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Zwischen Kunst und Unterricht – Spots einer widersprüchlichen wie hedonistischen Berufsbiografie Hamburg University Press Kunstpädagogische Positionen 1 Hermann K. Ehmer

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Zwischen Kunst undUnterricht – Spots einer widersprüchlichen wiehedonistischenBerufsbiografie

Hamburg University Press

Kunstpädagogische Positionen 1

Hermann K. EhmerISB

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EditorialGegenwärtig tritt die Koppelung von Kunst & Pädagogik,Kunstpädagogik, weniger durch systematische Gesamt-entwürfe in Erscheinung, als durch eine Vielzahl unter-schiedlicher Positionen, die aufeinander und auf die Geschichte des Faches unterschiedlich Bezug nehmen.Wir versuchen dieser Situation eine Darstellungsform zu geben.

Wir beginnen mit einer Reihe von kleinenPublikationen, in der Regel von Vorträgen, die an derUniversität Hamburg gehalten wurden in dem Bereich,den wir FuL (Forschungs- und Le[ ]rstelle. Kunst –Pädagogik – Psychoanalyse) genannt haben.

Im Rahmen der Bildung und Ausbildung von Stu-dierenden der Kunst & Pädagogik wollen wir Positionenzur Kenntnis bringen, die das Lehren, Lernen und die bildenden Effekte der Kunst konturieren helfen.

Karl-Josef Pazzini, Eva Sturm,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

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Hermann K. EhmerZwischen Kunst und Unterricht –Spots einer widerspruchsvollen wie hedonistischen Berufsbiografiehrsg. von Karl-Josef Pazzini,Eva Sturm, Wolfgang Legler,Torsten Meyer

Kunstpädagogische Positionen 1 /2003Hamburg University Press

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Ich rede heute von meinem Beruf, vor allem dem alsLehrer in der Schule. Von meinen Erinnerungen, meinenErlebnissen und meinen Erfahrungen mit ihm. Von seinerVorgeschichte, seinen Schwierigkeiten und den Ver-gnügen. Aber auch von den Fragen und den Zweifeln.Und von meiner Skepsis. Der Gegenbegriff zu Skepsiswäre Gewissheit. Nach Gewissheiten müsste ich ehersuchen – bis zum heutigen Tag. Das hätten Sie wissenkönnen, nachdem Sie die Ankündigung gelesen haben.Das müssen wir – Sie und ich – jetzt aushalten.

Wenn wir heute Nachmittag viel mehr Zeit hättenals wir haben, würde ich gerne einmal einen Fragebogenverteilt haben mit nur zwei einfachen Fragen. Die erste:Was sagen Sie Ihrer wissbegierigen Tischnachbarin aufdie Frage »Was machen Sie eigentlich so beruflich?«(bzw. abends in der Kneipe Ihrem Kommilitonen von denWirtschaftswissenschaften auf dessen Frage »Was stu-dierst du denn so?«). Die zweite Frage: »Wie erklären Siedas, falls Sie eins haben, Ihrem Kind?« – Mit diesemProblem war ich einmal sehr heftig konfrontiert, als meindamals ungefähr vierjähriger Sohn partout wissen wollte, weshalb ich Lehrer sei und kein richtiger Mann. Er ist heute Psychoanalytiker. – G. B. Shaws Bonmot»Wer’s kann, tut’s, wer’s nicht kann, lehrt’s, wer nicht leh-ren kann, bildet Lehrer aus« wäre in solchen Situationenvermutlich nicht sonderlich hilfreich, man möchte sich ja nicht ohne Not allzu voreilig auf die allerletzte Bastion zurückziehen.

Ich bin ganz bewusst das Risiko eingegangen, dassSie mir jetzt fürs erste nur noch Ihre sehr geteilteAufmerksamkeit schenken können, weil Sie ja damitbeschäftigt sind, sich Ihre Antworten wenigstens im Kopfzurechtzulegen. Vielleicht denken Sie ja dabei an IhreKollegen oder Kommilitonen anderer Fächer, sagen wirMathematik oder Französisch, und daran, wie fein diejetzt raus wären. Ganz einfach, würden die sagen, bei mirlernt man Rechnen oder, der andere, ich bringe denKindern Französisch bei.

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Schön wär’s, wenn das auch bei uns so ginge. Aberbei uns ›lernt‹ man nicht Kunst, schlimmer noch, wirdürften, falls wir auch weiterhin für leidlich seriös gehal-ten werden möchten, nicht einmal behaupten, wir wüs-sten, was das ist. Haben wir doch noch im Ohr, wie einmalauf die Frage, was Kunst sei, ein ganz großer Kollegegesagt haben soll: »Wenn ich’s wüsste, ich würde es fürmich behalten«. – Aber Picasso musste ja auch keinenKunstunterricht erteilen. Wir – wir können das. Zu-mindest tun wir es – ohne sagen zu können, was das ist –unser Unterrichtsgegenstand, die Kunst. Sigmund Freud,hätte er von unserem Job erfahren, er hätte womöglichseine »drei unmöglichen Berufe (Politiker, Lehrer,Psychoanalytiker)« um einen ergänzt.

Unsere Vorvorgänger, die sich einmal schlichtZeichenlehrer nannten, waren da wesentlich besser dran.Zeichnen kann man nun wirklich lehren – und lernen.Obwohl auch damals die Berufsbezeichnung ›Zeichen-lehrer‹ einem etwas unklaren Verhältnis zum Deutschenals Muttersprache entsprungen sein dürfte. DennZeichen und Wunder erlebte man auch dort vermutlichnur sehr selten. Nichts ist ohne Vorgeschichte. Womit ichfast bei meiner Berufsbiographie angekommen wäre.

Jedenfalls habe ich jenen guten alten Zeichen-unterricht noch am eigenen Leibe erfahren – zu spürenbekommen! Und wie! – Stuhlmannsche Methode, fallsnoch jemand weiß (bzw. letzte Woche bei WolfgangLegler aufgepasst hat), was das ist. Sie hatte den unge-meinen Vorzug, dass sich die Zöglinge nach Noten imZeichensaal platzieren ließen. Ich durfte mich mit einemanderen, im Stuhlmannschen Verständnis Hoch-begabten, auf den beiden ersten Plätzen in der erstenBank abwechseln. Das dürfte die erste Berufsmotivationgewesen sein.

Das währte so ungefähr bis Quarta (= Klasse 7 nachheutiger Zählung); danach gab es – kriegsbedingt – kei-nen Zeichenunterricht mehr – bis zum Abitur. DieAltkollegen bastelten derweilen mit den Soldaten in der

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Etappe Kriegsspielzeug für das Weihnachtsfest, an-schließend fielen sie der Entnazifizierung anheim. Mirblieb also Schlimmeres erspart – was das Fach betrifft.Das könnte die zweite Motivation gewesen sein – ex nihi-lo, wenn Sie so wollen.

Die ästhetische Sozialisation, die bei mir wohl miteinem ›Jesus am See Genezareth‹ und Heidelandschaftenin Ölfarbe dilettierenden Großvater begann, hatten als-bald andere Instanzen übernommen. Anstelle von›Kinderzeichnungen‹, die bei mir weder de facto noch inder Erinnerung zu finden sind, gab es die Faszination vonKriegsflugzeugen und Kriegsschiffen. Diese bis in die letz-te Bestückung detailgenau aus dem Kopf zeichnen zukönnen, machte mich bald darauf zum kleinen HJ-Führer.Ich war nämlich zur fraglichen Zeit auf Norderney zurSchule gegangen, da hatte ich alles Verwertbare vor derTür: die Torpedoboote, Me 109 und Stukas für dieFederzeichnungen, für die Fischkutter die Ölfarben. Einpolierter Nussbaumkasten mit Ölfarbentuben zum elftenGeburtstag – das prägt! Er hatte ja auch wenigstenssechs Jahre ausgefallenen Kunstunterricht – Pardon:Zeichenunterricht – zu kompensieren. Mit Kunst hattedas alles natürlich nichts zu tun. Umso mehr mitGratifikationen. Eine gelegentliche Porträtskizze vonHändel oder Mozart ließ den Englischlehrer über manchenicht gelernte Vokabel hinwegsehen. Und ein schild-bewehrter Germane mit Bleistift auf DIN A 4 garantiertedie Eins in Geschichte über mehrere Quartale, ohne jedrangekommen zu sein.

Der leicht enigmatische Kommentar der Ankündi-gung meines Referats heute ist übrigens so irreführendgar nicht. In einer Zeit, da die gesamte Welterkenntnis inder diffusen Dankbarkeit bestand, heil davongekommenzu sein – man schrieb das Jahr 1947–, platzte gegen Endeder Obersekunda (Klasse 11) die Einladung zur Auf-nahmeprüfung an der Mainzer Kunstschule herein. Wiesie zustande kam, hat mir bis zum heutigen Tag niemandsagen können; das würden vermutlich selbst Psycho-

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analytiker einen Zufall nennen. Drei Jahre später, nachbestandenem Abitur, bedurfte es bei den zuständigenDozenten lediglich einiger Überredungskunst, meinebestandene Aufnahmeprüfung nicht für verjährt zu hal-ten. Sie war ja schließlich der Anlass für eine Studiums-und Berufsentscheidung, die ich sonst vermutlich nichtso getroffen haben würde – abgesehen davon, dass mandamals genommen hat, was zu kriegen war.

Meine Fächerkombination Kunsterziehung undGermanistik als Zweitfach bot mir hinreichend Gewährdafür, nur das studieren zu müssen, was mir auch Spaßmachte – und was ich ja auch schon ein wenig konnte.Hatte nicht schon, nachdem er meine Bilder im Schau-fenster einer Glaserei gesehen hatte, mein Biologielehrervor der ganzen Klasse verkündet, ich sei ein ›entarteterKünstler‹? – Alles in allem ist das Gewünschte aber ein-getreten, auch wenn man mir meinen Spaß am Malen amliebsten auf der Stelle ausgetrieben hätte. (Ein Semesterlang ein hölzernes Volkskunstpferdchen malen sollen,danach, weil der Maldozent einen kirchlichen Auftrag zuerledigen hatte, abgeflachte Heilige in Isokephalie voreiner Wand ... – größerer Unfug wurde mir während mei-ner ganzen Karriere nicht mehr angedient.)

Von den Dozenten der Kunstschule – zwei Frauenausgenommen – hätte ich keinen in diesen Job berufen.Der einen, der Bildhauerin Emy Roeder , verdanke ich fastalles, was ich auf meiner kunstpraktischen Seite von derKunstschule mitbekommen habe. Obwohl sie fast nichtsgeredet hat.

Die übrigen hielt ich für wenig glaubwürdigeWichtigtuer, die ein so gütiges wie blindes Schicksal hier-her gebracht hatte und deren meist bigotter Glaube andas, was sie für Kunst hielten, mich allzu sehr an die klein-bürgerlich-pietistische Umgebung meiner eigenen Her-kunft erinnerte. Dafür hätte ich keine Kunstschulegebraucht. Gegenüber Leuten, die von etwas schwärm-ten, ohne zugleich glaubhaft machen zu können, dass siedavon auch etwas verstehen, war ich schließlich ziemlich

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früh misstrauisch geworden. Sensibilisiert durch meinePrimärsozialisation, fand ich auch in meinem späterenBerufsleben die kollegiale Häufung jener brisantenMischung ausunerschütterlichemGlauben andas Wahre,Gute und Schöne bei meist gleichzeitiger Abwesenheitjeglicher Fachkompetenz, dafür aber nicht selten von ver-wegener intellektueller Schlichtheit, einfach für zu hoch.Wenn ich, falls so was möglich ist, heute in einem Satzsagen sollte, was mir aus meinem Studium geblieben ist,was ich dort also ›fürs Leben‹ gelernt habe, dann dies:Neben der Fähigkeit, spätantike Christusköpfe, gotischeMadonnen und barocke Ornamente aufs Jahrzehntgenau datieren zu können und aus der kunstgeschichtli-chen Literatur tunlichst nicht allzu auffällig zu zitieren,was zu unverhohlen völkischem und nationalsozialisti-schem Gedankengut entstammte (und da blieb damalsnicht mehr allzu viel), muss ich mich wohl mit einemgerüttelten Maß an Misstrauen des (Kunst)Praktikersgegenüber der (Kunst)Wissenschaft und einer ebensogroßen Skepsis des Theoretikers gegenüber den un-hinterfragbaren Wahrheiten der Künstler ausgestattethaben. Der täglich meist mehrfache Wechsel zwischenAtelier und Hörsaal bzw. Seminarraum hat den Blick aufdie wechselseitige Erhellung dieser beiden Künste viel-leicht etwas differenzierter werden lassen. Und weil ichbis dahin, sehen wir mal von den BambergerChorschranken ab, nicht wusste – nie erlebt hatte –, wasDisputation oder Diskussion sein könnten, konnte meineTeilnahme am Ersten Darmstädter Gespräch 1950während meines zweiten Semesters zu einemSchlüsselerlebnis werden. Da habe ich zum ersten Malmitbekommen, wie es sich anhört, wenn Leute wie Hans Sedlmayr, Willi Baumeister, Johannes Itten,Alexander Mitscherlich und der soeben aus derEmigration zurückgekehrte Adorno (um nur die wich-tigsten Namen zu nennen) sich gegenseitig über die Kunst in die Wolle geraten. Ich hatte bestimmt nicht dieHälfte verstanden, aber ich bekam eine erste Vorstellung

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davon, was Streitkultur (als Begriff freilich noch nichterfunden) sein könnte.

An dieser Stelle eine erste Bezugnahme auf dasRahmenthema ›Kunstpädagogische Positionen‹: Ob ichmich da festgelegt habe oder ob sich bei mir etwas fest-gesetzt hat, sei jetzt dahingestellt: UnverzichtbaresMoment meines Fachverständnisses, und zwar vor jederinhaltlichen Diskussion, ist seit Beginn meines Studiumsdas tägliche Mit- und Gegeneinander und damit die per-manente wechselseitige Kontrolle, das Sich-in-Frage-stel-len von Theorie und Praxis, und zwar ohne die vorschnel-le und im Übrigen naive Hoffnung, das Konträre undKontroverse der beiden Aneignungs- und Produktions-weisen aufheben zu können oder zu wollen, und diesebenso wenig im Sachlichen wie unter den die Sachenvertretenden Personen. (Weshalb mir übrigens die Ham-burger Studiensituation hier Kunstschule da Universitätnoch immer als die sinnvollste einleuchtet.)

Aber da gab es noch etwas ganz Entscheidendes:die während meiner Studienjahre ausgelagertenBestände der Staatlichen Museen Berlin in Wiesbaden.Andere Ausstellungen, wie das heute bis ins kleinsteProvinzstädtchen selbstverständlich ist, gab es damals sogut wie nicht. Wenn ich je von mir behaupten dürfte,sehen gelernt zu haben, dann an diesen während desganzen Studiums hindurch vor den Berliner Bildern undSkulpturen verbrachten Samstagvormittagen – und (dasdarf ich nicht unterschlagen) bei den Exkursionen.Vielleicht ist es für Sie nicht uninteressant, wenn ichIhnen erzähle, dass ich erst im letzten Semester dieersten Farbdias zu sehen bekam. Bis dahin war dieMalerei für die Kunstgeschichte bloß grau.

Entscheidend war für mich das Verweilen vor denOriginalen, das lange Hinsehen, das Auf-mich-wirken-lassen, also die Autopsie und die Erfahrungszeit. Wer lan-ges Verweilen mit Langeweile verwechselt, kann mitBildern nichts anfangen. Meine bis heute vorherrschendeLiebe für das ›stille Bild‹ und für das Abwarten, ob und

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was es mit mir macht, schreibe ich diesen als erfüllterlebten Situationen zu.

Wenn ich mit Verweilen und Abwarten den Zeit-aspekt der ästhetischen Erfahrung so scheinbar anekdo-tisch ins Spiel bringe, dann eigentlich nur, um auf seinenWiderspruch zu jeder Art schulischer bzw. überhauptinstitutionalisierter Kunstvermittlung zu verweisen, ausdem keine Didaktik herauszuführen vermag. Künstler-ische Erfahrung – egal ob produktiv oder rezeptiv – setztZeithaben voraus: Autopsie und Erfahrungszeit.

Nun arbeitet nicht jeder in Berlin, Düsseldorf oderHamburg. Für die weitaus meisten ist Kunstwahrneh-mung mindestens von einer Tagesreise abhängig, bedeu-tet der Wohn- und Arbeitsplatz schlicht Erfahrungs-entzug, der auf Dauer nur zu leicht zur Erfahrungsab-stinenz führen kann. Denn eine Installation – ganz gleichwelche – kann man nicht auf Abbildungen sehen, aberauch einen Mark Rothko oder Barnett Newman nicht.Und auch nicht einen Vermeer oder Rembrandt. Und werda glaubt, wie ich das stolz von Hochschulkollegengehört habe, den Louvre jetzt per CD-ROM kennen lernenzu können, weiß am Ende bestenfalls, was man dort ken-nen lernen könnte. Freilich, vom Surplus des Kunstwerksbleibt auch in seiner bescheidensten medialen Übermitt-lung immer noch etwas übrig, aber die Kunsterfahrung,die Erfahrung der ästhetischen Differenz, des ›zweitenBlicks‹, auf die es ankommt, kann kaum passieren.

Eine zeitlich reglementierte und über Surrogate lau-fende künstlerische Erfahrung ist ein Unding. Aber mir istbisher keine Schulordnung vor die Augen gekommen, dieauf das Chronometer verzichten könnte und die Erfah-rungsorte so zugänglich machte,wie es erforderlich wäre.Genau dies ist der Hintergrund für Gert Selles nur aus derSchule ausgelagert vorstellbares ›Ästhetisches Projekt‹ .

Auch für mich war es durchgängiges Bestreben, undzwar gegen alle Widerstände der Institution, die Erfah-rungszeit auch gegen die sie absorbierenden Ansprücheder Didaktik abzuschirmen. Das war immer identisch mit

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der insgeheimen Ablehnung jeder Form von Verlaufs-planung und Zielfestlegung, was nicht im Widerspruchsteht zum Vorbereitetsein. Kunsterfahrung schließtDetermination aus, sie ist ein Kontingenzphänomen, d.h.sie erlaubt jedes Auch-anders-möglich-sein (vgl. NiklasLuhmann) und: sie findet jetzt statt, in diesem authenti-schen Augen-Blick (vgl. Barnett Newman). Alles andereist Erinnerung an sie, wenn’s hochkommt bloß nachträg-liche Reflexion über sie.

Wie Sie bemerken, bin ich bei der Schule angekom-men, wo die Kunstpädagogik ja auch stattfinden soll –inzwischen aus der Sicht des Lehrers. Es begann, wieüblich, mit der Referendarzeit. Ich darf sagen: Ich hatteGlück und bin deshalb vielleicht nicht repräsentativ.

Weil mein Mentor gerade damit beschäftigt war,den zweiten Band des Handbuchs für Kunst- undWerkerziehung zu schreiben, überließ er mir (mit Aus-nahme der Abiturklassen) seine gesamten Unterrichts-stunden. Im Sinne heutiger Referendarausbildung habeich in meinem Referendariat nichts gelernt. Neben man-chem anderen hatten Mentor und Azubis eines gemein-sam: die Vokabel ›Didaktik‹ war ihnen schlicht unbe-kannt. An schriftliche Unterrichtsvorbereitungen undUnterrichtsbesuche erinnere ich mich nicht. Aber ichhabe bei meinem Mentor, der kurz zuvor seine währenddes Krieges in einem Schuppen unterm Heu vorm Zugriffder Wehrmacht versteckt gehaltene 200er Zündapp (mitBeiwagen) gegen allerlei Unterrichtsutensilien verscher-belt hatte, alles gelernt, was mit der Handhabung vonWerkzeugen, Maschinen und hunderterlei Materialiensamt deren günstigster Beschaffung zu tun hat, m.a.W.all das, was ich an der Kunstschule nicht gelernt hatte,auch, dass man an der Kreissäge oder Abrichte tunlichstkeine Krawatten tragen sollte, die ansonsten bis in die68er Jahre hinein keiner männlichen Lehrkraft anGymnasien erlassen wurden.

In der Kriminologie soll es eine bekannte Tatsachesein, dass man anderen wieder antut, was einem selber

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einmal angetan wurde. Karl Klöckner – so hieß meinMentor, und ich möchte ihm hiermit an dieser Stelle auchin Hamburg einen kleinen Epitaph setzen – hat mir etwaszugetraut, als er mir seinen Unterricht überließ und nurgelegentlich reinschaute, um die frisch entstandenenErgebnisse zu fotografieren. (Was im Handbuch Band 2abgebildet ist, ist daher zum guten Teil bei einem ziem-lich unerfahrenen Anfänger entstanden.) Seitdem ist das›Etwas-zutrauen‹ meine oberste pädagogische Maximegeblieben. Es ist – ganz nebenbei – die energiesparendsteMethode, die ich je kennen gelernt habe. ›Kunstpäda-gogische Positionen‹ sind eben manchmal recht unspek-takulär; ein Buch ließe sich darüber wohl nicht schreiben.

Da ich aber schon mal bei den Maximen bin, hiergleich noch eine, nämlich: den Unterrichtsgegenstandund seine Probleme (was ich heute ausnahmsweise ver-meide) immer ein bisschen höher anzusetzen, als espädagogisch (und überhaupt) geboten erscheint. Das soerzeugte Vakuum spornt an. Ich hatte ja nie gelernt, was»altersspezifische Kunst« oder »altersgemäßer Unter-richt« sein könnte. Aber es muss so etwas wie eine som-nambule Erinnerung gegeben haben, dass mich selbstimmer dasjenige am meisten gereizt hat, was ich nochnicht oder jedenfalls noch nicht richtig verstehen konnte.(Meine Hamburger Kollegen mögen bei der Formulierungder Rahmenthematik dieser Ringvorlesung bei mir ja eheran ›Visuelle Kommunikation‹ gedacht haben – daraufkomme ich natürlich noch –, doch die war aufs Ganze ge-sehen doch eher marginal. Anderes erscheint mir – heutejedenfalls – wichtiger.)

So möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, wo ich mir,nachträglich, meine Bestätigungen holte. Ich darf dasausnahmsweise einmal zitieren, und zwar jene Stelle ausThomas Manns »Dr. Faustus«, wo der Held der Ge-schichte, Adrian Leverkühn, im zarten Knabenalter jenemleicht sonderbaren Musiklehrer Wendell Kretzschmarlauscht, als dieser gerade über Beethovens Verhältnis zurFuge referierte: »Ich unterbreche mich in meiner Wieder-

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gabe nur, um aufmerksam zu machen, dass der Vor-tragende da von Dingen, Angelegenheiten, Kunstver-hältnissen sprach, die noch gar nicht in unseren Ge-sichtskreis fielen und nur am Rande desselben erst durchsein immerfort gefährdetes Sprechen schattenhaft füruns auftauchten (…) – das war im Grunde alles nurMärchengeraune für uns, aber wir hörten es so gern undmit so großen Augen, wie Kinder das Unverständliche,eigentlich noch ganz Unzukömmliche hören - und zwarmit viel mehr Vergnügen, als das Nächste, Wohl-entsprechende, Angemessene ihnen gewährt. Will manglauben, dass dies die intensivste und stolzeste, vielleichtförderlichste Art des Lernens ist, das antizipierende Ler-nen, das Lernen über weite Strecken von Unwissenheithinweg? Als Pädagoge sollte ich ihm wohl nicht das Wortreden, aber ich weiß nun einmal, dass die Jugend es au-ßerordentlich bevorzugt, und ich meine, der übersprun-gene Raum füllt sich mit der Zeit wohl von selber aus.«

Als Unterrichtsplanung ließe sich so was natürlichnicht empfehlen, nur dass die ganze Planungsrationalitätzwar eine passable Planung garantieren mag, aber nochlängst nicht auch einen guten Unterricht. – DerUnterricht sollte und könnte selbst Produktion sein – fürden Lehrer wie für den Schüler. Was da alles passierenkann, lässt sich nicht vorhersagen, vieles erfährt manselbst erst beim Unterrichten. Weshalb sollten KleistsGedanken über die allmähliche Verfertigung derselbenbeim Reden ausgerechnet hier nicht gelten? Weshalb esübrigens nicht einmal erforderlich ist, alles, worüber manunterrichtet, selbst schon vorher ganz verstanden zuhaben. Denn einmal abgesehen davon, dass wir Lehrerohnehin – allein schon wegen der Stundenzahl – immerviel mehr sagen müssen, als wir wissen können: Wer sichda einen Rest an Unverstandenem in petto behält, hältdie eigene Neugier, hält das eigene Interesse an der Sacheund an der Lösung des Problems und das Bedürfnis wach,das alles noch besser, vielleicht zum ersten Mal über-haupt erst richtig zu verstehen.

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Denn das eigene Interesse ist für den Lehrer minde-stens so wichtig, ja wichtiger als das Schülerinteresse, daszu erreichen er sich ja immer so abstrampelt, das aber vielzuverlässiger und nachhaltiger geweckt wird, wenn diesich mitfreuen dürfen und wenn die merken, wie auchder Lehrer sich noch an der Sache erfreuen kann, beson-ders wenn er sie dann auch vielleicht zum ersten Malrichtig verstanden hat. Ohne die Begeisterung desLehrers an der Sache, oder sagen wir mal ganz altfrän-kisch: ohne seine Liebe zur Kunst, ist das freilich nicht zuhaben. – Ich hätte es beinahe auch aus dem Dr. Faustusabschreiben können, wo von dem Grundsatz die Rede ist,»dass es nicht auf das Interesse der anderen, sondern aufdas eigene ankomme, also darauf, Interesse zu erregen,was nur geschehen könne, dann aber auch mit Sicherheitgeschehe, wenn man sich selbst für eine Sache von Grundaus interessiere und also, indem man davon spreche,schwerlich umhinkönne, andere in dies Interesse hinein-zuziehen, sie damit anzustecken und so ein gar nicht vor-handen gewesenes, ein ungeahntes Interesse zu kreieren,was viel besser lohne, als einem schon bestehendengefällig zu sein.« Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen auchdiese kleine, immerhin ja schon literaturfähig gewordenepädagogische Kostbarkeit als wichtiges Bausteinchenmeiner kunstpädagogischen Position nahe lege – alsMerksatz zum Aufschreiben: Seine Gegenstände kennen– gut kennen – und sie mitsamt ein wenig von der eige-nen Begeisterung für sie rüberbringen können.

Wenn ich mich, wie Sie beim Blick auf die fort-geschrittene Uhrzeit bemerken, so lange bei denAnfängen meiner »Berufsbiographie zwischen Kunst undUnterricht« aufhalte, so hat das – wie mir übrigens aucherst beim Aufschreiben so richtig bewusst geworden ist –viel damit zu tun, dass die anfänglichen Erfahrungen,Interessen und Gewohnheiten sich so sehr gar nichtmehr verändern.

So habe ich – die Jahre nachhaltiger Erschütterungdurch die 68er-Ereignisse einmal ausgenommen – die

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nicht selten als Widerspruchszusammenhang erlebteSimultaneität von künstlerischer Praxis und Lehrtätigkeitbzw. später verstärkt auch der Theoriearbeit nie aufgege-ben. Auch während des Referendariats war es (damalsnoch!) für mich selbstverständlich, nachmittags Bild-hauer zu sein – übrigens gänzlich unbehelligt im Werk-saal der Schule. Als die Unterrichtsvorbereitungen an-spruchsvoller wurden, hat sich der Atelieraufenthalt indie Nächte verlagert, später in die Ferien. Der Kunstpreisder Stadt Hanau gegen Ende des zweiten Referendar-jahres hat mir neben dem Gegenwert von drei Monats-gehältern das Angebot der Schule eingebracht, an der ichdann zwölf Jahre tätig sein durfte. Noch im Rückblick ste-hen sich mein ungebrochener Spaß am Unterrichten unddie gleichzeitige Selbstdefinition als Bildhauer gegenü-ber; ich unterschied stets sehr fein zwischen »in dieSchule gehen« und »arbeiten«. Mit »arbeiten« war dieZeit im Atelier gemeint, später zunehmend auch dasSchreiben. Dabei hatte ich keine Hintergedanken. Es wäremir nie in den Sinn gekommen, die Schule verlassen zuwollen, und als Künstler, was immer das sein mag, habeich mich sowieso nie begriffen; den inflationärenGebrauch der Vokabeln Kunst und Künstler wollte ichübrigens bis heute ungern auf mich bezogen wissen.

Apropos »die Schule nie verlassen wollen«: Es gibt janicht nur in der Theorie so etwas wie eine ›Position‹.Wenn auch mit leicht verschobenem Wortsinn gibt es sieauch ganz praktisch – vor Ort, in der Schule, an der manunterrichtet. Ich hatte nie einen Zweifel daran gelassen,dass ich mit den SchülerInnen auch wirklich arbeitenkönnen wollte. Das geht nicht ohne entsprechendeEtatmittel sowie ausreichende Räumlichkeiten samtAusstattung. Wer das nicht fordert, mindert nicht nurseine Arbeitsfähigkeit, sondern stellt seine Position selbstin Frage. – Schließlich verfügte das Fach an ›meiner‹Schule alles in allem über exakt vierzehn mit allemErdenklichen ausgestattete Räume. Selbst das passendeKleingeld war immer vorhanden. Das erleichterte den

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Unterricht ungemein; man musste sich nie auf›Klassenzimmertechniken‹ besinnen.

Da ich heute nicht von irgendwelchen er-lesenen,sondern von meinen Erfahrungen berichten will, plädiereich, auf meine kunstpädagogische Position hin befragt,für die Erhaltung des Erfahrungsreservoirs der eigenenkünstlerischen Praxis der KunstlehrerInnen. Genauso wiefür die Kontinuität der Kunstwahrnehmung – sowohl derhistorischen Kunst wie der aktuellen Szene. Wieweit eseinem Lehrer unter der allbekannten Belastung heutedarüber hinaus möglich ist, das kunsttheoretischeLektüreangebot wenigstens insoweit noch zu bewälti-gen, dass ihm die unverzichtbare Begrifflichkeit auch nureinigermaßen verfügbar bleibt, wage ich allerdings kaumnoch zu beurteilen. – Wer hier Skepsis heraushört, demsei nicht widersprochen. Neben einem verbreiteten Er-fahrungsverzicht ist auch eine Leseabstinenz schwerlichzu übersehen.

Wer möchte schon für überheblich gehalten wer-den? Aber ich kann es mir an dieser Stelle nicht verknei-fen, Ihre Aufmerksamkeit einmal auf den meist etwasgestresst und frustriert dreinblickenden und damit allesin allem doch recht typischen Fachkollegen zu lenken,der, mit der Piperdruckrolle unterm Arm, in der sich einFernand Léger oder Franz Marc verbirgt, nur dieKlassenräume wechselt, seltener aber das Objekt seinerKunstbetrachtung, und schon gar nicht, was er dazudoziert oder – schlimmer noch – aus Schülermund hörenwill. Da helfen vermutlich auch die drei Bilder nicht, die ervielleicht alljährlich bei der Vorweihnachtsausstellungdes regionalen Künstlervereins einreicht. – Soviel ausmeinen vorherrschenden Beobachtungen während derBetreuung der Fachpraktika an vier Hochschulen in dreiBundesländern während der letzten dreißig Jahre. InThomas Bernhards ›Alte Meister‹ brauchte ich das jeden-falls nicht nachzulesen.

Und, aus dem familiären Nähkästchen geplaudert,leider noch dies (meine privaten Erfahrungen mit dem

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eigenen Fach sehen nämlich leider auch gar nicht gutaus): Während der gesammelten Schuljahre meinerKinder – das sind bei sechsen (6 x 13 + 2 Wiederholungen)immerhin exakt achtzig Jahre – gab es ein einziges Malvier Wochen, wo es sich gelohnt hat, worüber beimMittagessen auch gesprochen wurde. Und das war beieiner Fachpraktikantin. Der Rest war vertane Zeit.

Die wundersamen Ausnahmen immer hochgehal-ten, war das während meiner Referendarzeit erst rechtnicht viel anders. Meinem Fachleiter (nicht dem Mentor!)meinte ich deshalb in einer Anwandlung von Todesmutbereits nach der zweiten Sitzung verständlich machen zumüssen, dass sich dafür die wöchentlichen Fahrten nachFrankfurt für mich nicht lohnten – und bin weggeblieben.Bis zum Examen; da hat er sich natürlich an mich erin-nert. Doch an den monatlichen Treffen der Kunsterzieheraus dem Rhein-Main-Gebiet hatte ich regelmäßig teilge-nommen. Am kollegialen Erfahrungsaustausch dort hatmich damals bereits sehr beeindruckt, was mir später einmal bei Heinrich Heine gleichsam als Schlüssel-definition der deutschen Leitkultur aufgestoßen ist. »Dasist schön bei uns Deutschen«, heißt es nämlich ziemlicham Anfang der ›Harzreise‹, »keiner ist so verrückt, dass ernicht einen Verrückteren fände, der ihn versteht«.

Bei aller Liebe zu meiner Berufstätigkeit: Ein sehrfrühes Distanzierungsbedürfnis – übrigens auch zur In-stitution Schule – hat sich nie ganz gelegt. Fast möchteich behaupten, dass die innere Distanz zu diesem Fach einganz entscheidendes Moment meiner ›kunstpädago-gischen Position‹ ist. Während meiner ›Prägejahre‹ habeich mein Fach stets als Tummelplatz für Biedermännerund ästhetisch durchglühte, anfangs meist ältere Damenerlebt. Ich stand leibhaftig dabei, als eine FrankfurterKollegin während der Paula-Modersohn-Becker-Ausstellung 1963 den Direktor des Frankfurter Kunst-vereins zu überreden versuchte, die nackte »LiegendeMutter mit Kind« abzuhängen, sie wolle nämlich amnächsten Tag mit einer Mädchen-Oberprima (Klasse 13!)

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die Ausstellung besuchen. Da wird für mich auch heutenoch einmal deutlich, weshalb »1968« auch für dieKunstpädagogik ein Segen war.

Wie viel Sauberkeitsfanatismus, Volkstümelei, jaunverhohlener Faschismus bis weit in die 60er Jahre hin-ein unser Fach bestimmten, kann man nicht nur zuverläs-sig z.B. in Wolfgang Kemps Beiträgen zur Geschichte derKunsterziehung nachlesen. Sie finden es taufrisch undungebrochen in den soeben erschienenen Lebenser-innerungen von Hans Meyers. – Wenn Sie das gelesenhaben, z.B. von den »tausend hochdisziplinierten Pracht-menschen«, die unser Oberkollege und Autor in denAdolf-Hitler-Schulen und NS-Ordensburgen bewunderndurfte, oder von den »großartigen Ideen des Dr. JosefGoebbels ... « – (ich darf hier abbrechen), dann werden Siemir gewiss einiges von dem nachsehen, was ich Ihnensoeben zugemutet habe.

Womit ich aber auch schon die tieferen Gründe fürdie Entstehung der Konzeption ›Visuelle Kommunikation‹benannt haben dürfte. Ihre Anfänge liegen, was meinenBeitrag angeht, in den tiefen Zweifeln an der Legitimationunseres Faches in seinem damaligen Zustand. Die wur-den natürlich verstärkt durch die in den Diskursen der68er nicht auflösbar erscheinende Unvereinbarkeit vonErziehungsidealen auf der einen Seite und der Kunstunter ihrem damals geltenden Begriff auf der anderen. –Dabei müsste ich noch einmal unterscheiden zwischenden äußeren, ›objektiven‹, und den persönlichen An-lässen. Zu den ›objektiven‹ gehörten die politischenEreignisse jener Zeit, die in der Studentenbewegung undin der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule ihreResonanz fanden; zu den persönlichen die Ver-änderungen in den Lehrfunktionen (Fachleitertätigkeit,Lehraufträge an der Uni Frankfurt, bald danach Berufungan die Pädagogische Hochschule Göttingen, nichtunmaßgebliche Mitarbeit an den Hessischen Rahmen-richtlinien) und das bedeutete, zum ersten Mal wirklichdarüber nachdenken zu müssen, was Schüler und ange-

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hende Lehrer in unserem Fach lernen sollten. Die in derArbeit an den Rahmenrichtlinien intensiv rezipierteCurriculumsrevision, die sämtliche Fächer, allen voran dasunsrige, mit der Frage nach ihrer Zukunftsfähigkeit kon-frontierte, der Kunstpädagogik – vielleicht als einzigem –sogar eine Antwort abverlangte, ließ uns damals kapie-ren, auf welch dünnem Eis wir bislang geistigeSchlittschuhläufer gespielt hatten. Aber auch heute gibtes keinen Grund zu der Annahme, dass derLegitimationsdruck auf unser Fach nachlassen könnte.

All das lenkte fürs erste mehr von der Frage ab, alses der Sache zuträglich gewesen sein konnte. An eigenekünstlerische Praxis war jetzt ohnehin nicht mehr zu den-ken. An ihren professionellen Allrounddilettantismusallzu lange gewöhnt, hatten Kunsterzieher im All-gemeinen immer nur mal gerade das gelesen, was ihnenSpaß machte; eine ausgeprägte Leidenschaft für dieFachliteratur darf man ja auch heute wohl noch nichtunterstellen. Sie würden vermutlich vor Neid erblassen,wenn ich Ihnen verrate, dass es während meinerStudienzeit nur zwei Bücher gab, die ein Kunsterziehergelesen haben sollte: Gustaf Britschs »Theorie derBildenden Kunst« und G.F. Hartlaubs »Genius im Kinde«– für die Phantasien heutiger Examenskandidaten wohldas Goldene Zeitalter! Für uns damals lediglich die Gnadeder frühen Geburt.

Aber auch die Lektüre kunstgeschichtlicher Li-teratur hatte in unseren Kreisen Seltenheitswert. Werdas bezweifelt, mag sich ein paar Jahrgänge der Fachzeit-schriften der 50er und 60er Jahre vorknöpfen, da ist,außer gelegentlich mal ein Satz von Heinrich Wölfflin,wenig zu finden. Kunsterzieher pflegten sich die Kunst-geschichte anzueignen wie die Schwester von der Stadt-mission die Bibel – vom Abreißkalender. Und was dietheoretischen Anstrengungen überhaupt angeht, warGunter Ottos 1964 erschienenes Buch »Kunst als Prozessim Unterricht« in mehrfacher Hinsicht Inkunabel. Bisdahin erbaute sich das Fach vornehmlich an Traktätchen.

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Wenn Sie so wollen, ging es der Visuellen Kom-munikation zunächst weniger darum, ein bestimmtesZukunftsprojekt durchzusetzen, als darum, nicht weiter-machen zu wollen wie bisher. Andererseits muss mansich heute auch nicht darüber wundern, dass es derVisuellen Kommunikation nicht gelingen konnte, sich ›alssolche‹ in der Schule zu etablieren. Mit ihrer schlechter-dings nicht vermeidbar gewesenen Theorielastigkeit beider gleichzeitigen Ausweitung der Unterrichts-gegenstände auf den gesamten – wie es damals hieß –gesellschaftlich relevanten visuellen Bereich, konnte sieunmöglich genügend Lehreradressaten in der Schule fin-den, jedenfalls nicht solche, die hinreichend sachlicheund materielle Voraussetzungen gehabt hätten, denTransfer in die Praxis zu bewerkstelligen, oder – was viel-leicht wahrscheinlicher ist – die aus ihrer damals nochsehr biedermeierlichen Berufsauffassung überhaupt her-ausgewollt hätten. Alles in allem aber hat sich die›Visuelle Kommunikation‹ wenig um die Praxis geküm-mert, sondern das Fach nur von der Theorie her ändernwollen, die zudem keine der Kunst, sondern eine derGesellschaft war. Auch Kunsttheorien sind Gesell-schaftstheorien gewesen. Zwar hatten wir vom Outputder Frankfurter Schule eine ganze Menge gelesen, daseine oder andere sogar leidlich begriffen, auf dieMahnungen eines ihrer ganz frühen Vertreter hatten wirnicht gehört, denn: »Theorien sind gewöhnlich Überei-lungen des ungeduldigen Verstandes, der die Phänomenegerne los sein möchte.« So Jedenfalls J. W. Goethe(Maximen und Reflexionen). – Doch wir werden die Phä-nomene, nämlich die Aporie von Kunst und Pädagogik,nicht los. Ob sich die Schule oder auch nur unser Fach ver-ändern lässt, weiß ich nicht. Aber es wäre schon hilfreich,wenn wir sie jeden Tag neu in Frage stellten.

Was ist von der ›Visuellen Kommunikation‹ geblie-ben? – Ich konstatiere: Abgesehen von der seitdem ver-änderten Auswahl der theoretischen Außeninstanzen, istnahezu alles eingetreten, mindestens aber möglich

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geworden, was man sich zu Beginn der 70er Jahre als »revolutionäre Veränderung« kaum zu erhoffengewagt hätte. So ist es heute nicht mehr verboten (auchnicht, wie noch in der Mitte der 70er Jahre, in Bayern),Fotografien zum Unterrichtsgegenstand zu machen(»weil Fotografien keine Kunst sind«), und selbst-verständlich dürfen auch solche Bilder, die durch keinenKunstbegriff nobilitiert sind, Fachgegenstände sein – um nur zwei Beispiele zu nennen.

Und ich behaupte: Selbst durch die Denunziationder Kunst, vielleicht sogar gerade deshalb, wurdenDiskussionen in Gang und jede Menge Energien frei-gesetzt, die dem Fach à la longue nicht abträglich gewesen sein dürften. So viel hatte die legendäre Zeitum 1968 von ihren zahlreichen emanzipatorischenImpulsen schon übrig für unser traditionell ziemlich kon-servatives Fach. Das von Gunter Otto in unmittelbarerFolge mit viel diplomatischem Geschick bereiteteSammelbecken der »Ästhetischen Erziehung« war aucheiner der Reflexe auf das durch die ›VisuelleKommunikation‹ ausgelöste Schleudertrauma derInstitution Kunstpädagogik.

Erwähnen sollte ich vielleicht noch, dass unsereBezugswissenschaft, die Kunstgeschichte, deren progressivste Vertreter damals nicht ganz neidlos die Entwicklungen in unserem Fach verfolgt haben dürften,schon längst ihre Wandlung in eine allgemeine »Wis-senschaft vom Bild« vor Augen hat und – in Anknüpfung an die Tradition Aby Warburgs – im Begriff ist,›Bildgeschichte‹ zu werden. Die Visual Studies imamerikanischen Raum sind es bereits.

Sich auf ›die Kunst‹ unter (oder an) dieser schierunüberschaubaren Bilderflut einzulassen, heißt, sich auf das Unwahrscheinliche, Unvorhersehbare, Un-berechenbare einzustellen. Die Kunstpädagogik wird sich schwer tun, mit soviel Imponderabilien zurecht-zukommen; die Erfahrung von Unwahrscheinlichem ist schwer organisierbar, geschweige denn planbar.

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›Kunst‹ ist heute nicht mehr auf irgendwelcheKernaussagen zu reduzieren; sie war es nie, aber wirhaben es nicht wahrhaben wollen. Die Frage nach demExemplarischen und Verbindlichen verliert sich heute imUnendlichen, die Festlegung auf Essentials wäre pureWillkür – was jede pädagogische Kanonisierung fragwür-dig sein lässt. Die für uns doch immer so wichtig gewese-nen »letzten Wahrheiten« der Kunst und wer sie weshalbund wie an wen übermitteln könnte, erscheinen unsheute auch nur noch – um einmal Nietzsche zu strapa-zieren – als »unsere unwiderlegbaren Irrtümer«. Daherwird die Erfahrung an, mit und durch Kunst – so meineHypothese – immer Gratwanderung bleiben, die vonsubjektiven Entscheidungen extrem abhängig sein wird.Das macht die Zweifel an der Schulfähigkeit eines aufästhetische oder künstlerische Erfahrung ausgerichtetenUnterrichtes so schwer ausräumbar.

Aber manchmal denke ich, dass diese Realitäts- undKonturenlosigkeit unseres Faches, sein Vages und Ver-schwimmendes, zugleich sein Faszinierendes ist: Wokönnte man sich Selbstverwirklichung auch besser vor-stellen als in einem derart offenen, undefinierten, d.h.unbegrenzten Raum?! – Selbst wenn die Kunst da nurnoch Vehikel und Alibi wäre!

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Fragmente aus dem Gespräch nach der VorlesungAufgezeichnet von Adrienne Gräfe

Frage: Womit verbringe Ehmer heute seine Zeit?Ehmer: Er habe bis vor kurzem an der Universität

Paderborn gelehrt, habe jetzt beschlossen, das zu be-enden, weil man aufpassen müsse, dass man das nichteines Tages von außen gesagt bekomme. Um es konkretzu sagen: Er freue sich seines Daseins, habe einen etwas über 7000 qm großen Garten und verbringe vielZeit mit Malen, habe immer mal wieder ein Aus-stellungsangebot bekommen. Besonders interessantfinde er es, ein Feedback zu bekommen. Das erzeuge das schöne Gefühl, dass man seine Bilder doch nichtnur hinstelle.

Frage: Sei da viel Zorn und Verbitterung?Ehmer: Ob man ihm das anmerke?Dies wird verneint.Ehmer: Zorn oder Verbitterung empfinde er über-

haupt nicht. Es sollte eigentlich rauszuhören gewesensein, dass er keinen Tag als läßlich empfunden oderbereut habe. Vielleicht habe er etwas vergessen. Er seigern an die Uni gegangen, habe sich gefreut, tolleMenschen zu sehen, mit denen zu arbeiten und dortetwas zu lernen. Als Herr Pazzini noch Student gewesensei, habe der ihm z.B. die Aneignungstheorie vonHolzkamp und Leontjew beigebracht.

Sturm: Sie sei an einer Klärung des BegriffsSelbstverwirklichung interessiert, der im Vortrag mehr-mals aufgetaucht sei und auch daran, welchenKunstbegriff Ehmer vertrete. Er habe ja davon gespro-chen, dass Kunsterfahrungen nur vor Originalen, in originalen Situationen möglich seien. Kunst sei, wenn sie Ehmer richtig verstanden habe, genau das Feld,in dem diese Unvorhersehbarkeit und die Unbe-rechenbarkeit auftauchten und dass aus diesem Grund

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die Kunst ein ideales Feld für Selbstverwirklichung sei. Könne Ehmer dazu noch einmal Stellung nehmen?

Ehmer: Vorweg: Das sei ein Thema nicht nur für eineSeminarstunde. Er wolle es versuchen: Er kenne Situa-tionen, die für ihn nicht ersetzbar seien, das heißt: dasVerweilen vor Originalen. Die Erfahrungen, die da rüber-kämen, fänden kein Äquivalent mehr im Wort. Er könnehöchstens sagen, dass er im Bemühen, sich mit Wortenund Theorien ein Bild begreifbar zu machen, dasPhänomen, das Faszinosum Kunsterfahrung, immer nurein Stück hinausgeschoben habe, um es dann als nochfaszinierender zu erkennen. Das Verhältnis von Sehen/Betrachten und Reflektieren habe zum Ergebnis gehabt,dass die Aufladung von Kunstwahrnehmung noch in-tensiviert wurde. Aber ohne die Rückversicherung, ohne (er wolle jetzt nicht in ontologisches Vokabular mitWorten wie z.B. Begegnung verfallen) dazusitzen, einWerk lange zu betrachten und festzustellen, ob daswas mit einem mache, ob da was kribbele – wodurch –

und jetzt kämen vermutlich Banalitäten – wodurchwerde denn das Glücksgefühl ausgelöst, welches wir hätten? Das sei von einem Kunsttheoretiker/-wis-senschaftler nicht zu beschreiben, weil es dann banalwerde. Psychologen könnten das beschreiben. Er habez.B. bei Ernst Dieter Lampert (Kassel) nachgelesen, was er selbst eigentlich hätte sagen wollen, der vom Glückeiner Farbkante spreche. Das sei einem Laien nichtvermittelbar, weil eine derartige Beschreibung einer wissenschaftlichen Fundierung entbehre, es sei keinwissenschaftlicher Topos, vom Glück der Wahrnehmungeiner Farbkante zu reden. Er selbst, der inzwischen siebenJahre nicht mehr im Dienst sei, dürfe das, könne das wieder sagen – auch so abgelutschte Formeln wie Liebe zur Kunst. Das sei jetzt wahrscheinlich keineAntwort gewesen.

Sturm: Woran stelle man denn fest, was Verwirklichung sei? Was sei Verwirklichung? Sei das eine Leerstelle?

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Ehmer: Mit Verwirklichung sei gemeint, dass je-mand bei bestimmten Tätigkeiten merke, dass er das jetztwirklich selbst sei. Er merke dann in der Regel nicht, wennzwei Stunden vergangen seien. Er gehe mit einem relativguten Gefühl im Bauch hin und zurück zu solchen Tätig-keiten. Es sei auch ein Glücksgefühl, zu lehren und zumerken, wenn irgendwo eine Resonanz zurückkomme,eine Art Aha, Korrespondenzen, die man erlebe. Diekönne er sich für die Tätigkeit eines Finanzbeamten nichtso vorstellen.

Legler: In der ästhetischen Theorie oder philosophi-schen Ästhetik gebe es durchaus Versuche, für den Begriffder ästhetischen Erfahrung so etwas wie eine exis-tentielle Dimension zu finden, wie z.B. auch bei Schiller,Kant oder in der romantischen Kunsttheorie. Seine Frageals Fachhistoriker ziele aber darauf ab, ob nicht beiLeuten wie Richard Ott, Herbert Read ... doch theoretischeAnsätze zu finden seien (Ehmer habe im Vortrag be-hauptet, dass es derartiges nicht gegeben hätte zu der Zeit, als er studiert habe, da sei völlig theorie-abstinent argumentiert worden).

Ehmer: Der Einwand in allen Ehren, aber Richard Otthabe man doch nicht lesen können, den musste mandoch erleben, wie der von zwei Mann gehalten wordensei, wenn er am Katheder stand, weil er so stockbesoffengewesen sei. Das sei toll gewesen, aber was der geschrie-ben habe...

Legler: Aber der Anmerkungsteil – das müsse manjetzt wieder lesen. Es sei manchmal interessant, wennman Dinge in größeren Abständen lese. Manches, wo-von er früher gedacht hätte, dass sei ausgemachter Unsinn, das lese er jetzt geradezu ehrfurchtsvoll,(scherzhaft:) das mache vielleicht das fortgeschritteneAlter...

Ehmer: Richard Ott habe er lange nicht mehr zurHand genommen, was Herbert Read anbelange, seibesagtes Buch erst nach seinem Studium erschienen. Er habe Read während seines Studiums nicht gelesen...

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Legler: ... in der deutschen Übersetzung. Ihn würdenoch interessieren, was Ehmer von Schwerdtfeger halte,der ja 1953 zuerst erschienen sei, von ihm stamme mitsieben Auflagen die am meisten aufgelegte Kunst-didaktik. Habe das in seinen Diskussionen keine Rollegespielt? Und was sei mit Pfennig?

Ehmer: Man merke daran, dass er und Legler dochverschiedenen Generationen angehörten.

Sturm: In Ehmers Text „Kunst und Kunstgeschichte“gehe es ja auch um die Frage, welche Rolle Kunst bzw. dieeigentliche Kunstgeschichte im Kunstunterricht spielten.Wenn sie vergleiche, was sie in diesem Text gelesen habeund was sie gerade gehört habe, dann gebe es interes-sante Unterschiede. Ihr scheine, dass er jetzt stark dieKapazität von Kunsterleben (welche ja zweifelsohne exis-tiere), diese Form der ästhetischen Erfahrung, betone.Aber es gebe ja noch ganz andere Ansprüche, die man anKunst stellen könnte, die in dem genannten Text stärkerzur Geltung kämen. Oder wenn man an eine der letztenKunstforum-Ausgaben denke, deren Titel „Kunst ohneWerk“ laute. Mittlerweile gebe es einen völlig anderenKunstbegriff, der sich entferne von dieser contemplatio,der viel stärker prozessorientiert sei.

Ehmer: Die Kunst oder den Kunstbegriff gebe essicher nicht. Es gebe immer nur einen, welcher zubestimmten Zeiten höher gehandelt werde als zu ande-ren. Er habe davon gesprochen, dass es einen Wider-spruch gegeben habe zwischen Erziehungsziel undKunstbegriff bzw. zwischen dem Kunstbegriff und dem,was einem vornehmlich begegnete in der visuell wahr-nehmbaren Umwelt. In den 70er Jahren habe es also diehoch interessante, für ihn ungeheuerliche Diskussion inder Ästhetik gegeben – er mache das jetzt fest an demPoetik-und- Hermeneutik-Band „Die nicht mehr schönenKünste“ – , in der einem wirkungstheoretischen Begriffder Kunst das Wort geredet worden sei. Unter dendamals verhandelten Symptomen oder Phänomen derKunst habe man keinen – jedenfalls keinen erheblichen –

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Unterschied mehr sehen können zu jedem anderen visu-ellen Material. Wenn etwas über die Wirkung definiertwerde, und dann auch noch über den Grad der Intensi-tät der Wirkung, dann sei man ganz schnell dabei, fest-stellen zu müssen oder zu dürfen, dass ein Caspar DavidFriedrich im Unterschied zu einer Werbung nicht unbe-dingt die stärkere Wirkung habe. Der derart behaupteteKunstbegriff, eigentlich die Nivellierung des Unterschiedszwischen Kunst und allem anderen visuellen Material, seifür ihn damals einer der wichtigen Hintergründe, einerder interessantesten für das Fach gewesen, deshalb habeer diese Diskussion gleich ins eigene Fach hineingetragen.Noch mal: Wenn man eine Erfahrung der Kunst entspezi-fiziert und zu einer überall möglichen Erfahrung mache,dann müsse man sich natürlich die Frage stellen, ob mandann die Kunst brauche als irgendwie besonders zu defi-nierendes zu Erlebendes. Er habe dafür keine Lösung. Erkönne heute nur sagen, dass das damals so diskutiertworden sei.Heute behaupte man an bestimmten Stellen,auf Kunsterfahrung nicht verzichten zu können. Er sagedas auch, weil er ansonsten dieses Fach nicht legitimie-ren könne. Damals habe er hierfür keine Antwort gehabt,das sei jetzt 30 Jahre her, auch das Buch „Visuelle Kom-munikation“ sei vor 30 Jahren erschienen. Dazu falle ihmein Wort von Pasolini ein, welcher sage, dass er gar nichtwidersprüchlich genug sein könne, um er selbst zu sein.

Pazzini: Die Vorlesung habe für ihn eine neueQualität, insofern als es bisher kaum die Form gebe, überdie Fachentwicklung biographisch zu reflektieren. Esgebe bestenfalls einen fachgeschichtlichen Zugang. Eserinnere ihn daran, dass es diese Form zu der Zeit, als erselbst studiert habe, nicht nur nicht in der Kunst-pädagogik gegeben habe, sondern es habe sie eigentlichüberhaupt nicht gegeben. Zu der Zeit, als er studierthabe, wären seine Professoren um die 45 Jahre alt gewe-sen und jünger. Es habe nicht die Möglichkeit gegeben,über Abschnitte einer Fachentwicklung, einer Theorieent-wicklung erzählend zu reflektieren.

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Ehmer: Er spüre jetzt, dass seine Vorlesung eineunübliche Mitteilung sei. Er wisse nicht, womit er das ver-gleichen solle, habe sich da an kein Beispiel angelehnt.Die persönliche, private Erfahrung solle nicht so tun, alssei sie historische Forschung. Er habe auf einmal gespürt,wie die privatesten Dinge, einfach über die Tatsache, dassman sie einer Öffentlichkeit mitteile, wie auf diese Weisedie subjektivsten, intimsten Erfahrungen durch dieVermittlung in Schule und Hochschule in eine Öffentlich-keit übergingen. So würde aus etwas ganz Persönlichemetwas Gesellschaftliches. Dieser Zusammenhang habeihm auch Angst gemacht. Im Sinne eines „Was soll das,wen interessiert das?“ Aber vielleicht sollte man so etwastun, obwohl das keine wissenschaftliche Textform sei,gleichwohl sei das die Mitteilung über Erfahrung.

Legler: Er halte eine solche Art des Vortrages fürunglaublich wichtig, weil sie die Historizität undErfahrungsabhängigkeit von Positionen zeige, dass dieseaus unterschiedlichen Biographien herrührten. DieHochschullehrergeneration zu seiner Zeit habe ausgutem Grund nicht über ihre Biographie gesprochen. Erhabe bei Wolfgang Schöne Kunstgeschichte studiert, siehätten von Aby Warburg und Erwin Panofsky als dengroßen Hamburger Kunsthistorikern natürlich nie etwasgehört. Das sei erst mit der Herding/Warnke-Generationoder mit Hofstädter, der Psychologie gelehrt habe, andersgeworden. Dass hier William Stern Psychologie gelehrthabe, davon sei nie die Rede gewesen, aus „gutem“Grund. Um Cassirer bemühe man sich jetzt während derletzten fünf oder zehn Jahre verstärkt. Das seien alles ver-schüttete Bereiche gewesen, wo ihm klar gewesen sei,dass man zu den zwölf Jahren Faschismus unendlich vieldazuzählen müsse – eine Generation entstehe, welchedas aufarbeiten könnte, welche sich dann wieder derUrsprünge an der Universität besinne, da müssten nochmal 20 Jahre zusätzlich vergehen.

Pazzini: Die Frage sei auch interessant, weil es sichum die Frage der Weitergabe und der Lehrerausbildung

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handele. Dazu bedürfe es Darstellungsformen. Nicht nurin der präsenten Lehre, sondern auch für das Auf-schreiben. Da gebe es ein Manko. Durch die metaphorischbiographische Redeweise springe etwas über, wo sichmehr transmittiere als in der Form einer distanziertenFachgeschichte.

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Hermann K. Ehmer (geb. 1929), seit 1994 Prof. emer. derUniversität Paderborn. Hermann K. Ehmer lehrtezunächst am Gymnasium in Hanau (Deutsch und Kunst-pädagogik; Fachleiter am Studienseminar Offenbacha.M.), als Hochschullehrer in Göttingen, in Gießen, inMünster und zuletzt in Paderborn. Schul- und hochschul-politisch bekannt wurde er nicht zuletzt durch seineMitarbeit in der umstrittenen »Hessischen Lehrplan-kommission« (Rahmenrichtlinien Kunst/Visuelle Kom-munikation). Seit Beginn seiner publizistischen Tätigkeithat er bis zur Gegenwart in die kunstpädagogische Dis-kussion eingegriffen, immer ziemlich anders, aber konti-nuierlich (z.B. Herausgeber von »Kunstunterricht undGegenwart«, Ffm. 1967; »Visuelle Kommunikation –Beiträge zur Kritik der Bewusstseinsindustrie«, Köln1971; »Kunst/Visuelle Kommunikation – Unterrichts-modelle«, Steinbach/Gießen 1972; Mitbegründer derZeitschrift »Ästhetik und Kommunikation«; Kunst undKunstgeschichte in künftigen Curricula der allgemeinbil-denden Schulen und in der Lehrerausbildung. Vortrag,gehalten auf dem »XIV. Deutschen Kunsthistorikertag«,Hamburg, 10. Oktober 1974, in: Zeitschrift für Kunst-pädagogik, Nr. 2, 1975, S. 61-70; »Krise und Identität – ZurKritik einiger fachdidaktischer und fachpolitischerKategorien«, in: Hartwig, Helmut (Hg.): Sehen lernen.Kritik und Weiterarbeit am Konzept, Köln: DuMont 1976,S. 13-40; »Die Kunst als Kunst verstehen«. Interview mitHermann K. Ehmer, Paderborn, Georg Peez, Frankfurta.M./Werner Stehr, Kassel, in: K + U, Nr. 193, 1995, S. 12-13). Hermann K. Ehmer hat mit Unterbrechungen immerauch künstlerisch gearbeitet. Als Bildhauer (sollte manbesser schreiben »Plastiker«?) und in den letzten beidenJahrzehnten wieder als Maler. Er wird vertreten durch dieGalerie Vömel (Düsseldorf).

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ImpressumBibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Kunstpädagogische Positionen Band 1Herausgeber: Karl-Josef Pazzini, Eva Sturm,Wolfgang Legler, Torsten MeyerLayout: Rikke Salomo, HamburgDruck: Uni-PriMa, Hamburg© Hamburg University Press, Hamburg 2003http://hup.rrz.uni-hamburg.deRechtsträger: Universität HamburgISBN 3-9808985-4-7

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Zwischen Kunst undUnterricht – Spots einer widersprüchlichen wiehedonistischenBerufsbiografie

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