Handbuch Leben

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978-3-476-02254-7 Klein/Kreuzer/Müller-Doohm (Hrsg.), Adorno-Handbuch

© 2011 Verlag J.B. Metzler (www.metzlerverlag.de)

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I. Leben

Versuch eines Portraits

Von Stefan Müller-Doohm

Bildung gleich Warten könnenTheodor W. Adorno

Ein Dasein, das man lieben musste

Am 11. September 1903 morgens gegen halb sechsUhr wird Theodor Ludwig Wiesengrund-Adorno inFrankfurt am Main geboren.  Das Geburtsjahr vonAdorno war gewiss ein bedeutendes Jahr für die kul-turelle Moderne. Hugo von Hofmannsthals Elektra wird in Berlin aufgeführt, Gustav Mahler kompo-niert seine Sechste  Symphonie, Arnold Schönbergschreibt zunehmend Werke am Rande der Tonalität,Frank Wedekinds Drama Erdgeist erscheint in zwei-ter Auflage, Thomas Mann veröffentlicht die NovelleTonio Kröger (Jäger 2003: 9 ff.).

Wie damals üblich, fand die Niederkunft in denprivaten Räumen in der Schönen Aussicht 9 statt.Wenige Häuser weiter hat Adornos Vater, der ge-schäftlich erfolgreiche, angelsächsisch geprägte, ak-kulturierte Jude, seine stadtbekannte Weinhandlungund Kellereien untergebracht. Neben der MutterMaria, geb. Calvelli-Adorno della Piana, einer ehe-maligen Sängerin mit Affinitäten zur italienisch-französischen Kultur, war ihre jüngere SchwesterAgathe für die Erziehung des Sohnes der Wiesen-grunds mit verantwortlich – er sollte sie stets liebe-

 voll als seine »zweite Mutter« bezeichnen. Die bei-den Frauen, nicht zuletzt jene zeitlebens unverheira-tet gebliebene, im Hause der Wiesengrunds lebendeTante, nahmen sich mit Hingabe gerade auch dermusikalisch-literarischen Bildung, überhaupt dergeistigen Förderung des Knaben an. Am 4. Oktober1903 wird er im Frankfurter Dom katholisch getauft.Dabei besteht die Mutter darauf, dass der väterlicheNachname des Sohnes durch den Zusatznamenmütterlicherseits ergänzt wird. Tatsächlich hatAdorno später von der Namenskombination Wie-

sengrund-Adorno Gebrauch gemacht. Seit dem kali-fornischen Exil bei seiner formellen Einbürgerung

in die USA hat er auf die voll ausgeschriebene Formdes Namens verzichtet und fortan unter Theodor W. Adorno publiziert.

Ein Grundgefühl emotionaler und materieller Si-cherheit zusammen mit der Aufgehobenheit in dersinnlichen Sphäre der Musik kann als strukturge-bend für Adornos frühe Persönlichkeitsprägungunterstellt werden. Das Rebellische der Jugendbe-wegung und das Menschheitspathos des Expressio-nismus sind ihm stets fremd geblieben. Innerhalb

der Familie – seit Oktober 1914 hat sie ein neu ge-bautes zweigeschossiges Haus in der SeeheimerStraße 19 im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen,Oberrad bezogen – gab es kaum Zweifel an derdurch die schulischen Erfolge bestätigten Begabungdes Heranwachsenden, der seinen Altersgenossenauf geistigen Gebieten zumeist überlegen war. DieIdealisierung des im Mittelpunkt der Familie ste-henden Kindes könnte eine Verfestigung narzissti-scher Strukturmomente befördert haben. Züge vonAdornos Persönlichkeit mögen mit dieser Tendenz,

das eigene Ich zum Liebesobjekt zu nehmen, in ei-nem Zusammenhang stehen: Auf der einen Seiteseine innere Unruhe und Rastlosigkeit, seineenorme geistige Produktivität, die unerschütterli-che Selbstgewissheit in der Präsentation gänzlichunkonventioneller Gedankengänge, aber auch dasstarke Bedürf nis nach Bestätigung der eigenenGroßartigkeit, auf der anderen Seite die leichte Ver-letzbarkeit und die daraus resultierende Angstbe-reitschaft, das Gefühl der Einsamkeit und Melan-cholie sowie das periodische Leiden unter Depressi-

onen. Fest steht, dass die Erfahrung einer geistiganregenden und emotional überaus glücklichenKindheit für die spezifische utopische Grundströ-mung von Adornos späterem philosophischemDenken konstitutiv war, bekannte er doch selbst,dass die Fähigkeit zur Utopie »von der Liebe derMutter zehrte« (GS 4: 23).

Frühe Tagebuchaufzeichnungen bezeugen, dassder Jugendliche neben dem Komponieren auch Ge-dichte und Dramen verfasst hat (Bildmonographie2003: 55 ff.). Es ist schon spektakulär, dass »Teddie«,

wie er sich von ihm Nahestehenden gerne nennenließ, mit sechzehn Jahren die damals revolutionären

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2 I. Leben

Schriften von Ernst Bloch und Georg Lukács liest,mit siebzehn Jahren sein Philosophiestudium be-ginnt, um nach sechs Semestern die philosophischePromotion über Husserls Phänomenologie (GS 1:7 ff.) mit der Bestnote abzuschließen, sich in das Mu-

sikleben seiner Heimatstadt einschaltet mit demZiel, sich für nichts Geringeres als die Aufführungender Avantgarde zu engagieren, selbstbewusst Kon-zert- und Theaterkritiken veröffentlicht und dabeikein Blatt vor den Mund nimmt, alles Erbauliche,Kunstgewerbliche und Geschmäcklerische in Bauschund Bogen verurteilt.

Angeregt durch seinen Wiener Studienaufenthaltwährend mehrerer Monate im Jahr 1925 bei AlbanBerg legt er vorwiegend frei atonale, gelegentlichauch dodekaphone Kompositionen vor: Vertonun-

gen von Gedichten Stefan Georges op. 1, zwei 1926dann vom Kolisch-Quartett uraufgeführte Stückefür Streichquartett op. 2. Mit seiner Antrittsvorle-sung als Privatdozent für Philosophie im Sommer1931 – das Jahr, in dem er sich mit der Schrift Kier-kegaard. Konstruktion des Ästhetischen (GS 2) habili-tiert – provoziert er seine Zuhörer dadurch, dass ermit den damals vorherrschenden Denkströmungenwie der Fundamentalontologie, der Lebensphiloso-phie, der Phänomenologie, aber auch mit der forma-len Soziologie scharf ins Gericht geht. Seiner Sache

sicher warnt er vor der Illusion, durch Denken dasGanze einer als sinnvoll vorgestellten Welt zu erfas-sen, zugleich legt er, wenn auch in versteckter Form,ein Bekenntnis zum historischen Materialismus unddem Verfahren der Ideologiekritik ab und fordert,die erstarrten Realitätsbilder durch ein anderesWie der reflexiven Durchdringung aufzulösen (GS 1:325 ff.).

Adornos umfassende Bildung hat ihn nicht davorbewahrt, sich in Bezug auf die aktuellen politischenMachtverhältnisse am Vorabend des Faschismus

und nach der »Machtergreifung« der Nazis zu irren.Er ist in seiner Naivität gegenüber den Machtränkender praktischen Politik davon überzeugt, dass dieNazidiktatur ein Übergangsphänomen sei. Und dochmachen ihn die Nazis zum »Halbjuden«. So wird sei-nem Vertrauen in den Bestand wenigstens eines Mi-nimums bürgerlicher Lebensformen der Bodenentzogen. Am Anfang seiner Diskriminierungen imNazideutschland steht der Verlust der Privatdozen-tur an der Frankfurter Universität, gefolgt von einemgenerellen Publikationsverbot sowie polizeilicher

Einschüchterung und Bedrohung (Müller-Doohm2003: 270 ff.). Während Adorno 1933 in Berlin fas-

sungslos zum direkten Beobachter des Einheits-rauschs der »Volksgemeinschaft«, der Massenver-sammlungen, Fackelzüge und Gelöbnisse, Zeuge derBücherverbrennungen sowie der ersten Verhaf-tungswellen, der Flucht von jüdischen Mitbürgern

und Linksoppositionellen ins Ausland wird, verar-beitet er diese Erfahrung in dem kompositorischenEntwurf eines Singspiels mit dem Titel Der Schatz des Indianer-Joe. Den Handlungsrahmen für das Li-bretto hat er von Mark Twains Erzählung The Ad-ventures of Tom Sawyer  gewonnen. Moral, Schuldund Angst sind Motive dieses Singspiels. So heißt esim Lied  vom Zusehen: »Einer ist tot gegangen, / einerhat’s getan, / zwei haben zugesehen, / alle sind schul-dig, / solange sie nicht reden« (Indianer-Joe: 28 f.).

So wie Adorno in den ersten Jahren nach 1933 mit

politischer Blindheit geschlagen war, enthielt er sichauch jedweder öffentlicher Kritik an den Maßnah-men der Nazis, einen großdeutschen Machtstaat zuerrichten. Er hatte zweifellos eine grundsätzlich ab-lehnende Haltung gegenüber dem totalitären Herr-schaftsanspruch, dem Antisemitismus und dem mi-litanten Antikommunismus. Aber selbst in der pri- vaten Korrespondenz finden sich bis Mitte derdreißiger Jahre fast nur allgemein gehaltene, pessi-mistisch gefärbte Stimmungsbilder, hingegen keineeindeutige Stellungnahme zur politischen Situation.

Mag sein, dass Adorno über die Möglichkeit der Kri-tik an den politischen Zuständen so dachte, wie er esprogrammatisch von der Musik der Avantgarde for-derte: »Ihr frommt es nicht, in rastlosem Entsetzenauf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfüllt ihre ge-sellschaftliche Funktion genauer, wenn sie in ihremeigenen Material und nach ihren eigenen Formge-setzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstel-lung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ih-rer Technik in sich enthält. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der der

gesellschaftlichen Theorie« (GS 18: 731).

Das beschädigte Leben

Nach Entzug der Lehrbefugnis durch die National-sozialisten und fast genau ein Jahr nach der Publika-tion seiner Habilitationsschrift im Verlag J.C.B.Mohr (Paul Siebeck) reist Adorno im April 1934nach London, um sich mit Unterstützung durch denAcademic Assistance Council in Oxford am Merton

College im Fach Philosophie als »advanced student«einzuschreiben. In Briefen äußert sich Adorno ge-

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3Versuch eines Portraits

genüber Alban Berg wie gegenüber Horkheimer, fürihn habe sich der »Angsttraum« verwirklicht, »dassman wieder in die Schule muss, kurz das verlängerteDritte Reich« (BW 4/1: 26). Demgegenüber schrieber an den Komponisten Ernst Křenek in Wien: »Das

Merton College, das älteste und eines der exklusivs-ten von Oxford, hat mich als member und advancedstudent aufgenommen und ich lebe nun hier in einerunbeschreiblichen Ruhe und unter sehr angeneh-men äußeren Arbeitsbedingungen; sachlich freilichsind Schwierigkeiten, da meine eigentlichen philo-sophischen Dinge den Engländern begreiflich zumachen zu den Unmöglichkeiten zählt und ichmeine Arbeit gewissermaßen auf ein Kinderniveauzurückschrauben muss, um verständlich zu bleiben.[…]. Aber ich muss das nun einmal auf mich neh-

men und froh sein, ungestört arbeiten zu können«(BW Křenek: 44). Mit den Oxford-Jahren beginntdie eineinhalb Jahrzehnte umfassende Phase derEmigration: Bis 1938 hält sich Adorno in Englandauf, dann lebt er in New York und ab August 1941überwiegend in Los Angeles. In dieser Phase, als erin den USA im Spannungsfeld von Sozialforschung(er ist von 1938 bis 1940 Mitarbeiter des von demSoziologen Paul Lazarsfeld geleiteten Radio ResearchProject, seit 1943 gehört er der Berkeley Public Study Group an, aus der die 1949 publizierte The Authori-

tarian Personality  hervorgeht) und Philosophie (esentstehen neben Aufsätzen für die Zeitschrift für So-zialforschung umfangreiche Manuskripte zu HusserlsPhänomenologie [GS 5: 7–244] sowie zur Philoso- phie der neuen Musik [GS 12]) arbeitet, legt Adornodas Fundament für sein singuläres Konzept einer So-ziologie als Reflexionswissenschaft (Müller-Doohm1996). So gewinnt sein antithetisches Denken die Si-gnifikanz einer eigenwilligen dialektischen Gesell-schaftskritik. Wenngleich Adorno als festem Mitar-beiter des von Max Horkheimer geleiteten Institute

of Social Research die Erfahrungen materieller Notwährend der Exiljahre erspart bleiben: Das Willkür-liche der Vertreibung aus Deutschland drängt sichihm als Exempel für den realen Verfall der bürgerli-chen Ordnung auf. Zwar war die Außenseiterposi-tion des Intellektuellen bereits ein Bestandteil seinerDenkweise und Weltsicht, aber gerade die realeFremdheitserfahrung des Exils hat auf die Dauer sei-nen kritisch opponierenden Geist ebenso gestärkt,wie mit der territorialen Nichtidentität sein politi-sches Bewusstsein wächst. Adornos subjektive Er-

fahrungen der Vertreibung, der gesellschaftlichenExklusion und des Exils werden auf diese Weise von

ihm zu einer Perspektive des Erkennens transfor-miert.

Die Radikalisierung seiner Sozialkritik manifes-tiert sich nicht zuletzt in der zusammen mit MaxHorkheimer 1944 zu Papier gebrachten, erst vier

Jahre später in Amsterdam publizierten Dialektik der  Aufklärung, in deren Zentrum die Kategorie der ne-gativen Totalität steht. In diesem Buch gehen die Au-toren keinem Geringeren als der Frage nach, »warumdie Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschli-chen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Bar-barei versinkt« (GS 3: 11). Tatsächlich repräsentiertdieses Werk, auch wenn es nicht allein die Hand-schrift Adornos trägt, die Unverwechselbarkeit einerSchreibweise, die mit ihren dialektischen Umkehr-bewegungen, kontrapunktisch angeordneten Satzge-

bilden zum Signum gerade der Philosophie Adornoswerden sollte. Deshalb hat er sich, im Gegensatz zuHorkheimer, zu diesem »schwärzesten Buch« (Ha-bermas 1985: 130) der kritischen Theorie Zeit seinesLebens bekannt.

In der Dialektik der Aufklärung  finden sich ersteÜberlegungen zur Ortlosigkeit des Intellektuellen,die Adorno dann in seinem Aphorismenwerk  Minima Moralia fortführt, jenem bereits 1935 be-gonnenen, erst 1951 veröffentlichten Buch, das auf-grund seines tagebuchartigen Charakters als das per-

sönlichste (und erfolgreichste) des Autors geltenkann. Mit diesen epigrammatischen Texten, ur-sprünglich angeregt durch Horkheimers Notizen un-ter dem Titel Dämmerung von 1934 und durch eineerneute Lektüre von Nietzsche, vertraut er ganz derreflexiven Durchdringung eigener Erfahrung, diesich im »engsten privaten Bereich« dem »Intellektu-ellen in der Emigration« aufdrängen (GS 4: 13 ff.).Die Aufzeichnungen bringen zum Ausdruck, dasssich Adorno als marginalisierter Intellektueller imsozialen Schwebezustand innerhalb der Gesellschaft

erfährt, der sich in ihr aufhält und doch zugleichnicht ganz integriert ist. Diese Zwischenstellung zwi-schen Drinnen und Draußen ist aus seiner Sicht derideale Beobachtungsposten, um der Tatsache gewahrzu werden, dass es »keinen Trost mehr (gibt) außerin dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhältund im ungeminderten Bewusstsein der Negativitätdie Möglichkeit des Besseren festhält« (GS 4: 26).Adorno warnt davor, dass der Intellektuelle aus sei-ner exterritorialen Position, aus seiner Distanz zurGesellschaft ein Gefühl der Überlegenheit bezieht.

Der Intellektuelle ist mit dem Paradox konfrontiert,Teil der Gesellschaft zu sein und sich gleichzeitig au-

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ßerhalb zu verorten, um das gesellschaftliche Ganzein den Blick zu bekommen: »Vom Denkenden heutewird nicht weniger verlangt, als dass er in jedem Au-genblick in den Sachen und außer den Sachen seinsoll – der Gestus Münchhausens, der sich an dem

Zopf aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als entwederFeststellung oder Entwurf« (GS 4: 82). Ein Motiv,dass sich wie ein roter Faden durch die  Minima Moralia zieht und für Adornos zukünftige Philoso-phie grundlegend sein wird, ist die Perspektive einesZustands der Differenz, eines Zustands, in dem man»ohne Angst verschieden sein kann« (GS 4: 116).Adorno hat seine Aphorismen als Modellanalyseneines akribisch beobachtenden Gegenwartsanalyti-kers verstanden: als mikrologische Beschreibungen,

die das Übermächtige der sozialen Strukturen unddas Fassadenhafte der menschlichen Beziehungenund alltäglichen Lebenspraxis aufdecken. Der Er-kenntnisgehalt soll aus der kontradiktorischen Ar-gumentationsform resultieren. Der aphoristischeReflexionsmodus hält sich weder an die Wahrheits-definition der adaequatio, noch akzeptiert Adornoden Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Viel-mehr sei dem Denken »ein Element der Übertrei-bung« wesentlich, »des über die Sachen Hinausschie-ßens, von der Schwere des Faktischen sich Loslösens,

kraft dessen er [der Gedanke] anstelle der bloßenReproduktion des Seins dessen Bestimmung, strengund frei zugleich, vollzieht« (GS 4: 144).

Adorno versteht seine Philosophie als dialekti-sche, sofern sie Gegensätze bestehen lässt und nichtdurch ein »Mittleres zwischen den Extremen« auf-löst, »sondern die Vermittlung ereignet sich durchdie Extreme hindurch« (GS 5: 257). Die für AdornosWerk konstitutive Kritik am szientistischen Zwangbegrifflicher Identifikation (»Utopie der Erkenntniswäre, das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es

ihnen gleich zu machen« [GS 6: 21]) sowie am res-triktiven Begriff instrumenteller Vernunft steht imZeichen einer Rettung des Nichtidentischen. Wäh-rend Philosophie trotz ihres utopischen Erkenntnis-ziels Medium der Begrifflichkeit bleibe, sei Kunst alsSphäre des Expressiven Ausdruck des Nichtbegriffli-chen. Denn sie bediene sich nicht diskursiver, son-dern im besonderen Maße mimetischer Mittel. Demidentifizierenden Denken, das zwischen Subjekt undObjekt trennen muss, um »Objekte« klassifizieren zukönnen, stellt Adorno einen Erkenntnismodus ge-

genüber, der die Spannung zwischen dem Allgemei-nen und Besonderen der Phänomene nicht zuguns-

ten des Ersteren aufzulösen trachtet. Die Kategoriedes Nichtidentischen ist für ihn das Korrektiv zurAbstraktheit klassifizierender Operationen: »Ge-fährlich denken« heißt für ihn: »den Gedanken an-spornen, aus der Erfahrung der Sache heraus vor

nichts zurückschrecken, von keinem Convenu desVorgedachten sich hemmen zu lassen« (GS 10/2:605).

Der öffentliche Intellektuelleim Nachkriegs-Deutschland

Dass der Intellektuelle als »professionell Heimatlo-ser« (BW 3: 49) die Differenz zur Gesellschaft ver-körpert und zugleich mit seinem intellektuellen En-

gagement auf der Möglichkeit des Andersseins insis-tiert, hat Adorno nach seiner Remigration nachDeutschland wie kaum ein anderer Philosoph durchseinen dissentierenden Denkstil und seine antitheti-sche öffentliche Redepraxis demonstriert. Erst imWinter 1949 kehrt er, trotz der Ängste des ehemalsVerfolgten vor der Gefahr eines Wiederauflebens von Nationalsozialismus und Antisemitismus, inspostfaschistische Deutschland und an die Universi-tät zurück, von der er vertrieben worden war. Dabei vollzieht er zugleich die Grenzüberschreitung vom

Kritiker der Gesellschaft, der sich auf theoretischerEbene über den intellektuellen Standpunkt verge-wissert, zu jenem öffentlichen Intellektuellen, dersich einmischt und Stellung bezieht. Mit der Publi-kation der Minima Moralia bringt er sich als Gegen-wartsanalytiker und Zeitkritiker ins Spiel. Die in-transingente Art seines Denkens trägt wesentlichdazu bei, im restaurativen Klima der deutschenNachkriegsepoche einen neuen Typus von Intellek-tualität zu schaffen. Es ist dies die Rolle des Intellek-tuellen, der durch sein Reden und Schreiben eine

agonale, weil nicht auf Konsens zielende Funktioneinnimmt. Diese durchaus neue Rolle, die Adornodurch sein öffentliches Engagement in dieser Zeit-phase spielt, war einer lebensgeschichtlich spezifi-schen Lernerfahrung förderlich, die er in der ameri-kanischen Emigration gemacht hatte. Die Erfahrungmit demokratischen Lebensformen veranlasst ihn,eben auch die jeweils gegebenen politischen Macht-konstellationen nicht »für natürlich zu halten, ›notto take things for granted‹ […]. In Amerika wurdeich von kulturgläubiger Naivität befreit, erwarb die

Fähigkeit, Kultur von außen zu sehen« (GS 10/2:734).

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5Versuch eines Portraits

Diese Sichtweise macht sich Adorno schon bei sei-nem ersten Radiobeitrag zu eigen, der 1950 vomHessischen Rundfunk unter dem Titel Auferstehung der Kultur gesendet wird. Gleich zu Beginn kommter auf den Punkt und kritisiert, dass die Deutschen

der Frage nach ihrer eigenen Schuld aus dem Weggehen. Statt über die Ursachen des Totalitarismusnachzudenken, suche man Schutz beim Herkömmli-chen und Gewesenen. Zugleich bemängelt er dasFehlen jedweder Avantgarde, und aus diesemGrunde herrsche »ein gespenstischer Traditionalis-mus ohne bindende Tradition« (GS 20/2: 458). SeineAusführungen gipfeln in der These, Bildung habe imNachkriegsdeutschland die Funktion, »das gesche-hene Grauen und die eigene Verantwortung verges-sen zu machen und zu verdrängen«. So »taugt Kultur

dazu, den Rückfall in die Barbarei zu vertuschen«(GS 20/2: 460).Bis hinein in die sechziger Jahre hat Adorno dieses

brisante Problem der Vergangenheitsbewältigungöffentlich thematisiert. So warnt er nachdrücklich vor dem Nachleben des Nationalsozialismus in derDemokratie, das »potentiell bedrohlicher (sei) denndas Nachleben faschistischer Tendenzen  gegen dieDemokratie« (GS 10/2: 555 f.). Er stellt, zehn Jahrenach der Verabschiedung des Grundgesetzes, dieprovokante Frage, ob in Deutschland repräsentative

Demokratie mehr sei als eine importierte Staats-form, die man akzeptiere, weil sie von wirtschaftli-chem Wohlstand begleitet war. Er wagt die Spekula-tion, ob nicht der Parlamentarismus als eine Mani-festation von Macht wahrgenommen werde, was ihnwiederum für den autoritätsgebundenen Charakterattraktiv mache. Den Opportunismus gegenüber derdemokratischen Ordnung deutet Adorno als Zei-chen dafür, dass Demokratie »nicht derart sich ein-gebürgert (hat), dass sie die Menschen wirklich alsihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte

der politischen Prozesse wissen« (GS 10/2: 559). Mitdieser Kritik am mangelnden demokratischen Be-wusstsein will Adorno die Augen für jenen Normati- vismus öffnen, der einer demokratischen Verfassunginnewohnt. In einer Zeit, als in Deutschland der Ver-gangenheitsdiskurs durch den Auschwitz-Prozess inFrankfurt und den Eichmann-Prozess in Israel inder ersten Hälfte der sechziger Jahre höchst zöger-lich anzulaufen beginnt, praktiziert Adorno Soziolo-gie als Aufklärung: »Aufarbeitung der Vergangen-heit als Aufklärung ist wesentlich […] Wendung aufs

Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewusstseinund damit auch von dessen Selbst« (GS 10/2: 571).

Diese Wendung aufs Subjekt ist Adornos praktischeZielsetzung für seine Konzeption einer kritischenGesellschaftstheorie, die er damals entwickelt undpraktiziert (Müller-Doohm 2003: 554–586; 624–651;669–678). Aber er betont, dass diese subjektive Auf-

klärung ihre Grenzen habe, denn das politisch ge-fährliche, faschistische Potential resultiere ursäch-lich aus den gesellschaftlichen Bedingungen, demsozialen Druck und seiner objektiven Gewalt.Fluchtpunkt der Kritik an der gesellschaftlichen To-talität ist das autonome Subjekt, das dem »gesell-schaftlichen Bann opponiert […] mit Kräften aus je-ner Schicht, in der das principium individuationis,durch welches Zivilisation sich durchsetzt, noch ge-gen den Zivilisationsprozess sich behauptet, der esliquidiert« (GS 6: 92).

Mit seinen soziologischen Analysen kommt esAdorno weniger darauf an, eine in sich konsistenteTheorie der Gesellschaft zu entwickeln, wie das spä-ter etwa Jürgen Habermas mit der Theorie des kom-munikativen Handelns (1981) getan hat. Für Adornosteht im Vordergrund, das Wie der soziologischenErkenntnisweise deutlich zu machen. Er will durchdie Bewegung des Gedankens deutlich machen, wiedas Soziale als Wirklichkeit eigener Art erfasst und verstanden werden kann, um herauszufinden,»wieso es dahin gekommen ist und wohin es will«

(NL 4/15: 87). Soziologie ist für Adorno gegen-standsbezogene Reflexion, die sich in das Besonderegesellschaftlicher Gegenstände versenkt, um sie alsAusdruck des Allgemeinen zu dechiffrieren. Die Ge-sellschaft analysiert Adorno nicht aus der Beobach-ter-, sondern aus der Binnenperspektive, die offen-bart, was »insgeheim das Getriebe zusammenhält«(GS 8: 196).

Die zeitdiagnostischen Aussagen zur Gegenwarts-geschichte implizieren erstens eine Kritik an derÖkonomie, die von der Eigenlogik kapitalistischer

Verwertungsinteressen bestimmt ist, zweitens eineKritik an den Konformitätszwängen sozialer Lebens-formen, die zu Lasten der Subjektautonomie gehen,drittens eine Kritik an einer Kultur, in der die sou- verän gewordenen Massenmedien die Funktion er-fahrungsbestimmender Wirklichkeitskonstrukteurehaben. Die Gesellschaft ist trotz aller Fortschrittefunktionaler Rationalität keineswegs ein Lebenszu-sammenhang, der insgesamt vernünftig gestaltet ist;die Gesellschaft ist rational in ihren Mitteln, irratio-nal in den realisierten Zwecken.

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6 I. Leben

Konstellatives Denken

Die Reflexion des historischen Faktums eines Miss-lingens der Kultur angesichts von Auschwitz ist einwesentlicher Gegenstand des philosophischen Haupt-

werks von Adorno, der Negativen Dialektik. Hiergeht er bis an die Grenze dessen, was philosophischeBesinnung vermag. Er fragt, ob sich die Idee der Hu-manität des Menschen angesichts der Realität vonTodeslagern überhaupt retten lässt (GS 6: 359). Zu-gleich formuliert er einen »neuen kategorischen Im-perativ«, der freilich »so widerspenstig gegen seineBegründung (sei) wie einst die Gegebenheit des Kan-tischen«. Es sei das »Denken und Handeln so einzu-richten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichtsÄhnliches geschehe« (GS 6: 385).

Adorno selbst hat die Negative Dialektik zu seinenthematisch komplexesten und sprachlich anspruchs- vollsten Büchern gerechnet. Mit ihm wendet er sichgegen eine Art der Dialektik, die seit Platon einen af-firmativen Grundzug habe. Auch noch bei Hegellöse sich das Negationsprinzip in die Aussage einesPositiven auf. Demgegenüber will Adorno die Nega-tion der Negation nicht in Positionen übergehen las-sen. Die Wahrheit liegt Adorno zufolge nicht »in ei-nem sich Anmessen von Sätzen […] an einmal sogegebene Sachverhalte«, sondern im Moment des

Ausdrucks, d. h. darin, das zu sagen, was einem »ander Welt aufgeht«. Adorno zufolge lässt sich die Pa-radoxie, dass »nur Begriffe vollbringen können, wasder Begriff verhindert« (GS 6: 62), nicht aufheben.Aus diesem Grund kommt es für ihn wesentlich dar-auf an, dass durch ein Denken in Konstellationen,das eine Vielzahl begrifflicher Möglichkeiten umeine zu deutende Sache versammelt, »die Sachedurch sprachliche Prägnanz« (GS 6: 167) zum Aus-druck gebracht wird. Nur durch diese Prägnanz imsprachlichen Ausdruck kann die Begrenztheit der

identifizierenden Methode überwunden werden.Statt eine vollständige Einheit von Begriff und Sacheanzustreben, nähern sich die konstellierenden Denk-prozesse dem Verständnis der Sache in konzentri-schen Kreisbewegungen. Der Bedeutungsgehalt ei-nes Phänomens oder der Sache muss dadurcherschlossen werden, dass die Begriffe in eine beweg-liche Wechselbeziehung gebracht werden, gleich ei-nem kompositorischen Zusammenhang, der zwarkohärent ist, aber keine deduktive Ordnung auf-weist: »Als Konstellation umkreist der theoretische

Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend,dass er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlver-

wahrter Kassenschränke. Nicht nur durch einen Ein-zelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eineNummernkombination« (GS 6: 166).

So wie die objektive Welt beschaffen ist, kannAdorno zufolge der Erkenntnisprozess nur ein

schmerzhafter sein, der sich im Bewusstsein derMöglichkeit eines richtigen Lebens Rechenschaftüber die Absurdität des Weltlaufs gibt. Die gültigeFormulierung dieses Gedankens findet sich in sei-nem philosophischen Hauptwerk: »Das Bedürfnis,Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung allerWahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf denSubjekten lastet; was es als sein Subjektives erfährt,sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt« (GS 6: 29).

Antibürgerliche Bürgerlichkeit 

Was die Generation seiner Schüler an Adorno faszi-niert hat, die Leser seines Werks bis heute anzieht, istnicht in erster Linie die universale Gelehrsamkeit desAutors, sein unkonventioneller intellektueller Denk-stil, sondern ganz wesentlich Adornos Meisterschaftdes sprachlichen Ausdrucksvermögens; er hat auf einehöchst individuelle Weise geredet und formuliert, mitäußerster begrifflicher Präzision und strikter Orien-tierung an der Sache. Zu dieser Rhetorik gehören

durchaus auch stilistische Manierismen, wie etwa dieGewohnheit, das Reflexivpronomen an das Satzende vor das Verb zu stellen, das antiquierte »ward«, diehäufige Verwendung von Fremdwörtern oder der Ge-brauch von Konditionalsätzen und des Konjunktivs.

Adorno hatte das Talent, seine Vorlesungen undVorträge als Veranschaulichungen eines dialekti-schen Reflexionsprozesses zu gestalten, der Wider-sprüche nicht auflöst, sondern sie im Spannungsver-hältnis lässt, das von der Bewegung des fortwähren-den Infragestellens getragen ist. Wie Adorno

überkommene Meinungen und Wertungen infragestellte, das war in den ersten Jahrzehnten der Bun-desrepublik einer der besten Schulen, um etwas übergeistige Autonomie, auch über Demokratie als einerkulturellen Lebensform zu erfahren, die der Bereit-schaft zum Widerspruch bedarf, der innerhalb derÖffentlichkeit zu Gehör gebracht werden muss. Diein den sechziger Jahren wachsende Hoffnung, dassein anderes Deutschland unter dem Nazischutt ver-borgen sei und sich freilegen lasse, war im Wesent-lichen Adornos geistiger Wirkung zu verdanken

(Wellmer 1993: 224). Adornos publizistisches Enga-gement für die Erziehung zur Mündigkeit  (1970)

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7Versuch eines Portraits

hatte für die Pädagogik geradezu revolutionäre Aus-wirkungen und erwies sich als Impuls für die Schul-und Hochschulreform der siebziger Jahre.

Adornos Wirkung ging über die Soziologie undPädagogik weit hinaus. Seine starke Positionierung

innerhalb der Kultursphäre im Nachkriegsdeutsch-land verdankt sich nicht zuletzt dem Einfluss, den erin kurzer Zeit auf das Musikleben gewinnt. So betei-ligt er sich gleich in den Monaten nach der Remigra-tion an den Ferienkursen für Neue Musik in Kra-nichstein bei Darmstadt. Im Jahr 1951 hat er Gele-genheit, Bekanntschaft zu machen mit einem derdamals wegweisenden Exponenten der seriellen Mu-sik, dem Belgier Karel Goeyvaeerts: einer Strömungder musikalischen Avantgarde, die alsbald Gegen-stand einer heftigen Kontroverse werden sollte. Im

Juli desselben Jahres findet auch die Uraufführung von Adornos Vier Liedern nach Gedichten von StefanGeorge für Singstimme und Klavier  op. 7 statt. DerKomponist begleitet die Sopranistin Ilona Steingru-ber selbst am Klavier.

Gemeinsam mit Eduard Steuermann und Rudolf Kolisch leitet Adorno 1954 auf Einladung von Wolf-gang Steinecke sechs Seminare zum Thema Neue Musik und Interpretation. In Kranichstein, jenem seit1946 existierenden Forum für moderne Musik, daser stets gegen öffentliche Angriffe verteidigt hat,

sieht er sich nicht alleine als Theoretiker der Musik.Vielmehr versteht er sich hier auch als praktisch täti-ger Komponist, ja, er fühlt sich, wie die SängerinCarla Henius berichtet, »als legitimer Musiker« (He-nius 1993: 81, 83). Tatsächlich hat er einen erhebli-chen Anteil daran, dass die Ferienkurse zum Brenn-punkt der Neuen Musik werden. Adorno versteht es,über das, was er musikalische Wahrheit nennt, lei-denschaftlich zu streiten. Dabei macht er sich jeweilsfür die freie Atonalität als einen Höhepunkt derabendländischen Musikgeschichte stark und vertei-

digt die Zweite Wiener Schule gegenüber anderenStrömungen. Dadurch kommt es zu einer Kontro- verse zwischen der Wiener und einer von der jünge-ren Komponistengeneration wie Pierre Boulez, Karl-heinz Stockhausen, Karel Goeyveaerts, LucianoBerio, Gottfried Michael Koenig gebildeten Darm-städter Schule. Eine erste Kontroverse wird durchAdornos Vortrag über Das Altern der Neuen Musik(GS 14: 143–167) ausgelöst. An dieser Kritik am Se-rialismus – »Webern auf einer Wurlitzerorgel« (GS14: 140) – knüpft er dann in seinem Beitrag zum

Ferienkurs von 1955 an. Er hält drei Vorlesungenunter dem Titel Der junge Schönberg, die er dazu

nutzt, gegen die serielle und elektronische Musik zupolemisieren. Den eigentlichen Höhepunkt erreichtdie Auseinandersetzung dann durch einen Aufsatzdes Musiktheoretikers Heinz-Klaus Metzger, den er1958 unter dem Titel Das Altern der Philosophie der 

Neuen Musik in der Zeitschrift Die Reihe veröffent-licht. Über zwanzig Jahre später wird Metzger be-kennen, Adorno habe damals recht gehabt.

Seine definitive Haltung zur musikalischen Avant-garde versucht Adorno im Anschluss an die Kontro- versen mit den Serialisten und Post-Serialisten in ei-nem Vortrag zu klären, den er 1961, etwa ein Jahrnach Erscheinen des erfolgreichen Buches über Gus-tav Mahler und seiner weithin beachteten WienerGedenkrede auf den Kranichsteiner Ferienkursenhält. Er entwickelt das Projekt einer informellen Mu-

sik, die er als konsequente Weiterentwicklung derfreien Atonalität versteht. Er geht mit seinen voraus-gegangenen Aussagen über die elektronischen Expe-rimente ins Gericht: »In Kranichstein habe ich ein-mal eine mir vorliegende, der Absicht nach alle Para-meter vereinheitlichende Komposition des Mangelsan musiksprachlicher Bestimmtheit geziehen mitder Frage: ›Wo ist hier Vorder- und Nachsatz?‹ Daswäre zu berichtigen« (GS 16: 504). Im Anschluss andiese Selbstkritik sowie eine Revision des komposi-torischen Subjekts einerseits und des musikalischen

Materials andererseits fordert Adorno das, was er indem Vortrag erstmals musique informelle nennt. Erentwirft die Zukunft einer Überbietung der Avant-garde durch eine präziser bestimmte Praxis radikalerFreiheit. Er strebt die Unabhängigkeit des Kompo-nisten von überlieferten Formen an, die autonomeGestaltung aller musikalischen Parameter. Er fordertauf dem höchsten Niveau aktueller Materialbeherr-schung eine Kompositionsweise, die in der Eigenbe-wegung des ästhetischen Vollzugs sich konstituiert,eine ganz und gar autonome Kunst. Adorno warnt in

Kranichstein nachdrücklich: »In der ewigen Wieder-kehr des auf Schemata gerichteten Ordnungsbedürf-nisses vermag ich keine Bürgschaft von dessenWahrheit zu sehen, eher ein Symptom perennieren-der Schwäche« (GS 16: 513). Adornos Programma-tik beinhaltet – wie in seiner dialektischen Philoso-phie – die Forderung, kompositorisch Differenzenzu gestalten, beispielsweise die Differenz von Kom-position und Ausdruck, von Wiederholung und Va-riation, um durch die Extreme hindurch ihre Ver-mittlung zu erreichen.

Gewiss, die wissenschaftliche Sprache von Adornohat etwas Elitäres, der Ton seiner Texte etwas Apo-

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8 I. Leben

diktisches, und doch war ihm die professionelle Be-rufskrankheit der Arroganz oder gar des Zynismusganz fremd. Er war ein höchst empfindlicher Mann,der jede falsche Unmittelbarkeit in der Beziehungzwischen Freunden scheute und seiner Scheu durch

eine Mischung von Distanziertheit und konventio-neller Höflichkeit Herr zu werden versuchte. SelbstHans Magnus Enzensberger gegenüber, der in derZeit um 1960 im Frankfurter Westend in unmittel-barer Nachbarschaft zu Adorno lebte und mit demer freundschaftlichen Umgang pflegte, legte der Pro-fessor eine »chinesische Höflichkeit und Diskretion«an den Tag. »Die Annäherung an ihn war gar nichteinfach, denn er hatte so viele Schutzhüllen um sichherum, und deshalb hatte der Umgang mit ihm im-mer etwas Zeremonielles […]. Wir haben uns oft ge-

sehen, aber immer wurde diese Distanz gewahrt[…]. Adorno gegenüber war man immer ein biss-chen der Dummkopf, denn er war ja von einer mons-trösen Gescheitheit« (Kluge/Enzensberger 1999: 2).Zu Recht betont Enzensberger, dass die Hüllen, mitdenen sich Adorno umgeben hat, diejenigen waren,die der Außenseiter zum eigenen Schutz bedarf, magseine öffentliche Resonanz als Intellektueller noch sogroß sein. Dies demonstriert eine Begebenheit, überdie der Dirigent Georg Solti berichtet hat. Mit ihmwar Adorno befreundet und er hat ihn ermuntert,

sich während seines Frankfurter Dirigats der Werke von Gustav Mahler und Alban Berg anzunehmen.Aus Anlass der Premiere von Alban Bergs Oper Lulu im Frankfurter Opernhaus hatte Solti Adorno gebe-ten, zu Beginn eine kleine Einführung in das Werk seines ehemaligen Wiener Lehrers zu geben: »Ersprach in professoraler Manier fünfzehn oder zwan-zig Minuten lang. Ich befand mich bereits im Or-chestergraben, die Sänger waren auf der Bühne unddas Publikum wurde immer unruhiger. Endlich, alsdie Leute schon ›Aufhören!‹ schrien, brach er seinen

Vortrag abrupt ab. Als er später die Bühne verließ,hatte er Tränen in den Augen« (Solti 1997: 105).

Der Erscheinung nach Bürger, war Adorno derschärfste Kritiker seiner Klasse: »Was immer amBürgerlichen einmal gut und anständig war […], ist verdorben bis ins Innerste« (GS 4: 37). Weil Adornoum die Hinfälligkeit der bürgerlichen Traditionwusste und er sich davon leiten ließ, dass die »Maleder Zerrüttung […] das Echtheitssiegel von Mo-derne« sind (GS 7: 41), galt sein Interesse jenen Lite-raten, die den Zerfall der bürgerlichen Welt inner-

 vierten. Die unbürgerlichen Eigenschaften, dieAdorno in seinem Portrait des von ihm geschätzten

Bildungsbürgers Thomas Mann zu entdecken glaubt,sind teilweise versteckte Selbstzuschreibungen: DieAntinomie zwischen Bürgerexistenz und Künstler-tum, die Diskontinuität der Lebensführung, die mitEigensinn gepaarte Bereitschaft zur Einsamkeit.

Auch »die Sehnsucht nach Applaus« galt für Adornoselbst, der auch über sich hätte sagen können: »DemAffekt der Freude und des Schmerzes war er fastschutzlos ausgeliefert, ungepanzert« (GS 11: 342).Adorno, der keine Konzilianz gegenüber dem Beste-henden kannte, galt innerhalb der akademischenSphäre als alles andere als ein Professor unter Profes-soren. Er war in der Tat, wie Jürgen Habermas sagte,ein »Schriftsteller unter Beamten« (Habermas 1998:160). Die Philosophen tun ihn als Soziologen ab, denSoziologen ist er zu sehr Philosoph, dem wissen-

schaftlichen Betrieb gilt er als Literat oder als Künst-ler; und den Literaten und Künstlern ist er zu ab-strakt, zu theoretisch.

Seit seiner Antrittsvorlesung von 1931 als Privat-dozent für Philosophie stand bei Adorno die Kritik als Erkenntnisvorgang im Zentrum dessen, was erThomas Mann gegenüber als »das Gleiche in diver-genten Bereichen« bezeichnet hat: das Infragestellenim Denken, welches sich an den Widersprüchen desBestehenden abarbeitet, ohne sie in der Theorie(mithilfe der Logik) aufheben zu können. Insofern

hat er Wahrheit nicht als etwas Absolutes oder Defi-nitives gefasst. Vielmehr sollte sie sich, »zerbrechlich vermöge ihres zeitlichen Gehalts« (GS 6: 45), in je-nen Reflexionsprozessen manifestieren, die darauf ausgerichtet sind, sich dem Ziel der Wahrheit anzu-nähern. Für Adorno besteht das Unbedingtheitsmo-ment aller zeitlich bedingten Wahrheit darin, dasssie als einmal gedachte in der Welt ist. In einer derletzten Veröffentlichungen Adornos vor seinem frü-hen Tod im Sommer 1969 brach er nicht nur eineLanze für das Denken als einen offenen und wider-

ständigen Prozess, sondern er gab zu erkennen, wasseine persönlichen Motive waren, auf der intellektu-ellen Praxis der Kritik zu insistieren und in ihr einPotential des Besseren zu sehen. Was über das be-reits Gedachte hinausgeht, so Adorno, hat dieChance, im Fortgang der Geschichte aufgegriffenund weiterentwickelt zu werden: »Dieses Vertrauenbegleitet noch den einsamsten und ohnmächtigstenGedanken« (GS 10/2: 798).

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9Versuch eines Portraits

Tod

Den Zustand, in dem sich Adorno im Frühjahr 1969befand, bezeichnet er selbst als desolat. Ohnehinschon extrem erschöpft, tat er mehr, als er verkraften

konnte. Zu der üblichen »totalen Überarbeitung«kam die nicht enden wollende Qual sich im Kreisedrehender Diskussionen und Auseinandersetzungenmit den radikalen Studenten, die sich ihn, die Kory-phäe der Kritischen Theorie, nicht zuletzt aus Grün-den der Medienwirksamkeit ausgesucht hatten.Adorno sprach davon, dass er Opfer von Aggressio-nen geworden sei, des, wie er sagte, »kollektiven Irr-sinns«. »Hier in Frankfurt«, so führte Adorno in ei-nem Brief an Marcuse vom 19.6.1969 aus, »wird dasWort Ordinarius […] gebraucht, um Menschen abzu-

tun, oder, wie sie es schön nennen ›fertig zu machen‹,wie seinerzeit von den Nazis das Wort Jude. […] DieGefahr des Umschlagens der Studentenbewegung inFaschismus nehme ich viel schwerer als Du« (Tiede-mann 2000: 111 f.). Adorno musste nicht nur Feind-seligkeit und offenen Hass über sich ergehen lassen,wobei er überzeugt war, dass diese sich gegen ihn alsTheoretiker richteten. Vielmehr verfolgte ihn auchder Alptraum, dass die politische Gesamtsituation von heute auf morgen in Totalitarismus umschlagenkönne. In seinem letzten Brief an Marcuse von 26. Juli

sprach er von sich selbst als »einem schwer rampo-nierten Teddie« (Tiedemann 2000: 115).

In dieser desolaten Verfassung fuhren Adornound seine Frau in die Schweiz, wo er bei ausgedehn-ten Spaziergängen stets den Ausgleich zu findenpflegte, dessen er mehr denn je bedurfte. MehrereTage nach der Ankunft im bekannten, 1600 Meterhoch gelegenen Schweizer Urlaubsort im KantonWallis am Fuße des Matterhorns unternahm Adornoam 5. August mit Gretel, trotz eindringlicher Ermah-nungen seines Hausarztes und Herzspezialisten

Doktor Sprado, alle körperlichen Anstrengungen zu vermeiden, einen Ausflug auf einen 3000 Meter hochgelegenen Gipfel, der mit der Seilbahn erreichbarwar. Auf der Höhe setzten erstmals Herzbeschwer-den ein, die ihn zur Rückkehr in den Ort zwangen.Noch am selben Tag fuhren sie dann in die talwärtsgelegene, etwa 30 Kilometer entfernte Stadt Visp.Adornos Bergstiefel hatten ein Loch, das er reparie-ren lassen wollte. Im Schuhladen stellten sich erneutHerzbeschwerden ein. Aus diesem Grund wurde erzur Sicherheit in die Klinik der Kleinstadt gebracht.

Gretel Adorno fuhr gegen Abend zurück ins Hotel.Als sie am nächsten Tag, am 6. August, ihren Mann

im Krankenhaus St. Maria mit Lesestoff versorgenwollte, musste sie miterleben, wie er am Vormittaggegen 11.20 Uhr plötzlich einem Herzinfarkt erlag.Er wäre am 11. September 66 Jahre alt geworden.

Die Nachricht von Adornos Tod wurde noch am

selben Tag von den wichtigsten Medien verbreitet.Rundfunk und Fernsehen würdigten Leben undWerk des Frankfurter Gelehrten. Die Todesanzeigein der Frankfurter Allgemeinen Zeitung  war so de-zent, dass, wie es Adorno selbst einmal beim Leseneiner Todesanzeige bemerkt hatte, der »Geist einerkommunikativen Sprache, die, indem sie alle Dis-tanzen herabsetzt, auch die Ehrfurcht vorm Tod ver-letzt« (GS 20/2: 571), vermieden wurde.

Eine Woche nach dem Tod, am 13. August, wurdeAdorno unter Anteilnahme von 2000 Trauergästen

im Grab seiner Familie auf dem Frankfurter Haupt-friedhof beigesetzt. Die Beerdigung fand ohne religi-öses Zeremoniell statt. Horkheimer sprach sehr per-sönlich über die jahrzehntelange Zusammenarbeit:»Die Werke Adornos, deren Tiefe und historischeAktualität seiner kaum zu fassenden unermüdlichenHingabe, seiner einzigartigen schriftstellerischenKraft entsprangen, zeugen für die Kritische Theorie[…], wie intensiv auch immer er um Reformen sichbemühte, er hat abgelehnt, den Kollektiven, die auf seine Theorie sich beriefen, anstatt sie reflektierend

auf die eigenen Aktionen anzuwenden, unbedingtsich anzuschließen. Seine Haltung war beides, pro-duktiv und antikonformistisch zugleich. […] Heutetrauern wir und viele denkende Menschen der Weltum einen der größten Geister dieser Zeit des Über-gangs« (Horkheimer 1985: 289 f.).

Literatur 

Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskursder Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M.

Habermas, Jürgen (1998): Philosophisch-politische Pro- file. Frankfurt a. M.Henius, Carla (1993): Schnebel, Nono, Schönberg oder 

Die wirkliche und erdachte Musik. Essays und Auto-biograpisches. Hamburg.

Horkheimer, Max (1985): Vorträge und Aufzeichnungen1949–1973 (Gesammelte Schriften 7). Hrsg. v. Gunze-lin Schmid Noerr. Frankfurt a. M.

Jäger, Lorenz (2003): Adorno. Eine politische Biographie.München.

Kluge, Alexander/Enzensberger, Hans Magnus (1999):»Spaziergang durch die Zeit«. In: Du. H. 699.

Müller-Doohm, Stefan (1996): Die Soziologie Theodor W. Adornos. Frankfurt a. M./New York.

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10 I. Leben

Müller-Doohm, Stefan (2003): Adorno. Eine Biographie. Frankfurt a. M.

Solti, Georg (1997): Solti über Solti. München.Tiedemann, Rolf (2000): Frankfurter Adorno Blätter 6.

München.Wellmer, Albrecht (1993): Endspiele. Die unversöhnliche

 Moderne. Essays und Vorträge. Frankfurt a. M.

Im Exil

Von Sven Kramer 

Biographisches

Als Hitler im Januar 1933 die Macht übernahm, warAdorno neunundzwanzig Jahre alt. Im Oktober1949, mit sechsundvierzig, kehrte er aus dem Exilnach Deutschland zurück. Für ihn waren es persön-lich und intellektuell prägende Jahre: Zentrale Be-standteile von Adornos Werk sind ohne die Erfah-rungen und Erkenntnisse aus dieser Zeit nicht denk-bar. Anders als viele seiner jüdischen Freunde, etwaWalter Benjamin und Siegfried Kracauer, die 1933sofort das Land verließen, blieb Adorno, den die

Nürnberger Gesetze von 1935 zum Halbjuden stem-pelten, zunächst noch in Frankfurt. Ausharrend undauf ein schnelles Ende der Hitlerdiktatur hoffend,sah er seine Möglichkeiten auf eine weitere Beschäf-tigung an der Universität schwinden, denn 1933wurde ihm umgehend die Lehrbefugnis entzogen.Auch der Jüdische Kulturbund lehnte Adornos Mit-arbeit übrigens ab. Um dem »Zwielicht« (Jäger 2003:112) dieser Phase zu entgehen, orientierte er sich insAusland. Der in Deutschland bereits Habilitierteschrieb sich 1934 für ein Promotionsprojekt in Ox-

ford ein, um dort forschen und eine Zeitlang über-wintern zu können.

Adorno begriff diesen Aufenthalt noch kaum alsExil, sondern als ein »Moratorium« (Söllner 2006:225). Erst langsam wurde ihm bewusst, dass sich dieNationalsozialisten für längere Zeit an der Machthalten würden. Noch bis 1937 kam er regelmäßignach Deutschland zurück, um dort die Eltern zu be-suchen und mit seiner Verlobten, Gretel Karplus, inden Urlaub zu fahren. Im April 1937 schrieb er anBenjamin, er habe sich dort »gut erholt« (BW 1:

229). In diesem Jahr heirateten Adorno und Karplusin London. Während einige Repräsentanten des Ins-

tituts für Sozialforschung, unter ihnen Max Hork-heimer, schon in den USA lebten, standen fürAdorno weiterhin seine Kontakte in Europa im Vor-dergrund – allen voran die Freundschaft und inten-sive Arbeitsbeziehung zu Benjamin. Adorno sah ihn

so oft wie möglich und diskutierte mit ihm sowohlüber seine eigenen Versuche, als auch über dieSchriften und Vorhaben Benjamins. Ihr außeror-dentlicher Briefwechsel ist eines der großen Zeug-nisse des Exils. Er dokumentiert die Intensität desRingens zweier herausragender Intellektueller umeine dem 20. Jahrhundert angemessene Philosophie.Ansonsten widmete sich Adorno in dieser Zeit sei-nem Dissertationsprojekt über Edmund Husserl, dasspäter unter dem Titel Zur Metakritik der Erkennt-nistheorie erschien, sowie musikalischen Studien,

etwa über Wagner und den Jazz.Mit Horkheimer und anderen Mitgliedern des In-stituts für Sozialforschung stand er zwar in steterVerbindung, eine entscheidende Annäherung kam jedoch erst ab 1936 zustande. Sie führte dazu, dass erim Februar 1938 nach New York übersiedelte, umam Institute of Social Research mitzuarbeiten. Da-mit begannen elf Jahre in den USA, die ihn nachhal-tig beeinflussten. Einerseits war er an HorkheimersInstitut tätig, andererseits arbeitete er zunächst auchan dem von Paul Lazarsfeld geleiteten Princetoner

Radio Research Project mit, wo er erste Erfahrungenmit den Methoden der empirischen Sozialforschungsammelte. Dort sollte er seine musikwissenschaftli-chen Analysen »operationalisieren, um sie […] einerÜberprüfung im empirischen Forschungsprozesszugänglich zu machen« (Müller-Doohm 2003: 376).Divergierende Auffassungen über die Umsetzungdieser Aufgabe führten dazu, dass das Teilprojekt, zudem Adorno beitrug, nicht verlängert wurde, so dassdie Zusammenarbeit 1941 endete.

Unterdessen hatte sich zwischen Adorno und

Horkheimer, der in Kalifornien lebte, in menschli-cher und theoretischer Hinsicht eine enge Verbin-dung ergeben. Adorno zog im November 1941 nachLos Angeles um und arbeitete nun vollständig fürdas Institut. Aus der Arbeitsgemeinschaft mit Hork-heimer ging die Dialektik der Aufklärung hervor, die1944 in einer ersten Fassung vorlag, aber erst 1947publiziert wurde. Adorno schrieb später, dass Hork-heimers und seine eigenen »philosophischen undsoziologischen Erwägungen sich längst so sehr inte-griert hatten, dass es uns beiden nicht möglich wäre

anzugeben, was vom einen stammt und was vom an-deren« (GS 10/2: 724). Außerhalb der Zusammenar-

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11Im Exil

beit mit Horkheimer verfasste Adorno in diesen Jah-ren die Philosophie der neuen Musik und die Minima Moralia. In Kollaboration mit dem KomponistenHanns Eisler erarbeitete er eine Theorie der Musik im Film, die später unter dem Titel Komposition für 

den Film erschien. Ganz in der Nähe des EhepaarsAdorno wohnte Thomas Mann, der an seinem Musi-kerroman Doktor Faustus schrieb und den Adornohierzu in musikalischen Fragen beriet. Wie viele an-dere Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschungnahm auch Adorno dankbar die amerikanischeStaatsbürgerschaft an.

Dem Werben der Universität Frankfurt folgend,entschied er sich im Oktober 1949 für die Remigra-tion nach Deutschland, nachdem Horkheimer dieLage dort bereits sondiert hatte. Als Begründung gab

er an: »Der Entschluss zur Rückkehr nach Deutsch-land war kaum einfach vom subjektiven Bedürfnis, vom Heimweh, motiviert, so wenig ich es verleugne.Auch ein Objektives machte sich geltend. Das ist dieSprache« (GS 10/2: 699). Für Adorno war die Wahl- verwandtschaft der deutschen Sprache zur Philoso-phie ein entscheidender Faktor für die Rückkehr. Inder autobiographisch motivierten Aphorismen-sammlung Minima Moralia heißt es: »Jeder Intellek-tuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist be-schädigt […]. Er lebt in einer Umwelt, die ihm un-

 verständlich bleiben muss, auch wenn er sich in denGewerkschaftsorganisationen oder dem Autover-kehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in derIrre. […] Enteignet ist seine Sprache und abgegrabendie geschichtliche Dimension, aus der seine Erkennt-nis die Kräfte zog« (GS 4: 35). Der erste Teil des Zi-tats belegt, in welch starkem Maße in Adornos Tex-ten aus Los Angeles das Thema der Heimatlosigkeitaufgerufen wird, so dass Nico Israel von einer »rhe-toric of displacement« (Israel 2000: 97) sprechenkann. Der zweite Teil kommt auf die Sprache zurück.

Weil die sprachliche Darstellung in Adornos Theorieeinen zentralen Stellenwert einnimmt, suchte derPhilosoph trotz der Verfolgung, die er erlitt, und denMalen, die die Emigration geschlagen hatte, den er-neuten Kontakt zum deutschen Sprachraum.

Massenkultur und Kulturindustrie

Keineswegs gehen alle Erfahrungen Adornos mit derMassenkultur auf das amerikanische Exil zurück.

Die Massenmedien lernte er schon in der WeimarerRepublik kennen. Auch die Grundzüge seiner Aus-

einandersetzung mit dem Jazz entwickelte er noch inEuropa. Der Aufsatz  Abschied vom Jazz  erschien1933, Über Jazz 1936. Seine ablehnende Haltung ge-genüber dieser Musikrichtung korrigierte er wäh-rend seiner langen Jahre in den USA keineswegs.

Weiterhin sah er in ihm eine Inszenierung von Dif-ferenz innerhalb der warenförmig organisierten, for-mierten Gesellschaft. Der Jazz stelle die Synkope aus,während »die zugrunde liegende Zählzeit aufsstrengste innegehalten« (GS 17: 74) werde. Für denJazzkonsumenten habe dies den Effekt, dass er sichals Nonkonformisten oder sogar als Oppositionellenempfinden könne, während die Andersartigkeit, vonder er glaube, es sei eine radikale, doch nur eine in-nerhalb der Warenwelt zugelassene Ausdifferenzie-rung sei: Das Jazzsubjekt »will der […] Mehrheit, sei

es aus Protest oder Ungeschick oder beidem in eins,sich nicht einfügen – […] bis die Musik […] beweist,dass es von Anbeginn darin war; dass es, selber einStück dieser Gesellschaft, eigentlich aus ihr gar nichtherausfallen kann« (GS 17: 96 f.): »Mit dem Jazzstürzt ohnmächtige Subjektivität aus der Warenweltin die Warenwelt; das System lässt keinen Ausweg«(GS 17: 83).

Dass Adorno seine Kritik des Jazz in den USAnicht modifizierte und dessen produktive Funktio-nen – etwa die sozial-emanzipatorische – nicht er-

kannte, zeigt auch an, dass sein Interesse an den kul-turellen, gesellschaftlichen und politischen Verhält-nissen des Gastlandes, wie Claus Offe schreibt,»begrenzt und selektiv« (Offe 2004: 92) war. Offeweist darauf hin, dass von Adorno keine Kritik »anÖkonomie, Verteilungsverhältnissen, militärischenStrategien und Ereignissen (Hiroshima und Naga-saki kommen nur ganz am Rande vor) und Regie-rungspolitik (z. B. McCarthyism) der USA« (Offe2004: 98) überliefert sei. An Kulturkritik gegenüberden USA mangelt es dagegen nicht. In ihr schlägt

sich einerseits der »Schock« (GS 10/2: 702) des Eu-ropäers über einige der kulturellen Gepflogenheitendes Gastlandes nieder, andererseits waren gerade dieUSA ein besonders lohnendes Ziel für Kritik, weilsie die weltweit »fortgeschrittenste Beobachtungspo-sition« (GS 10/2: 736) für Modernisierungsphäno-mene boten. Die Massenkultur nahm hier einezentrale Stellung ein. Adorno wurde mit ihr auf unterschiedliche Art konfrontiert. So erforschte erberuflich das Massenmedium Rundfunk und arbei-tete über Filmmusik, privat lernte er den Alltag in

New York City und später die Verquickung vonKunst und Kommerz in der Filmbranche Holly-