Handlungsmöglichkeiten und pädagogische Praxis · Lebenslauf (Ahnert, Sprangler 2014) •...

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Kinder und Jugendliche mit Bindungsstörungen Handlungsmöglichkeiten und pädagogische Praxis Priv.-Doz. Dr. phil. habil. Thomas Müller 2019

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Kinder und Jugendliche mit Bindungsstörungen

Handlungsmöglichkeiten und pädagogische Praxis

Priv.-Doz. Dr. phil. habil. Thomas Müller2019

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Menschen zwischen und Bindung und Verstrickung

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Klassifikationen

Sicher gebundene Kinder (secure):

• Deutliches Bindungsverhalten nach erster und zweiter Trennung

• Rufen nach Mutter, suchen sie, weinen, sind deutlich gestresst• Reagieren auf die Wiederkehr mit Freude, wollen getröstet

werden, suchen Körperkontakt• Beruhigen sich aber nach kurzer Zeit und vertiefen sich wieder

ins Spielen

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Klassifikationen

Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (avoidant):

• Reagieren auf Trennung mit wenig Protest• Spielen in der Regel weiter• Reagieren auf Rückkehr eher mit Ablehnung, wollen nicht

getröstet oder auf den Arm genommen werden• In der Regel kein intensiver Körperkontakt

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Klassifikationen

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder (ambivalent):

• Zeigen von allen Kindern nach Trennungen den größten Stress, weinen heftig

• Können oft kaum beruhigt werden, brauchen lange, bis sie wieder emotional stabil sind

• Finden nicht ohne weiteres in Spiel zurück• Wollen Körperkontakt, in dem sie einerseits Nähe ausdrücken,

andererseits sich oft aggressiv gegen die Mutter verhalten

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Klassifikationen

Desorganisierte Verhaltensmuster:

• Kinder, die keiner Kategorie zugeordnet werden können• Desorganisiert wird als Zusatzklassifikation bei den drei

beschriebenen Bindungsklassifikationen vergeben• Desorganisationsmuster wird sehr häufig bei Kindern

gefunden, die traumatische Erfahrungen gemacht haben wie Trennung, Verlust, Misshandlung, Missbrauch

• daher oft bei Kindern in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen zu finden

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Bindungsstile

Bindung nach Bowlby / Ainsworth:• Unsicher-vermeidend (A)• Sicher gebunden (B)• Unsicher- ambivalent (C)_______________________________________Erweiterung nach Crittenden (1988):• AD unsicher-vermeidend desorganisiert• CD unsicher-ambivalent desorganisiert

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Bindungstheorie und PbV

• Frühe Bindungserfahrungen: wichtige Implikationen für die emotional-soziale Entwicklung im weiteren Lebenslauf (Ahnert, Sprangler 2014)

• Unsichere, desorganisierte Bindungsstile im Kinder-und Jugendalter: erhöhtes Risiko externalisierender o. internalisierender Verhaltensprobleme (Bodemann2016)

• Kinder mit ADHS-Diagnose: hoher Anteil an desorganisierter Bindung: 33,3% (Franke/Kißgen 2018)

• Kinder mit esFB und FB i. L: Desorganisation bis zu 85% (Julius, Beetz & Ragnarsson 2017)

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Bindungsstörungen

• Typ D weist daraufhin, dass Kinder in Stresssituationen von Trennung und Wiedervereinigung kein adäquates Verhaltensmuster zur Verfügung hatten

• Typ D findet sich vor allem in Gruppen mit kindlichem Risiko wie Frühgeburt oder traumatische Erfahrungen, aber auch bei Kindern von Eltern, die selbst Teil einer Risikogruppe sind

• Arbeiten von Crittenden (1988; 1995) führten zu einer Erweiterung der bisherigen Bindungsmuster: Mischung aus unsicher-vermeidenden und ambivalentem Bindungsverhalten sowie ein Muster mit Anteilen von Vermeidung und Desorganisation bei Hochrisikokindern

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Dynamisches Lerndreieck nach Geddes 2007

Lerndreieck bei sicher gebundenen Schülern

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Lerndreieck bei unsicher-vermeidend-desorganisiert gebundenen Schülern

Schule als unsichere Basis

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Lernprofil unsicher-vermeidend –desorganisiert gebundener Schüler

• Keine äußeren Anzeichen von Angst oder Verunsicherung• Verleugnung von Hilfebedarf durch den Lehrer• Emotionale Nähe des Lehrers wird nur schwer ertragen• Aggressionen, die durch den Lehrer gestellte Aufgaben

ausgelöst werden, wird auf diesen oder andere gerichtet• Lernaufgabe fungiert als emotionale Sicherheitszone

zwischen Schüler und Lehrer• Schulleistungen unterhalb des Fähigkeitsniveaus• Eingeschränkte Verwendung von Sprache zur

Kommunikation• Eingeschränkte Nutzung kreativen Denkens

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Beziehungsorientierte Intervention bei unsicher-vermeidend-desorganisiert gebundenen Schülern

• Aufbau kompetenzfördernder Sachbeziehungen• Aufgaben, die überschaubar sind, mit denen

eigenständig begonnen werden kann• Aufgaben mit Selbstkontrolle, Kontrolle über

Entscheidungen: z.B. Wochenplanarbeit• Vermeidung von zu viel Nähe und Körperkontakt• Ggfs. Einzelarbeitsplatz, Rückzugsmöglichkeiten

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Lerndreieck unsicher-ambivalent-desorganisiert gebundener Schüler

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Lernprofil unsicher-ambivalent –desorganisiert gebundener Schüler

• Hohes Angst- und Unsicherheitsniveau• Starkes Bedürfnis nach der Aufmerksamkeit des Lehrers• Offensichtliche Abhängigkeit vom Lehrer• Evtl. Ausdruck von Feindseligkeit gegenüber dem Lehrer• Schwierigkeiten mit der selbstständigen

Aufgabenbewältigung• Keine Persistenz in der Beschäftigung mit der Lernaufgabe

aus Angst die Aufmerksamkeit des Lehrers zu verlieren• Schulleistungen unterhalb des Fähigkeitsniveaus• Gut entwickelte Sprachfähigkeiten• Schwache Mathematikleistungen

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Beziehungsorientierte Intervention bei unsicher-ambivalent-desorganisiert gebundenen Schülern

• In Sekundarstufe ggfs. Mentor wg. fehlendem Klassenlehrerprinzip

• Fernbleiben von Schule wird häufig durch Eltern unterstützt, daher immer mit einbeziehen

• geringe Klassengröße und ein hohes Maß an individueller Unterstützung erleichtern die Trennung und die Entwicklung einer autonomen Identität

• Anfänge, Trennungen und Enden gut planen: Übergänge• Ankündigung von Veränderungen oder Wechsel nimmt

Trennungsangst (Sekundarstufe)• schnelles Reagieren auf häufiges Fernbleiben: Schule wird

als verlässlich wahrgenommen

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Beziehungsorientierte Intervention bei unsicher-ambivalent desorganisiert gebundenen Schülern

• Differenzierte Aufgaben, zerlegt in kleine Schritte können und Gelegenheit zur Rollenübernahme: Erfahrung, dass zwei unabhängige Personen gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten

• Brettspiele erfordern Trennung der Identitäten: Möglichkeit, Feindseligkeit und Ärger gegenüber Erwachsenen in einer sozial anerkannten Form reguliert auszudrücken

• Angst vor der Einzelarbeit kann reduziert werden, indem Aufgabe zeitlich begrenzt (Uhr) wird

• spez. Geschichten einbinden, um Themen Trennung, Identität und Unabhängigkeit voranzubringen

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Lerndreieck desorientierter Schüler

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Lernprofil desorientierter Schüler• Extreme Angst: Ausdruck in kontrollierendem

Verhalten• Größte Schwierigkeiten, die Autorität des Lehrers

anzuerkennen, evtl. Respekt vor SL• Unfähigkeit, den Anweisungen des Lehrers zu folgen• Lernaufgabe löst starke Ängste vor dem Versagen aus,

daher Ablehnung und Zerstörung• Schwierigkeiten zuzugeben, etwas nicht zu wissen• S wirkt leicht altklug und behauptet, alles zu können• Mangelnde Kreativität und Phantasie• Hohe Wahrscheinlichkeit für Schulversagen

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Beziehungsorientierte Intervention bei desorganisiert gebundenen Schülern

• Bedürfnis nach körperlicher Sicherheit ist wichtig, liebevolle Beziehung alleine reichen nicht aus (Schule?)

• Emotionale Sicherheit durch professionelles Netzwerk (begleitet durch Supervision)

• Lernaufgaben müssen eine überschaubare, verlässliche Struktur haben (z.B. serielle Aufgaben, aber auch Geschichten mit spez. Gehalten)

• Strategien für den Notfall müssen L wie S kennen• besser Kontrakte statt Beziehungsangebote?

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Komplementäres Lehrerverhalten in der Praxis

• Breite empirische Datenbasis: neue Bezugspersonen reagieren häufig komplementär auf das Beziehungsverhalten der Kinder – Stabilisierung des Bindungsmusters (Julius 2017)

• Langer 2018: verinnerlichte Beziehungserfahrungen mit Eltern nicht deckungsgleich im kognitiven Abbild der Beziehung der Lehrkraft

• Signifikanter Zusammenhang zw. Bindungserfahrungen der Kinder und nicht feinfühligen, komplementären Reaktionen der Lehrkräfte (Langer 2018)

• Gleichbleibende Interaktionserfahrungen: Bindungsmuster werden zementiert und Entwicklungsrisiko steigt: Stresslevel ist gesundheitsgefährdend (Langer 2018)

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Einflüsse?

• Notwendigkeit bindungskorrigierender Erfahrungen (Julius 2017), Care ®, Feinfühlig unterrichten

• Einfluss von Oxcytocin: Freisetzung in vertrauten Mensch-Tier-Beziehungen, Bsp. EmpathietrainingMeerschweinchen: signifikant seltener aggressiv und signifikant häufiger prosozial gg Peers und LK

• Primingstrategie: Bindungsverhaltenssystem wird offener, um neue, sichere Bindungserfahrungen zu integrieren