Bil-dungsfrage, und es kommt wohl nicht von unge-fähr, dass heutzutage die Unbildung einen kaum geahnten Aufschwung erlebt.

Mit diesem bioskop-Heft wollen wir ein Gegen-gewicht setzen. Natürlich ist unserer Redaktion klar, dass wir damit nicht die Welt verändern werden; wenn wir aber da und dort Impulse zum kritischen Nachdenken liefern, ist schon viel er-reicht. Je stiller eine Revolution vor sich geht, um so erfolgreicher verläuft sie. Ein Blick zu-rück auf die Geschichte mag uns hoff nungsfroh stimmen. Da haben wir etwa den bedeutenden Gelehrten Johann Beckmann, dem dieses Heft auch wichtige Impulse, auch den Titel der Aus-gabe verdankt, zum Gewährsmann. Bei den „Al-ten“ nachzulesen, kann uns tatsächlich helfen … Den Naturfoschern um Mozart geht Bernd Lötsch nach. Der Bioökonom Eberhard K. Seifert und die Managementexperten Fredmund Malik und Maria Pruckner würdigen die Biologie als Leit-fach im Umgang mit der Komplexität. Vertreten durch John Gowdy und Ulrich Witt bringt bio-

ulrich Kutschera:eVoLutIoNSBIoLoGIe2., aktualisierte und erweiterte Aufl ageVerlag Eugen Ulmer (UTB), Stuttgart 2006303 Seiten, 198 Abbildungen, 18 Tabellen

Dieses Buch ist aus der 2001 in Verlag Parey (Berlin) erschienenen Allgemeinen Einführung in die Evolutionsbiologie hervorgegangen und stellt deren wesentlich überarbeitete und erwei-terte Neuausgabe dar. Kutschera legt damit ein gediegenes Werk vor, das alle wichtigen Aspekte der modernen Evolutionsbiologie ausgewogen und in gut verständlicher Form behandelt, wozu nicht zuletzt die Fülle der sehr präzisen und aus-sagekräftigen Abbildungen beiträgt. Der an der Universität Kassel lehrende Biologe und Vizeprä-sident des Verbandes Deutscher Biologen und biowissenschaftlicher Fachgesellschaften e. V. hat den Band, wie er selbst im Vorwort schreibt, zwar in erster Linie für Studierende der Biolo-gie verfasst, will damit aber auch naturwissen-schaftlich vorgebildete Journalisten, Mediziner, Psychologen, Theologen und nicht zuletzt Leh-rende an Gymnasien ansprechen. Auch meiner

Meinung nach eignet sich das eindrucksvolle Buch hervorragend für alle interessierten Lese-rinnen und Leser, die sich profund über die Vo-raussetzungen und den Status des modernen Evolutionsdenkens in der Biologie informie-ren wollen. Ein besonderes Anliegen des Au-tors ist es, die Evolutionstheorie gegen jene obskuren Denkweisen zu verteidigen, die heute in verschiedenen kreationistischen Spielarten – nicht nur in den USA! – ihr Unweisen treiben. Insoweit ist sein Band auch ein wichtiger Beitrag zur kritischen Aufklärung und stellt klar heraus, dass es zur Evolutionstheorie heute keine ernst-zunehmende Alternative gibt. Kutschera’s Buch nimmt allen Schöpfungs- und Evolutionsphan-tasien (intelligent design) den Wind aus den Segeln.

Franz M. Wuketits

Buchempfehlung

eVOLuTIOnsbIOLOgIe

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Grundlegende Richtung(Offenlegung nach §25 Mediengesetz)bioskop ist das parteifreie und konfessions- unabhängige Magazin der ABA (Austrian Biologist Association).

Die Herausgabe der Zeitschrift bioskop ist Bestandteil des ABA-Leitbildes, die Zeitschrift vermittelt in öffentlicher Didaktik biologisches Orientierungswissen zum gesellschaftlichen Vorteil. Die Zeitschrift bioskop erscheint viermal jährlich.

MedieninhaberAustrian Biologist Association (ABA),Member of European CountriesBiologists Association (ECBA)

Präsident der ABA Mag. Helmut Ulf JostFuchsgrabengasse 25, 8160 [email protected]

Herausgeberim Auftrag der ABAProf. Dr. Franz M. Wuketits Universität [email protected]

ChefredakteurDr. Richard Kiridus-Göller

RedaktionssitzChimanistraße 5A-1190 [email protected]

Internetwww.aba-austrianbiologist.comwww.bioskop.at

Redaktionelle Mitarbeit Mag. Franz BacherDr. Hans Hofer Dr. Eberhard K. Seifert

Redaktioneller Beirat Prof. Dr. Georg Gärtner, Universität InnsbruckDr. Susanne Gruber, Wirtschaftsuniversität WienProf. Dr. Walter Hödl, Universität WienProf. Dr. Bernd Lötsch, Naturhistorisches Museum WienProf. Dr. Erhard Oeser, Universität WienProf. Dr. Gottfried Tichy, Universität SalzburgDoz. Dr. Peter Weish, Universität Wienemer. Prof. Dr. Gustav Wendelberger, Universität Wienemer. Prof. Dr. Horst Werner, Universität SalzburgDr. Manfred Wimmer, Gymnasium Waidhofen a. d. Thaya

AusgAbe 4/2006 | 9. JAhrgAng | bIOLOgIe und WeLT WeIsheIT

WerbungMag. Rudolf [email protected]

Layout und Satz Clemens-G. Gö[email protected]

Druck Facultas Verlags- und Buchhandels AGBerggasse 5, A-1090 Wienwww.facultas.at

Gedruckt auf chlorfeigebleichtem Papier.

NeuauflageJänner 2007

bioskopZeitschri f t der Austr ian Biologist Associat ion

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Was uns bewegt

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Personen und Geschichte

Didaktik

Glosse

bioware-special

ABA Intern

JOhAnn beckmAnn (1739 - 1811) Richard Kiridus-Göller

nATurFOrscher um mOZArTBernd Lötsch

WIssen und WeIsheITKonrad Paul Liessmann

dIe nATur denkT kYberneTIschFredmund Malik

dIe kOmpLexITÄTsFALLeMaria Pruckner

bIOÖkOnOmIk –WIder mechAnIsTIsche WeLTbILderEberhard K. Seifert

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rIchArd kIrIdus-gÖLLer – 60!Franz M. Wuketits

dIe AngeWAndTe bIOLOgIe hAT eInen nAmen: WArenLehreRichard Kiridus-Göller

reLeVAnce OF scIence educATIOn (rOse) Doris Elster

meIne ersTen hunderT JAhreFranz Bacher

bIOLOgIe und kOsTen-nuTZen AnALYseJohn M. Gowdy

IsT WIrTschAFTLIche eVOLuTIOnTheOrIeFÄhIg?Ulrich Witt

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RICHARD KIRIDuS-GÖLLeR

An der Wiener Ringstraße befi nden sich zu beiden Seiten des Denkmals der Kaiserin Maria Theresia das Natur-historische und das Kunsthistorische Museum bild-spiegelbildlich gegen-über. Damit wird die Architektur eines Weltbildes vermittelt, das die postmo-derne Gesellschaft verloren hat. Verges-sen sind auch die damit verbundenen Grundlagen des Bildungswesens und deren praktische Wegbereiter.

Der anhaltende Erfolg des unter Maria Theresia eingeleiteten Bildungswesens ist der Weisheit eines Göttinger Vorbilds zu verdanken, dessen Umsichtigkeit bis heute und weiterhin zukunftsweisend ist. Die Rede ist von Johann Beckmann, einem Göttinger Gelehrten, dessen Be-deutung schon hundert Jahre nach sei-nem Tod fast vergessen war.

„Theoria cum praxi“ war das Leitmotiv der Göttinger Universität. Die Naturwis-senschaften sollten Wissenschaften für den Menschen sein, die akademische Gelehrsamkeit sollte den philosophisch-theologischen Elfenbeinturm verlassen und gemeinsam mit den Herrschenden den nützlichen Künsten den gleichen sozialen Stellenwert einräumen wie den schönen Künsten.

JOhAnn beckmAnn (1739 - 1811)Professor der Weltweisheit

Wer immer mit deren Umsetzung als Beamter oder Kirchenmann zu tun hat, sollte Grundkenntnisse von dem ha-ben, was ihm anvertraut war. Dafür be-durfte es Universalgelehrter, welche die großen Zusammenhänge darzulegen imstande waren. Gesellschaftspolitisch gesucht waren damals wie auch heute die Grundlagen einer nachhaltigen Kul-turtechnik.

Zum außerordentlichen Professor der „Weltweisheit“ wurde am 27. Septem-ber 1766 Johann Beckmann an die Georgia Augusta berufen, wofür sich damals der Premierminister von Kur-hannover einsetzte, der die Entwick-lung der Universität Göttingen zu einer ersten Reformuniversität in deutschen Landen vorantrieb.

Wie Linné die Naturaliensystematisierte, so verfuhr Beckmann mit den Artefakten.Beckmann war zuvor in Schweden bei Linné gewesen. Sein Ruf an die Universität in Göttingen dürfte dafür ausschlaggebend gewesen sein. In bildungspolitischer wie auch wissen-schaftsgeschichtlicher Hinsicht sollte sich dies als eine der folgenreichsten Begebenheiten erweisen.

„Man hat meines Wissens niemals betont, dass Beckmann in Uppsala zu Füßen Linnés saß. Aber aus seinen Schriften ist zu ersehen, was er in der Behandlung technischer Fragen und auch in der Art der Darstellung von Linné gelernt hat. Wenn Beckmann […] in späteren Jahren seiner Wirk-samkeit in Göttingen mit besonderer Vorliebe >ökonomische Vorlesungen< aus dem Gebiete der Landwirtschaft, Technologie und Waren-kunde hielt, so ist dies, zum Teil wenigstens, auf seinen Lehrer Linné zurückzuführen, der Beck-manns Neigungen, Wissenschaft und Praxis zu verbinden, sehr entgegenkam.“ Auch das Testi-monium, das Carl von Linné an Beckmann aus-stellte, bezeugt die enge und freundschaftliche Zusammenarbeit: Linné versicherte Beckmann seine Wertschätzung und empfahl ihn allen, „die gediegene naturwissenschaftliche Arbeit und Redlichkeit schätzen und ehren“ (Der Pfl anzen-physiologe Julius Wiesner 1873 in seinem Werk „Die Rohstoff e des Pfl anzenreiches“, zit. n. R. Reith, in Lindner u. Jonsell, 1995).

Als der 27-jährige Beckmann nach seinem einjäh-rigen Aufenthalt in Schweden nach Göttingen zu-rückkehrte, war die Naturgeschichte Linnéscher Prägung fortan zur konzeptionellen Grundlage seines Denkens geworden (H. P. Müller in Bayerl/Beckmann , S. 88). In seinen Beobachtungen und Beschreibungen verfuhr Beckmann wie Linné. So wie Carl v. Linné die Naturalien in Anlehnung an die aristotelische-scholastische Defi nitions-theorie mit der Logik der binären Nomenklatur systematisierte, verfuhr Johann Beckmann mit den Artefakten. Beckmann entwickelte ein Klas-sifi kationssystem von funktionalen Zwecken und den entsprechenden Mitteln in Klassen, Ord-nungen, Gattungen, Arten. Später stützte sich auch Karl Marx auf Beckmann: „In der Gesamtheit der verschiedenartigen Gebrauchswerte oder Warenkörper erscheint eine Gesamtheit ebenso mannigfacher, nach Gattung, Art, Familie, Unter-art, Varieteät verschiedener nützlicher Arbeiten – eine gesellschaftliche Teilung der Arbeit“ (in Das Kapital, 1. Kapitel: Die Ware)

Thema

LINNÉS teStIMoNIuM

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Thema

Dreihundert Jahre nach Linné kommen damit Anfänge in den Blick, worum sich heutzutage die an der Kybernetik und der Biologie orientierten Management-Konzepte bemühen. Unverständlicher Weise ist Johann Beckmanns Konzept in Vergessenheit geraten.

Beabsichtigt war eine „Arzney“ zur Besserung der gesellschaftlichen Um-stände. Das war es auch, warum sich Beckmann um eine spätabsolutistische Lenkungswissenschaft bemühte, wie sie Beamte in leitenden Funktionen als Überblickskenntnisse haben sollten.

Beckmann legte in Göttingen seinen Schwerpunkt zunächst auf Naturge-schichte, alsdann Mathematik und Physik. Er arbeitete anschaulich mit Modellen, Rohstoffproben, machte Be-triebsbesichtigungen. Er ließ nach Lin-néschem Vorbild einen ökonomischen Garten einrichten, lehrte ab 1767 auch Ökonomie, 1769 erschienen als ers-ter systematischer Aufriss Beckmanns „Grundsätze der teutschen Landwirth-schaft“. Ökonomie beinhaltete damals vor allem – nachhaltige - Landwirt-schaftslehre.

Noch bedeutsamer ist, dass Johann Beckmann der wissenschaftliche Be-gründer der Technologie und Weg-bereiter der Warenkunde ist. Als

mittlerweile Professor für Ökonomie veröffentlichte er 1777, von einzelnen Handwerken ausgehend, eine „Anlei-tung zur Technologie“, darin beschrieb er die Wege, wie aus „Naturalien“ ge-brauchsfähige Waren erzeugt werden. „Ich habe es gewagt, Technologie statt der seit einiger Zeit üblichen Benennung Kunstgeschichte zu brauchen, die we-nigstens ebenso unrichtig, als die Benen-nung Naturgeschichte für Naturkunde ist. Kunstgeschichte mag die Erzählung von der Erfindung, dem Fortgange und den übrigen Schicksalen einer Kunst oder eines Handwerkes heißen; aber viel mehr ist die Technologie, welche alle Arbeiten, ihre Folgen und ihre Gründe vollständig, ordentlich und deutlich erklärt.“Als Fächerkanon empfiehlt Beckmann: Landwirtschaft, Technologie, Hand-lungswissenschaften einschl. Waren-kunde sowie Polizey- und Kameralwis-senschaften. In den Jahren 1793 bis 1800 erscheint Beckmanns „Vorberei-tung zur Waarenkunde“, er war damit einer der ersten, der sich mit der Ware wissenschaftlich beschäftigt hat.

Unter Technologie versteht er „… die Wissenschaft, welche die Verarbeitung der Naturalien“ lehrt und „in systema-tischer Ordnung, gründliche Anleitung gibt, wie man zu eben diesem Endzwecke aus wahren Grundsätzen und zuverläs-sigen Erfahrungen, die Mittel finden und

die bei der Verarbeitung vorkommenden Erscheinungen erklären und nutzen soll.“

Damit meinte er aber keineswegs eine reine Verfahrenssystematik, im Unterti-tel weist er darauf hin, dass sich seine Anleitung in erster Linie an jene richtet, „die mit der Landwirthschaft, Polizey und Cameralwissenschaft in nächster Verbin-dung stehen“. Seine Botschaft steht im Kontext mit dem herrschenden politischen System. Beckmanns „Weltweisheit“ fällt in das politische Interesse des Absolutismus, später in das zentralwirtschaftlicher Systeme. In politischen Systemen, die auf die Marktkräfte setzten, ist das die Angelegenheit des Managements.

„Der Technologe des 18.Jahrhunderts geht […] ähnlich wie der Kameralist der Frage nach, welchen Weg die staat-lichen Gewalten einzuschlagen haben, um im Wettbewerb der Nationen große wirtschaftliche Gewinne zu erzielen. Diese Technologie bleibt aber keines-wegs auf eine Beschreibung der Pro-duktionstechnik beschränkt, sondern wird damit ein Stück lehrbarer und lernbarer Regierungskunst“ (Timm, S.50). Beckmann war kein Techniker, sondern Kameralist. Die Kameralistik ist die Hauptwurzel der von Beckmann er-dachten Technologie. Im Absolutismus wurden die Bereiche der öffentlichen

PortraitCarl von Linné

PortraitJohann Beckmann

Göttingen, Paulinen Straße:Beckmanns Wohnhaus

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Verwaltung als „Polizey-Wissenschaft“ bezeichnet. (Der Begriff „Kameralistik“ für die öff entliche Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik hielt sich bis zu den Anfän-gen des 20. Jh.). Für Beckmann ist die Technologie ein Produkt mannigfacher menschlicher Tätigkeiten, Beobach-tungen, Denkweisen und Entschlüsse. Was später von den „Reformern der Technologie“, ausgehend von der Land-wirtschaftslehre, vielfach reduktionis-tisch, daraus gemacht wurde, wird dem originären Ansatz nicht mehr gerecht. Wilhelm Franz Exner beklagte bereits im Jahr 1878, nachdem Beckmanns Lehrbuch der Technologie ein Jahrhun-dert alt geworden war, dass dessen Be-gründer bereits völlig in Vergessenheit geraten war. Beckmanns Ansatz ist poli-tischen Umbrüchen zum Opfer gefal-len, denn infolge der napoleonischen Kriege kam es zum Zusammenbruch des absolutistischen Ständestaates und damit auch zum Ende der kameralis-tischen Wirtschaft.

Für Beckmann ist kennzeichnend, dass er eine „natürliche Ordnung der Künste und Handwerker“ erstrebt, Arbeitsver-fahren, die sich gleichen oder einan-der ähnlich sind, zusammenfasst, von einfachen zu komplizierten Verfahren abstuft. Die im 19. Jahrhundert ent-scheidende Gliederung in „chemische“ und „mechanische“ Technologie ist ihm fremd.Im hohen Alter verfasste Beckmann in der Überzeugung, dass eine Systema-tisierung nach äußerlichen Merkmalen wenig Nutzen stifte, einen „Entwurf der allgemeinen Technologie“, worin er statt von einzelnen Handwerken auszu-gehen, den Versuch unternahm, die da-mals bekannten Produktionsverfahren nach gleichartigen Funktionen zusam-menzufassen.

Dieser funktionszentrische Ansatz wur-de von Karl Karmarsch, in der mecha-nischen Technologie allen voran, von den „Reformatoren“ verlassen: Diese Technologieauff assung wurde zur Pro-fessionalität der Ingenieure, die daraus eine Lehre von den Produktionsprozes-sen nach naturwissenschaftlich-tech-nischen Kriterien entwickelten.

Der Funktionsbegriff fehlt jedoch allen Naturwissenschaften mit Ausnahme der Biologie. Erst mit der Philosophie

von Jack E. Steele fand die Technologie im Konzept der Bionik zur Wesensver-wandtschaft von Biologie und Tech-nologie. „Es gibt keine ursprüngliche Technik ausser im biologischen Bereich. Natur und Technik sind daher keine Ge-gensätze, sondern das eine ergibt sich aus dem anderen“ (F. Vester 2004, S.14).

Der Begriff „Biologie“ ist eine Zäsur, er steht für etwas anderes als die klassifi -katorisch orientierte Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist allerdings, dass Beckmann den phy-siologischen „Biologie“-Begriff seiner Zeit kannte, off en bleibt allerdings die Frage, inwieweit dies zur Prägung sei-nes „Technologie“-Begriff s beigetragen hat. Beckmann gehörte jedenfalls zu jenem „Göttinger Umkreis“, in dem die Biologie-Historikerin Ilse Jahn (2000, S.284) einen möglichen Ursprung des Biologie-Begriff s vermutet.

Auf Johann Beckmanns Warenkunde und Technologie und dessen Schüler Jo-hann Heinrich Moritz Poppe stützte sich Karl Marx, der dessen Bedeutung für die Nationalökonomie in unmittelbarem Zusammenhang sah. Ihn interessierte an Beckmanns Technologie-Auff assung die gesetzmäßige Zusammenhänge aufdeckende Wissenschaft. Das Zu-sammenspiel von Technologie und Staat, Ware und Kapital erachtete er als grundlegend für die sozialen Verhält-nisse. Für jede politische Maßnahme (Stellungnahme zur Realität) ist in der praktischen Entscheidung der Durch-blick, die Erfassung der Komplexität, das Grundlagenproblem.

Während das Interesse an Beckmann zu DDR-Zeiten im Osten Deutschlands wach blieb (er war auf Briefmarken ab-gebildet), entschwand das Gefallen an ihm im Westen. Strukturlogik, Inhalt und Form wurden im marktwirtschaft-lich orientierten Westen zu einer Ange-legenheit des Managements.

Lebensdaten Johann Beckmanns

~ 1739 ~Johann Beckmann, geb. am 4. Juni

in Hoya an der Weser

Vater: Nikolaus Beckmann,Steuereinzieher und Postverwalter.

Mutter: Dorothee Magdalena Beckmann,geb. Schüler

~ 1754 - 1759 ~Nach Besuch der öff entlichen Lateinschulein Hoya Besuch des Gymnasiums in Stade

~ 1759 - 1762 ~Studium in Göttingen, zunächst Theologie,

dann Naturwissenschaften,Kameralwissenschaften, alte und neue Sprachen

~ 1763 - 1765 ~Lehrer am lutherischen St. Petersgymnasium

in Petersburg

~ 1765 - 1766 ~Reise nach Schweden zu Carl v. Linné,

dort dessen Schüler

~ 1766 ~Berufung nach Göttingen

als a. o. Professor der Weltweisheit

~ 1769 ~Nach Ökonomie-Vorlesungen

~ ab 1767 ~Herausgabe der

„Grundsätze der teutschen Landwirthschaft“

~ 1770 ~Ernennung zum Professor der Ökonomie

~ 1771 ~Beginn von Vorlesungen zur Kenntnis derFabriken, Manufakturen und Handwerke,

die Beckmann seit 1772 „Technologie“ nennt.

~ 1777 ~„Anleitung zur Technologie“

~ 1789 ~„Anleitung zur Handlungswissenschaft“

~ 1793 - 1800 ~„Vorbereitung zur Waarenkunde“

~ 1806 ~„Entwurf der allgemeinen Technologie“

~ 1811 ~Johann Beckmann stirbt im Alter von 72 Jahren

in Göttingen in der Nacht vom 3. zum 4. Februar.

Thema

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„Die Gesamtheit dieser Produktions-verhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Ba-sis, worauf sich ein juridischer und po-litischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusst-seinsformen entsprechen. Die Pro-duktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Men-schen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Be-wusstsein bestimmt“ (Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie). Unter den Vorzeichen nachhaltiger Entwick-lung erscheinen solche Betrachtungen in neuem Licht.

Eine Bibliotheken füllende Literatur the-matisiert das ideologische Verhältnis von Technik und Macht, eine allgemein anerkannte Technik-Philosophie gibt es dennoch nicht.

Die Epigonen Beckmanns fanden zur Technologie bis heute keine allseits an-erkannte Theorie. Die Beckmann’sche Auffassung von „Technologie“ als Kenntnis der gewerb-lichen Verfahren unternimmt eine Ein-ordnung in das Gesellschaftsgefüge und unterscheidet sich wesentlich von der seit Karl Karmarsch (1803-1879) re-duktionistisch betriebene Ausbildung zu Technikern seitens der Ingenieur-wissenschaften.

Weil die Mischung aus logischen, his-torischen und soziologischen Idealvor-stellungen eine wissenschaftliche Ideo-logie, aber definitiv keine Wissenschaft ist, kommt John L. Casti (1989) zum Schluss, dass die Gleichsetzung Tech-nologie = Wissenschaft verfehlt ist:

Im Vordergrund stehen nicht Erkennt-nisse, sondern der praktische Erfolg ei-ner Prozessführung.

Auch Günter Ropohls (1999) allgemei-ne Systemtheorie der Technik ist ein strikt sozialwissenschaftlicher Ansatz. Horst Wolffgramm (1978) verfasste zu DDR-Zeiten eine Allgemeine Technolo-gie, in welcher nicht der einzelne tech-nologische Grundvorgang, sondern in den technologischen Grundvorgängen der Gesamtprozess im Vordergrund steht: der komplexe Zusammenhang von Stoff-, Energie- und Informations-fluss. Dieser schon moderne Ansatz hat zunächst die gesellschaftliche Funktion der Technologie als Wissenschaft im Blick, erreicht jedoch nicht die ökolo-gische Dimension.

Erst der ökologische Ansatz der Waren-lehre ermöglichte die Einbindung der Technologie in eine umfassende Theo-rie, die auch Kriterien der Nachhaltig-keit gerecht wird.

Zur VorbildwirkungJohann BeckmannsZwischen Naturgeschichte und Wa-renkunde ist die Technologie die ver-bindende Brücke, die Warenkunde daher angewandte Naturgeschichte. Wegen des dynastisch mit England ver-bundenen Kurfürstentums Hannover fand Beckmanns Lehre dort Anerken-nung und Verbreitung. So blieb das Beckmann’sche Verständnis im anglo- amerikanischen Sprachraum als „tech-nology“ erhalten, auch Karl Marx lernte das Werk Beckmanns und seines Schü-lers Poppe in England kennen.

Von Göttingen aus erzielte Beckmanns Fachphilosophie eine ungeheure Brei-

tenwirkung. Das Göttinger Vorbild wirkte in der Zeit Maria-Theresias und Josephs II in der Donaumonarchie fort. Staatskanzler Kaunitz veranlasste den für Unterrichtsfragen zuständigen Jo-hann Melchior von Birkenstock zu einer Reise nach Göttingen, um die dortigen Universitätsverhältnisse zu studieren. Göttingen wurde in dem von ihm im Jahre 1772 abgefassten Bericht als vor-bildlich gerühmt.

Nachdem Birkenstock den Gelehrten Beckmann in Göttingen besucht hat-te, wurde 1774 das Studienfach Natur-geschichte geschaffen, das auch die Technologie zu berücksichtigen hatte. Ab 1784 wurde „spezielle Naturge-schichte“ an der medizinischen Fakultät und - selbst für Theologie-Studenten verpflichtend - „allgemeine Naturge-schichte“ in Verbindung mit Technolo-gie nach dem Göttinger Vorbild an der philosophischen Fakultät etabliert. Un-ter dem Aspekt der Nützlichkeit blieb Technologie Teil der Naturgeschichte auch nach dem Tode Joseph II. Der Naturgeschichte wurde in der Wiener Studien-Hofkommission eine grundle-gende Rolle in der Vorbereitung weiter-führender Studien wie Medizin, Monta-nistik, Ökonomie und das „technische Fach“ zugedacht (H. Egglmaier 1988).

Für das Lehrfach Ökonomie - in dessen Rahmen Acker- und Feldbau, „Wiesen-wachs“, Hutweide und Kleefeldbau, Gartenbau, Waldwirtschaft, Fischerei und Viehzucht gelehrt wurden - setzte man Kenntnisse aus Naturgeschichte voraus. Unter dem Einfluss der Lehren des Justus von Liebig und der wachsen-den Bedeutung der Chemie wurde ab 1837 „Kameral-Warenkunde“ für ange-hende Staatsbeamte an der Wiener Uni-versität gelehrt. In Graz, Prag und Wien wurden in der ersten Hälfte des 19.Jahr-hunderts Polytechnika gegründet, aus welchen das technische und kaufmän-nische Schulwesen hervorging.

Mit der Beckmann‘schen Tradition wur-de ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nach der mit dem Namen Thun-Ho-henstein verknüpften Unterrichts- und Universitätsreform mehr und mehr ge-brochen.

Es ist ein außergewöhnlicher Glücksfall, dass - allen Reformen zum Trotz - der

Dr. Nicolau Beckmann, Präsident der Johann-Beckmann-Gesellschaft und Nachfahredes Professors für Weltweisheit, überreicht die Beckmann-Medaille an Prof. Dr. Josef Hölzl.

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Beckmann’sche Ansatz im kaufmän-nischen Bildungswesen Österreichs dennoch erhalten geblieben ist und so-gar weiterentwickelt wurde. Für diese seine Verdienste wurde der emeritierte Ordinarius an der Wiener Wirtschafts-universität, Professor Josef Hölzl, im Juni 2002 in Göttingen mit der Johann-Beckmann-Medaille ausgezeichnet. Durch die Integration der Fächer Natur-geschichte und Warenkunde (einschl. Technologie) ergab sich 1978 die Chanceder Verankerung dieser Kombination als „Biologie & Warenlehre“ in der aka-demischen Ausbildung, die Hölzl dann auch durchsetzte.

Das Verhältnis der Naturgeschichte zur Warenkunde ist zunächst das von den Grundlagen zu den Anwendungen, von den Erkenntnisinteressen zu den öko-nomischen Interessen. Auf dem Weg der Naturalien zu den Artefakten ist die Technologie die Brücke zwischen Natur und Kultur. Mit der Fortentwicklung der Naturgeschichte zur Biologie lag dem-nach die Weiterentwicklung der Waren-kunde zur Warenlehre als angewandte Biologie auf der Hand.

Durch die Erweiterung des sozioökono-mischen Interesses der Technologie um die ökologische Dimension befi ndet sich die Warenlehre im Dreieck Öko-logie-Ökonomie-Gesellschaft. In der Substanz ist die Warenlehre der einzige naturwissenschaftliche Zugang zu den Wirtschaftswissenschaften und auf-grund der Ganzheitlichkeit ist das neu-erdings in Reform befi ndliche Studium „Biologie & Warenlehre“ schlichtweg Nachhaltigkeitslehre.

Das Neue daran ist das Systemische, wie ja auch der Wandel von der Systematik zur Systemik in der Biologie. Im Bemü-hen, aus Ressourcen nachhaltigen Nut-zen zu gewinnen, ist die Warenlehre zu einem Grundlagenfach für das nachhal-tige Management geworden.

„Manager brauchen Biologie statt BWL“meinte der St. Gallener Wirtschaftspro-fessor Fredmund Malik bei einem Kon-gress über Bionik im März 2006 in Inter-laken. Die Strategie der nachhaltigen Entwicklung basiert auf dem bio-kul-turellen Zusammenhang. Verfolgt wird eine Strategie, in dem der materielle und formale Kulturbegriff zusammen-

geführt werden. In diesem Bemühen sind die Warenlehre und die systemori-entierte Managementlehre zueinander komplementär. Es geht in einem nach-haltigen Kulturbegriff darum, „eine In-tegration zwischen materiellen und for-mellen Elementen zu fi nden und dabei die Skylla des Relativismus, dem alles gleichgültig ist, und der Charybdis des Totalitarismus, dem alles eines ist, zu durchqueren. […]“ Es geht also darum, „die Regelsysteme und die Strukturen aufzudecken, die bei allen Kulturen gleich sind und die sie erst vergleichbar machen“ (Helene u. Matthias Karmasin 1997, S.26).In der Zusammenführung der Waren-lehre mit der Managementlehre wird es also um eine kulturelle Metatheorie gehen, die sich mit der Substanz be-fasst, die unsere Existenz im Innersten zusammenhält. Die Evolutionstheorie, die Bionik und Kybernetik sind dafür grundlegend.

AutoR uND KoNtAKt

Dr. Richard Kiridus-GöllerProfessor an der Vienna Business SchoolFranklinstraße 24, 1210 [email protected]

Thema

LIteRAtuR

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Grundlagen(Erkenntnisse)

Anwendungen(Interessen)

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Im Allgemeinen herrscht Einigkeit da-rüber, dass sich die klassische Indus-triegesellschaft gegenwärtig in eine moderne Informations- und Wissen-schaftsgesellschaft wandelt. Dass Wis-sen die wichtigste Ressource der Zu-kunft ist, die alte materielle Rohstoffe ablöst, dass der rasche Zugriff auf und der schnelle Transfer von Wissen über Marktchancen entscheidet, dass das Konzept von Wissensmanagement alte Vorstellungen von Bildung und Lernen ersetzen muss, dass Wissen überhaupt die Arbeit ablösen wird, gehört zu den Schlagworten unserer Tage. Es do-miniert allenthalben ein unbändiger Wille zum Wissen, jedermann ist ange-halten, sich pausenlos und lebenslang mit einer Fülle von frei zur Verfügung stehenden Informationen zu versor-gen, und nicht zuletzt die modernen Medien suggerieren, dass alte Wissens-barrieren, gegen die Aufklärung und Reformpädagogik lange angekämpft hatten, nun endlich keine Rolle mehr spielen. Wikipedia triumphiert auch als die neue Ideologie des Wissens.

KoNRAD PAuL LIeSSMANN

Der Terminus „Wissensgesellschaft“ zur Charakterisierung der Gegenwart könnte also durchaus Anlass zu Stolz und Freude sein. Eine Gesellschaft, die sich selbst durch das „Wissen“ defi-niert, könnte als eine Sozietät gedacht werden, in der Vernunft und Einsicht, Abwägen und Vorsicht, langfristiges Denken und kluge Überlegung, wis-senschaftliche Neugier und kritische Selbstreflexion, das Sammeln von Ar-gumenten und Überprüfen von Hy-pothesen endlich die Oberhand über Irrationalität und Ideologie, Aberglau-be und Einbildung, Gier und Geistlo-sigkeit gewonnen haben. Jeder Blick auf die rezente Gesellschaft zeigt, dass das Wissen dieser Gesellschaft nichts oder nur mehr wenig mit dem zu tun hat, was in der europäischen Tradition seit der Antike mit den Tugenden der Einsicht, lebenspraktischen Klugheit, letztlich mit Weisheit assoziiert wur-de. Die Wissensgesellschaft ist keine besonders kluge Gesellschaft, die Irr-tümer und Fehler, die in ihr gemacht werden, die Kurzsichtigkeit und Ag-

gressivität, die in ihr herrschen, sind offenbart nicht geringer als in anderen Gesellschaften, und ob wenigstens der allgemeine Bildungsstand höher ist, erscheint mitunter durchaus fraglich.

Wie alles in der spätmodernen Gesell-schaft unterliegt auch die Produktion und Verwertung des Wissens dem Ge-setz der Beschleunigung: Immer mehr Wissen wird in immer kürzerer Zeit erzeugt und muss dementsprechend rasch aufgenommen und verarbeitet werden. Von einem knappen und sorg-sam gehüteten Gut ist Wissen zu einem Überflussprodukt geworden. Die Krise der Bildungssysteme wird in hohem Maße überhaupt erst unter diesem Gesichtspunkt zu einem dramatischen Ereignis. Die höheren Schulen und Universitäten seien zu träge, sie gäben das neue Wissen nicht rasch genug weiter, und das, was sie weitergeben, ist ein Wissen, das so schnell veraltet, dass es, endlich aufgenommen, schon wieder unbrauchbar ist. Wissen ist wie die Nahrung zu einem Stoff geworden, den man ein Leben lang in immer neu-en Varianten aufnehmen und ausschei-den muss. Unbrauchbares vergessen und Neues lernen ist die Maxime, nach der sich ein Mitglied der Wissensge-sellschaft zu orientieren hat. So lautet, zumindest in Grundzügen, ein Mythos, den sich die Wissensgesellschaft von sich selbst erzählt.

Rührt man allerdings ein wenig an die-sem Mythos, wird man unter Umstän-den bemerken müssen, dass auch und gerade die so genannte Wissensgesell-schaft ihren eigenen Voraussetzungen und Wahrheiten gegenüber genauso blind ist wie nahezu jede andere Ge-sellschaft auch. Oder, um es pointiert zu formulieren: Je mehr heute von Wis-sen die Rede ist, desto mehr ist ein Wis-sen über dieses Wissen verpönt. Zurzeit genügt es schon, den Versprechungen der Informations- und Kommunikati-onstechnologien anstatt mit der me-dial verordneten Euphorie mit theo-retischer Neugier und distanzierter Gelassenheit zu begegnen, um als Kulturpessimist denunziert zu werden. Wohl stimmt es, dass wissenschaft-liches Wissen, sofern es eine neue,

WIssen und WeIsheIT

marktgängige und profitable Techno-logie verspricht, zu einer der stärksten Triebkräfte der ökonomischen und so-zialen Entwicklung geworden ist. Ein Wissen aber, das nicht die Kennzahlen seiner Verwertbarkeit deutlich sichtbar vor sich her trägt, gilt als unbrauch-bar und überflüssig. Im schlimmsten Fall wird es, wie in voraufklärerischen Zeiten, mit einem Tabu belegt. In einer der Nutzenmaximierung auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Gesell-schaft muss jedes Wissen, das diesen Zustand unterminieren könnte, indem es über seine Grundlagen aufklärt, suspekt erscheinen. Dass in der so genannten Wissensgesellschaft unter dem Diktat der knappen Kassen in der Regel die Reflexionswissenschaften eingespart werden, spricht eine deut-liche Sprache. Seit Sokrates aber gilt ein Wissen, das sich selbst und seinen Voraussetzungen gegenüber blind ist, als ein verkürztes Wissen, dem etwas Wesentliches fehlt: Weisheit

Das Ziel der Wissensgesellschaft ist offenbar nicht Weisheit, auch nicht Selbsterkenntnis im Sinne des grie-chischen Gnothi seauton, nicht einmal die geistige Durchdringung der Welt, um sie und ihre Gesetze besser zu ver-stehen. Es gehört zu den Paradoxa der Wissensgesellschaft, dass sie das Ziel jedes Erkennens, die Wahrheit oder zumindest eine verbindliche Einsicht, nicht erreichen darf. In dieser Gesell-schaft lernt niemand mehr, um etwas zu wissen, sondern um des Lernens selbst willen. Denn alles Wissen, so das Credo ausgerechnet der Wissensge-sellschaft, veraltet rasch und verliert seinen Wert. Die Bewegung des Wis-senserwerbs ersetzt, wie der Philosoph Günther Anders übrigens schon in

Was uns bewegt

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den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts diagnostizierte, das Ziel: Auf „lifelong learning“ kommt es nun an, „nicht auf Wissen oder gar Weisheit“.

Es gehört zu den Stereotypen der Diskussion über das lebensbeglei-tende Lernen, dass in der Wissensge-sellschaft die Zeiten, in denen eine Phase des Lebens für die Bildung und eine andere Phase für die Erwerbs-tätigkeit vorgesehen waren, vorbei seien. Nur: so stimmte dieses nie. Ari-stoteles begann seine Metaphysik mit dem berühmt gewordenen Satz: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.“ Damit war nie gemeint, dass dieses Wissen exklusiv in einer bestimmten Phase des Lebens erwor-ben werden könnte. Eher im Gegenteil. Gerade der antike Begriff der Weisheit - Sophia - war gedacht als Resultat von erworbenen Kenntnissen, Fähigkeiten, Einsichten und Erfahrungen, die über-haupt erst nach einem langen Leben zu einer wahren, reflektierten Einheit zusammengeführt werden konnten. Aber gerade dieser Begriff von Weis-heit ist nicht das Ziel des lebenslangen Lernens, weil dieses kein Ziel mehr kennt, sondern das Mittel selbst zum Ziel erklärt. Gelernt werden muss, um die Menschen an sich rasch ändernde Marktverhältnisse und technologische

Innovationen anzupassen. Das ist nicht wenig, aber es ist nicht alles.

Traute man den Versicherungen der Proponenten der Wissensgesellschaft, dann stellte das Wissen einen der höchsten Werte der modernen Ge-sellschaft dar. Keine Sonntagsrede, in der nicht beteuert wird, wie wichtig es sei, in Forschung und Entwicklung zu investieren, kein Wahlprogramm, das nicht im Wissen, Wissenswettbewerb und Wissensvorsprung die Sicherung der Zukunft verkündet, kein Handbuch für Wissensmanagement, das nicht im Umgang mit der neuen Ressource den Schlüssel für die Profite - vornehmer: Erfolge - der Unternehmen sieht. Wis-sen, so scheint es, ist zu einem kost-baren Gut geworden, das aufwendig hergestellt, sorgsam gehegt und auf-opfernd gepflegt wird.

Tatsächlich aber wird die Hervorbrin-gung, Aufbewahrung, Verteilung, Wei-tergabe und Anwendung des Wissens nach dem Modell der Produktion ir-gend eines beliebigen Gutes gedacht. Und im Gegensatz zu den ständigen Beteuerungen vom Wert des Wissens wird dieses, weil es längst seines Er-kenntnisanspruchs beraubt wurde, in der Regel gar nicht besonders ge-schätzt. Man könnte durchaus die The-

se riskieren, dass in der Wissensgesell-schaft das Wissen gerade keinen Wert an sich darstellt. Indem das Wissen als ein nach externen Kriterien wie Erwar-tungen, Anwendungen und Verwer-tungsmöglichkeitenhergestelltes Pro-dukt definiert wird, ist es nahe liegend, dass es dort, wo es diesen Kriterien nicht entspricht, auch rasch wieder entsorgt werden muss. Gerne spricht man dann von der Beseitigung des veralteten Wissens, vom Löschen der Datenspeicher und vom Abwerfen un-nötigen Wissensballasts. Mit anderen Worten: Wissen und Weisheit, Erkennt-nis und Wahrheit gehören nicht zu den zentralen Begriffen der „Wissensgesell-schaft“. In dieser regieren Standards, Bilanzen, Outputs, Nutzen, Effizienz, Rentabilität, immaterielle Vermögens-werte und Marktkompatibilität. Ob dies insgesamt für eine Gesellschaft ein Vorteil sein wird, wird sich weisen. Zweifel aber sind angebracht.

AutoR uND KoNtAKt

univ. Prof. Dr. Konrad Paul LiessmannFakultät für Philosophieund Bildungswissenschaftan der Universität WienUniversitätsstraße 7/III, A-1010 [email protected]

Was uns bewegt

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Die Natur geht verblüffend souverän mit Komplexität um. Sie managt ohne Probleme ihre gewaltigen Datenströme. Offensichtlich kommt es ihr dabei weni-ger auf die Informationsmenge als viel-mehr auf die richtige Auswahl an. Diese Erkenntnis trifft auch auf jene gewal-tigen Wissensströme zu, die gegenwär-tig über uns hinwegrollen und sowohl das öffentliche Leben wie die globale Wirtschaft mehr lähmen als beflügeln. Das Heil für Gesellschaft und Volks-wirtschaften liegt deshalb allein im richtigen Management der immer cha-otischer werdenden Informationsflut.

FReDMuND MALIK

In Seminaren, Vorträgen und Publika-tionen verwende ich gelegentlich Be-griffe und Formulierungen, die nicht aus der Managementlehre, Betriebs-wirtschaftslehre oder anderen ökono-mischen Disziplinen stammen. Es sind Begriffe aus der Biologie oder der Me-dizin, wie Gesundheit, Überleben, Le-bensfähigkeit usw. Eine häufig gestellte Frage ist, ob es zulässig sei, solche Aus-drücke in solchen Zusammenhängen zu verwenden. Ich glaube, ja. Zum Er-sten ist festzustellen, dass Wirtschaft-spraktiker – und ich meine zu beobach-ten, gerade die wirklich kompetenten und erfahrenen Praktiker – genau sol-che Begriffe verwenden, wenn sie über ein Unternehmen sprechen und dabei mehr meinen, als nur gerade den Zu-stand, den das Rechnungswesen und die Bilanzen abbilden können. Für das, was mit dem Rechnungswesen erfass-bar ist, verwenden sie die Fachausdrü-cke des Rechnungswesens. Sobald es aber darum geht, mehr und anderes und vielleicht noch Wichtigeres über das Unternehmen zu diskutieren, ge-brauchen sie oft intuitiv und spontan eher Begriffe aus der Biologie.Sie wissen eben nur zu gut, dass eine gesunde Bilanz noch lange nicht ein gesundes Unternehmen bedeutet. Es gibt – oder besser: gab - Unternehmen, die über viele aufeinanderfolgende Jahre ganz ausgezeichnete Bilanzen, Gewinn und Verlustrechnungen vor-

Biologische Systeme stehen für ein neues Management-Modell.dIe nATur denkT kYberneTIsch

legten, die allen Finessen der Bilanz-, Cash-Flow-Analyse usw. standhalten konnten – und dennoch todkrank wa-ren und schließlich untergingen. So war es während der frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts beispielsweise in der schweizerischen Uhrenindustrie, in der europäischen Büromaschinen-branche bis Mitte der 60er Jahre und so war es auch 30 Jahre später bei IBM. Diese Unternehmen waren Perlen der Industrielandschaft. Trotzdem waren die Desaster programmiert und unab-wendbar, obwohl es kein Warnsignal gab, das mit den Instrumenten des da-maligen Rechnungswesens erfassbar gewesen wäre. Auch mit den heutigen Mitteln des Rechnungswesen wären die damaligen Zusammenbrüche nicht zu erkennen gewesen. Es muss also einen Grund geben, wenn auch einen unausgesprochenen, dass manche Praktiker intuitiv die Terminologie von Biologie oder Medizin verwenden. So sehe ich keinen Anlass, das nicht auch zu tun. Denn die Frage lautet nicht, ob etwas zur Terminologie einer speziellen wissenschaftlichen Disziplin oder eines Faches gehört, sondern ob es nützlich ist und hilft, etwas besser zu verstehen.

Zum Zweiten vermute ich, dass wir in Zukunft ohnehin für die Führung eines Unternehmens – aber auch zur Führung aller anderen Organisationen – mehr aus den biologischen Wissenschaften lernen können als aus den Wirtschafts-wissenschaften. Ich halte es für ein grundlegendes Defizit der Wirtschafts-wissenschaften, dass sie sich noch im-mer auf eine Weise definieren, die vor etwa 200 Jahren üblich wurde, nämlich durch das, was man die »Abgrenzung akademischer Disziplinen« nennt. Bei Entstehung der heutigen Universität mussten die Fächer organisiert und da-her voneinander abgegrenzt werden. Es entstanden die Disziplinen. Diese Art der Organisation wissenschaftlicher Ar-beit hat zweifellos zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen; aber sie ist auch ein ständiges Problem, und dürfte wahrscheinlich ebenso oft für Stagna-tion und Irrelevanz der Wissenschaft

verantwortlich gewesen sein. Albert Einstein soll einmal gesagt haben, der liebe Gott verstehe nichts von Physik. Damit wollte er kein Sakrileg bege-hen, sondern zum Ausdruck bringen, dass die Welt, die Natur, nicht in akade-mische Disziplinen gegliedert, sondern eine höchst komplexe Ganzheit ist. An der Universität und im Laboratorium kann man abgrenzen, isolieren und auf ein paar wenige Aspekte reduzieren. In der Wirklichkeit fließen jedoch alle Din-ge zusammen. Die Wirtschaftswissen-schaften haben gar nicht die Wirtschaft zum Gegenstand, sondern nur gewisse Aspekte der Wirtschaft. In Wahrheit re-den und forschen sie nicht über die Wirt-schaft, sondern nur über das, was sie an der Wirtschaft als ökonomische As-pekte für wichtig halten. Die Wirtschaft ist aber viel mehr. Vor allem umfasst sie eben auch den ganzen Menschen und nicht eine akademische Abstraktion, genannt Homo Oeconomicus. Und sie ist in eine Gesellschaft eingebettet, mit der sie untrennbar verwoben ist.

Ganz besonders deutlich wird das beim Unternehmen und seiner Führung. Die Betriebswirtschaftslehre hat keines-wegs das Unternehmen zum Gegen-stand, sondern – wie jedem Lehrbuch zu entnehmen ist – nur die »wirtschaft-liche Seite« des Unternehmens. Ohne Zweifel ist dieser Aspekt von großer Bedeutung. Es ist allerdings fraglich, ob diese Betrachtungsweise ausrei-chend ist. Unternehmer – ob Angestell-ter oder Eigentümer – und die Organe einer Firma müssen zwangsläufig das Unternehmen als Ganzes mit all seinen relevanten Aspekten im Auge haben. Diese Art von ganzheitlicher Sicht ist im Grunde nur in der Biologie und in den so genannten Systemwissenschaften zu finden, die in einem engen Zusam-menhang stehen. Die Biologie hat den lebenden Organismus als Ganzes zum Gegenstand und die Systemwissen-schaften immer ein System als Ganzes. Aus diesen Bereichen werden wir mehr lernen können als aus der sezierenden, reduktionistischen Betrachtungsweiseder klassisch abgegrenzten Disziplinen.

Focus

Artikel aus „Faszination Bionik - Die Intelligenz der Schöpfung“, München 2006

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Die entwicklung zur SystemisierungNun könnte man solche Überlegungen beiseite schieben und als akademische Grundlagenfragen abtun, die für die Praxis kaum etwas bringen. Es ist je-doch in hohem Maße wahrschein-lich, dass Fragen dieser Art in Zukunft große praktische Bedeutung erlangen werden. Und bei Licht besehen ist es schon heute so weit. Das hängt zusam-men mit der Elektronifizierung und der Informatisierung unseres Lebens. Es hängt vor allem zusammen mit der Systemisierung der Welt. Es wird auch den ausschließlich an der Praxis interes-sierten Managern nicht erspart bleiben, sich mit diesem Begriff anzufreunden. Dabei ist zu beachten, dass hier nicht von Systematisierung gesprochen wird – das haben wir ja schon lange –, son-dern ausdrücklich von Systemisierung, also der Entstehung von Systemen, und zwar von immer komplexeren Sy-stemen. Elektronik und Informatik, ih-rerseits »Kinder« der Kybernetik und der Systemwissenschaften, lassen sich bei ihrem Vordringen in beinahe alle Lebensbereiche nicht aufhalten – wie im Übrigen noch nie eine technische Entwicklung, die sich als nützlich erwie-sen hat, aufzuhalten war. Man kann sie allerdings richtig oder falsch einsetzen.Unter dem Einfluss der systematischen – leider noch nicht der systemischen – Nutzung jener neben Materie und Energie dritten Grundgröße der Natur, der Information, erleben wir eine der tiefgreifendsten Transformationen von Wirtschaft und Gesellschaft – vielleicht tief greifender als es sie in der Mensch-heitsgeschichte je gab.Dadurch wird das, was man als De-regulierung bezeichnet, unmittelbar erzwungen. Das Verhalten komplexer Systeme ist kausal abhängig von ihrem Informationshaushalt. Mehr Informa-tion führt zu höherer Komplexität und diese wiederum erfordert andere Struk-turen und andere Steuerungs- und Re-gulierungsweisen. Betroffen davon sind insbesondere jene Lebensbereiche, die bis dahin ausschließlich oder do-minierend unter staatlichem Einfluss standen. Bürokratisch-mechanistische Regulierung kann in einer komplexen Welt nicht aufrechterhalten werden. Der Kollaps der kommunistischen Re-gime in allen Teilen der Welt ist dafür ein anschauliches Beispiel. Damit wird auch die nationalstaatlich orientierte

Form der Regulierung unwirksam, denn wenn Information an den Grenzen nicht Halt macht, dann sind auch immer mehr gesellschaftliche Systeme durch die nationalstaatlichen Grenzen nicht mehr limitiert. Sie evolvieren über diese hinaus, werden inter- und transnational und unter Umständen global. Man mag die in Gang befindliche Globalisierung begrüßen oder beklagen, je nachdem, wie man davon betroffen ist. Sie ist eine direkte Folge von Informatisierung und Deregulierung. Wir leben in einer Welt von Systemen – in einem Ausmaß und einer Komplexität wie nie zuvor. Und es gibt praktisch keine Alternative dazu. Alles, was für die Wirtschaft von Bedeu-tung ist, ist dabei, sich zu systemisieren – Beschaffung, Produktion, Distributi-on, Finanzen, Entwicklung und Perso-nal, Logistik und Kommunikation. Im-mer mehr Unternehmen können oder wollen ihr Geschäft nicht mehr allein betreiben, sie bilden Systeme, indem sie Allianzen der verschiedensten Art eingehen – Verbundsysteme mit gänz-lich neuen Formen der Arbeitsteilung. Dasselbe gilt für fast alle Lebensbe-reiche, nicht nur für die Wirtschaft. Man wird sich also, ob man will oder nicht, mit Systemen und ihren Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten befassen müs-sen, denn man kann ihnen nicht mehr entrinnen.

Die Notwendigkeit einesneuen ParadigmasDafür aber ist etwas erforderlich, was man einen Paradigmen-Wechsel zu nennen pflegt: Eine grundsätzliche Ver-änderung des Denkens und Handelns. Ich mag dieses Wort an sich nicht; ins-besondere empfinde ich seinen inflati-onären Gebrauch als Unfug. Inzwischen werden ja nicht nur jene fundamentalen Änderungen der Denkweise als Para-digmen-Wechsel bezeichnet, die der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn meinte, der wohl als Er-ster das Wort verwendete. Es gibt jetzt Leute, die alles, was sie gerade »neu« entdeckt haben, auch wenn es nur an ihrer vorherigen Unwissenheit lag, mit diesem Begriff zu bezeichnen pflegen. Natürlich hat es nichts mit einem Pa-radigmen-Wechsel zu tun, wenn einer draufkommt, dass es neben dem Ad-dieren auch noch andere Rechenope-rationen gibt. Im Management jedoch scheint ein neues Paradigma, eine neue

Sicht oder ein neues Modell unaus-weichlich, wenn man hoffen will, jene Art von Management zu etablieren, die den gegebenen Systemen und ihrer Komplexität angemessen ist. Notwen-diger denn je ist der Wechsel von einer von der Mechanik beeinflussten Denk-weise hin zu einer an der Biologie ori-entierten Weltsicht. Vermutlich ist der erste Schritt in wesentlichen Aspekten – zumindest in den Köpfen, wenngleich noch lange nicht in der Wirklichkeit – bereits vollzogen. Man wird heute eine recht breite Zustimmung dafür bekommen, dass ein an der Mechanik, am kartesianischen Weltbild orien-tiertes Denken seine Grenzen erreicht hat und nicht mehr zeitgemäß ist. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, aber auch noch nicht mehr, um den näch-sten Schritt zu machen. Worin wird er bestehen?

Die meisten Leute glauben, dass wir jetzt den Schritt vom Zeitalter der Me-chanik hin zur Elektronik bzw. Informa-tik machen. Verständlich, angesichts der Tatsache, dass man sich auch bei realistischster Betrachtungsweise der Begeisterung und Euphorie für die Elek-tronik – in all ihren Spielarten bis hin zum Internet – kaum zu entziehen ver-mag. Dennoch glaube ich, dass diese Auffassung falsch ist. Die schönen Zwil-lingstöchter, Elektronik und Informatik, sind im Kern genauso mechanisch oder mechanistisch wie eine Dampfmaschi-ne und – was noch bedeutend wich-tiger ist – der bisherige Gebrauch, den man von ihnen macht, ist bis ins Mark mechanistisch. Wir sind nachgerade auf dem Weg zum Superlativ des Kar-tesianismus – der Doppelklick auf die Maus ist die sichtbarste Manifestation. Dass Elektronik und Informatik selbst mechanistisch sind, braucht kaum aus-geführt zu werden. Die Digitaltechnik ist das Nonplusultra der Mechanik, ab-solut zuverlässig (wenn sie einmal funk-tioniert), frei von jeder Stochastik und ohne jeden Freiheitsgrad. Es gibt nicht einmal mehr die alten »Freunde« der Ingenieure – Abnützung und Reibung – die die klassische Mechanik gelegent-lich noch interessant machten, weil ih-retwegen das Verhalten einer Maschine im Kern unprognostizierbar war. Eine Digitalmaschine ist ihrem Wesen nach perfekt prognostizierbar, auch wenn ihre Zustände so zahlreich sein mögen,

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dass wohl praktische, aber nicht prinzi-pielle Grenzen der Voraussage gegeben sein mögen. Und was den Gebrauch der Digitaltechnik betrifft, so haben wir bisher nichts anderes gemacht, als den Federkiel zu automatisieren. Nirgends lässt sich das besser erkennen als bei der Entwicklung von den Handschriften des Mittelalters zum Internet. Es bedarf schon beachtlicher Beschränktheit, um aus der bloßen Erhöhung der Ge-schwindigkeit der Informationsüber-mittlung eine Wesensveränderung der Kommunikation abzuleiten.

Elektronik und Informatik allein ergeben nicht die kleinste Paradigma-Verände-rung. Im Gegenteil, sie führen zunächst sogar zu einer weiteren Zementierung des Weltbildes der Mechanik. Durch sie als Mittel, als Werkzeug gewisser-maßen, ergibt sich aber die Möglich-keit, einen wirklich paradigmatischen Schritt zu tun: Es ist der Schritt zu im Wesentlichen biologischen Strukturen und zu einem Denken, das sein Grund-modell im lebenden Organismus erken-nen dürfte. Die Informatik wird dabei der Transformator, das »Enabling Link«, sein. Erst wenn wir die Digitaltechnik dafür einsetzen, in den Systemen der Gesellschaft die Architektur und die Re-gulierungsmodalitäten natürlicher, le-bender Systeme zu realisieren, wird sy-stemorientiertes und systemgerechtes, letztlich systemisches Management möglich sein. Anders formuliert: Das wird systemisches Management sein. Der Schritt ist also von der mecha-nischen zur biologischen Denkweise zu machen. Zugegeben, das ist ein gewal-tiger Schritt, obwohl es im Grunde ein relativ kleiner sein könnte. Die Hürde scheint deshalb so riesig, weil nur we-nige Führungskräfte in Wirtschaft und Gesellschaft eine adäquate Ausbildung haben. Gerade Elektronik und Informa-tik konnten ja noch einmal den Glauben an das mechanistische Weltbild, an die Beherrschbarkeit komplexer Systeme wiederbeleben und nähren. Es wird also in der Tat ein neues Paradigma zu ver-mitteln sein. Und vermutlich wird zahl-reichen Managern dieser Schritt nicht mehr gelingen. Andererseits könnte es ein kleiner Schritt sein, denn jeder Ma-nager ist selbst ein lebender Organis-mus und auch ständig von solchen um-geben. Er ist in einem lebenden System, der Familie, aufgewachsen und müsste

doch eigentlich in der Lage sein, einen ungeheuren Erfahrungs- und Erlebnis-schatz in seine Arbeit als Manager ein-zubringen. Dem kleinen Schritt stellen sich aller-dings zwei Hindernisse in den Weg. Zum einen ist persönliche Erfahrung mit lebenden Systemen nicht gleich-bedeutend mit Einsicht in ihre Funkti-onsweise bzw. Verständnis für ihre Ar-chitektur. Die Erfahrung mit lebenden Systemen hätte ja schon immer genutzt werden können. Dennoch ist der Irrweg über die Mechanik beschritten worden. Das zweite Hindernis für den kleinen Schritt der Anwendung unmittelbar ge-gebener Erfahrungen mit lebenden Sy-stemen ist eine platte, vordergründige Übertragung dieser Erfahrungen aus dem Bereich einfacher Systeme auf je-nen der komplexen Systeme. Wenn ge-sagt wird, dass das neue Paradigma an der Biologie orientiert sein müsse, dann scheinen viele daraus zu schließen, dass etwa ein Unternehmen, eine Organisa-tion oder ein Staat biologische Organis-men seien. Das lässt sich aber aus der Forderung nach einem biologischen Paradigma keineswegs ableiten. Damit würde man sich auf das gefährliche Gebiet der Metaphern und Analogien begeben. Dieser naheliegende, aber gleichwohl falsche Schluss führt zum Biologismus, wie er etwa in der Sozio-biologie vorherrscht, und er führt zu Irrlehren wie dem Sozial-Darwinismus. Für die Unternehmensführung zeitigt das dann jene grotesken Plattheiten, wonach beispielsweise das Manage-ment dem Gehirn des Unternehmens und die Geldflüsse dem Blutkreislauf entsprechen. Das aber ist nicht nur Unfug, es ist gefährlicher Unfug. Es ist schon etwas mehr vonnöten, um das neue Denken und die Vorteile biolo-gischer Systeme erfolgreich für das Ma-nagement zu nutzen. Die Anwendung biologischer Erkenntnisse zur Lösung ständig wachsender Probleme im glo-balisierten Wirtschaftssystem macht et-was anspruchsvollere Gedankengänge erforderlich.

Das Modell lebensfähiger Systeme – Bionik purDie biologische Denkweise muss auf einem präzise verstandenen Modell le-bender Systeme aufgebaut sein, nicht nur auf bloßen Analogien. Ein bio- logisches Paradigma impliziert nicht,

dass Organisationen lebende Systeme sind. Einfach formuliert, noch immer zu einfach, führt es zur Frage: Gesetzt den Fall, wir entschließen uns, ein Un-ternehmen, eine Organisation, als le-bendes System zu betrachten, was können wir dann aus der Biologie und ihren evolutionären Strategien lernen? Damit wird nicht unterstellt, dass eine Organisation ein lebendes System ist – dieser Vorbehalt ist ganz wichtig. Der eigentliche Nutzen eines biologischen Paradigmas liegt in einer anderen und eben etwas anspruchsvolleren Frage-stellung: Gesetzt den Fall, es gelänge, ein Modell aller lebenden Organismen zu erstellen, das genau jene Elemente enthält, die allen gemeinsam sind, was könnte man dann daraus für die Gestal-tung einer von Menschen gemachten Organisation lernen und allenfalls auf sie übertragen?

Ein so verstandenes Modell würde den Kern dessen umfassen, was Leben oder Lebensfähigkeit schlechthin ausmacht, es würde aber nichts über die unge-heure Mannigfaltigkeit der konkreten Erscheinungsformen des Lebens aus-sagen. Es würde gewissermaßen die Essenz herausfiltern, jedoch die oft nur zufälligen Erscheinungsformen weglas-sen. Man wird akzeptieren können, dass Amöben und Menschen lebende Orga-nismen sind. Aber daraus folgt natürlich nicht, dass ein Mensch eine Amöbe ist oder umgekehrt. Dennoch muss es of-fenbar Gemeinsamkeiten geben, die uns veranlassen, beide in die Klasse der lebenden Organismen einzuordnen. Leben kann, wie kaum betont werden muss, in sehr unterschiedlichen äuße-ren Erscheinungsformen auftreten. Die Architektur lebender Organismen, ja selbst ihre Baustoffe, treten in großer Verschiedenartigkeit auf, die im Einzel-fall, artenspezifisch, von größter Bedeu-tung ist. Alle aber sind lebende Organis-men: und genau diesen gemeinsamen Kern würde das Modell umfassen und genau deshalb – aber nur in diesem Punkt – könnte es sehr wohl von ent-sprechendem Nutzen für die Gestal-tung von Organisationen sein.

Ein kleines Unternehmen würde dann noch immer eine völlig andere Erschei-nungsform haben als ein großes; ein in-ternational tätiges Unternehmen wäre

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selbstverständlich anders als ein lokal operierendes; und ein Dienstleistungs-unternehmen sähe anders aus als ein Industrieunternehmen. Sie hätten aber eine Gemeinsamkeit: Alle wären nach dem Modell lebensfähiger Systeme aufgebaut und würden nach dessen Gesetzmäßigkeiten funktionieren.Indes kann der in den letzten Absätzen arg strapazierte Konjunktiv mittler-weile weggelassen werden. Die Arbeit wurde bereits geleistet. Es ist eine der Pioniertaten der modernen Kybernetik, das »Modell lebensfähiger Systeme«, das Viable Systems Model (VSM) des britischen, im Sommer 2002 in Kanada verstorbenen Kybernetikers Stafford Beer. Noch ist sein wissenschaftliches Werk nur einem vergleichsweise klei-nen Kreis von Spezialisten vertraut, wo er sich aber schon zu seinen Lebzeiten einen nahezu legendären Ruf erwer-ben konnte. Wie nicht anders zu er-warten, gibt es bezüglich seiner Arbeit auch zahlreiche Missverständnisse und – daraus resultierend – harsche Kritik. Dennoch ist das Modell lebensfähiger Systeme etwas vom Besten, was die Ky-bernetik und die Systemwissenschaften dem modernen Management zur Ver-fügung stellen können. Es ist, wie ich meine, zur Zeit sogar das einzige Kon-zept, das ihm helfen kann, erstens, die Digitaltechnik richtig einzusetzen, und zweitens, Komplexität richtig zu nutzen, das heißt ihre Chancen auszuschöpfen und ihre Gefahren zu vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es nicht

nötig, dass jeder Manager ein Spezialist für Kybernetik oder für die bewährten Strategien lebensfähiger Systeme wird. Aber jedes Unternehmen und jede Or-ganisation wird einige Spezialisten auf diesem Gebiet benötigen, und jeder Manager wird zumindest eine grundle-gende Ahnung davon haben müssen. Die Erkenntnisse sind in großem Um-fang vorhanden.Was noch weitgehend fehlt, ist eine beherzte Anwendung die-ser weitreichenden Erkenntnisse. Das Modell lebensfähiger Systeme ist eines der besten Beispiele für Bionik. Stafford Beer hat explizit die Frage gestellt, was die am höchsten entwickelten Regulie-rungs- und Controlsysteme der Natur sind. Die Antwort lag nahe. Es ist das menschliche Zentralnervensystem. Auf diesem Gedanken baute er sein Viable System Model auf. Die Bionik ermög-licht somit nicht nur die Ableitung von technisch-konstruktiven Lösungen aus den Vorbildern der Natur, sondern ebenso auch die Ableitung von immer besseren Regulierungssystemen.

Neue Spielregeln der Konkurrenz?Kann man das alles nicht doch einfach ignorieren? Warum sollte man sich mit so komplizierten Dingen befassen? Es gibt einen entscheidenden Grund: Die Konkurrenz könnte es tun... Wer es ver-steht, komplexe Systeme anzuwenden und zu seinem Vorteil zu nutzen, dürf-te einen entscheidenden Vorsprung erringen. Bill Gates ist dafür ein gutes Beispiel. Bekanntlich ist ihm mehr ge-

lungen, als nur ein Betriebssystem zu entwickeln. Der bisherige Erfolg von Microsoft beruht nicht in erster Linie auf DOS oder Windows, die ja keineswegs das Nonplusultra an Software darstel-len. Es ist dem Unternehmen vielmehr gelungen, ein Gesamt-Geschäftssystem zu etablieren, an dem man – jedenfalls zur Zeit – nicht vorbeikommt, da sämt-liche Hardware-Anbieter in dieses Sy-stem integriert sind.

Das aber ist erst ein Anfang. Die Nut-zung des neuen Paradigmas biolo-gischer Strukturen und des Vorbilds lebensfähiger Systeme in der Natur wird es Organisationen aller Art ermög-lichen, zumindest in die Nähe jener zu Recht bewunderten Eigenschaften er-folgreicher Organismen zu kommen: Anpassungsfähigkeit, Funktionssicher-heit, Lern- und Entwicklungsfähigkeit, Reaktionsschnelligkeit und ihr enormer Wirkungsgrad.

Wir sollten, wie ich meine, beginnen, uns ernsthaft und gründlich, wenn auch ohne Zeitdruck und Hektik, mit dem unerschöpflichen Arsenal evoluti-onärer Innovationen zu befassen.

AutoR uND KoNtAKt

Prof. Dr. Fredmund MalikMalik Management Zentrum St. Gallen, Consulting & Education,Rittmeyerstrasse 13, CH-9014 St. [email protected]

Ein Organismus, der nur an das eigene Überleben denkt, wird unweigerlich seine Umwelt zerstören und damit sich selbst. Aus der Sicht der System-lehre ist die Überlebenseinheit kein eigenständiges Wesen, sondern ein Organisationsmuster, das ein Organismus in seinen Wechselwirkungen mit seiner Umwelt angenommen hat. Das Foto zeigt einen kleinen Ausschnitt aus einem Fischschwarm.

Focus

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Wenn Vorhaben misslingen, Ziele nicht erreicht werden, scheinbar unlösbare Probleme belasten oder Krisenstim-mung herrscht, wird immer häufi ger Komplexität dafür verantwortlich ge-macht. Komplexität ist aber viel eher der Grund für Erfolg als für Misserfolg. Zum Problem wird Komplexität vor allem dann, wenn man ihre Natur nicht kennt und wenn man sich nicht richtig mit ihr arrangiert. Dieser kurze Beitrag soll dazu anregen, sich für die noch kaum bekannten Phänomene unserer Zeit ausreichend zu wappnen.

Häufi g wird Komplexität mit zu viel In-formation gleichgesetzt. Vielfach wird in unserer immer komplexer werdenden Welt darüber geklagt, es herrsche eine unerträglich gewordene Informations-fl ut. Tatsächlich wirkt aber oft ein ganz anderes Problem: Informationsmangel.

ein Missverständnis um InformationDas Missverständnis, unser größtes Problem heute sei Informationsfl ut, rührt daher, dass in der Alltagssprache Information mit jeder anderen Art von Signalen, Daten und Reizen gleichge-setzt wird. Fachlich korrekt spricht man aber nur dann von Information, wenn es sich um eine Nachricht handelt, die ei-nen Unterschied zu einer bisherigen Er-kenntnis ausmacht. Eine neue Erkennt-nis führt zu anderen Entscheidungen und Entwicklungen als Nachrichten, die nichts zu einem neuen oder besseren Kenntnisstand einer Lage beitragen. Informationsfl ut würde daher dasselbe bedeuten wie Erkenntnisfl ut. Man hört aber so gut wie nie Klagen darüber, dass man sich von Erkenntnis über-schwemmt sieht, dafür umso öfter das Gegenteil, nämlich dass der Durchblick fehlt.

Die Natur komplexerAngelegenheitenDer Durchblick fehlt immer öfter und das nicht von ungefähr. Komplexität ist deshalb das größte Problem im Ma-nagement, weil komplexe Angelegen-heiten prinzipiell mehr Information (im fachlich korrekten Sinne) enthalten, als

das menschliche Gehirn erfassen und verarbeiten kann. Das macht komplexe Probleme und Systeme für uns un-durchschaubar, unberechenbar und oft auch unbeherrschbar.

Erfolgreiche Entscheidungen hängen aber von ausreichend relevanter In-formation ab. Herrscht hier ein Defi zit, kommt es leicht zu Fehlentscheidungen und damit zu Fehlsteuerungen und Fehlentwicklungen. Hinzu kommt, dass Informationen nicht wie durch unsicht-bare Kabel von einem Gehirn ins ande-re fl ießen können. Leider sieht die Natur vor, dass der Empfänger einer Nachricht diese ganz anders entschlüsseln kann als sie der Sender verschlüsselt hat. So kann auch die einfachste Sprache zum Geheimcode werden und das forciert das Informationsdefi zit.

Das Phänomen der Komplexitätsfalle Die Folge dieser von der Natur vorge-gebenen Eigenschaften komplexer Pro-bleme und Systeme ist, dass mit zuneh-mender Komplexität die Gefahr wächst, dass wir mit zu wenigen oder falschen Informationen arbeiten. Dann funktio-nieren unsere Lösungsansätze nicht, es stellt sich Misserfolg ein. Die Folge von Misserfolg ist Stress und die Folge von Stress ist, dass dieser das Gehirn daran hindert, notwendige Informationen richtig aufzunehmen und zu verarbei-ten. Stress führt also zu ansteigendem Informationsmangel und dieser führt wiederum zu ansteigendem Stress. Es schließt sich ein fataler Teufelskreis. Er kann zu dramatischen Entwicklungen führen, wenn man das Muster der Kom-plexitätsfalle nicht rechtzeitig erkennt und löst.

Die wichtigsten Merkmaleder KomplexitätsfalleDie menschliche Wahrnehmung verän-dert sich stressbedingt vom immer en-ger werdenden Tunnelblick weg bis hin zum Realitätsverlust. In späten Stadien treten komplexe Kommunikationsstö-rungen auf, die zu schweren Konfl ikten führen. Sie lassen sich nur noch durch Eskalationen und Trennungen aufl ö-

sen. Das Muster der Komplexitätsfalle beginnt typischerweise mit Konfl ikten. Meist werden sie mit Intrigen, Mob-bing, Bös- oder Unwilligkeit verwech-selt. Wird dieses Problem falsch dia-gnostiziert, kommt es zu ausgeprägten Fehlsteuerungen. Wer von der Komple-xitätsfalle betroff en ist, investiert seine Ressourcen in Lösungen für Probleme, die nur in seinem Kopf existieren, aber nicht der Realität entsprechen. Die-se werden hartnäckig verteidigt und aufrechterhalten. Betroff ene, die nicht richtig begleitet werden, erleiden am Ende dieses Dilemmas häufi g schwere Depressionen, Burnout-Syndrome und körperliche Gesundheitsstörungen wie Herzbeschwerden, die in manchen Fäl-len tödlich enden.

AuswirkungenMeine Studien über dieses Phänomen ergeben, dass die Komplexitätsfalle enorme wirtschaftliche, soziale und ge-sundheitliche Auswirkungen hat. Das Fazit ist: Relevante Information ist wich-tiger als Geld. Je besser informiert ge-arbeitet wird, desto ökonomischer und gesünder wird gearbeitet. Der sorgfäl-tige Umgang mit Information wird in diesem Jahrhundert entscheidend sein. Man nennt es nicht von ungefähr das Informationszeitalter.

dIe kOmpLexITÄTsFALLeEin rascher Überblick von Maria Pruckner

AutoRIN uND KoNtAKt

Maria PrucknerWillendorf in der Wachau 113641 Aggsbach Marktoffi [email protected]

ISBN 3-8334-3153-9

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bioskop 4/2006

Es ist natürlich ein – wenn auch viel-leicht denkwürdiger – Zufall: im Jahre 2006 wurde das 100. Todesjahr des Physikers Ludwig Boltzmann (1844-1906) begangen1 und es war zugleich auch das 100. Geburtsjahr des Bio-Ökonomen Nicholas Georgescu-Roe-gen (1906-1994)2.

eBeRHARD K. SeIFeRt

Anlässe und BedenkenWas haben diese beiden Wissenschaft-ler aus völlig verschiedenen Disziplinen gemeinsam – und v. a., was macht den Grund der intensiven Beschäftigung mit und heftigen Kritik von letzterem an Boltzmann aus? 3

Es ist, um unmittelbar auf den Punkt zu kommen, das jeweilige Verständnis des vielleicht fundamentalsten Natur-gesetzes, des sog. Entropiegesetzes, des 2. Hauptsatzes der Thermodyna-mik und damit verbunden das jewei-lige (natur-)wissenschaftliche Weltbild und entsprechender Epistemologien im allgemeinen. 4

Darüberhinaus bei Georgescu-Roegen die Fruchtbarmachung des Entropie-Gesetzes für den ökonomischen Pro-zess, eine damit verbundene Funda-mental-Kritik der herrschenden (v.a. neoklassischen) ökonomischen Lehr-meinungen sowie die Begründung einer alternativen Bio-(oder ‚ökolo-gischen’) Ökonomik im besonderen.

Insofern sind solche biografischen Anlässe stets willkommene Gelegen-heiten, über personale Ehrungen hi-naus auch auf die von solchen Wissen-schaftsheroen geleisteten Beiträge zu

einem Natur-Gesellschafts-Verständ-nis und einem erkenntnisleitenden ‚Weltbild’ zu reflektieren. Eine solche Fundamental-Reflektion auf unseren immer problematischer werdenden ‚Umgang’ mit der Natur, der ‚physis’ (man nehme nur die Boulevard-fähige Klima-Wandel-Debatte als Indiz) wird längst nicht mehr nur etwa als Außen-seiter-Einwurf abgetan, sondern von ‚anerkannten’ Autoritäten – wie etwa Nobelpreisträger Ilya Prigogine von 1977 als pars pro toto – geführt und gefordert im Sinne eines neuen ‚Di-alogs mit der Natur’ (so der deutsche Titel seines mit I. Stengers verfassten populären Buches von 1980). Dies ist der – naturphilosophische und epistemologische - Kontext, in den solche jubilarischen Anlässe wie die beiden vorliegenden inhaltlich hinein-gestellt sind − und worauf in dieser

Schwerpunkt-Ausgabe von bioskop ‚in verzweifelter Kürze’ (um ein Lieblings-wort des Ökonomie-Lehrmeisters von Georgescu-Roegen, J. A. Schumpeter, aufzugreifen) ein paar Schlaglichter (mit weiterführenden Literatur-Hin-weisen ) geworfen werden sollen.

entropie – „Die Wärmeals Rivalin der Gravitation“Mit dieser in Anführungszeichen ge-setzten Charakterisierung der – be-zeichnenderweise erst – intensiveren industriellen Beschäftigung mit Wär-me(-Kraftmaschinen in denen Ver-brennung wirtschaftlich nutzbare Ar-beit liefert5), überschreibt Prigogine metaphorisch zutreffend sein Auf-taktkapitel seiner für vorliegenden Zusammenhang besonders für Laien ausgesprochen empfehlenswerten Entdeckungsgeschichte der Thermo-

bIOÖkOnOmIk –WIder mechAnIsTIsche WeLTbILderZu Hundertjährigen Jubiläen von L. Boltzmann und N. Georgescu-Roegen

1 u. a. mit einem Gedenkband zum hundertsten Todestag von seiner Enkelin und Hüterin des wissenschaftlichen Nachlasses Ilse Maria Fasol-Boltzmann und ihrem Mann, Prof. Gerhard Lud-wig Fasol (2006). 2 In Frankreich replizierte der Georgescu-Roe-gen-Kenner J. Grinevald kritisch auf einen Jubilä-ums-Beitrag in Le Monde (27.09.2006) von Prof.

Fitoussi/Universität Strassburg, wo Georgescu-Roegen in den 7oern Gastprofessor war und dort die Ehrendoktorwürde verliehen bekam. 3 Vgl. hierzu Roegens Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process“, S. 141 ff.4 Einstein meinte: „Eine Theorie ist umso ein-drucksvoller, je größer die Einfachheit ihrer Prämissen ist, je verschiedenartigere Dinge sie

verknüpft und je weiter ihr Anwendungsbereich ist. Deshalb der tiefe Eindruck, den die klassische Thermodynamik auf mich machte. Es ist die ein-zige physikalische Theorie allgemeinen Inhalts, von der ich überzeugt bin, dass sie im Rahmen der Anwendbarkeit ihrer Grundbegriffe niemals umgestoßen werden wird.“5 Auch für Prigogine ist es insofern eine amü-

Ludwig Boltzmann (1844 - 1906) Nicholas Georgescu-Roegen (1906 - 1994)

Personen und Geschichte

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dynamik und schließlich dem Entro-pie-Gesetz6, denn „Das Problem des Wirkungsgrades von Wärmemaschi-nen … ist genau der Punkt, an dem der Begriff des irreversiblen Prozesses in die Physik Eingang fand“ (S. 115).Damit eben in die ‚klassische’ New-tonsche Gravitationsphysik mecha-nisch-dynamischer Himmelskörperbe-wegungen, für deren mathematische Beschreibungsgleichungen es sozusa-gen ‚egal’ ist, in welcher Richtung sie verlaufen, genauer, in der Irrreversibili-tät noch kein Problem darstellt. Anders hingegen in der sich ent- wickelnden Thermodynamik7, mit der eine neue Betrachtungsweise phy-sikalischer Veränderungen ins Spiel kam. Zunächst – mit bedeutenden ‚Vorläufern’ – v.a. durch Joule’s (1847) allg. Äquivalent physiko-chemischer Transformationen, mittels derer die sich erhaltende Größe, die man darauf-folgend als <Energie> bezeichnete, gemessen werden kann. Damit wurde der ‚Energieerhaltungssatz’ gefunden, ein Leitprinzip bei der Erforschung dieser neu entdeckten Prozesse – wo-mit die (klassische) Welt einstweilen noch heil blieb, wie es Joule in eng-lisch-kultureller Kontextualität expli-zit zum Ausdruck brachte8 und noch eindrucksvoller von drei deutschen

Wissenschaftlern (Helmholtz, Mayer, Liebig)9, die einer Kultur angehörten, welche die Sichtweise Joules im Na-men einer streng positivistischen Pra-xis zurückgewiesen hätte. 10

Schon vor der allgemeinen Formulie-rung des Prinzips der Erhaltung der Energie durch Mayer (1842) und Helm-holtz (1847), hatte der französische In-genieur Sadi Carnot 1824 bereits eine erste Formulierung des sog. Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik ge-liefert, auf der Clausius aufbauend (1850) den Carnotschen Kreis-Prozess in dem neuen Rahmen der Erhaltung der Energie beschrieb, woraus sich ein neues Problem ergab, mit dem die Ir-reversibilität in die Physik Einzug hielt und die Technologie zur Kosmologie erhob: wie lässt sich beschreiben, was in einer realen Maschine geschieht? Wie können die Verluste in die Energie-bilanz einbezogen werden? In welcher Weise verringern sie den Wirkungs-grad? William Thomson erkannte die Bedeutung der Problematik der ‚Dissi-pation’ der Energie und lieferte als er-ster den Zweiten Hauptsatz der Ther-modynamik: einer ‚universell’ in der Natur auftretenden Tendenz zur De-gradation der mechanischen Energie – womit, wie Prigogine unterstreicht, bereits eine kosmologische Dimension impliziert war.

Im Jahre 1865 war es dann an Clausius, diesen Schritt von der Technik zur Kos-mologie explizit zu tun und er führte auch den neuen Begriff ‚Entropie’ ein (aus dem Griechischen: Änderung oder Entwicklung). Anders als bei mecha-nischen Transformationen, in denen Reversibilität und Erhaltung koexistie-ren, kann bei einer physikalisch-che-mischen Transformation die Energie erhalten bleiben, obwohl ihre Umkeh-rung nicht möglich ist. Das Eigentüm-liche an dem Zweiten Hauptsatz ist daher, dass der sog. Erzeugungsterm diS stets positiv ist. Die Entropie-Erzeu-

gung ist daher ein Ausdruck irrever-sibler Änderungen, die sich innerhalb des Systems vollziehen. Die Entropie wird dadurch – der eingängigen For-mulierung von Eddington zufolge – zu einem ‚Zeitpfeil’. In Clausius’ Formulierung lauteten die beiden ersten Hauptsätze:1. Die Energie der Welt ist konstant. 2. Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu.

Auf die an diesem Punkt einsetzenden Überlegungen von Prigogine (S.128 ff ), die offenbar seine eigenen Theorie ‚dissipativer Strukturen’ in offenen Sy-stemen inspirierte, kann hier nur aus-drücklich hingewiesen, aber aus Platz-gründen nicht eingegangen werden: auf die Natur ‚irreversibler Prozesse’, in denen man auch eine letzte Spur einer spontanen, eigenen Aktivität der Natur sehen kann, in einer Situation, in der die Versuchsanordnung darauf abzielt, diese zu bändigen (die ‚übliche’ erfolg-reiche physikalische Praxis). Wir stünden daher seither – und in fortwährenden Diskussionen bis heute – vor zwei grundlegend verschiedenen Beschreibungen der Natur: der (klas-sisch-Newtonschen) Dynamik, die für die Welt der Bewegungen gilt, und der Thermodynamik, der Wissenschaft von komplexen Systemen, denen eine Ent-wicklung zur Entropiezunahme eigen ist. Und diese Dichotomie werfe die Frage auf, wie diese Beschreibungen miteinander verknüpft sind?

Boltzmann -Probalistische Rückholung derentropie in die klassische Mechanik?Damit war der – von der Newtonschen Physik geprägte – Alleinvertretungsan-spruch des mechanischen Weltbildes, gegen den viele ‚Romantiker’ (wie Goethe) vergeblich anliefen, jedoch ‚überwunden’, d.h. einem erweiterten Naturverständnis gewichen (die New-tonsche Physik war/ist ja nicht ‚falsch’, sondern in ihrem Geltungsanspruch

sante Tatsache, dass Adam Smith an seinem Reichtum der Nationen arbeitete und Daten über die Aussichten und Bestimmungsgründe des industriellen Wachstums zusammentrug, als James Watt an der gleichen Universität da-bei war, letzte Hand an seine Dampfmaschine zu legen. Dennoch sieht Smith (1776) „…den einzigen Nutzen der Kohle darin, Heizwärme für

die Arbeiter zu liefern. Wind, Wasser und Tiere sowie die einfachen Maschinen, die von ihnen abgetrieben wurden, waren im 18. Jahrhundert noch immer die einzig denkbaren Kraftquellen “ (S. 111).6 daher und so auch zur Nachvollziehbarkeit für Leser halten wir uns in diesem Beitrag durchaus nahe an Prigogines Charakterisierungen der

Physik-Geschichte7 nach Prigogine so charakterisierbar: „Druck, Volumen, chemische Zusammensetzung, Tem-peratur und Wärmemenge sind die klassischen physiko-chemischen Parameter, mit deren Hilfe die Eigenschaften makroskopischer Systeme de-finiert werden. Die Wissenschaft von den korre-lierten Veränderungen dieser Eigenschaften ist

Ilya Prigogine (1917-2003)

Personen und Geschichte

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zur Erklärung des ‚Physischen’ ledig-lich begrenzt), das nicht auf die tradi-tionelle Physik zurückgeführt werden konnte. Diese neue Erkenntnis hielten die ‚Energetiker’ am Ende des 19. Jahr-hunderts den ‚Atomisten’ entgegen, die jedoch nicht aufgeben wollten, was sie für das eigentliche Ziel der Phy-sik hielten, nämlich die Komplexität der Naturerscheinungen ‚zurückzufüh-ren’ (‚bändigen’, s.o.) auf die gewohnte Einfachheit elementarer Verhaltens-weisen, wie sie in den klassischen me-chanischen Bewegungsgesetzen be-schrieben werden.

Person und Werk von Boltzmann sind unauflöslich mit dem geradezu ‚ver-zweifelten’ Versuch verbunden, als Er-ster die Entropie-Gerichtetheit (‚Zeit-pfeil’) doch wieder zurückzubinden in das mechanische Weltbild und eine ‚klassische’ physikalische Erklärung. Diese hat er mit der für menschliches Verständnis und Erfahrung völlig un-vereinbaren Vorstellung einer Rever-sibilitäts-Möglichkeit unternommen, derzufolge im Endergebnis bspw. er-kaltetes Wasser auch wieder von selbst spontan in einem warmen Zustand (zurück) übergehen könne: mittels einer probalistischen ‚Wahrscheinlich-keits’-Argumentation entwickelte er eine ‚statistische Mechanik’, derzufolge man eben nur ewig lang genug warten müsse, bis dieser ‚unwahrscheinliche’ Zufall’ einer Rückkehrung von kalt nach warm auftreten könnte.

Die mit Boltzmanns Arbeiten11 ausge-lösten, in der Folge immer wieder vi-rulenten inner-physikalischen Debat-ten12 haben m. W. bislang jedoch kein anderes Ergebnis gezeitigt, als dass die Entropie universal anerkannt ist und damit auch ein irreversibler ‚Zeitpfeil’ existiert, den auch die unbestreitbaren Prozesse der Höherkomplexikation von Leben nicht grundlegend umkeh-ren können. Zusammenhang und Dif-ferenz von klassischer Gleichgewichts-

Thermodynamik und Theorien offener Systeme ‚fern vom Gleichgewicht’ sy-stematisch erforscht und entwickelt zu haben, ist v.a. das Verdienst von Prigo-gine, der damit für offene Systeme ein neues Erkenntnistor aufgestoßen hat. Doch hierauf brauchen wir für vorlie-gende/folgende Schlaglichter auf den ökonomischen Prozess nicht einge-hen.

Mainstream-Ökonomie –ein Spätzünder aus dem Geisteder MechanikWährend sowohl die Biologie mit der Darwinschen Evolutions-Theorie, als auch die Physik als ‚Vorbilds’-Wissen-schaft mit den Thermodynamischen Erkenntnissen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Prokrutesbett des mechanistischen Weltbildes he-rausstürmten, führten die Gründer der bis heute herrschenden (neo-klas-sischen) Ökonomik-Lehre nichts ge-ringeres im Schilde, als diese seit ihrer Genese13 immer höchst kontroverse Wissenschaft analog zu den Ideen und Prinzipien der mechanischen Physik zu einer ‚mechanics of utility and interest’ zu re-formulieren (Walras nicht zuletzt explizit gegen die an Bedeutung ge-winnende Marxsche Theorie) – diese mechanistische Spätgeburt ist schon so oft en detail dargelegt worden14, als dass man dies immer wieder neu ‚be-weisen’ müsste. Interessanter ist demgegenüber, ob, wann und wie Autoritäten oder ‚dis-senter’ vom mainstream auf diese falsche Gründung hingewiesen haben sowie alternative und Wissenschafts-zeitgemäße(re) Ansätze formuliert ha-ben (siehe J. Gowdy in diesem Heft).Auf zwei Beispiele sei hier nur stellver-tretend hingewiesen. Der wohl maß-gebendste englische Ökonom um die Wende des 19./20. Jahrhunderts und selbst mit Wegbereiter des neoklas-sischen Paradigmas, Alfred Marshall, hat in seinen ‚Principles’ immerhin hell-seherisch konzediert: „the Mecca of

the economist lies in economic biolo-gy rather than in economic dynamcis”, wenngleich er dieser Einsicht selbst nicht nachgekommen ist.Das andere Beispiel ist die Arbeit von Martinez-Alier/K. Schlüpmann (1987), die sich der Mühe unterzogen haben, ‚vergessene’ Vorläufer einer nicht-me-chanischen Ökonomischen Auffassung ausgegraben zu haben.Doch bei allen Verdiensten solcher An- und Vorläufe, die ihnen zu Ehren wider den Strom zuteil werden muß, gibt es einen unbezweifelten Markstein in der Neujustierung des Verhältnisses der Wissenschaften des ‚Natürlichen’ und der Ökonomie, der sozusagen mit einem Schlag eine neue Agenda hat setzen können, die bis heute allen Ansätzen und Weiterentwicklungsver-suchen einer nicht-naturvergessenen – ‚ökologischen’ – Ökonomik zum Refe-renzpunkt dient: das Werk von Nicholas Georgescu-Roegen und seine Grund-legung einer neuen ‚Bioeconomics’.

Bioökonomie – Grundlagen zum Nachhaltigkeitsparadigmaökologischen WirtschaftensVon der internationalen Ökonomen-Zunft hochgeschätzt – insbesondere wegen seiner mathematischen Exzel-lenz (Promotion an der Pariser Sor-bonne und Stipendien in London und Harvard) - und so bspw. vom Doyen der US-Wirtschaftswissenschaften und Nobelpreisträger, Paul Samuel-son, dem talentierten youngster im gemeinsamen Schumpeter-Zirkel der 30er Jahre immer wieder hochgelobt als „a scholar’s scholar, an economist’s economist“, ist Nicholas Georgescu-Ro-egen (NGR) gleichwohl ein ähnliches Schicksal widerfahren wie z.B. der be-rühmten englischen ‚Dissidentin’ vom mainstream, Joan Robinson, der man ebenfalls den sog. ‚Ökonomie’-Nobel-preis (nachträgliche Bank-Stiftung) nie verliehen hatte. Wie eben nie/selten ‚Dissidenten’ und bislang noch gar kei-nem ‚ökologischen’ Ökonomen.

die Thermodynamik“. (S. 114)8 hier (S. 117) zitiert er Joule: „In der Tat beste-hen Naturphänomene, seien es mechanische, chemische, oder solche des Lebens, nahezu gänzlich in einer beständigen wechselseitigen Umwandlung von Anziehung, durch den Raum lebendiger Kraft (Anm.: kinetischer Energie) und Wärme. Auf diese Weise wird die Ordnung im

Universum aufrechterhalten – nichts wird ge-stört, nichts geht jemals verloren, sondern die ganzen Maschine, so kompliziert sie auch ist, funktioniert reibungslos und harmonisch. … denn das Ganze wird von dem unumschränkten Willen Gottes gelenkt.“9 Die alle drei zum Zeitpunkt, als sie ihre Ent- deckungen machten, keine Physiker waren.

10 vgl. hierzu Prigogines hieran geknüpfte, hoch-interessanten kultur-philosophischen Betrach-tungen, S. 116 ff.11 eine Sammlung wichtiger Beiträge findet sich unter dem Titel „Entropie und Wahrscheinlich-keit“ als Bd. 286 in Ostwalds Klassiker der Ex-akten Wissenschaften (Neuausgabe 2000) 12 Prigogines Würdigungen des Boltzmannschen

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Für diese weltweit sich formierende Richtung von interdisziplinär koope-rierenden ökologischen Ökonomen jedoch stellt das Werk von NGR – un-beschadet etwaiger Diff erenzen im Einzelnen – wohl der theoretisch ge-haltvollste Ansatz einer biophysika-lischen Fundierung des Wirtschafts-prozesses dar.

Den wider die (neoklassische) main-stream Ökonomie gerichteten Grund-gedanken, dass der Wirtschaftsprozess nicht mit statischen (Gleichgewichts-) Modellen erfassbar ist, sondern einer fortwährenden ‚dynamischen Entwick-lung’ unterliegt, hatte NGR über seinen Harvard-Lehrmeister, J. A. Schumpeter, bereits aufgenommen (‚schöpferische Zerstörung’).

Dieser hatte den an der Pariser Sor-bonne mit Bravour promovierten Ma-thematiker und Harvard-Stipendiaten ‚zufällig’ überhaupt erst zu einem Öko-nomen gemacht und wollte mit ihm für seine Theorie der ‚Business Cycles’ ko-operieren – ein verpasstes Vorhaben, weil NGR sich trotz seiner ‚shooting star’ Pionierarbeiten für die seinerzeit noch neue ‚mathematische Ökonomie’ während dieser Harvard-Jahre und entgegen Schumpeters Wunsch 1936 doch wieder in seine rumänische Hei-mat zurückbegab.

Von dort ist er dann 1948 wieder in die USA gefl ohen und wurde nach Zwi-schenaufenthalt in Harvard mit Hilfe seines Freundes und Kollegen aus den Schumpeter-Jahren, dem Exil-Russen und Erfi nders der Input-Output-Ana-lyse, W. Leontief (Nobelpreisträger) als Professor an die renommierte Van-derbilt Universität/Nashville Tennesse berufen, wo er 1976 zum Siebzigsten emeritiert wurde und dort auch in Nashville 1994 verstarb.Sein oeuvre wurde von seiner Witwe der für Theoriegeschichte prädesti-nierten Duke-Universität/USA der

Nachwelt vermacht und lockt seitdem Forscher an (auch den Verf. schon), um ungehobene Schätze seines Schaff ens zu sichten und zu verarbeiten.Übersetzt in div. Sprachen (incl. Ja-panisch), steht zwar eine deutsche Übersetzung noch aus (die d. Verf. in Arbeit hat), doch hierzulande ist sein Ansatz unter Experten kein unbe-kannter, wenngleich einem breiteren Interessentenkreise immer noch nicht so nahe gebracht, wie in anderen Län-dern und Sprachen, für die zumindest schon eine summarische Zusammen-fassung seines vielschichtigen Werkes v. a. in dem ‚verdaulichen’ Buch von Dragan/Demetrescu „Entropy and Bio-economics“ (1986/1991) den Einstieg in seine Hauptschriften erleichtert.

Denn: obwohl in ein leicht verständ-liches ‚bioökonomisches Minimalpro-gramm’ von 9 Punkten mündend15, sind seine inhaltlichen und epistemo-logischen Kritiken der mainstream- economics sowie biophysikalischen (Neu-)Begründungen einer ‚bioecono-mics’ nicht unbedingt eine leichte Kost – man muss schon einiges an ökono-mischen Denkgewohnheiten bereit sein, in Frage zu stellen und naturwis-senschaftliche Einsichten assimilieren, um seinem Denken zu folgen, welches von der physikalischen Thermodyna-mik und dem 2. Hauptsatz, dem ‚Entro-piegesetz’ seinen Ausgang nahm und für ökonomische Prozesse in vielerlei Weise weiterentwickelt wurde.16 Illus-trativ vielleicht zugänglicher in den auch von NGR selbst verwendeten ‚Sanduhr’-Beispielen 1 bis 3.17

Ein isoliertes System – wie das Weltall – kann dargestellt werden durch eine 1. Sanduhr, deren Inhalt aus Ener-gie/Materie besteht (Fig. 1). Da völlig abgeschlossen, gibt die Konstantheit dieser beiden die Bedeutung des 1. Hauptsatzes wieder: nichts kommt hinzu, nicht geht verloren – was üb-rigens auch bedeutet: Homo sapiens kann beide nicht ‚erschaff en’ oder neu ‚produzieren’! Zwei Aspekte sind zu-dem hervorzuheben: a) im oberen Zu-stand sind beide für Lebewesen nutz-bar/verfügbar, im unteren nicht mehr; b) diese Weltall-Uhr ist nicht umdreh-bar, d.h., dass verfügbare Energie/Ma-terie unwiderrufl ich in den Zustand der Unverfügbarkeit übergeht. In der 2. Sanduhr (Fig. 2) versinnbild-licht eine geschwungene Röhre den ökonomischen Prozess, der verfüg-bare Energie/Materie aus der Umwelt entnimmt und nach Gebrauch wieder in unverfügbarer Form (‚Abfall’) abgibt – einen ‚throughput’ also, wie K. Boul-ding dies nannte.Ein solcher Prozess benötigt allerdings ein materiales Gerüst, da wir Energie nicht ohne Hilfe materialer Appara-turen manipulieren können. Unsere Erde ist aber kein ‚off enes’, sondern ein geschlossenes mit nur Energie-Aus-tausch mit dem Universum, nicht aber Materie. Daher illustriert Sanduhr 3 ein ge-Fig.1 Fig.2 Fig.3

Joseph Schumpeter (1883 - 1950)

Ordnungsprinzips bspw. verkennt zwar nicht die Fruchtbarkeit der Frage des Übergangs zwischen der mikroskopischen und der makroskopischen Ebene für die Entwicklung der Physik, ebenso wenig wie dass die Gleichgewichts-Thermody-namik befriedigende Erklärung für eine Anzahl physikalisch-chemischer Erscheinungen, doch es bleiben fundamentale Fragen, insbesondere:

ob der Begriff der Gleichgewichtsstrukturen tat-sächlich all die verschiedenen Strukturtypen um-fasst, die in der Natur anzutreff en sind. Die Ant-wort hierauf fasst er eindeutig mit nein! (S. 135)13 gewöhnlich, aber unzutreff end, beginnend mit dem schottischen Moralphilosophen Adam Smith mit seinem erwähnten zweiten Haupt-Werk von 1776 – zu ‚Vorläufern’ s. bspw. das mo-

numentale Werk von Schumpeter zur Geschich-te der ökonomischen Analyse; natürlich hatte es auch vor dem aufstrebenden Industrie-Kapita-lismus ‚Wirtschaften’ und Refl ektionen dazu ge-geben in Antike und Mittelalter, doch in einem anderen Kultur-Kontext.14 Als pars pro toto vgl. Mirowski (1989)15 enthalten in der vom Verf. besorgten IÖW-

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schlossenes System durch eine ge-schwungene Röhre (Fig. 3), in der der breite runde Pfeil den konstanten Betrag an Materie anzeigt, die he-rumgewirbelt wird. Da aber kein Ma-terie-Zufluss auf die Erde mehr hin-zukommt, Materie nicht allein durch Energie-Umwandlungen gewonnen werden kann und schon verstreute Materie durch Recycling alleine nicht ‚erzeugt’ werden kann – wird einsich-tig, dass fortwährende Degradation in einem geschlossenen System irgend-wann an einen Punkt gelangen muss, an dem interne Arbeit nicht mehr gespeist werden kann! Das wahre – unabänderliche (im Unterschied zur Möglichkeit einer Reduzierung bspw. von CO2-Emissionen) - Human-Problem besteht folglich in der Lang-frist-Knappheit von terrestrischer Ma-terie, während die Energie der Sonne voraussichtliche 4,5 Mrd. Jahre als Energie-Quelle bestehen und nutz-bar bleibt.

Die Notwendigkeit einer Betrach-tung der ‚physischen Grundlagen’ des Wirtschaftens ist mittlerweile – selbst von der neoklassischen mainstream Ökonomie als ‚Umwelt- und Ressour-cenökonomik’ – grundsätzlich aner-kannt und liegt sogar bspw. den sog. ‚Umweltökonomischen Gesamtrech-nungen’ zugrunde.18

Durch derartig erweiterte - nicht-mo-netäre, sondern physische - Analysen kommt auch eine (in monetären Be-trachtungen verborgene) geradezu ‚beschämende’ Ineffizienz unser ver-meintlich so hocheffizienten Industrie-wirtschaften ans Licht, die den größten Teil der verwendeten Ressourcen nicht in die eigentlich bezweckten Produkte, sondern in (‚höher-entropischen’) Ab-fall/Müll transformieren!19

Zwar konzediert auch der wohl be-kannteste ‚Schüler’ von NGR, Prof. Her-man Daly (Univ. Maryland, vormals Weltbank-Ökonom) und Mitbegrün-der des International Journal „Ecologi-cal Economics“, dass gegenwärtig die ‚pollution’-Probleme (Hauptproblem ‚Klimawandel’) vordringlicher gewor-den sind als die von NGR in den Vor-dergrund der theoretischen Analysen gestellten Materie-Probleme von ‚Res-sourcen-Knappheiten’, die nach dem schockartigen 1. Club-of-Rome-Bericht von 1972 von den ‚Grenzen des Wachs-tums’ unterdessen als eher ‚langfristige’ Probleme angesehen werden. Wobei recht betrachtet, hier keinerlei Gegen-satz besteht, da ‚pollution’, d.h. klima–relevante Emissionen, ja ‚nur’ die Folge von Ressourcen-Abbau und Nutzung von Materie (fossilen Energien) sind.

Die grundlegende NGR-Einsicht, dass nicht nur Energie (wie in der Physik), sondern auch Materie der Entropie unterliegt, macht insofern den Fort-bestand der Spezies Homo sapiens in dem ‚System Erde’ (die nur gegenüber der Sonnen-Energie ‚offen’ ist, aber keinen Materieaustausch mit dem Universum hat) ‚in the long run’ vor allem abhängig von der immer rarer werdenden terrestrischen Materie (wie absehbar mit fossilen Energieträgern, aber auch bspw. seltenen Metallen). Dementsprechend (bei kurz- und mit-telfristiger Ausschöpfung aller denk-baren und machbaren ‚Zwischenlö-sungen’ wie die von Rifkin kürzlich in

Prof. Herman Daly

die ‚ZEIT’ proklamierte ‚Wasserstoff-wirtschaft’) auch von einer entropisch betrachtet ‚nicht-parasitären’ Nutzung der in menschlicher Perspektive ‚un-endlichen’ Sonnen-Energie und evo-lutionär erprobter niederentropischer Prozesse - wofür die in jüngster Zeit stärker in das Blickfeld von Wissen-schaft und Politik gelangende BIONIK eine angemessene, nicht-mechanische ‚Technologie-Philosophie’ sein könnte.

AutoR uND KoNtAKt

Schrift Nr. 5/198716 Um s. M. n. gröbste Missverständnisse zu vermei-den, hatte er sich etwa bewegen lassen, ein Vor-wort zu dem populären Buch von J. Rifkin zu „En-tropie“ zu verfassen, welches er wenig solide fand. 17 Vgl. auch näher Seifert (1994)18 Darin werden insbesondere in Erweiterungen der traditionellen Volkswirtschaftlichen Gesamt-

rechnungen durch ein sog. ‚Satelliten-System’ von ‚Umweltökonomischen Gesamtrechnungen’, wie in UN-Vorschlägen propagiert, in pionier-haften Arbeiten des Statistischen Bundesamtes hierzulande die ‚physischen’ Dimensionen des Wirtschaftsprozesses systematisch und kontinu-ierlich ermittelt.19 Vgl. UGR-Beirat (2002)

Dr. rer.oec eberhard K. Seifert- von 1993-2006 Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie- derzeit Dozent an der Universität Heidelberg/Alfred Weber Institut und Mitglied im Institut für ökologische Betriebswirtschaftslehre (IÖB e.V.) a.d. Universität Siegen- Gründungs- und Beiratsmitglied im Verband f. nachhaltiges Umweltmamanagement (VNUe.V.)- Gründungs- und Board-Koordinator der European Association for Bioeconomic Studies (EABS)[email protected]

LIteRAtuR

Neben den o a. Hauptwerken von NGR sei die vom Verf. besorgte deutsche Erst-Edition des ‚Rückblick’-Artikels von NGR aus dem Jahre 1986 angeführt, worin auch eine ausführliche Biblio-graphie der Arbeiten von NGR enthalten ist:- „ The Entropy Law and the Economic Process in Retrospect“, Schriftenreihe des Institut für öko-logische Wirtschaftsforschung/IÖW-Berlin Nr. 5/1987- der Eintrag des Verf. zu ‚NGR’ in G. Hodgson/W. Samuels (Eds.): The Elgar Companion to Instituti-onal and Evolutionary Economics, UK 1994- (das vom Verf. vermittelte) NGR-Interview im Greenpeace-Magazin 1/1992 (S. 16-18)- der letzte Aufsatz, so etwas wie ein ‚Vermächt-nis’: „Thermodynamics and We, the Humans“ in: E.K. Seifert/J.M. Alier (Eds.): Proceedings der 1. Internationalen EABS-Konferenz: Entropy and Bioeconomics, Milano 1992 - Deutsche Über-setzung von R. Kiridus-Göller : FORUM WARE 28 (2000) Nr.1-4, S.129 -143.

LITERATUR bei der bioskop-Redaktion.

Personen und Geschichte

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Mozart – Logenbruder und AufklärerDie Entdeckung der Natur war ein großes Thema zu Mozart´s Zeit. Sein wacher Intellekt rang um das neue Weltbild, denn dies heißt „Bildung“. So gesehen, waren Menschen wie er damals „gebildeter“, obwohl sie weni-ger wussten als wir. So nahm er regen Anteil an der experi-mentellen Aufklärung, die mit Versuch und Messung gegen Aberglauben und Dogmatismus antrat. Er war mit ihren führenden Köpfen befreundet. Beson-ders beeindruckte ihn der damals be-rühmte Kustos des k.k. Naturalienkabi-netts (des späteren Naturhistorischen Museums) Ignaz von Born, Mineraloge,

nATurFOrscher um mOZArTNaturverständnis des Rokoko zwischen Glaube und Aufklärung.Die Grundlagen unseres Weltbildes.

Bergbaufachmann und Universalge-lehrter. Als Freimaurer nahm Mozart an den „Übungslogen“ der „Wahren Eintracht“ teil, die Ignaz von Born als „Meister vom Stuhle“ mit Themen von der neuen Physik bis zu den Mysterien der Ägypter gestaltete. Der Komponist widmete ihm die „Maurerfreude“, (KV 471) und setzte ihm in der „Zauberflö-te“ ein musikalisches Denkmal – als Sa-rastro. Jedenfalls liebt der Verfasser die Deutung, dass sein erster Vorgänger zu einem Charakter der berühmtesten Mozart Oper wurde. „In diesen Heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht“ soll sogar wörtlich auf Ignaz von Born zu-rückgehen; (ob auch dieser Satz im heu-tigen Naturhistorischen noch stimmt, muss offen bleiben).

Große Gelehrte wie Gerard van Swie-ten und Nikolaus J.v. Jacquin schätzten Mozart auch als Freund ihrer Söhne. Der jüngere, besonders musikbegabte Sohn Jacquins schrieb Mozart 1784: “Wahres Genie ohne Herz ist Unding – denn nicht hoher Verstand allein, nicht Imagination allein; nicht beide zusam-men machen Genie – Liebe! Liebe! ist die Seele des Genies.“ Dein Freund Emi-lian Gottfried, Edler von Jacquin (Mo-zart nannte ihn Hinkiti Honki und gab dessen botanisch-chemischem Bruder Joseph v. J. den Spitznamen Blatteririzi)

Spannendste Jahrzehnteder ZivilisationsentwicklungEs war die Epoche der ersten wissen-schaftlichen Übersee Expeditionen

Toskanische Anatomie – ein Meisterstück in Farbwachs aus der zeroplastischen Schule von Florenz (ab 1771), aus der auch die Präparate des Josephinums stammen. Über 200 Leichen waren für die Organabgüsse einer Figur nötig (n. Marta Poggesi in Encyclopaedia Anatomica, Taschen Verlag

Köln 1999, Seite 615)

Start der Montgolfiere mit Pilàtre de Rozier und Marquis d´Arlandes am 21.11.1783 mit einer wah-ren Rauchorgie. Erst später wurde klar, dass es nicht um den aufsteigenden Rauch, sondern die spezifisch leichtere Heißluft ging und ließ Mist, alte Schuhe und feuchtes Gras zur Raucherzeu-gung weg. Das erste Abheben von der Erde – eine Sensation – der Apollo 11 Mission unserer Zeit vergleichbar. (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin)

BeRND LÖtSCH

Thema

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für das Kaiserhaus, etwa 1754, des Ni-kolaus Jacquin nach Venezuela, in die Karibik und zu den Antillen, von wel-cher der damals 27–jährige, allen Tro-penkrankheiten und Piratenüberfällen zum Trotz, 67 Kisten sowie lebende Tiere und Pflanzen nach Wien brachte. Man begann das Problem der geogra-phischen Längengradbestimmung zu lösen, an dem bis dahin viele Schiffe und Besatzungen gescheitert waren, wenn sie rettende Inseln nicht wieder fanden. Der englische Tischler John Harrison baute 1761 einen Chronome-ter (ursprünglich aus Holz), der nach 2-monatiger Atlantik-Überquerung nur 5 Sekunden differierte. Cook setzte die-sen Typus erfolgreich ein. Erst 200 Jah-re später wurde diese Präzision wieder erreicht und überboten, (z. B. durch die Seechronometer der Brüder Lang in Glashütte bei Dresden).

Es war auch die Zeit der Linné´schen Ordnung des Lebendigen, und eben-so wichtig der Widerlegung der Ur-zeugung durch Lazzaro Spallanzani, wonach selbst Mikroben Eltern haben müssten (und nicht spontan aus Dreck

entstehen, was damals noch allgemein geglaubt wurde). Man erreichte die er-ste Hochblüte wissenschaftlicher Ana-tomie in Bologna, Florenz und von dort her auch in Wien an der Militärärzte-akademie des Kaisers (Josephinum). Es war auch die Ära der Rousseau´schen Abkehr vom Gekünstelten hin zum Natürlichen – vom geometrischen Ba-rock-, zum naturromantischen Land-schaftsgarten, zugleich die Zeit der elektrischen und magnetischen Experi-mente, der Erfindung des Blitzableiters durch Franklin (die Welt feierte 2006 den 300sten Geburtstag des großen Amerikaners). „Der den Göttern die Blitze und den Tyrannen das Szepter entrang“ sagte Frankreichs Finanzmi-nister Turgot über ihn.

1783 hob der erste bemannte Heißluft-ballon der Papierindustriellen Mont-golfier von der Erde ab, 10 Tage später der erste Wasserstoffballon des Physi-kers Alexandre Charles und der Brüder Robert, welche mit Kautschuk ein gas-dichtes Baumwollgewebe zustande gebracht hatten. Die doppeltwirkende Dampfmaschine James Watts leitete

die industrielle Revolution ein. Eine an-dere Maschine markierte eine andere Revolution – das Schafott des Arztes Dr. Guillotin (die Verbesserung mit einer schrägen Schneide entstammt der An-regung des handwerklich geschickten Louis XVI., der noch nicht wusste, dass sie auch ihn treffen würde). Das Mi-kroskop eroberte als „Flohglas“ und „Insectenbelustigung“ die Aristokratie. Auch Familie Mozart brachte zwei Ge-räte aus England mit.

Pocken und PhotosyntheseDer Pockenarzt des Kaiserhauses, Dr. Jan Ingenhousz, Onkel von Mozarts Lieblingsschülerin Franziska von Jac-quin und deren erwähntem Bruder Gottfried rettete nicht nur unzählige Leben – er entdeckte (inspiriert durch Joseph Priestley´s Versuche mit Tie-ren und Pflanzen unter Glasglocken) schließlich den wichtigsten Lebens-prozess dieser Erde, nämlich die Sauer-stoffentwicklung der Pflanzen im Licht. Damit verhalf er in der Folge wohl auch dem Wien Maria Theresias zum groß-zügigsten Grünkonzept einer europä-ischen Hauptstadt.

Der Floh – alltäglicher Quälgeist aller Schichten – machte Barock Mikroskope als „Flohgläser“ rasch zur „Insektenbelustigung“ der Aristokratie – doch nährte sein komplexer Feinbau auch Zweifel, ob solch winzige Wunderwerke einfach aus nichts als Dreck von selbst entstehen könnten (was noch allgemein geglaubt wurde). (Foto Lötsch)

Man kann sich den Schrecken der Seuche für die Barockmenschen, deren Ärzte ihr hilflos ge-genüberstanden, heute kaum mehr vorstellen, da uns Impfung und die WHO Weltkampagne davon befreiten. Doch noch 1967 forderte sie weltweit 2Mio. Tote.

Der Hohlspiegel Franz Stephans bündelte das Sonnenlicht für das Diamantenexperiment, wahr-scheinlich war noch eine Brennlinse nachgeschal-tet. Ziel war das Erschmelzen eines Großdiaman-ten aus vielen kleinen – die spurlose Verbrennung, aber das verblüffende Ergebnis. Eine wahrhaft kaiserliche Entdeckung. (Leihgabe Technisches Museum Wien)

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Von der Alchimie zur ChemieAuf der einen Seite herrschte noch Aber-glaube und alchimistische Hexerei bis hin zur Goldmacherei - unser erwähnter erster Kustos und Mozart Freund, Ignaz v. Born entlarvte mehrere Scharlatane. Manche Fürsten sperrten Alchimisten im Labor ein, um sie zur Preisgabe ihres Geheimnisses zu zwingen und knüpften sie mit Metallstaub gepudert auf, wenn sie versagten. Der Alchimist Böttger unter dem sächsischen August dem Starken entging diesem Schick-sal dadurch, dass er in der Zernierung immerhin das Geheimnis des chine-sischen Porzellans löste – Grundlage der Meissner Manufaktur, die seinem Herrn mehr brachte als ein Paar Goldkörner im Schmelztiegel. Selbst kluge Köpfe konnten noch an die Umwandlung von Elementen ineinander glauben – auch Franz Stephan, Gründer unserer wissenschaftlichen Sammlungen und recht ernsthafter Amateur-Gelehrter, hoffte auf einen seriösen Goldmacher. Man hatte ja noch keine exakten che-mischen Begriffe – und der Gatte Maria Theresias war auch ökonomisch sehr geschickt: Warum nicht „Mehrwert“ aus

Laborversuchen erzielen? So trachtete er aus einem Häufchen kleiner Rohdi-amanten einen großen zu schmelzen - mit Hilfe eines riesigen Brennspiegels mit Brennlinse. Zu seiner Enttäuschung blieb im 1000 grädigen Fokus gar nichts von ihnen übrig: Der Monarch wurde so zum Entdecker der restlosen Verbrenn-barkeit des Diamanten. Eine wahrhaft kaiserliche Entdeckung. Dass das här-teste, kostbarste glasige Mineral reiner Kohlenstoff sei wie Kohle oder Graphit war vor Lavoisier undenkbar.Gleichzeitig schufen aber die ersten großen Chemiker wie Priestley, Scheele, Cavendish und Lavoisier die Grundlagen für das naturwissenschaftliche Weltbild der Aufklärung, für das erwachende Verstehen des Naturhaushaltes als Wechselspiel von Pflanzen und Tieren.

Begnadete AmateureEs waren keine Berufswissenschaftler, sondern zur Wissenschaft Berufene – durch Neugier, Hochbegabung und Genie - also Amateure (amare, lat. lie-ben) und Dilettanti (dilettarsi, ital. sich ergötzen) – oft auch charismatische Alleinunterhalter, die wissenschaftliche Experimente in Aristokratenzirkeln vor-zuführen wussten wie Magier. Experi-mente mussten nicht nur Aussagekraft haben, sondern – wie Ingenhousz oder

Franklin ausdrücklich forderten – Un-terhaltungswert, der einem im Staunen die Augen öffnete. Viele waren studierte Mediziner, meist praktizierende Ärzte wie Galvani, Papin (aus Blois, erste Idee zur Dampfmaschi-ne), Linné, Jacquin, Ingenhousz.

Andere waren Priester – wie Priestley, Fontana, Spallanzani, Needham und der Elektrophysiker am Hofe Ludwig XV. Abbé Nollet, die Soutane oft nur übergestülpt, um unverdächtig experi-mentieren zu können. Man musste sich das wissenschaftliche Steckenpferd auch leisten können. Daher finden wir unter den Pionieren auch Vermögende wie Cavendish (entdeckte z.B. H2), „der reichste Gelehrte und gelehrteste Rei-che“, die Montgolfiers als Papierfabri-kanten, Lavoisier, ursprünglich studier-ter Jurist, dann Steuerpächter, Bankier und Gutsherr, der seine chemischen For-schungen selbst finanzierte – was ihm in der Revolution den Kopf kostete.

Wie „überragend“ dieser Kopf sei, beein-druckte das Tribunal wenig – „Köpfe die zu weit herausragten, gehörten gleich-gemacht“ hieß es, und „La republique n´a pas besoin des savants“ (Die Repu-blik braucht keine Gelehrten). Als man Lavoisier schließlich mit 51 Jahren zur

Der Traum vom großen Diamanten aus dem La-bor ging für Franz Stephan nicht in Erfüllung. Erst Lavoisier bewies, dass das härteste, glasige Mineral einfach Kohlenstoff war ...

... seine Verbrennung lieferte quantitativ CO2.Karikatur einer öffentlichen Experimentalvorlesung der pneumatischen und physiologischen Che-mie. Als gesellschaftliche Ereignisse der Aufklärung lieferten sie Gesprächsstoff für alle Salons.

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Guillotine führte, rief er dem geifernden Pöbel zu: “Franzosen – von Euch nicht geköpft zu werden, wäre eine Schande“. „Frankreich brauchte nur Sekunden, um diesen Kopf abzuschlagen“, sagte ein Freund, “aber in Jahrhunderten wird kein solcher je wieder nachwachsen“. Franklin war ursprünglich Drucker mit 2 Jahren Grundschule, dann Journalist, Scheele und Liebig immerhin Apothe-ker, Volta wenigstens Gymnasiallehrer, Coulomb Militärtechniker, Lamarck Of-fizier, kaufmännischer Angestellter und Schriftsteller. Sie alle veränderten durch ihren Geist, oft mit (relativ zu heute), ge-ringsten Mitteln, die Welt – was Jacob von Uexkuell in den 1930ern zu der ver-gleichenden Feststellung brachte, wir gingen einer Zeit entgegen, in der das Experimentieren immer teurer und das Denken immer billiger zu werden drohe.

Messen, ordnen, SystematisierenMessen, Ordnen und Systematisieren war die Leidenschaft der experimentel-len Aufklärung. Wir verdanken ihr etwa in Stift Kremsmünster die frühesten exakten Temperaturdaten von Mo-

zarts Zeit bis heute. Sie alarmieren uns mit einem Anstieg des Jahresdurch-schnittes um 1,5°C, deutlich steiler als beim globalen Mittelwert. Die Einfüh-rung des metrischen Systems war ein wesentliches Verdienst Frankreichs un-ter führender Beteiligung Lavoisiers.Typisch für den Wechsel von den skur-rilen Kunst- und Wunderkammern zu Naturalienkabinetten mit wissenschaft-lichem Anspruch war das Ordnende Klassifizieren, mitunter fast zu einer „Ma-nie des Systematisierens“ gesteigert. Ein lustiges Beispiel stammt vom ersten Custos unseres Naturalienkabinetts, dem Universalgelehrten, Logenbru-der und Mozartfreund Ignaz von Born (s.d.): In seiner sog. „Monachologie“ im Stil einer zoologischen Dissertation be-schreibt er mit Ironie und beißendem Witz streng systematisch die verschie-denen Mönchsorden wie seltsame Tier-arten. Es war die Zeit noch vor der Auf-lösung rein beschaulicher Klöster.

Die wissenschaftlich fruchtbarste Blü-te des Systematisierens schenkte der originelle schwedische Arzt und Natur-forscher Carl v. Linné (1707-1778) der Welt – wenngleich er das bigotte Bür-gertum seiner skandinavischen Heimat mit seinen deftigen Einsichten zunächst

schockierte - als er die Blüten, die man der Angebeteten zu schenken pflegte, als abgeschnittene Geschlechtsteile höherer Pflanzen entlarvte und die Blu-menpracht der Natur folgerichtig als Beilager der Pflanzen bezeichnete.

Seine Ordnung der Lebensvielfalt nach abgestuften Ähnlichkeiten als Aus-druck natürlicher Verwandtschaften in einem „Systema naturae“ (1753), seine nach Umwegen schließlich gefundene binäre Nomenklatur in Gattungs-, und Artnamen, wurde eine der wichtigsten Grundlagen der modernen Biologie. Auch die Zusammenfassung von Men-schen und Affen unter dem selbstbe-wussten Überbegriff „Herrentiere“ (Pri-maten) verdanken wir Linné, der als Pastorensohn im Menschen wohl noch die Krone der Schöpfung sah, auch wenn er es nur zur „Dornenkrone“ der Schöpfung brachte.

Interessanterweise schloss Linné selbst aus den vermuteten Verwandtschaften noch nicht auf Abstammungsverhält-nisse im Zuge einer Evolution, schuf aber die Voraussetzungen für Cuvier, Lamarck oder Darwin. In Wien machte – wie erwähnt – der große Jacquin die Linné‘schen Lehren populär.

Der astronomische Turm, Prachtbau der Auf-klärung – zugleich Ort exakter Temperatur-messungen von der Zeit Mozarts bis heute. Fazit: Die Durchschnittstemperatur Österreichs liegt heute 1,5°C höher – neben der Gletscher-schmelze wichtigster Beweis unseres Klima-wandels.

Physikalisches Kabinett der Benediktiner für Lehre und Forschung in Kremsmünster – einst Beitrag zur Aufklärung, heute auch Zeugnis der Kulturgeschichte, eine enorme Leistung des Ordens.

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Der weniger bekannte LinnéAndere Schriften Linnés – meist in flüs-sigem Latein und eher für den internen Gebrauch bestimmt, etwa zur Aufklä-rung seines Sohnes über Frauenwelt und Liebesleben, wurden weniger be-kannt. Als weitgereister Arzt, neugie-riger Anatom und Frauenkenner hatte der gereifte Linné zu einer nüchternen Sicht der Frauen und mit entspre-chenden Theorien gefunden. Lange vor Entdeckung der Hormone ahnte er be-reits die enorme Macht solcher Lebens- und Liebessäfte (Genitura).

Aus dem Lehrbuch für den Sohn:„Die Genitalien der Pflanzen betrach-ten wir mit Vergnügen, die der Tiere mit Abscheu und unsere eigenen mit wun-derlichen Gedanken. Wenn genitura, [s.v Zeugungs,-oder Liebesstrom] im menschlichen Körper aufsteigt, ruft sie venus, Liebreiz, hervor. Dann bekommt das Mädchen glänzende und feuchte Au-gen und gleichsam ein halbes oedema, eine Schwellung, darunter, ein so großer Unterschied zeigt sich gegen früher, wie zwischen einem edlen und einem un-edlen Stein, denn vor annos pubertatis sehen sie dunkel aus, sobald sie aber zu der Reifezeit gelangt, sieht man genau in ihren Augen dass die Begierde eingesetzt hat. Sie beginnt darauf fröhlicher und vergnügter zu werden, und wenn sie ei-nen hübschen jungen Gesellen zu Gesicht bekommt, wird sie noch hübscher und anmutiger, denn dann beginnt ein halitus incalescentis concupiscentiae, ein heißer Strom brennender Begierde, in ihr aufzu-steigen, welcher von genitura kommt, die dann gesammelt ist.“

Ein Übermaß an Begierde können wir wohl den Erregungen zuschreiben, aber dieses hängt, wie Linné sagt, weit mehr von der Körperbeschaffenheit ab. Sind gewisse Familien leichtfertiger als andere, so ist dies eine Folge ihrer er-erbten Konstitution.

Mechanistisch wie viele Deutungen überschießender Aufklärung fügt Lin-né hinzu: „Bei Frauen, die wegen Un-keuschheit bestraft sind, kann man die Entdeckung machen, dass auf Grund der Besonderheit in ihrem Bau das Blut in un-gewöhnlicher Menge den Genitalien zu-geführt wird“. Was mit jungen Männern geschieht schreibt Linné als weitere Warnung für den Sohn: „Wenn einer, der hungrig ist oder durstig, einen Schnaps oder andere spirituöse Sachen in sich hi-neinbekommt, wagt er mit gezücktem Degen und entblößter Brust auf den aller-mutigsten loszugehen, auch wenn er vor-her eine Memme gewesen, so ist es auch in venere. Genitura reizt den Jüngling zur Ehe wie der Schnaps den Krieger zur To-desverachtung. Genitura schafft auch die Frauenmoden…“

Man sagte von Linnés Sohn, er lege weniger Wert auf die Flora als auf die Nymphen.

„Es war schon aus seines Vaters sog. Phi-losophia humana deutlich zu sehen, dass dessen Ansicht über die Liebe nicht ro-mantisch war. Seine Auffassung von der Frau ist auch nicht die des Minnesängers“. schreibt der Linné Biograph Knut Hag-berg.

„Als Arzt hat Linné viel Leichtfertigkeit zu sehen bekommen, und er hörte nie-mals auf, sich davor zu ekeln. Er war eine reine Natur. Er war ein sauberer Mann. Und ebenso, wie er fürchtete, dass der Sohn Gott vergessen könnte, hat ihm vor dem Gedanken gebangt, dass er dereinst mit einer ungetreuen Gattin vereinigt werden könnte.

Vielleicht haben die Aufzeichnungen dazu beigetragen, demjenigen, dem sie gewidmet waren, einen Widerwillen ge-gen die Ehe einzuflößen. Linné d.J. starb bekanntlich unverheiratet“. (Hagberg)

Das Rätsel um denMozartschädel geht weiterAn unserem Naturhistorischen Mu-seum wurde auch der mutmaßliche Schädel Mozarts vom Sankt Marxer Friedhof analysiert und nach Weichteil-rekonstruktion mit FBI Methoden dann das Phantombild mit seinen Portraits verglichen. Nach den Untersuchungen unseres Vizedirektors Kritscher spricht zumindest kein Befund gegen Mozart … verlässlicher als die widersprüch-lichen DNA Daten angeblicher Mozart Verwandter in mehrfach verlegten Grä-bern des Salzburger Friedhofs St. Peter.

Weichteilrekonstruktion, Phantombild und Portrait aus der Arbeit der Anthropologen H.Kritscher und Szilvassy.

AutoR uND KoNtAKt

Generaldirektoruniv. Prof. Dr. Bernd LötschNaturhistorisches MuseumBurgring 7, 1010 [email protected]

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Für Naturwissenschaftler unserer Zeit sind drei Bereiche des Wirkens von The-ophrast Bombast von Hohenheim als Arzt und Naturforscher am Beginn der Neuzeit von besonderer Bedeutung: Sei-ne Erkenntnisse über die Wirkung von Stoffen verbunden mit der Einführung des Begriffes Dosis, der gezielte Einsatz anorganischer und organischer Stoffe zu Heilzwecken und die Darstellungen (und Erkennung) berufsbedingter Krankheiten, speziell von „Bergkrank-heiten“ der Berg- und Hüttenarbeiter.

GeoRG SCHWeDt

theophrasts LebenswegTheophrast Bombast von Hohenheim, der sich später Paracelsus nannte, wur-de 1493 als Sohn des Arztes Wilhelm Bombast von Hohenheim, dessen Fa-milie aus dem schwäbischen Hohen-heim (Stuttgart) stammte, in Einsiedeln in der Schweiz geboren. Das genaue Datum seiner Geburt (wahrscheinlich im November) ist nicht sicher bekannt. Nach dem Tod seiner Schweizer Mutter zog der Vater, der in Tübingen Medizin studiert hatte, um 1500 nach Villach in Kärnten. Hier lernte Theophrast durch seinen Vater schon früh die Metallhüt-ten und Laboratorien in der Umgebung, vor allem in Schwaz, kennen. Sein Medi-zinstudium schloss Paracelsus 1516 an der Universität Ferrara mit der Promo-tion zum „Doctor beyder arzneyen“ (In-ner Medizin und Chirurgie) ab. Anschlie-ßende Wanderjahre führten ihn durch ganz Europa, als umherziehenden Arzt, der auch die Universitäten seiner Zeit und vor allem Hütten- und Bergwerke in Kärnten, Tirol, im Erzgebirge, in Un-garn und in Schweden besuchte. Ver-suche, sesshaft zu werden (in Salzburg 1524, Straßburg 1526 und Basel 1527 als Stadtarzt und Professor für Medizin an der Universität Basel), scheiterten an den Zeitumständen (Tiroler Bauern-aufstand in Salzburg) bzw. an seiner Ruhelosigkeit und seinem schwierigen und streitbaren Wesen sowie seiner re-volutionären Art, Medizin und Chemie darzustellen und anzuwenden. In Basel lehrte er in deutscher Sprache, ein un-geheuerlicher Affront gegen alle Kol-legen, und auch seine Werke sind von

WAs hAT uns pArAceLsus heuTe nOch Zu sAgen?ihm in Deutsch geschrieben worden. Die letzten zwölf Lebensjahre, nach der Flucht aus Basel 1528, führten ihn durch das Elsass, Deutschland, die Schweiz, Mähren, nach Wien und schließlich wie-der nach Salzburg, wo er am 24. Sep-tember 1541, geschwächt durch seine ruhelose Lebensweise und vermutlich auch durch Selbstversuche chronisch vergiftet (durch Blei und Quecksilber) starb. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof St. Sebastian.

Die Dosis macht’s!Sein Gesamtwerk, das von dem Me-dizinhistoriker Karl Sudhoff (medizi-nische, naturwissenschaftliche und phi-losophische Schriften) 1922 bis 1933 bzw. von dem Philosophen Kurt Gold-ammer (theologische und religions-philosophische Schriften) ab 1955 neu herausgegeben wurde, umfasst über 350 Einzelschriften. Eine erste Sam-melausgabe erschien bereits um 1600 durch Johannes Huser. In seiner Vertei-digungsschrift „Septem Defensiones“ (1538) gegen seine „Missgönner“ schreibt Paracelsus in der dritten De-fension „Von wegen der Beschreibung der neuen Rezepten“ folgende Sätze:

Wenn ihr jedes Gift wollt recht auslegen, was ist, das nit Gift ist? Alle Ding sind Gift und nichts ohn Gift. Allein die dosis macht, das ein Gift kein Gift ist.

Diese wahrhaft revolutionäre Aussage, mit der wahrscheinlich erstmaligen Ver-wendung des Begriffes Dosis, stellt die Grundlage unserer heutigen Toxikolo-gie dar. Dosis-Wirkungs-Beziehungen für pharmakologisch bzw. toxikolo-gisch wirksame Stoffe bilden die Basis jeglicher wirkungsbezogenen Aussage. Paracelsus’ Betrachtungen im genann-ten Text gehen weit über die von ihm als Heilmittel verwendeten Stoffe oder Stoffgemische hinaus. So schreibt er:Als ein Exempel: ein jed(g)liche Speis und jed(g)lich Getränk, so es über sein dosis eingenommen wird, so ist es Gift. Das be-weist sein Ausgang...

Paracelsus zur ernährungDiese Meinung können wir ohne Schwierigkeiten auf die heutigen Er-kenntnisse der Ernährungslehre über-

tragen. In einem seiner frühen Werke, dem „Volumen Paramirum“ (Von Krank-heit und gesundem Leben, um 1520) finden wir bereits wegweisende Aussa-gen über die Natur der Gifte (Ens veneri) und Erkrankung, auch im Zusammen-hang mit der Ernährung:

Der Leib ist uns ohn Gift gegeben und in ihm ist kein Gift. Aber das, das wir dem Leib müssen geben zu seiner Nahrung, im selbigen ist Gift. – Ein jedes ge-schöpf hat im Leib den, der dies Gift sondert von der, das der Leib an sich nimmt. Dies ist der inner Alche-mist... Dieser Alchemist wohnet im Magen, welcher sein Instrument ist, darin er kocht und arbeitet... So also die Speis, das ist das Fleisch, in den Magen kommt, alsobald ist der Alchemist da und scheid’t da das, das nit zu der Gesundheit gehört des Leibs. – So der Alchemist bresthaftig ist, dass das Gift nicht kann nach vollkommener künstlicher Art vom Gu-ten geschieden werden... – dasselbige ist das, das uns anzeigt die Krankheit des Menschen.

Überträgt man diese Sätze auf die Spra-che unserer Zeit, so kann man sie als Kernsätze der allgemeinen Ernährungs-lehre und der Physiologie der Nahrung bezeichnen. In einem weiteren Werk (mit lateinischem Titel, jedoch wie im-mer in deutscher Sprache verfasst), im „Labyrinthus medicorum errantium“ (Labyrinth der irrenden Ärzte – Band XI der Gesamtausgabe von Sudhoff) beschreibt Paracelsus folgendes Bei-spiel, das seine Sicht über die Rolle der Chemie in der Ernährung, im Körper, als Grundlage der physiologischen Chemie (später im Unterschied zur Chemiatrie = pharmazeutische Chemie auch Iatro-chemie genannt) deutlich macht:

Personen und Geschichte

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So die Erzleute, Schmelzer, Knappen und was den Bergwerken verwandt ist, es sei im Waschwerk, im Silber- oder Golderz, Salzerz, Alaun und Schwefelerz oder in Vitriolsud, in Blei-, Kupfer-, Zwitter(Zinnerz), Eisen- oder Quecksilbererz, welche in solchem Erz bauen, fallen in die Lungsucht, in Schwindung des Leibs, in Magengeschwür – diesselbigen heißen bergsüchtig.

Paracelsus erkannte nicht nur im Um-gang mit den Mineralen und deren Verarbeitung (und damit durch die Frei-setzung schädlicher Stoffe) die Ursache der Krankheiten, die wir heute als Be-rufskrankheiten bezeichnen, sondern er konnte auch zwischen akuten und chronischen Wirkungen unterscheiden.Die Leistungen des Theophrast von Ho-henheim wurden nach seinem Tod sehr widersprüchlich bewertet. Er wurde als Scharlatan und Betrüger beschimpft, andererseits auch zum Luther der Me-dizin und Chemie erklärt – einerseits aufgrund seiner Sprachgewalt (s. die zitierten Beispiele aus seinen Werken in deutscher Sprache) und seinen für die folgenden Zeiten bahnbrechenden Ideen.

AutoR uND KoNtAKt

univ. Prof. Dr.Georg SchwedtTechnische UniversitätClausthalInstitut für Anorganischeund Analytische ChemiePaul-Ernst-Str. 4,D-3678 [email protected]

LIteRAtuR

Der vorliegende Text beinhaltet Auszüge aus den Veröffentlichungen des Autors zur 500. Wieder-kehr des Geburtsjahres von Paracelsus.

SCHWEDT, G.: Paracelsus – der Luther der Chemie, Naturwiss. Rdsch. 46 (11), 432-437 (1993)SCHWEDT, G.: Paracelsus (1493-1541): Allein die Dosis macht, dass ein Gift kein Gift ist! – Oder: Was hat uns Paracelsus heute noch zu sagen?, Mittei-lungsblatt der TU Clausthal, Heft 76, 22-26 (1993)SCHWEDT, G.: Paracelsus (1493-1541) für Chemi-ker, Edition Clausthal, Band II, 1993SCHWEDT, G.: Paracelsus in Europa. Auf den Spu-ren des Naturforschers und Arztes 1493-1541, Diederichs, München 1993

Als ein Exempel vom Brot: die äußere Kunst der alchimiae im Backofen vermag nit ultimam mate-riam aus ihr zu machen, finalem, sondern mediam materiam. Das ist: die Natur macht die erste bis zur Ernt, alsdann die alchimia schneidt’s, mühlt’s, backt’s bis zum Maul. Jetzt ist prima und media materia erfüllt. Jetzt fängt alchimia microcosmi an. Dieselbig hat primam materiam im Mund, das ist Brot, käuet’s. Das ist das erst opus. Danach im Ma-gen ist die ander materia. Die däuet an dem, dass es zu Blut und Fleisch wird ...

Der Textauszug zeigt, dass Paracelsus bereits das Verarbeiten des Getreides, vom Mahlen bis zum Backprozess, als chemische Vorgänge auffasst – also auch den mechanischen Teil, der nach unserem heutigen Wissen ja auch zu chemischen Veränderungen führen kann. Der erste Schritt jedoch erfolgt in der Natur; er besteht in der Reifung des Getreides. Weiterhin werden alle Vorgänge im Körper ebenfalls als che-mische Stoffumwandlungen verstan-den – beginnend im Mund! Dazu noch einmal im Original:

... Brot ist uns geschaffen und gegeben von Gott; aber nit, wie es vom Bäcker kommt. Sondern die drei vulcani, der Bauer, der Müller und der Bäcker, die machen Brot daraus ...

Spagyrika, tinkturen und ChemiatrikaErfahrung und Vernunft (experientia ad ratio) bildeten die Grundlage sei-nes Wissens, eine Forderung bereits der italienischen Renaissance. Seine Erfahrungen sammelte Paracelsus auf seinen Wanderungen, weniger in den Universitäten, die er meist sehr negativ beurteilte, sondern bei Handwerkern wie Berg- und Hüttenleuten, in Hospitä-lern, als Wundarzt in mehreren Kriegen – aber auch bei Kräuterweibern, Zigeu-nern und Scharfrichtern.Sein Abstand zur mystischen mittelal-terlichen Alchemie wird in vielen Tex-ten seiner Werke deutlich. Im „Buch Paragranum“ (fertiggestellt um 1530) schreibt Paracelsus über sein Verhältnis zur Alchemie im Rahmen eines Textes über die drei Säulen der Medizin:

Nun weiter zum dritten Grund, darauf die Arznei ste-het: ist die Alchimei. Wo hierin der Arzt nicht bei dem höchsten und größten geflissen und erfahren ist’s ist alles umsonst, was sein Kunst ist. – Nicht, wie die sa-gen, alchimia mach Gold, mache Silber. Hie ist das Fürnehmen: Mache arcana, und richte dieselbigen gegen die Krankheiten! (...) Hierin liegt der Weg der

Heilung und Gesundmachung. Solches alles bringt zum Ende die Alchimei, ohne welche die Dinge nicht geschehen können.

Spagyrik ist eine Wortschöpfung des Paracelsus (eine Kombination der grie-chischen Vokabeln für trennen und ver-binden). Er war der Überzeugung, dass bei Arzneidrogen aller drei Naturreiche (so genannte Simplicia) das Wesentliche vom Unwesentlichen, von den Schla-cken, abzutrennen sei. Dazu setzte er die Methoden der Destillation, Sublima-tion und Extraktion ein. Auf diese Weise erhielt er Essenzen (essentia: das Wesen) und andere Arzneiformen wie Tinkturen. Tinkturen hatten ursprünglich (nach lat. tingere: färben) die Bedeutung als Färbemittel. Durch Paracelsus wurde dieser Begriff (um 1525) für Arzneien üblich, die als Auszüge (durch Alkohol) aus einer oder mehreren Drogen, oft mit Zuckerzusatz, hergestellt wurden. Die Bezeichnung Chemiatrie – ein Kunstwort aus Chemie und Iatros (griech. Arzt) – bezeichnete die Praxis der Arzneiherstellung, wie sie vor allem von Paracelsus beschrieben hat. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ka-men neue Präparate in die Apotheken, die auf Ideen und Beschreibungen des Paracelsus zurückzuführen waren. Im 17. Jahrhundert wurden diese Präpa-rate dann auch in die Arzneibücher, die Pharmokopöen, aufgenommen.

„Bergkrankheiten“ =BerufskrankheitenZur Zeit des Paracelsus war das Haus Fugger in Augsburg Hauptunterneh-mer nicht nur der spanischen Quecksil-bergruben in Almaden, sondern auch der Kupfer- und Silberbergwerke in Ti-rol und Ungarn. In Schwaz (Kupfer- und Silbergruben) wurden zu Beginn des 16. Jahrhunderts bis zu 12000 Bergknap-pen beschäftigt. Bei Villach in Kärnten befanden sich Blei- und Zinkgruben, die Paracelsus aus eigener Anschauung sehr gut gekannt. Obwohl die hohe To-desrate und der frühe Tod bei Arbeitern in den Quecksilberbergwerken bekannt war, konnte Paracelsus, wie er selbst schreibt, von Krankheiten „bei den al-ten Skribenten nicht finden“. In seinem Bericht „Von der Bergsucht und ande-ren Bergkrankheiten“ (Band IX der Sud-hoffschen Ausgabe) schreibt er über seine Erfahrungen und Erkenntnisse unter anderem:

Personen und Geschichte

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Im Sommer 1983 erhielt ich eine Post-sendung von „Mag. Richard R. Göller“, einen Sonderdruck seines in der Zeit-schrift Forum Ware erschienenen Auf-satzes „Verständnis für die Natur als be-grenzte Rohstoffquelle“ (Göller 1982), mit sehr förmlicher Widmung: „Über-reicht vom Autor, der sich gestattet hat, Sie zu zitieren“. Zitiert wurde mein Buch Biologie und Kausalität (Wuketits 1981). Ich las den Aufsatz mit wachsen-dem Interesse und merkte bald, dass da ein weit blickender und eigenwilliger Geist am Werk ist, der nicht davor zu-rückschreckt, akademisch getrennte Disziplinen im Sinne einer Synthese mit-einander zu verbinden:

ÖKOLOGIE =Systemtheorie vom Naturhaushalt.

ÖKONOMIK =Theorie der Wirtschaftsprinzipien.

Die Ökonomie unterliegt naturgesetz-lichen Bedingungsgefügen.

FRANZ M. WuKetItS

Ich habe dem Autor wohl alsbald zu-stimmend geschrieben, jedenfalls entwickelte sich zwischen uns eine schriftliche Korrespondenz. Ab und an werden wir auch miteinander telefo-niert haben.

Im August 1988, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, kam es zu ei-ner ersten persönlichen Begegnung im „Café Haag“, in der Schottengasse im Ersten Wiener Gemeindebezirk. Mag. Göller kam von der nahe gelegenen Buchhandlung „Deuticke“, wo er gera-de mein Buch über Evolutionstheorien (Wuketits 1988) gekauft hatte. Dieser für mich schon an sich schmeichel-hafte Umstand wurde im Verlauf des Gesprächs „überschattet“ („übersonnt“ wäre hier der bessere, wenngleich sprachlich etwas problematische Aus-druck) von der Erkenntnis, dass uns viele gemeinsame Anliegen verbinden. Un-sere Geistesverwandtschaft war ja be-reits festgestellt. Ohne dass wir das aber damals schon wussten, begann sich

Personen und Geschichte

rIchArd kIrIdus-gÖLLer – 60!Eine persönliche Reflexion

zwischen uns auch eine tiefe Freund-schaft zu entwickeln, die nun seit fast zwei Jahrzehnten währt. Das Café Haag wurde später geschlossen, zu unserer Freude aber jüngst erst (wenngleich mit etwas anderem Ambiente) wieder eröffnet. Die Buchhandlung Deuticke jedoch schloss vor ein paar Jahren ihre Pforten für immer. Das heißt: Sie hatte sie zu schließen. Diese traditionsreiche Wiener Institution wurde, wie so Vieles, von der new economy aufgefressen.

Wenn wir, Richard und ich, uns heu-te treffen, kommen wir immer wieder darauf zu sprechen, wie eine kurzsich-tige, brutale Ökonomie zunehmend die Grundfesten unserer Kultur zerstört – und sich damit den Teppich unter ihren eigenen Füßen wegzieht. Dass die Wirt-schaft nur auf dem Boden des von Men-schen bereits Geleistetem gedeihen kann und obendrein naturgesetzlichen

Bedingungsgefügen unterliegt, will ih-ren Planern und Machern offenbar nicht eingehen: Ihr einseitig auf kurzfristigen Profit und rasche Kapitalvermehrung (und sei es auf Kosten der Natur und Kultur) getrimmtes Denken macht sie „wertblind“. Konrad Lorenz stellte kri-tisch fest: „Das technokratische System, das heute die Welt beherrscht, ist im Be-griff, alle kulturellen Verschiedenheiten einzuebnen“ (Lorenz 1983, S. 209). Und mit dem kritischen Auge des Naturfor-schers bemerkte er zugleich, dass dem Verfall kultureller Werte das Schwinden natürlicher Vielfalt entspricht (siehe auch Wuketits 2003).

Richard wird später feststellen: „Nichts besteht an sich, außer in Vielfalt“ (Kiri-dus-Göller 2006a). Und er wird die Wur-zeln der Umweltkrise – sehr richtig – in einer Kulturkrise orten, die ihrerseits wiederum nicht zuletzt darauf zurück-

Richard Kiridus-Göller fotografiert von Univ. Prof. Dr. Horst Werner

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Personen und Geschichte

zuführen ist, dass die meisten Menschen verlernt haben, zu schätzen, was die Na-tur uns bietet (vgl. Kiridus-Göller 2002). Doch zurück zur Person. Richard Göller wurde am 23. Dezember 1946 in Wien geboren und besuchte die Volksschule und die Unterstufe des Realgymnasi-ums bei den Schulbrüdern in Wien-Stre-bersdorf. Seine Schullaufbahn setzte er in der Bundes-Lehrerbildungsanstalt in der Wiener Hegelgasse fort, wo er mit der Reife für das Lehramt an Volksschu-len im Juni 1966 auch die Studienbe-rechtigung erlangte. Danach studierte er an der Wiener Alma mater zunächst Germanistik und Publizistik (seinerzeit noch „Zeitungswissenschaft“) und be-suchte daneben Vorlesungen in Phi-losophie und Psychologie. (Damals konnte man eben noch seinen eigenen Neigungen entsprechend studieren. Es waren goldene Zeiten.) Sein philoso-phisches Interesse führte Richard Göller aber schließlich zu den Naturwissen-schaften. Der Ende der 1960er Jahre aufkommende „Umweltgedanke“ trug dazu bei, dass der wachsame Student 1975 schließlich sein Lehramtsstudium für Naturgeschichte abschloss. Die Wei-chen für seine weitere intellektuelle Ent-wicklung waren gelegt. Er wurde freier Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-In-stitut für Umweltwissenschaften und Naturschutz bei Bernd Lötsch, den er auch heute noch immer wieder als eine entscheidende Persönlichkeit in seiner geistigen Biographie erwähnt.Private Umstände (insbesondere der Tod seines Vaters) zwangen Richard Göller dazu, seine Studien am Boltz-mann-Institut abzubrechen und in den Schuldienst einzutreten. Aber er hat es hervorragend verstanden, seine Tätigkeit als Lehrer mit seinen wissen-schaftlichen Interessen im Sinne einer auf naturwissenschaftlichen Einsichten basierenden kritischen Aufklärung zu verbinden, die selbstverständlich auch in seinen Unterricht einfließt. 1996 er-warb er ein Doktorat an der Universi-tät Salzburg mit einer umfangreichen biologiedidaktischen Arbeit, die als Pi-onierleistung bezeichnet werden darf. Biographisch nicht unerheblich ist der Umstand, dass Ernst Beutel (erster Or-dinarius im Institut für Warenkunde an der Hochschule für Welthandel, heute Wirtschaftsuniversität) der Ehemann seiner Tante väterlicherseits war. Heute noch bekannt sind die von Beutel bear-

beitete Warenkunde I, II der Sammlung Göschen und sein Anfang der 1930er Jahre verfasster „Grundriss der Waren-kunde“ (Beutel 1933).

Diese Disziplin verdankt heute in der Weiterentwicklung zur Warenlehre – im Schulunterricht und darüber hinaus – viele Impulse Richard Göller, der üb-rigens seit seiner Eheschließung mit Astrid Kiridus (am 26. Juni 1990) den Doppelnamen Kiridus-Göller führt. Dass er das ehemalige Wohnhaus von Professor Beutel in Wien-Döbling be-wohnt, ist gleichsam ein äußeres Sym-bol seiner inneren Verbundenheit mit der Tradition dieses Faches in Öster-reich. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie oft es mir gegönnt war, dort Gast zu sein – unzählige Male jedenfalls, und ich muss befürchten, dass ich die Gast-lichkeit dieses Hauses und seines Besit-zers nicht mehr hinreichend zu schät-zen weiß (so selbstverständlich sind mir das Haus und seine Bewohner, ne-ben Richard seine Frau und die Kinder, Amely und Leander, geworden. Leider haben wir es bislang verabsäumt, die anlässlich unserer abendlichen Sym-posien geleerten Weinflaschen zu sam-meln. Dieses Leergut hätte uns im Lauf der Zeit eine Menge Geld eingebracht. Das sollten wir, im Sinne der Nachhal-tigkeit, in Zukunft ändern.)

Aus der Feder von Richard (Kiridus-)Göl-ler stammen mittlerweile zahlreiche Arbeiten, die sein tiefes Engagement für Biologie und Warenlehre bezeugen und darüber hinaus seine stete Sorge um die Bildung zum Ausdruck bringen. Sein Essay im letzten bioskop „Das Wis-sen im Lichte von Wahrheit“, um nur ein Beispiel zu nennen, legt beredtes Zeug-nis davon ab (vgl. Kiridus-Göller 2006b). Nicht unerwähnt bleiben dürfen aber auch viele Vorträge im In- und Ausland, wobei ich vor allem seine zwei Referate bei den internationalen Bioökonomik-Konferenzen der Stiftung Dragan in Pal-ma de Mallorca (1994 und 1998) hervor-heben möchte (vgl. Kiridus-Göller 1997, 2000). Zu seinen weiteren wichtigen Anliegen gehört auch – wie angedeutet – eine sinnvolle Anbindung der Wirt-schaft an die Naturgeschichte und in dem Zusammenhang die evolutionäre Managementlehre. Nicht unerwähnt bleiben sollte eine Auszeichnung (3. Preis der UTEC 1993), die er im Rahmen

seines Schuldienstes für ein Umwelt-management-Projekt erhielt.

Richard Kiridus-Göller gehört zu je-nen Leuten, die, wenn es um wichtige Anliegen geht, keine Ruhe geben (ich hoffe, man versteht das richtig) und sich nie entmutigen lassen. Es kommt daher überhaupt nicht überraschend, dass er neben seiner ohnedies ausfül-lenden Tätigkeit als Lehrer im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Funk-tionen übernommen hat, und alle, die ihn kennen, wird es noch weniger überraschen, dass er jede seiner Aufga-ben mit viel Umsicht ausführt und sich von Kleingeistern nicht beirren lässt. So übernahm er 1989 die Herausgabe der Zeitschrift BIOWARE, und wurde in den Vorstand des Forums Österreichischer Wissenschaftler für Umweltschutz (Um-weltforum) berufen. 1997 wurde er zum Vorsitzenden der Sektion BMHS in der Vereinigung Österreichischer Biologie-Lehrer (VÖBL) gewählt. Seither arbeitet er in der bioskop-Redaktion mit.

Für das bioskop schließlich ist es ein ausgesprochener Glücksfall, dass er das Magazin, seit nunmehr über einem Jahr, als Chefredakteur betreut. Hier weiß ich besonders gut, wovon ich rede. Er vidiert jedes Heft in allen sei-nen Entwicklungsphasen mit äußerster Gründlichkeit, versteht es, Autoren und Autorinnen zu gewinnen – mehr noch: sie für unsere Anliegen zu begeistern –, kümmert sich persönlich um die pünkt-liche Drucklegung und das ebenso pünktliche Erscheinen jedes Heftes und sorgt für die Verbreitung der Zeitschrift mit einer Energie, die nur jenen Leuten eigen ist, welche einfach wissen, wofür zu schuften sich lohnt. Manchmal muss ich denken: Er ist nicht einfach Chefre-dakteur des bioskop – er ist das bio-skop.

Nun also feiert Richard Kiridus-Göller seinen 60. Geburtstag. Demnach war er, als wir uns zum ersten Mal in besagter Wiener Kaffeestube trafen, erst 42 Jahre alt, also 10 Jahre jünger als ich jetzt bin. Das alles ist schwer zu glauben, aber die Mathematik ist nicht zu beschwindeln. Wer Richard sieht, kauft ihm den 60er wohl ohnehin nicht ab. Aber das ist unbedeutend, weil er als Octogenarius wahrscheinlich nicht wesentlich an-ders aussehen wird als heute. Vielleicht

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klingt es etwas abgedroschen, aber es trifft zu: Gäbe es Richard Kiridus-Göller nicht, müsste man ihn erfinden. (Gut, dass uns die Natur diese Aufgabe vor 60 Jahren abgenommen hat, denn sie wäre nicht leicht zu bewältigen.)

Ich wünsche meinem „alten“ Freund und Weggefährten nicht nur das Beste zu seinem Geburtstag, sondern auch für alle kommenden Jahrzehnte!

LITERATUR

BEUTEL, E. (1933): Grundriss der Warenkunde. In-dustrieverlag Spaeth & Linde, Wien.GÖLLER, R. (1982): Verständnis für die Natur als begrenzte Rohstoffquelle. Forum Ware 10, Nr.1-4, 85-93.KIRIDUS-GÖLLER, R. (1997): Commodity-Science in Tradition and Its Bioeconomic Relevance. In: Dragan, J. C., Demetrescu, M. C., Seifert, E. K. (Hrsg.): Implications and Applications of Bioeco-nomics. Edizioni Nagard, Mailand, S. 218-234.KIRIDUS-GÖLLER, R. (2000): Some Pythagorean Considerations on Bioeconomics. In: Dragan, J. C., Seifert, E. K., Strassert, G., Demetrescu, M. C., Bob, C. (Hrsg.): Cybernetics, Ecology and Bioecono-mics. Edizioni Nagard, Mailand, S. 217-232.KIRIDUS-GÖLLER, R. (2002): Die Warenwissen-schaft in ihrer Tradition und Bedeutung.In: Löbbert, R. (Hrsg.): Der Ware Sein und Schein. Zwölf Texte über die Warenwelt, in der wir leben. Verlag Europa Lehrmittel, Haan-Gruiten, S. 179-200. KIRIDUS-GÖLLER, R. (2006a): Nichts besteht an sich, außer in Vielfalt. bioskop 9 (2), 40.KIRIDUS-GÖLLER, R. (2006b): Das Wissen im Lichte von Wahrheit. bioskop 9 (3), 34-35.LORENZ, K. (1983): Der Abbau des Menschlichen. Piper, München/Zürich.WUKETITS, F. M. (1981): Biologie und Kausalität. Biologische Ansätze zur Kausalität, Determinati-on und Freiheit. Parey, Berlin/Hamburg.WUKETITS, F. M. (1988): Evolutionstheorien. Histo-rische Voraussetzungen, Positionen, Kritik. Wis-senschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.WUKETITS, F. M. (2003): Ausgerottet – ausgestor-ben. Über den Untergang von Arten, Völkern und Sprachen. Hirzel, Stuttgart/Leipzig.

AutoR uND KoNtAKt

Prof. Dr. Franz M. WuketitsUniversität WienInstitut für WissenschaftstheorieNeues InstitutsgebäudeA-1010 [email protected]

Wir geistern ahnungs- und bezie-hungslose durch die Kulissen unserer Umwelt, einer Erlebnis- und Erfah-rungswelt, die vorwiegend aus Waren besteht. Es ist eine Anstrengung der Biologiedidaktik, das aufzudecken: die Umweltbeziehungen des Menschen sind warenförmig.

RICHARD KIRIDuS-GÖLLeR

„Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass es ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysi-scher Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ (Karl Marx).

Grundlegend ist die Einsicht, dass „das Leben“ nicht schlicht aus den Lebewe-sen besteht, sondern aus einem System von Organismen und deren existenzbe-stimmenden Faktoren.„Welt und Umwelt: Die meisten Men-schen werden sich niemals dessen be-wusst, dass sie in zwei Welten leben, die sich in vielen Punkten unterscheiden“ (Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie, 1928).

Das Realitätsproblem ergibt sich erst in der Erweiterung unserer Erkenntnis über die Welt der mittleren Dimensi-onen (Mesokosmos) hinaus, indem wir in die Tiefen der atomaren Strukturen (Mikrokosmos) und in die Weiten des Weltalls (Makrokosmos) vordringen.

dIe AngeWAndTe bIOLOgIehAT eInen nAmen: WArenLehre.Ein kurzer didaktischer Streifzug in Bildern

„Die Welt, mein Sohn,ist ein großer Kasten voller Wasser.“

Der lernbiologischeHintergrund der Ware:Der Sinn des Lebens liegt im Leben selbst, der Sinn geht durch die Sinne:

Unsere Sinne sind die Fenster zu dieser Welt und füttern uns mit Informationen, die unser Gehirn durch den Einfluss äußerer Reize erst neu organisiert. Die sinnlichen Wahrnehmungen bleiben einem lebenslänglichen Lernprozess unterworfen.

Die „Mittel zur Bedürfnisbefriedigung“ sind von biokybernetischer Substanz, sie befinden sich an den Schnittstellen (Interface) zwischen Organismus und Umwelt. Wir begreifen sie als bio-kultu-relle Phänomene und bezeichnen diese Erfahrungswelt als die in Verwahrung genommene Welt der Waren.

Zwischen Organismus und Umwelt be-stehen „Ist-Soll-Wertspannungen“: das sind die sogenannten „Bedürfnisse“ der Lebewesen. Bedürfnisse sind angebo-rene (instinkthafte), beim Menschen kulturell überformte (erlernte) Antriebe des Handelns, welche auf die Lebenser-haltung und Verbesserung der Lebens-qualität ausgerichtet sind.

Didaktik

aus E. Oeser: Psychozoikum, Hamburg: Parey 1987, S.17

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dIe AngeWAndTe bIOLOgIehAT eInen nAmen: WArenLehre.Ein kurzer didaktischer Streifzug in Bildern

Didaktik

1. Spinne und NetzLebende Systeme bestehen aus der Ein-heit von Organismus und Umwelt.Jeder Organismus ist Informations-träger. Die Webspinne „weiß“ das Pro-gramm der Technik des Netzbaues. Im Prinzip handelt es sich beim Netz um eine Energiefalle – so wie bei allen Ma-schinen. Und es handelt sich um die An-wendung von Information – das ist der Kern jedweder Form von Technik, egal ob diese Information angeboren, er-lernt, gefunden oder erfunden wurde. Entscheidend ist die Kompatibilität des Ganzen. Das Netz wird nicht irgendwo hingeklebt, sondern an einer nachhal-tig wirksamen Stelle; es ist sparsam ge-baut – ganz dünn (!); und es ist gewinn-bringend - z.B. in Form fetter Fliegen. (Hans Hass u. Horst Lange-Prolius: Die Schöpfung geht weiter. Station Mensch im Strom des Lebens. 1978, S.195)

2. Subjekt und objekt:umwelt-Beziehung„Die Beziehungen von Subjekt und Ob-jekt werden am übersichtlichsten durch das Schema des Funktionskreises erläu-tert. Es zeigt, wie Subjekt und Objekt in-einander eingepasst sind und ein plan-mäßiges Ganzes bilden. Stellt man sich weiter vor, dass ein Subjekt durch meh-rere Funktionskreise an das gleiche oder an verschiedene Objekte gebunden ist, so erhält man einen Einblick in den er-sten Fundamentalsatz der Umweltleh-re: Alle Tiersubjekte, die einfachsten wie die vielgestaltigsten, sind mit der gleichen Vollkommenheit in ihre Um-welten eingepasst. Dem einfachen Tier entspricht eine einfache Umwelt, dem vielgestaltigen eine ebenso reichgegli-ederte Umwelt“ (Jakob von Uexküll u. Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, 1970, S. 11).

3. Mensch-Maschine-SystemDer Mensch unterliegt wie jeder Orga-nismus solchen Systemzwängen.Der Organismus Mensch steht einem „exosomatischen“ (außerhalb des Kör-pers befi ndlichen) Kunst-Organ (einer nach Gesetzmäßigkeiten gebauten „Maschinerie“) in Form eines Regel-kreises gegenüber. Es ist wie bei einem Geiger, der seine Violine in der Hand hat: Der Geiger streicht den Bogen, hört den Ton, ändert daraufhin seine Bogen-führung und so fort. Wir haben also ein ständiges Empfangen, Verarbeiten und Senden von Information vor uns. Die Ergonomie modelliert dies zum Funk-tionskreis, der aus zwei Hauptteilen, dem Menschen und seiner Technolo-gie, besteht. Dementsprechend sind die beiden großen ergonomischen Teilgebiete die Arbeitsbiologie und die (Arbeits)technologie.- (E. Grandjean: Physio-logische Arbeitgestaltung. Leitfaden der Ergono-mie, 1979, S.131).

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DAZu eINIGe LeRNStAtIoNeN:

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4. Interface Kultur-NaturIm Gegensatz zur sogenannten „trivi-alen Maschine“, die „formal repetetiv“ immer nach demselben linearen Re-zept arbeitet, ändern lebende Systeme durch ständige Rückkoppelung des Output an den Input als „nicht-triviale Maschinen“ ständig ihr Verhalten: Sie lernen! Damit kommen wir zum Kern des Phänomens Ware:

Sie ist das Ergebnis eines ständigen Informationsverarbeitungsprozesses, eines Lernvorgangs. Ähnlich wie beia² + b² = c² im Pythagoräischen Lehrsatz, wo die Summe der Kathetenquadrate das Hypothenusenquadrat ergeben, haben wir es mit einer kybernetischen Dreiecksbeziehung von Technik, Wirt-schaft und Umwelt zu tun.Die Hypothenuse ist gewissermaßen das „Interface“ zwischen dem lebenden System und der dieses umgebenden realen Außenwelt (der „Umwelt“ als er-fahrbare Natur).

Zusammenfassend:Wir haben die freie Wahl und Entschei-dung, uns als Teil der Natur zu begreifen oder als ihr Gegenüber. Für die Konse-quenzen tragen wir freilich die Verant-wortung.

Didaktik

Die Ware zwischen Kultur und NaturExistenz und Koexistenz: Im Hintergrund der Warenwelt stehen die drei Entitäten

Materie / Energie / Information.

Die Wechselwirkungen dieser drei Entitäten sind die Grundlage der „Kybernetik 1. Ordnung“ – des Lebens (als Transformationsprozesse von Infor-mation: syntaktisch / semantisch / pragmatisch) – als Trias von Information, Funktion und Organi-sation.

Unser Erleben ist die „Kybernetik 2. Ordnung“ (wahr / gut / schön) als Trias von Logik, Ethik und Ästhetik. Das Schöne mit dem Nützlichen zu ve-binden ist „techne“ im Wortsinn, insgesamt die gelungene Bindung der Funktion an die Organi-sation des Systemganzen.

Die Warenlehre verbindet die Biologie mit den Sozialwissenschaften

In geisteswissenschaftlicher Betrachtung (Spaltung unseres Weltbildes) ist die Natur die außergesellschaftliche Zweitwelt.(Abb. nach Rolf Becks u. Günter Ropohl, 1984)

(R. Kiridus-Göller: Some Pythagorean Considerations on Bioeconomics, 1998).

Ökologische Sichtweise der WarenlehreDie naturwissenschaftliche Sicht der Biologie erkennt die Menschheit als Teil vom Ganzen (das ist die Biosphäre als System-Einheit).(Abb. nach Richard Kiridus-Göller, 1988)

Der Mensch muss wirtschaften um zu leben.Die biologische Aufgabe und kulturelle Leistung der Wirtschaft ist die Lebenserhaltung und Verbesserung der Lebensqualität. Waren sind die (biologischen) Mittel zur Bedürfnisbefriedigung, die als (kultureller) Gegenstand des Handels in Betracht kommen, insofern sind sie der (ökonomische) Gegenbegriff zu Geld.

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Glosse

FRANZ BACHeR

Ein Streifzug durch die Werbung zeugt davon, wo wirk-lich die Wahrheit liegt und mit welch einfachen, wenn auch oft teuren Waren viele kleine und große Probleme der Menschheit gelöst werden können. Ich möchte au-thentisch bleiben: Begleiten Sie mich durch mein Leben und seine immer wieder von den Weisheiten der Wer-bung geprägten Stationen: Seit ich darüber gelesen hat-te, träumte ich vom Jungbrunnen, doch ich musste lange darauf warten, bis mir 1882 die „Illustrierte Zeitung“ in die Hand kam.

„Erhält Haut und Teint für ewig jugendfrisch und rosig- weiß.“ Natürlich bin ich sofort in eine gute Drogerie geeilt und habe die Seife erworben. Zweifler am ewigen Leben können sich von der Realität dieser Lebensgestal-tung durch einfache Anwendung der Maiglöckchen-Seife selbst überzeugen.Wahrscheinlich leben noch zahlreiche Leser und auch Be-folger dieser Botschaft von 1882. Nur, wir erkennen sie nicht, weil ihr Teint noch immer frisch und rosigweiß ist.

Meine Mutter hatte seit meiner Kindheit Sorgen wegen Diphterie. Obwohl ich dem Kindesalter längst entwach-sen war, nahm sie einen Artikel in der „Illustrierten Zei-tung“ 1894 zum Anlass mir folgendes zu erklären:„Kinderkrankheiten wie Diphterie sind zwar biologisch be-dingt, durch einfache Anwendung eines Special-Kräuter-saftes aber problemlos von den Menschen fernzuhalten. Nur Ignoranten werden auch noch in mehr als 100 Jahren an diesen Erkenntnissen zweifeln.“Wir haben den Saft gekauft und ich bin von Diphterie ver-schont geblieben.

Auch war meine Mutter stets eine weltoffene Frau und aufgeschlossen für Neues. Religion, Mission und Medizin hatten seit jeher enge Verbindung zueinander. Litt je-mand an Ruhr, dann konnte ein Heilmittel aus Indien, mit oder ohne Gottes Hilfe, Linderung und Heilung bringen. Diese Anzeige in der „Illustrierten Zeitung“ 1894, welche mir meine Mutter zeigte, und das darin gepriesene Anti-dysentericum half mir beim Überwinden einer Darminfek-tion. Nicht nur, was vor der Haustüre wächst und gedeiht, ist auch der Garant dafür, allfällige Mühsal abzuwenden. Globales Denken war auch damals schon sinnvoll.

meIne ersTen hunderT JAhreDie Weisheit der Werbung als ewiger Jungbrunnen –Autobiographische BetrachtungenBiologische und medizinische Forschung nützt der Allgemeinheit relativ wenig, wenn nicht eine breite Öffentlichkeit über die Ergebnisse in Kenntnis gesetzt wird. Themen wie unreine Haut, schlechte Zähne, Haarausfall und sogar der Alterungs-prozess mögen Biologen, Mediziner und Philosophen beschäftigen. Aber in kla-ren und einfachen Worten informiert nur Werbung über Methoden und Produkte, die den Alltag und das Leben einfach machen.

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Trotz meines bereits höheren Alters betrat ich 1897 in Bo-zen erstmals selbst eine Apotheke. Der Magister zeigte mir viele Tiegel und erklärte den Hintergrund des Wissens und der Weisheiten, die darin stecken.

Um 1900 war ich einem damals schon sehr erwachsenen Bauernmädchen zugetan. Sie zeigte mir ganz begeistert das Reklameschild. Im Geiste des „Fin de Siecle“ wird der weiße und zarte Teint auch dem Bauernkind bewahrt, wenn es vernünftig ist, so wie sie es war, und verwendet Sarg´s Seife. Ich genoß mit meinem Mädchen immer Kaffee mit all den darin enthaltenen Stoffen, ganz im Bewusstsein der schädlichen Wirkung.

1908 sah ich dann diese Werbetafel. Ich nahm Kaffee Hag zu mir, und wusste: ohne Coffein gehöre ich in die Welt der Mondänen und Reichen. Schade um mein Bauernmäd-chen!

1914 erhielt ich von der Bezirksvorstehung in Wien Anbau- und Erntehinweise, um auch als Großstadtbewohner mei-ne gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.Eine erste Form auch in der Stadt rein biologischen und daher gesunden Anbau zu betreiben. Das auf jeder Krume Bodens Gemüse wächst, war mir zwar nicht neu, als Äs-thet bangte ich aber um den symbolischen und psycholo-gischen Wert der Blumen.

1920 dachte ich lange über Persil nach: „Der Teufel hat´s Persil gebracht“ war wohl nicht der Grundgedanke des Ent-werfers. Endlich kann man einfach mit einem Waschmittel viele Ressourcen sinnvoller verwenden.

Um 1925 war ich mit einer Reklame konfrontiert, die ich wahrscheinlich heute in Zeiten von BSE völlig anders inter-pretieren würde. Damals hab ich mir nichts dabei gedacht.

Um 1925 löste diese Werbetafel in mir den Wunsch aus, mich dem Studium der Naturwissenschaften zu widmen. Da musste es doch Dinge in der Natur geben, die mir unbe-kannt waren. Ich dachte an Goethe – der war ein Polyhistor. Dem wollte ich nacheifern.

Das Magazin warb 1928:„Rauchen ist gesund, gibt Lebensfreude, erhöht Ihre Spann-kraft und Sie haben trotzdem das Beruhigende der Cigarette. Verlangen Sie bei Ihrem nächsten Einkauf diese feine und aro-matische Cigarette. Sie werden angenehm überrascht sein ...“

Jetzt war mein Interesse an der Naturwissenschaft endgül-tig bestätigt und ich begann sogleich zu rauchen, um ge-sund zu bleiben.

Um 1930 entdecke ich einen neuen Weg, den Verdauungs-trakt zu pflegen. Der Kaugummi war auch Zeichen von Le-benskultur: Lässig, modern, dem Nachfolger an Kinositzen Erinnerung hinterlassend. Dem Europäer waren diese Weis-heiten erst nach einem durchgeführten Weltkrieg flächen-deckend nahezubringen. Zähne, Magen und Mund halte ich seit dieser Zeit gesund.

Glosse

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Allein durch ordentliches Sitzen kann man seinen gesell-schaftlichen Status verändern. Viele biologische Erkennt-nisse der damaligen Zeit waren vom politischen Umfeld geprägt. Alles nannte man Weisheit und Wahrheit. Daher habe ich 1934 meine Sitzhaltung radikal geändert.

1956 hielt der erste Fernseher bei uns daheim Einzug. Das Fortschrittsdenken einer Familie wurde erst damit doku-mentiert. Die biologisch logische Funktion des Schlafens mit Einbruch der Dunkelheit wurde zeitlich immer mehr in die Nachtstunden verschoben. Das Informationsinteresse der Menschen verlagerte sich zusehends vom Nachbar-schaftstratsch hin zur Ebene der globalen Informationsü-berfrachtung. Der Wichtigkeitsgrad eines Ereignisses nahm direkt proportional zur Entfernung ab.

Völlig unerwartet sah ich 1963 beim Blick in den Spiegel kleine Fältchen im Gesicht. Sofort eilte ich zum Dermatolo-gen und blätterte im Wartezimmer in der Frauenzeitschrift Brigitte vom Jahr 1961. Ein Inserat stach mir in die Augen. Statt zu warten, eilte ich in die Apotheke und besorgte mir Hormocenta „man“ Warum sollten placentare Wirkstoffe auch anderes auslösen, als den Weg zurück an meinen Da-seinsbeginn.

Kurz darauf faltenfrei, war ich aber nicht sorgenfrei. Im Kamm fanden sich immer mehr Haare: Selbstdarstellung und Eitelkeit sind eine biologische Grundhaltung. Haarver-lust und Weißhaarigkeit verbindet man mit Alter. Daher auf ins Haarstudio. Wieder Warten! Ich blätterte in der Zeit-schrift „Bunte Illustrierte“ 1963 : „Neosilvikrin“: Die Biologie bietet eine Lösung: Man braucht die Haare nur zu füttern! Daher verließ ich das Haarstudio sofort, um in der Drogerie Futter zu kaufen.

In der freien Wildbahn gibt es kein Problem der Fettleibig-keit oder der Magersucht, das wusste ich als Biologe: Alle wissen wie viel sie brauchen, und wann sie genug haben. Ich aber stieg mit der Gewissheit auf die Waage: Schon wieder mehr! Weniger essen wollte ich nicht. Doch da half mir 1963 die Bunte Illustrierte. Informiert durch das Inserat, kaufte ich in der Apotheke „minus“ und ohne Diät, Hun-gerkuren oder sonstigen Firlefanz wurde ich wunderschön schlank, hatte plötzlich Erfolg und weckte Sympathien.

Und noch ein Problem half mir die Bunte Illustrierte 1963 zu lösen. In meiner Jugend hatte ich eine durchschnittliche Körpergröße, doch waren in den letzten Jahrzehnten die Menschen immer größer geworden und ich fühlte mich plötzlich klein. Voll Vertrauen in eine in 24 Staaten verbrei-tete und wissenschaftlich bearbeitete Methode ließ ich mir Prospekte schicken, um noch 20cm größer zu werden.

Seither lautet mein Motto: Lieber ein Leben lang aufmerksam und gscheit als heute haarlos, faltig, krank, klein und breit!

LIteRAtuR

• Illustrierte Zeitung,1882 und 1884

• Brigitte, 1961 und 1963

• Bunte Illustrierte, 1963

• Reklame anno dazumal,Viktor Kabelka, Ernestine Benner-storfer.- Wien: Pichler Verlag1997 • Michael Kriegeskorte,100 Jahre Werbung im Wandel, DuMont Buchverlag, Köln 1995

Glosse

AutoR uND KoNtAKt

oberstudienrat Prof. Mag. Franz BacherWinzerschulgasse 17, A - 2130 Mistelbach / [email protected]

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Die Geschichte des ökonomischen Den-kens kann als Kampf zweier konkurrie-render Quellen der Inspiration gesehen werden: Physik und Biologie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren biologische Theorien bei prominenten Ökonomen wie Thorstein Veblen, William Graham Sumner und Alfred Marshall recht po-pulär. Später verlor die Biologie, aus unterschiedlichen Gründen, ihre Be-liebtheit bei Sozialwissenschaftlern (vgl. Hodgson 2004). In den 1950er und 1960er Jahren basierten ökonomische Modelle auf der Physik nach dem Vor-bild der klassischen Mechanik. In neu-erer Zeit wiederum kehrten Ökonomen zur Biologie zurück. Dieser Umstand hat positive und weitreichende Folgen für die Anwendung grundlegender kon-zeptioneller Werkzeuge in der Ökono-mik, einschließlich der Kosten-Nutzen-Analyse.

JoHN M. GoWDY

In den Jahren nach dem Zweiten Welt-krieg waren die Wirtschaftswissen-schaften von jener Schule dominiert, die als neoklassische Wohlfahrts- ökonomie oder einfach neoklassische Ökonomie bekannt ist. Sie hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert bei Edge-worth, Pareto und Walras, die ein ma-thematisches Modell der Wert- und Nutzensoptimierung entwickelten, das sich an Konzepten der Mechanik, vor allem am „Gleichgewicht innerhalb eines Kräftefeldes“ orientierte (Mirow-ski 1989). Heute, nach dem Kollaps der neoklassischen Ökonomie, bietet die ökonomische Theorie ein sehr unein-heitliches Bild (vgl. Albert und Hahnel 1990, Bowles und Gintis 2000, Colan-der, Holt und Raser 2004, Davis 2006). Der Kollaps war die Folge theoretischer Ungereimtheiten und der empirischen Widerlegung zweier Grundannahmen: Der Mensch ist rational ökonomisch und der Wettbewerb ist perfekt (Gowdy 2004). Profunde Untersuchungen des tatsächlichen menschlichen Verhaltens brachten die Bedeutung der Instinkte, der gesellschaftlichen Konditionierung und anderer „irrationaler“ Faktoren bei

bIOLOgIe und kOsTen-nuTZen-AnALYse:Das tatsächliche menschliche Verhalten als Grundlage ökonomischer Strategie

der Entscheidungsfindung wieder ans Tageslicht. Die erneute Einführung der Biologie in die Ökonomik gibt dieser einen starken Antrieb bei der Analyse menschlicher Absichten und Bedürf-nisse.

Das Verschwinden desHomo oeconomicus undder Aufstieg des Homo biologicusEigentlich kam die Biologie in die Ökonomik durch die Hintertür. Zwar sind Wirtschaftswissenschaftler seit langem an den großen biologischen Theorien (vor allem Selektionstheorie) interessiert, aber das neu geweckte Interesse an der Biologie kommt von sehr konkreten Experimenten zur Ent-scheidungsfindung in jenem Bereich der Mikroökonomik, der als Verhaltens- ökonomik bezeichnet wird und in der Spieltheorie wurzelt.

Waren frühe spieltheoretische Modelle noch von der Annahme extremer Rati-onalität geprägt, wurden in den 1970er Jahren Verhaltensmodelle von Biologen konzipiert, die – anders als die rein ma-thematischen Modelle der Ökonomen – in Laborversuchen getestet wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis diese Ar-beiten von Biologen (und auch Psycho-logen) auf das Studium ökonomischen Verhaltens angewendet wurden. Schnell wurde deutlich: Der Homo oeco-nomicus ist ein Zerrbild des wirklichen (menschlichen) Verhaltens. Besonders ein Experiment (Güth, Schmittberger und Schwartz 1982) revolutionierte das Denken der Ökonomen über unser Ver-halten.

Dieses Experiment ist ein Spiel, bei dem der Spielleiter einem von zwei Versuchs-teilnehmern eine bestimmte Geldsum-me anbietet, die dieser mit dem zwei-ten Spieler teilen soll. Der wieder kann das Angebot annehmen oder ablehnen – lehnt er ab, bekommen beide nichts.Der Homo oeconomicus sollte jedes An-gebot annehmen; bekommt der erste Spieler zum Beispiel 100 EURO, sollte der zweite selbst das kleine Angebot von einem EURO akzeptieren, weil et-

was mehr ist als nichts. Aber bei dem Spiel stellte sich heraus, dass Angebote unter 30 % der verfügbaren Summe als „unfair“ zurückgewiesen wurden. Die Mehrzahl der Spieler mit einem bestimmten Angebot offerierte 40 bis 50 % der Gesamtsumme (Nowak, Page und Sigmund 2000; siehe auch Gowdy, Iorgulescu und Onyeiwu 2003). Daraus wird erkennbar, dass Fairness als gesell-schaftliche Norm eine wichtige Rolle spielt. Das Standardmodell des „ratio-nalen Wirtschaftsmenschen“ erweist sich also als unhaltbar oder vermag je-denfalls menschliches Verhalten nicht genau vorauszusagen.

So wird die Bedeutung der Biologie, insbesondere Evolutionsbiologie, für das Studium menschlichen Verhaltens sichtbar. Alle Gruppen des Menschen kooperieren auf vielfältige Weise, und dieses Verhalten muss Evolutionsvor-teile haben. Ein Team des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropolo-gie (Leipzig) wandte das erwähnte Spiel auf Schimpansen in Uganda an (Melis, Hare und Tomasello 2006): Auch unsere nächsten Verwandten entwickeln Ban-den mit anderen Individuen ihrer Art auf der Grundlage von Vertrauen und Gegenseitigkeit. Damit verstärkt sich das Argument für neue ökonomische Modelle, die solches Verhalten gleich-sam als Norm nehmen. Auch andere Experimente sind in diesem Zusam-menhang erhellend. So konnte gezeigt werden, dass die Entscheidungsfindung stark davon beeinflusst wird, wie Alter-nativen angeboten werden (framing ef-fect, Kahnemann und Tversky 2000).

Die Vorstellung vom „rationalen Wirt-schaftsmenschen“ hält die neoklas-sische Wohlfahrtsökonomie zusammen. Ohne den Homo oeconomicus kann nicht gezeigt werden, dass die Resultate konkurrierender Märkte effizient sind, so dass die Annahme, „Fehlschläge des Marktes“ könnten durch Intervention korrigiert werden (um das „gesellschaft-lich optimale“ effiziente Ergebnis zu si-chern), jeder theoretischen Grundlage entbehrt (siehe Gowdy 2004, 2005).

Anmerkung: Dieser vom Autor in engl. Sprache zur Verfügung gestellte Text erscheint hier gekürzt in dt. Übersetzung und wurde für das bioskop adaptiert. Der Herausgeber

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Kosten-Nutzen-Analyse und das wirk-liche Verhalten des MenschenNimmt man die Voraussetzungen der neoklassischen Wohlfahrtsökonomie ernst, dann bringt jede Strategie man-chen Leuten Vorteile, anderen aber Nachteile. Die potentielle Zunahme wirtschaftlicher Effizienz kommt dem-nach so zustande: Eine Veränderung der jeweils gegebenen Situation erhöht den Geldzuwachs bei den „Gewinnern“ stärker als den Verlust bei den „Verlier-ern“. Damit wird die Verbesserung der menschlichen Situation (einschließlich der sozialen Wohlfahrt) mit steigendem Pro-Kopf-Einkommen gleichgesetzt, und „Rationalität“ definiert sich gewis-sermaßen als Entscheidung des Konsu-menten nach der Vorstellung des Homo oeconomicus.

Verhaltensökonomik, Spieltheorie und entsprechende „neuroökonomische“ Untersuchungen ergeben jedoch ein anderes Bild. Hier seien die folgenden drei Thesen formuliert:

1. Verluste werden stärker empfunden als Gewinne Ein Beispiel. Ein Park wird zerstört und durch eine Parkgarage ersetzt. Die herkömmliche Kosten-Nutzen-Analy-se geht davon aus, dass die Anrainer mit der gleichen Geldsumme für den verlorenen Park kompensiert werden können, die zu zahlen sie bereit wä-ren, um eine Parkgarage durch einen neuen Park zu ersetzen. Aber hunder-te Studien haben gezeigt, dass Leute mehr auszugeben bereit sind, um den Verlust von etwas zu vermeiden, was sie bereits haben, weniger aber, um zu erwerben, was sie noch nicht besitzen. Die herkömmliche Kosten-Nutzen-Ana-lyse unterschätzt systematisch die Ver-luste, etwa die von Umweltqualitäten (Knetsch 2005).

2. Einkommen ist kein gutes Maß für Wohlergehen.Zahlreiche Studien belegen, dass Geld nur einer von vielen Faktoren für Glück und Zufriedenheit ist. Genau so wichtig sind Gesundheit, der Austausch mit Fa-milienangehörigen und Freunden und die genetische Veranlagung (Layard 2005). In der konventionellen Kosten-Nutzen-Analyse geht man von der An-nahme aus, dass eine allgemeine Erhö-hung des Einkommens um 10 % auch

eine Steigerung des Wohlbefindens um 10 % bedeutet. Eine darauf gegründe-te (Wirtschafts-)Strategie kann aber die soziale Wohlfahrt nicht wirklich verbes-sern.

3. Bei der Bewertung der Zukunft bedie-nen sich Menschen unterschiedlicher Zeitrahmen.Verhaltensexperimente verdeutlichen, dass Menschen bei der Bewertung zu-künftiger Gewinne und Verluste hyper- bolisch und nicht geradlinig vorge-hen (Laibson 1997). Die nahe Zukunft bedeutet ihnen mehr als die ferne. Je höher der Diskontsatz liegt, um so we-niger sind die Dinge in Zukunft wert. Zugleich kann Antizipation an sich et-was Positives sein: In der Zukunft kann etwas einen höheren Wert haben als heute (Loewenstein 1987). Beispiels-weise kann die Erhaltung eines Natio-nalparks und natürlicher Lebensräume wichtig sein, weil Leute denken, dass sie (etwa im Ruhestand) davon etwas haben werden.

Humanpsychologie und Human-biologie als strategische RichtlinienÖkonomen gehen vielfach von falschen Voraussetzungen betreffend mensch-liche Präferenzen aus (vgl. Randall 1988). Die neoklassische Wohlfahrtsökonomie einschließlich ihrer Kosten-Nutzen-Analyse enthält eine Reihe von Urteilen darüber, wie Menschen sich verhalten – und die meisten dieser Urteile sind vollkommen falsch (Ackermann und Heinzerling 2004). Natürlich sollte sich die Bewertung von Projekten und Stra-tegien (in der Wirtschaft) auf Kosten-Nutzen-Analysen gründen. Aber diese dürfen nicht von falschen Annahmen über menschliches Verhalten und sozi-ale Wohlfahrt bestimmt werden!

Jedem Ökonomenist daher Folgendes ans Herz zu legen:

1. Benutzen Sie, statt Pro-Kopf-Einkommen, subjektive Wohlbefindens-Kriterien der sozialen Wohlfahrt. Erst in jüngster Zeit befassen sich Öko-nomen mit Implikationen solcher Überlegungen, deren praktischen Ergebnisse viel versprechend sind (Kahnemann und Sudgen 2005) und poli-tisch eine große Attraktionskraft besitzen sollten.

2. Verwenden Sie Modelle des tatsächlichen Verhaltens von Menschen, um die Kosten und Nutzen von öffentlichen Projekten zu prüfen. Die-

ser Ansatz wird bei der Bewertung von Projekten angewandt, wobei eine Gruppe ausgewählter Personen jene Werte untersucht, die kollektive Entscheidungen im einem Prozess vernünftiger Diskurse leiten sollten (Howarth 2006). Die grund-legende Idee ist, dass Leute durch behutsames Abwägen übereinkommen können; sie untersu-chen Argumente und entwickeln gegenseitiges Verständnis und Vertrauen.

3. Erkennen Sie die Natur des Menschen und ihren Platz auf dem Planeten Erde. Der Mensch evolvierte, wie jede andere Organismenart, durch einen Prozess von Versuchen und Irrtümern und passte sich an eine sich wandelnde natürliche Umgebung an. Diese Erkenntnis kann uns helfen, menschliches Verhalten und die kritische Rolle der Energieflüsse in ökonomischen Systemen besser zu verstehen.

Sobald man einsieht, dass außerhalb des Marktes Quellen der Wohlfahrt exi-stieren, werden Kosten-Nutzen-Analy-sen wesentlich an Tiefe gewinnen. Es ist an der Zeit, diese Analysen gleichsam auf eine höhere Ebene zu hieven und realistische, der Biologie und Psycho-logie entsprechende, Annahmen über menschliches Verhalten und Wohlbefin-den zu entwickeln und die tatsächlichen Präferenzen des Menschen in Betracht zu ziehen. Das bedeutet nicht, wichtige, grundlegende Konzepte der Ökonomik, die im Laufe des letzten Jahrhunderts etabliert wurden, einfach wegzuwer-fen. Aber es bedeutet die Aufforderung, Konzepte wie „rationales Verhalten“, „soziale Wohlfahrt“ und so weiter auf der Basis (neuer) empirischer Befunde und zuverlässiger wissenschaftlicher Methoden zu definieren und anzuwen-den. Das wäre ein großer Schritt für die Wirtschaftswissenschaften – im Sinne ihrer Relevanz als Beitrag zu einem bes-seren Leben unserer Spezies.

AutoR uND KoNtAKt

Ph. Dr. John GowdyRittenhouse TeachingProfessor of Humanitiesand Social Sciences Department of EconomicsRensselaer Polytechnic Institute3208 Sage Hall, Troy, New York [email protected] http://www.economics.rpi.edu/gowdy.html

LITERATUR bei der bioskop-Redaktion.

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I. einleitungIn vielen Städten bieten Bauern wie eh und je auf den Wochenmärkten an, was sie gerade von eige-ner Hand geerntet haben -- Zeugnis des Behar-rens einer Jahrtausende alten Tradition. Die Zei-chen des Wandels findet man nicht weit entfernt im Warenangebot des nächsten Supermarktes. Dort hat die hochtechnisierte, energie- und che-mieintensive Agrarindustrie, gestützt auf eine ausgeklügelte, weltweite Logistik, die vormals bindenden saisonalen und regionalen Beschrän-kungen in der Verfügbarkeit von Agrarprodukten längst aufgehoben. Sie bietet ihre Massenware global zu säkular sinkenden Austauschverhält-nissen an und marginalisiert den Stellenwert der traditionellen Produktionsformen. Schaut man auf andere Industrien und deren Wertschöpfung, so springt auch dort Wandel mehr ins Auge als Beharrung. Kaum ein Herstellungsvorgang ist gleich geblieben, kaum ein Arbeitsplatz unverän-dert. Kein “Warenkorb”, den ein durchschnittlicher Nachfrager konsumiert, ist derselbe wie noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Innerhalb nur einer Generation sind wir Zeugen eines umfassenden, dramatischen Wandels der wirtschaftlichen Le-benswelt -- Zeugen, die diesen Wandel und sein Tempo fast schon für Normalität halten.

Die Frage ist natürlich: ist all dies Ausdruck von “Evolution”? Und ist die ungeheure Varietät und Vielschichtigkeit des wirtschaftlichen Wandels theoriefähig im Sinne eines Evolutionsprozesses? Wenn dieser Wandel kein erratischer, jeglicher Regelmäßigkeit entbehrender Ablauf ist, dann kann die Antwort nur ein Ja sein. Dann braucht die ökonomische Theorie, die gegenwärtig eher auf die Analyse und den Vergleich von (Gleichge-wichts-) Zuständen ausgelegt ist, auch ein Kon-zept von Evolution, das in ihrem Objektbereich Sinn macht. Dafür liegen bereits einige Bausteine vor. Allerdings stammen diese Bausteine nicht al-lein aus der Ökonomik, denn Evolution ist nicht auf wirtschaftliche Zusammenhänge beschränkt, sondern hat allgemeinere, kulturelle und biolo-gische Dimensionen. Wirtschaftliche Evolution ist -- das ist die Grundthese dieses Aufsatzes -- von diesen allgemeineren Dimensionen nicht abtrennbar und gerade deshalb theoriefähig. Es gibt eine ontologische, evolutionäre Kontinuität. Ihre Rekonstruktion ist wesentlich für die Erklä-rung dessen, was sich im wirtschaftlichen Wandel abspielt. Dies wenigstens kursorisch zu belegen, ist die Aufgabe des vorliegenden Papiers.

IsT WIrTschAFTLIche eVOLuTIOn TheOrIeFÄhIg?

uLRICH WItt Die Annahme einer ontologischen, evolutionären Kontinuität ist zu unterscheiden von konzeptio-nellen Anleihen, Analogien und Metaphern, die von einer domänen-spezifischen Evolutionsthe-orie in eine andere exportiert werden. Solcher wechselseitiger Ideenaustausch ist häufig und hat auch für die Auseinandersetzung mit dem Evolutionsgedanken in der Ökonomik eine große Rolle gespielt. Abschnitt II gibt darauf einen kurzen Rückblick, der zugleich den Stand evolu-tionsökonomischer Gedanken widerspiegelt. Die verwirrende Vielschichtigkeit von ontologischen, konzeptionellen und methodischen Problemen und Standpunkten in der Literatur lässt es gera-ten erscheinen, genau zu bestimmen, was mit “Evolution” gemeint ist. Abschnitt III arbeitet dazu einige generische Eigenschaften heraus, die Evo-lution domänen-unabhängig charakterisieren (und die Evolution in der Natur und Evolution in der Wirtschaft daher gemeinsam haben). Auf der abstrakten Ebene dieser Gemeinsamkeiten folgen alle domänen-spezifischen, evolutionären Prozesse denselben Prinzipien. Ob sie jedoch iso-liert ablaufen, oder ob sich die Prozesse über Do-mänengrenzen hinweg wechselseitig beeinflus-sen, ist eine andere, nämlich ontologische Frage.

Genau diese Frage ist der Gegenstand der Kon-tinuitätsthese, die in Abschnitt IV erläutert wird. Implizit gibt die These auch eine Antwort auf die Frage, wie sich eine evolutorische Ökonomik in das moderne, evolutionäre Weltbild einfügt, in dem die (domänen-spezifische) neo-darwi-nistische Theorie eine zentrale Rolle spielt. Um die Antwort vorwegzunehmen: Evolution in der Natur setzt sich auf der kulturellen Ebene (zu der menschliches Wirtschaften gehört) fort, auf an-dere Weise und mit anderen Mitteln, aber auf der Grundlage jener Restriktionen, die Evolution in der Natur aktuell geschaffen hat. Was eine solche Perspektive im ökonomischen Kontext bedeu-tet und zu welchen konkreten Erkenntnissen im Rahmen einer evolutorischen Ökonomik sie führt, wird in den Abschnitten V und VI in aller Kürze exemplarisch zunächst für die Produktionsseite skizziert. Die Abschnitte VII und VIII sind dann der Konsumseite gewidmet. Produktion und Konsum sind nicht nur zwei der elementaren wirtschaft-lichen Aktivitäten, durch die der Objektbereich der Wirtschaftstheorie enumerativ (und damit unabhängig vom normativen Knappheitskriteri-um) definierbar ist. Sie eignen sich wegen ihrer zeit- und kulturübergreifenden Persistenz auch besonders gut für eine Analyse langfristiger Evo-lutionsprozesse in der Wirtschaft. Diese umfas-

sen natürlich sehr viel mehr, vor allem auch die Entwicklung wirtschaftlicher Institutionen, die hier aus Platzgründen jedoch nicht thematisiert werden kann. Wie Friedrich von Hayek herausge-arbeitet, ist dies ein Kernbereich kultureller Evo-lution. Spieltheoretische Betrachtungen haben das Verständnis von Evolution im institutionellen Bereich stark gefördert. Abschnitt VII bringt ab-schließend eine kurze Zusammenfassung.

II. Ökonomie und evolution -- vor und nach Darwin Als Adam Smith (1776) sein epochemachendes Werk über den Reichtum der Nationen veröffent-lichte, war die industrielle Revolution gerade erst in den Anfängen. Dennoch beschäftigte Smith (ibid., Buch II und III) der historisch beobachtbare wirtschaftliche Wandel. Was ihm ins Auge stach, war eine zunehmende Arbeitsteilung und Spezi-alisierung, die Hand in Hand ging mit Kapitalak-kumulation (und später der Mechanisierung der Produktion). Grundlage des umfangreichen The-oriegebäudes, das er zur Erklärung vorschlug, war die Idee einer gesellschaftlichen Selbstregelung, die Smith mit seiner Metapher der “unsichtbaren Hand” auf den Punkt brachte. Dieses aus der schottischen Schule der Moralphilosophie stam-mende Konzept steht in Verbindung zu vor-dar-winistischen Evolutionsvorstellungen. Bekannt-lich haben diese Vorstellungen über die Schriften von Malthus und Adam Smith, Einfluss auf Dar-wins Konzipierung seiner eigenen Theorie der na-türlichen Auslese und der Entstehung der Arten gehabt. Evolution ist nach diesen Vorstellungen gleichzusetzen mit einer Höherentwicklung, die Wirtschaft und Gesellschaft durch den Wettbe-werb zwischen den Gesellschaftsmitgliedern vollziehen. Der Wettbewerb bewirkt, dass Evolu-tion ein selbstregelnder Prozess ist, der spontane Ordnung in der Wirtschaft erzeugt -- ein klarer Hinweis darauf, dass wirtschaftliche Evolution als theoriefähig angesehen wird.

Die späteren Vertreter der Klassik, vor allem Ri-cardo und Marx, reflektierten in ihrem Werk den dramatischen wirtschaftlichen Wandel ihrer Zeit noch stärker. Für sie war dieser zwar nicht weni-ger theoriefähig. Ihre Theorie stufte den Wandel jedoch als inhärent krisenhaft ein. Die kapitali-stische Akkumulation als seine Triebfeder war ihrer Ansicht nach nicht durchzuhalten. Ende des 19. Jahrhunderts machte sich in der akade-mischen Debatte innerhalb der Ökonomik mit der marginalistischen (oder subjektivistischen) Revolution ein deutlicher Wandel bemerkbar. Fortschritts- und Evolutionsideen -- eben noch

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von Herbert Spencer (damals Mitherausgeber des Economist) propagiert -- verloren ebenso an Einfluss wie das Interesse am nach wie vor stürmischen wirtschaftlichen Wandel schwand. Bei Jevons, Walras und vielen Vertretern des sich entfaltenden neoklassischen Paradigmas rückten erstmals statische Gleichgewichtsbetrachtungen in den Mittelpunkt. Die Inspirationsquelle des neuen Paradigmas wurde offen genannt: die Newtonsche Mechanik. Sie ist bekanntlich auf die Gesetze gravitierender Systeme wie des Plane-tensystems zugeschnitten. Nutzen- und Preisthe-orie, Produktionstheorie und andere Teiltheorien werden entsprechend nach und nach in Gleich-gewichtstheorien umformuliert, vgl. Georgescu-Roegen (1971, S.40)

Die Adoption dieses Paradigmas in der Ökonomik zu diesem Zeitpunkt ist nicht ohne Pointe. Zeit-gleich wird in den Naturwissenschaften nämlich mit der “darwinistischen Revolution” (Ruse 1979) eine genau entgegengesetzte Entwicklung ein-geleitet. Die Diskussion über Darwins Lehre (die selbst vom älteren, sozialphilosophischen Evo-lutionsgedanken beeinflusst war) führt dort zur Ablösung des Newtonschen Wissenschaftsideals durch ein evolutionäres Paradigma (Mayr 1994, Kap.2 und 9; Pulte 1995). Der spektakuläre Erfolg der Darwinschen Lehre und des von ihr reformu-lierten Evolutionsdenkens hat freilich auch einige zeitgenössische Ökonomen beeindruckt. Alfred Marshall (1898) fühlte sich z.B. in der Einleitung zu seinen Principles zu einem vielzitierten Lippenbe-kenntnis für eine “Wirtschafts-Biologie” veranlasst. In der Sache hielt er jedoch am neoklassischen Pa-radigma fest. Vor allem Veblen (1898) propagierte unter Berufung auf die Darwinsche Revolution eine echte, anti-mechanische Veränderung der ökonomischen Theorie und ließ seiner Kritik an der Neoklassik eine erste Version einer “Evoluti-onsökonomik” folgen (Veblen 1899, 1914). Sie ist klar von einer darwinistischen Weltsicht inspiriert. Der weitschweifigen, mit anthropologischen Re-flexionen angereicherten Argumentation liegt -- für den Leser nur schwer erkennbar -- ein evo-lutionäres Theoriekonzept zugrunde (Dopfer 2000). Veblen sucht zu rekonstruieren, wie sich die kulturelle Evolution als Fortsetzung der von Darwin erklärten, natürlichen Evolution entwi-ckelt und die Erscheinungsformen menschlichen Wirtschaftens prägt. Mit seinem Konzept der ku-mulativen Verursachung, das man als Grundlage einer Deszendenz-Theorie deuten kann, sucht er zu rekonstruieren, wie Institutionen entstehen und die weitere Entwicklung kanalisieren. Eine zentrale Rolle spielt in dieser Rekonstruktion die Gewohnheitsbildung, insbesondere auch die Bildung von Denkgewohnheiten, als Beharrungs-element im “pfadabhängigen” (wie man heute

sagen würde), kulturellen Entwicklungsprozess. Eine klare Formulierung und Ausarbeitung seiner Theorie bietet Veblen allerdings nicht.

Weitere Überlegungen in Richtung auf eine evo-lutorische Ökonomik sind (möglicherweise aus Sorge um eine zu große Nähe zum zwischen-zeitlich verhängnisvoll wirkenden Sozialdarwi-nismus) erst beträchtlich später und aus anderen Quellen gekommen. Die wichtigste dieser Quel-len ist die Theorie der wirtschaftlichen Entwick-lung von Schumpeter (1912). Schumpeter hatte der Darwinschen Theorie zwar jegliche Relevanz für wirtschaftliche Entwicklungsvorgänge abge-sprochen und auch den Term “Evolution” vermie-den. Er hatte jedoch auch früh erkannt, dass die Analogie zur Mechanik gravitierender Systeme, die die vorherrschende neoklassische Theorie sei-ner Zeit prägte, dem Verständnis wirtschaftlicher Entwicklung hinderlich war (Schumpeter 1912, Kap.7). Er suchte deshalb nach einem eigen-ständigen Zugang. Seine Vorstellung von wirt-schaftlicher Entwicklung war dabei eher von der marxistischen Vorstellung krisenhafter Wachs-tumsschübe geprägt. Diese würden jeweils von neu aufsteigenden Industrien getragen, hinter denen heroische, große Innovationen vorantrei-bende Unternehmer stehen. Abstrakt betrachtet spricht Schumpeter damit zwei Prozesse an -- die Entstehung von Neuem und seine Ausbreitung -- die, wie unten argumentiert werden wird, konsti-tutiv für Evolutionsvorgänge sind.

Schumpeter hielt wirtschaftliche Entwicklung zwar für äußerst komplex, aber für theoriefähig, wie seine beiden Hauptwerke (Schumpeter 1912 und 1950) zeigen. Sein entwicklungsorientierter Gegenentwurf zur statischen, neoklassischen Theorie hat viel Beachtung und Beifall gefunden. Gleichwohl war Schumpeter außerstande, ein ei-genes, auf die Erklärung des Wandels gerichtetes Forschungsprogramm zu etablieren. Seine Ideen entfalteten ihre Wirkung in der neueren evoluto-rischen Ökonomik gerade erst in Verbindung mit Konzepten, die ihre Quelle in der von Schumpe-ter abgelehnten Metapher der natürlichen Aus-lese haben. Diese Verbindung ist von Nelson und Winter (1982) hergestellt worden, die die Innova-tionstätigkeit und die Dynamik der industriellen Organisationsformen des modernen Kapitalis-mus in den Mittelpunkt ihrer Synthese stellen (vgl. Witt 1987a, S. 83-99). In gewissem Sinn ist die Verbindung symptomatisch für die intellek-tuelle Anziehungskraft, die Darwins Theorie (oder besser die sog. neo-darwinistische Synthese, vgl. Mayr 1994, Kap.9) heute ausübt, wenn immer das Thema “Evolution” zur Sprache kommt.Die Anziehungskraft wirkt sich recht unterschied-lich in der Heuristik der Kultur- und Sozialwissen-

schaften aus. Neben einzelnen Versuchen, neo-darwinistische Erklärungsansätze vor allem aus der Soziobiologie direkt anzuwenden (Voland 1992) stehen meist mehr oder weniger abstrakte Analogiekonstruktionen im Vordergrund. Gele-gentlich werden diese mit einem Universalan-spruch verbunden wie etwa im “Universal Darwi-nism”. Wegen der großen Unterschiede zwischen den Objektbereichen sind die Bedingungen für echte Analogien allerdings kaum erfüllbar. Kon-zepte aus dem Kontext des biologischen Evo-lutionsmodells werden daher überwiegend als Metapher verwendet, als Ideenlieferant für die heuristische Strukturierung von an sich anders-artigen Evolutionsvorgängen und für deren Mo-dellierung. So reizvoll dies oft auf den ersten Blick erscheint, so gravierend ist das Risiko einer fehler-haften heuristischen Weichenstellung, die später schwer zu korrigieren ist (wie die Erfahrung mit den Analogiekonstruktionen der neoklassischen Ökonomik zur Newtonschen Mechanik gezeigt hat). Auch für das Verständnis der evolutorischen Ökonomik ist es deshalb nicht unproblematisch, wenn programmatisch auf die Selektionsanalo-gie bzw. -metapher gesetzt wird. Tatsächlich sind solche Analogieversuche ja schon seit den 1950er Jahren versucht worden (Friedman 1953) und ha-ben die Kritiker nie überzeugt (Metcalfe 2002).

III. Generische eigenschaften von evolutionDie Vorstellungen über Evolution, die man sich -- vor und nach Darwin -- in der Ökonomik ge-macht hat, legen zwei Fragen nahe. Erstens, was ist eigentlich gemeint, wenn man von Evolu-tion spricht? Zweitens, welche Rolle spielt das moderne, von der neo-darwinistischen Theorie geprägte Weltbild für das Verständnis wirtschaft-licher Evolution? Die beiden Fragen werden der Reihe nach in diesem und im folgenden Ab-schnitt angesprochen. Wenden wir uns also zu-nächst der Bedeutung des Terms “Evolution” zu. Sehr wahrscheinlich wird man damit heute den milliardejahrealten Prozess der Entstehung und systematischen Veränderung der Lebensformen auf diesem Planeten assoziieren, d.h. an Evolution in der Natur und die biologische Evolutionstheo-rie denken. Aber Evolution gibt es auch in Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft. Wie erwähnt, waren es vor Darwin vor allem diese Formen von Evo-lution, die das Konzept prägten. Haben die ver-schiedenen, domänen-spezifischen Formen von Evolution etwas miteinander gemeinsam? Lässt sich “Evolution” in generischer Weise charakteri-sieren?

In der Literatur, die sich allgemeiner mit evolu-tionären Theorien beschäftigt, wird Evolution häufig, Campbell (1965) folgend, abstrakt als ein Zusammenspiel von Variation, Selektion,

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Prof. Dr. ulrich WittMax-Planck-Institut für ÖkonomikKahlaische Str. 10, D-07745 [email protected]

Fortsetzung folgt ...Der komplette Artikel ist für jene, die mit der Warenlehre befasst sind, von besonderem Interesse.

Als Service für bioskop-Leser sind der Aufsatz mit allen 9 Abschnitten, sowie Angaben zur Literatur bei der bioskop-Redaktion erhältlich.Anfragen an [email protected]

und Retention (oder Replikation) charakterisiert. Hierbei handelt es sich um eine abstrakte Re-duktion der Prinzipien der neo-darwinistischen, synthetischen Evolutionstheorie. Oft werden die Prinzipien von Variation, Selektion und Retention dann auf mutmaßliche Evolutionsvorgänge au-ßerhalb jener der natürlichen Arten übertragen. Faktisch wird damit eine abstrakte Analogie zum domänen-spezifi schen Modell der Evolutionsbio-logie konstruiert. Dort wo die Voraussetzungen einer echten Analogie nicht erfüllt sind, handelt es sich sogar nur um den Gebrauch einer ab-strakten, biologischen Metapher mit all ihren schon erwähnten heuristischen Problemen. Dies ist schon dann der Fall, wenn durch intentionales Handeln (“Problemlösen”) die Variationsprozesse nicht mehr unabhängig von den Selektionspro-zessen sind. Intelligenz und Kreativität ermög-lichen es dem Menschen, sein Verhalten gezielt zu modifi zieren, um Selektionsdruck zuvorzu-kommen oder auszuweichen. Der beobachtbare Wandel kann dadurch vom kollektiven Ergebnis der individuellen Anpassungsprozesse abhängig werden. Diese folgen ihren eigenen, andersar-tigen Gesetzmäßigkeiten und treten dann in ihrer Gesamtheit an die Stelle der Selektionsprozesse auf Populationsebene, die in der Natur vom Indi-viduum unabhängig sind.

Auf diesem Weg kann man zunächst festhalten, dass Evolution stets eine von einer Gesetzmäßig-keit beherrschte Dynamik ist. (Dies ist der Grund für ihre Theoriefähigkeit.) Aber nicht jede Dyna-mik, die eine Gesetzmäßigkeit ausdrückt, ist auch evolutionär. Dynamische Prozesse durchlaufen regelhaft einen unveränderlichen, bekannten Zu-standsraum. Für evolutionäre Prozesse kann man dagegen als empirische, domänen-übergreifende Generalisierung behaupten, dass sie regelhaft ei-nen erst durch den Prozess regelhaft generierten (und damit veränderlichen) Zustandsraum durch-laufen. Anders ausgedrückt, evolutionäre Pro-zesse generieren und off enbaren Neuigkeit. Bezo-gen auf die Natur, die Wirtschaft oder bestimmte Teile von diesen -- abstrakter gefasst, ein System, dessen Wandel durch einen evolutionären Pro-zess beschrieben wird -- kann man die generische Eigenschaft von Evolution daher ausdrücken als Selbst-Transformation des Systems im Zeitablauf durch endogen erzeugte Neuigkeit. Dabei kann man logisch (und meist auch ontologisch) zwei Prozesse voneinander unterscheiden: den der Entstehung von Neuigkeit im System und den der Ausbreitung. In den verschiedenen disziplinären Domänen, in denen Evolution stattfi ndet, treten diese Prozesse in jeweils unterschiedlichen For-men und Gewichtungen auf.

In der Biologie entsteht Neuigkeit in zufallsbe-dingten Mutationen und genetischer Rekombi-

nation. Die Frage ihrer Ausbreitung ist, ontolo-gisch betrachtet, auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt, nämlich der, auf der die selektiven genetischen Replikationsprozesse ablaufen. Die Nichtexistenz eines systematischen Feedbacks von der Selektions- auf die Variationsebene ist dabei für die neo-darwinistische Theorie essenti-ell. (Würde ein solcher Feedback bestehen, würde die Selektion selbst die Inertia zerstören, an deren Merkmalsverteilungen sie ansetzt.) In der Lingu-istik kann man die individuelle Erfi ndung einer neuen Wortschöpfung oder eines Idioms von der Frage unterscheiden, unter welchen Bedin-gungen und wie sich diese in der Sprachgemein-schaft oder ihren Subgruppen verbreitet. In der Ökonomik als einer handlungsorientierten Dis-ziplin tritt Neuigkeit in Form einer neuen Hand-lungsmöglichkeit (Strategie, Technik o.ä.) auf, die dann, wenn sie realisiert wird, eine Innovation darstellt. Innovationen breiten sich in der Wirt-schaft durch Nachahmung oder aktive Promotion durch Diff usionsagenten aus. Im Diff usionspro-zess werden in aller Regel Rückkopplungen auf die Entstehung weiterer Neuigkeit auftreten, da Innovationen im Zuge ihrer Ausbreitung bei den Adoptern/Nutzern Lernvorgänge und Anreize für Anschluss-Innovationen auslösen.

Die Unterscheidung von Entstehung und Ausbrei-tung von Neuigkeit ist auch epistemologisch be-deutsam. Der Natur von Neuigkeit entsprechend ist ihre Bedeutung nicht (vollständig) antizipierbar -- auch nicht für den wissenschaftlichen Betrach-ter. Im Entstehungszusammenhang, also wenn man sich mit der für Evolutionstheorien wichtigen Frage beschäftigt, wann und auf welche Weise im betrachteten System Neuigkeit generiert wird, kann man daher nicht auf deren noch unbekann-te Eigenschaften zurückgreifen. In der Biologie ist dies, so wie die molekularen Mechanismen der Erzeugung von genetischer Neuigkeit beschaff en sind, für die Erklärung auch nicht nötig. Anders dagegen in den Disziplinen, die sich mit mensch-lichem Handeln beschäftigen. Hier schließt diese Restriktion die Verwendung von Rationalwahl-Hypothesen aus. (Diese setzen eine Kenntnis der besserstellenden, neuen Alternative voraus.) Um zu erklären, warum Neuigkeit gesucht oder aus-probiert wird, muss man auf andere Hypothesen zurückgreifen. Dies können z.B. Hypothesen sein, die die Handlungsmotivation aus dem Vergleich von Ist-Zustand und der Vergangenheit ableiten. Hierzu gehören Anspruchsniveau-Theorien, die eine Zunahme der Suchaktivitäten in Zeiten einer Krise voraussagen (Witt 1987a, S. 139-147). Eine weitere, spezielle, aber im Bereich wirtschaft-lichen Handelns wichtige Hypothese ist die, dass Neugier, also die Erwartung eines Neuig-keitserlebnisses an sich, die Suche nach und das Ausprobieren von Neuigkeit motivieren kann.

In der Ökonomik und anderen Handlungswissen-schaften ist eine Beschäftigung mit dem Entste-hungszusammenhang von Neuigkeit allerdings die Ausnahme. Selbst in der Evolutionsökono-mik richten sich die Erklärungsanstrengungen fast ausschließlich auf den Ausbreitungszusam-menhang von Neuigkeit bzw. von Innovationen, der epistemologisch weniger heikel ist. Mit der idealisierenden Annahme, dass sich die Eigen-schaften einer Innovation zumindest dem wis-senschaftlichen Betrachter sofort und vollständig off enbaren, kann dieser aus deren Kenntnis das individuelle Adoptions-, Imitations- und Lernver-halten antizipieren und so Bedingungen für die Diff usion der Innovation ableiten. Die stillschwei-gende zusätzliche Annahme ist dabei in der Re-gel, dass keine weitere, für den betrachteten Kon-text relevante Neuigkeit auftritt. Es sei denn, man unterstellt, dass die gegebene Erklärung bzw. Prognose Gültigkeit beanspruchen kann, völlig unabhängig davon, was immer an Neuigkeit ent-stehen wird. Faktisch wird mit diesen Annahmen Neuigkeit aus der Analyse eliminiert, so dass der Ausbreitungsprozess als ein Problem nicht-evolu-tionärer Dynamik modelliert werden kann. Alles andere würde die Grenze des gegenwärtig For-malisierbaren auch überschreiten, da mathema-tische Konzepte für die Behandlung der Entste-hung von Neuigkeit noch in den Kinderschuhen stecken und Algorithmen zur Bestimmung der Bedeutung von Neuigkeit gänzlich fehlen ...

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Didaktik

The Relevance of Science Education (ROSE) ist eine internationale Fragebo-genstudie zur Untersuchung von Ein-flussfaktoren naturwissenschaftlichen Lernens, an der mehr als 40 Nationen weltweit beteiligt sind (Schreiner & Sjøberg 2004). Dabei wird im Gegen-satz zu Vergleichserhebungen wie PISA bewusst von einem Ranking der be-teiligten Länder Abstand genommen. Vielmehr sollen die Bildungssysteme unter Berücksichtigung der Interessen, Einstellungen und Erfahrungen der Ju-gendlichen des jeweiligen Landes wei-terentwickelt und verbessert werden. Informationen über die Lebenswelt der Jugendlichen sollen genutzt werden, um den Unterricht stärker an Bedürf-nissen Heranwachsender orientieren zu können. Die mangelnde Bedeutung der Unterrichtsthemen für das Leben der Jugendlichen stellt vermutlich eines der größten Hindernisse für naturwissen-schaftliches Lernen dar.

DoRIS eLSteR

Die ROSE-Studie verfolgt verschiedene Ziele: Es sollen einerseits empirisch fun-dierte Erkenntnisse generiert werden, die zu einer kritischen Diskussion des bestehenden naturwissenschaftlichen Unterrichts auf nationaler und interna-tionaler Ebene anregen. Andererseits sollen mögliche Ansätze aufgezeigt werden, um die Relevanz, Attraktivität und Qualität des naturwissenschaft-lichen Unterrichts an Schulen im jewei-ligen Land zu erhöhen.Der ROSE-Fragebogen basiert auf Erfah-rungen und Skalen der internationalen Vorgängerstudie Science and Scientists (SAS) (Sjøberg, 2000), Eurobarometer 55.2 (EU, 2001) und dem National Sci-ence Board (National Science Foundati-on, 2004). Er wurde in nationalen und internationalen Vorstudien unter Be-rücksichtigung unterschiedlicher kultu-reller Kontexte validiert und optimiert. Der Fragebogen besteht aus 250 Items und ist in sieben Fragenkomplexe un-terteilt. In einem dieser Fragenkom-plexe („Worüber ich gerne lernen möch-

reLeVAnce OF scIence educATIOn: rOse-prOJekTWelche Interessen haben Jugendliche an naturwissenschaftlichen Inhaltenund Kontexten? - Erste Ergebnisse der ROSE - Erhebung in Deutschland und Österreich.

te“) werden in 108 Items die Interessen abgefragt. Die Items weisen ein zwei- dimensionale Struktur bezogen fach-liche Inhalte und Kontexte auf. Die fach-lichen Inhalte der Items beziehen sich auf Astrophysik, Geowissenschaften, Humanbiologie, Genetik, Energie, Tech-nologie, Zoologie Botanik, Chemie, Optik, Akustik, Elektrizität und STS (Sci-ence, Technology and Society). Beispiel für Kontexte sind spektakuläre Phäno-mene, Bedrohung und Gefahr, tech-nische Ideen und Erfindungen, ästhe-tische Effekte, Schönheit, Gesundheit, persönlicher Nutzen und Alltagsnutzen.

Forschungsfragen An welchen naturwissenschaftlichen Inhalten und Kontexten zeigen sich Jugendliche in Deutschland und Ös-terreich interessiert? Lassen sich Unter-schiede im Interesse von Mädchen und Jungen erkennen?

Datenerhebung in Deutschland und ÖsterreichDie Erhebungen in Deutschland und Österreich wurden an jeweils 26 Schu-len unterschiedlicher Schultypen (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) zwischen Oktober 2004 und Juni 2006 durchgeführt. Befragt wurden 1257 Schülerinnen und Schüler ( 621 aus Ös-terreich, 626 aus Deutschland) im Alter von 15-16 Jahren am Ende der Sekun-darstufe 1. Die Datenanalyse erfolgte u.a. mittels Faktorenanalyse.

Ausgewählte erste ergebnisseAn welchen naturwissenschaftlichen Inhalten sind Jugendliche interessiert?Die Interessen der Jugendlichen in Ös-terreich und Deutschland weisen große Ähnlichkeiten auf. Die Jugendlichen beider Länder interessieren sich für das Universum (Planeten und Sterne), Humanbiologie und Zoologie (Tiere). An den Inhalten der Botanik (Pflanzen) sind die Jugendlichen nicht interessiert und auch an den Themen der Geolo-gie (Aufbau der Erde), der Technologie und Energie haben sie eher geringes Interesse. Vergleicht man allerdings die

Geschlechter, dann treten das starke Interesse der Mädchen an Inhalten der Humanbiologie sowie das Interesse der Jungen an Inhalten der Elektrizität und Energie, Technik und Chemie deut-lich zum Vorschein. Beide Geschlechter sind interessiert an Astrophysik und Universum, Zoologie sowie Licht und Strahlung. Die Inhalte der Botanik sind sowohl für Mädchen als auch für Jun-gen uninteressant (siehe Abbildung 1). An welchen Kontexten sindJugendliche interessiert? Die Jugendlichen in Österreich und Deutschland interessieren sich vor allem für Kontexte, die in unmittel-barem Zusammenhang mit ihrem Kör-per und dessen Entwicklung stehen (den „Jugend - Kontexten“), sowie den Kontexten Gesundheit, Spektakuläres sowie Mystik und Wunder. Sie sind wenig interessiert an den Kontexten Schönheit und Ästhetik und Themen im Kontext Alltagsnutzen. Im Vergleich der Geschlechter (siehe Abbildung 2) fällt das große Interesse der Mädchen an den Kontexten Gesundheit, Fitness, Jugend sowie Mystik und Wunder auf. Jungen sind hingegen interessiert an Spektakulärem und Horror. Beide Ge-schlechter sind sehr interessiert an den Kontexten „Jugend“ und Gesundheit. Mädchen sind nicht interessiert an The-men im Kontext Alltagsnutzen, Jungen sind nicht zu begeistern für die Kontexte Fitness sowie Schönheit und Ästhetik. Die bisherigen ROSE-Ergebnisse stim-men mit den Ergebnissen der IPN– Interessensstudie (Hoffmann et al. 1998), die vor ca. 10 Jahren durchgeführt wurde, nur in einigen Punkten überein. • So ist das Interesse an Themen im humanbiologischen oder medizi-nischen Bereich weiterhin hoch. Diese lassen sich weiter differenzieren und drei Kontexten zuordnen: Kontexten mit speziellem Bezug zu Problemen Jugendlicher („Jugend-Kontexte“), Ge-sundheit und Fitness. Auffallend ist dabei, dass Jungen weit geringer an „Fitness“ in Zusammenhang mit einem gesunden und starken Körper interes-siert sind als Mädchen.

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AutoRIN uND KoNtAKt

Dr. Doris elsterINP der Universität KielLeibniz-Institut für diePädagogik der Natur-wissenschaftenOlshausenstr. 62D-24098 [email protected]

&VoRSCHAu AuF bioskop 1/2007: „SYSteM uND SYSteMAtIK“

• Neue Erkenntnisse bringt die ROSE Erhebung im Zusammenhang mit den Kontexten Alltagsnutzen und Alltags-bezügen. Vor allem Mädchen sind hie-rin wenig interessiert. • Gesellschaftsrelevante Kontexte im Zusammenhang mit Bedrohungen und Gefahren für Mensch und Natur werden als interessant eingestuft, wäh-rend Fragen der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes im Vergleich zu früher weniger interessant sind.• Mädchen sind interessiert an Phäno-menen aber nicht so sehr an Kontexten der Ästhetik und Schönheit, sondern vor allem an Wunder und Mystik.• Jungen sind interessiert an Spek-takulärem und an Horror. Sie sind in-teressierter an technischen Errungen-schaften und modernen Technologie als Mädchen.

Zusammenfassend lässt sich feststel-len, dass der heutige Jugendliche zum Unterschied zu Jugendlichen vor zehn Jahren vor allem an den Kontexten Ge-sundheit, Fitness, Mystik und Spekta-kulärem interessiert ist. Darüber hinaus lassen sich Kontexte mit speziellem Be-zug zu den Problem Jugendlicher iden-tifizieren, die für beide Geschlechter gleichermaßen interessant sind.

Abbildung 1:Interesse von Mädchen und Jungen an naturwissenschaftlichen Inhalten.

Abbildung 2:Interesse von Mädchen und Jungen annaturwissenschaftlichen Kontexten.

SchlussfolgerungDie Ergebnisse der ROSE- Studie iden-tifizieren typische Jugendkontexte, die für die Heranwachsenden von hoher Relevanz sind. Sie zeigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf und weisen spezifische Interessen aus. Es ist eine Tatsache, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche Interessen und Alltagserfahrungen haben. Kenn-zeichnend für die jungen Menschen ist ihr Streben nach Identität, persönlicher Bedeutung und Selbstverwirklichung. Sie wollen ausdrücken, wer sie sind, und sie sind sehr damit beschäftigt, ihre Identität aufzubauen. Und natürlich ha-ben Jungen und Mädchen unterschied-liche Vorstellungen davon, wie sie ihre Identität ausdrücken wollen. Das sollten Lehrkräfte berücksichtigen und ihren naturwissenschaftlichen Fachunterricht derart planen, dass er sowohl für die Lebenswelt der Mädchen als auch für die der Jungen sinnvoll und relevant ist. In diesem Zusammenhang ist es aber auch wichtig anzumerken, dass die ROSE- Ergebnissen zwar repräsentativ sind, aber dennoch nicht generalisiert werden sollten. Sie reflektieren lediglich den derzeitigen Trend der Interessen und Erfahrungen Jugendlicher und sie

geben inhaltliche Informationen über die Einstellungen jener Generation, die am Tor zur Welt der Erwachsenen steht.

LIteRAtuR

EU (2001). Eurobarometer 55.2. Europeans, Sci-ence and Technology. [verfügbar über: http://eur-opa.eu.int/comm/public_opinion/index_en.htm ] National Science Foundation (2004). National Science Board. [verfügbar über: http://www.nsf.gov/statistics/seind04 ]

Hoffmann, L., Häußler,P., Lehrke, M. (1998). Die IPN-Interessensstudie Physik. IPN 158. Kiel: IPN

Sjøberg, S. (2000). The SAS-Study. Cross-cultural evidence and perspectives on pupils´ interests, experiences and perceptions. [verfügbar über: http://folk.uio.no/sveinsj/SASweb.htm ]

Schreiner, C. & Sjøberg, S. (2004). The Relevance of Science Education. Sowing the Seed of ROSE. Oslo: Acta Didactica.

Didaktik

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DoNNeRStAG, 3. MAI 2007 BeGRüSSuNGSABeND18:30 Empfang und Menü-Buffet Grillhof, Innsbruck20:30 Qualität in Technologie und Management

FReItAG, 4. MAI 2007 eRÖFFNuNG08:30 Begrüßung und Organisation exKuRSIoNeN teCHNoLoGIe-BetRIeBe08:45 Abfahrt09:00-10:30 Alternative Doppel-Exkursionen 10:45-12:15 Innovacell & RhoBest (Medizinische Technologie) Swarovsky Optik & Westcam (Optik und Datentechnik)12:30 Mittagessen teCHNoLoGIeStANDoRt tIRoL uND NANoteCHNoLoGIe 14:00 Technologiestandort Tirol14:15 Nanotechnologie, Begriff, Anwendungen, Marktpotential – Netzwerke: WINN14:30 Nanotechnologie, Chancen und Risiken – Nano Health14:45 Workshops MoDeRNe teCHNIK – Neue MÖGLICHKeIteN Med-El: Cochleaimplantate Bedeutung von Mikroorganismen (Energiegewinnung, Landwirtschaft..) Cluster Mechatronik/Stubaier Werke Workshops ABeNDPRoGRAMM 18:30 Abfahrt Buzi-Hütte (Abendessen mit „Hüttenzauber“)

ARGE Lehrer für Biologie-Ökologie-Warenlehre – „Qualität in Technologie und Management“

&

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ABA Intern

9. ÖsTerreIchIsch-deuTsches WArenLehre-sYmpOsIum

Vill bei Innsbruck, 3. - 5. Mai 2007 / Grillhof, Zentrum für Weiterbildung des Landes TirolSAMStAG, 5. MAI 2007 DIDAKtIK08:30 Maturaprojekt „Schimmelcheck“; Mikrobiologie in der Schule09:15 IMST³ - Nanotechnologie09:30 Workshops10:15 Kaffeepause NANoteCHNoLoGIe IN DeR WAReNLeHRe 10:30 Nano-Experimentierkoffer mit versch. Experimenten10:45 Nano-Warenkoffer, Maturaprojekt11:00 Workshops12:00 Abschlussdiskussion, Zusammenfassung12:30 Lunch 14:00 FReIZeItPRoGRAMM Sprungschanzepanorama Altstadt-Führung Innsbruck Kristallwelten Wattens, Besichtigung Schloss Tratzberg

SoNNtAG, 6. MAI 2007 Seilbahnfahrt Patscherkofel, Wanderung Zirbenweg

SeMINARLeItuNGDir. Mag. Dr. Wolfgang HAUPT, BHAK/S Telfs – [email protected]

KoNtAKtMag. Inge BRANDL, BHAK Landeck – [email protected]

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