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94 Johannes G. Schmidt Health Maintenance Organization als Entwicklungsmodell für eine modeme Medizin?* Die folgenden Ausführungen zu diesem Thema beruhen auf persön- lichen Erfahrungen mit der ersten Health Maintenance Organization (i.f.: HMO) in der Schweiz. Der Autor war an deren Aufbauphase und in der HMO-Praxis kurze Zeit als Arzt mit beteiligt. Dieses Projekt wurde von Seiten der Krankenkassen vorbereitet und finanziert; die Zusammenarbeit mit der ersten Ärztegruppe scheiterte schließlich an der allzu bürokratischen Projektierung durch die Geldgeber. Ich möchte zuerst das Modell der HMO darstellen und dann auf Ent- wicklungsmöglichkeiten der Gesundheitsversorgung in einer HMO ein- gehen, bevor ich einige Worte über den gegenwärtigen Stand der Ent- wicklung in der Schweiz verliere. Grundzüge und mögliche Dynamik der HMO In einer HMO besteht ein 'besonderes Honorierungs-Leistungs-Verhält- nis zwischen Ärzten und der Versicherung, sowie eine Einschränkung der Arztwahl auf die HMO-Vertragsärzte. Die ärztliche Leistung ist als die adäquate medizinische Versorgung einer umschriebenen Zahl Ver- sichertem definiert und das Honorar als entsprechende Pauschale, wozu zusätzlich eine Beteiligung der Ärzte am finanziellen Erfolg des Versicherungsuntemehmens kommen kann. Was sind die Konsequen- zen? - Ärzte können an einzelnen Leistungen nichts verdienen. - Die Ärzte sind an einer zurückhaltenderen Indikationsstellung von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen interessiert. - Auch neue Leistungen, welche heute von den Kassen nicht honoriert werden, beispielsweise Streßmanagement-Kurse, können bei erfolg- versprechender Indikation in der HMO ohne weiteres erbracht wer- den. Dazu sind keine Honorarverhandlungen nötig, eine büro- kratisch fixierte Gebührenordnung fällt weg. Schematisch sieht die Organisationsform der HMO etwa folgender- maßen aus: * Vortrag auf dem Symposium »Reform der kassenärztlichen Versorgung. der Ärzte- kammer Berlin, 14. Oktober 1992. JAHRBUCH FÜR KRITISCHE MEDIZIN 20

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Health Maintenance Organization alsEntwicklungsmodell für eine modeme Medizin?*

Die folgenden Ausführungen zu diesem Thema beruhen auf persön-lichen Erfahrungen mit der ersten Health Maintenance Organization(i.f.: HMO) in der Schweiz. Der Autor war an deren Aufbauphase undin der HMO-Praxis kurze Zeit als Arzt mit beteiligt. Dieses Projektwurde von Seiten der Krankenkassen vorbereitet und finanziert; dieZusammenarbeit mit der ersten Ärztegruppe scheiterte schließlich ander allzu bürokratischen Projektierung durch die Geldgeber.

Ich möchte zuerst das Modell der HMO darstellen und dann auf Ent-wicklungsmöglichkeiten der Gesundheitsversorgung in einer HMO ein-gehen, bevor ich einige Worte über den gegenwärtigen Stand der Ent-wicklung in der Schweiz verliere.

Grundzüge und mögliche Dynamik der HMO

In einer HMO besteht ein 'besonderes Honorierungs-Leistungs-Verhält-nis zwischen Ärzten und der Versicherung, sowie eine Einschränkungder Arztwahl auf die HMO-Vertragsärzte. Die ärztliche Leistung ist alsdie adäquate medizinische Versorgung einer umschriebenen Zahl Ver-sichertem definiert und das Honorar als entsprechende Pauschale,wozu zusätzlich eine Beteiligung der Ärzte am finanziellen Erfolg desVersicherungsuntemehmens kommen kann. Was sind die Konsequen-zen?- Ärzte können an einzelnen Leistungen nichts verdienen.- Die Ärzte sind an einer zurückhaltenderen Indikationsstellung von

diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen interessiert.- Auch neue Leistungen, welche heute von den Kassen nicht honoriert

werden, beispielsweise Streßmanagement-Kurse, können bei erfolg-versprechender Indikation in der HMO ohne weiteres erbracht wer-den. Dazu sind keine Honorarverhandlungen nötig, eine büro-kratisch fixierte Gebührenordnung fällt weg.

Schematisch sieht die Organisationsform der HMO etwa folgender-maßen aus:* Vortrag auf dem Symposium »Reform der kassenärztlichen Versorgung. der Ärzte-

kammer Berlin, 14. Oktober 1992.

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HMO als Entwicklungsmodelifür eine modeme Medizin?

HMO-Versicherung

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Qualität und Beliebtheit derPraxis bestimmen Mitgliederzahl

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Anband der Abbildung wird ersichtlich, daß die HMO die Chanceeines sehr kommunikativen und interaktiven Systems mit vielfiilti-gen Regel- und Rückmeldungsmechanismen bietet. Diese lassensich etwa folgendermaßen charakterisieren:- Die ökonomische Verantwortlichkeit kehrt in der HMO in die

Arzt-Patienten-Beziehung zurück. Der Arzt im Interesse einesfinanzieU prosperierenden Unternehmens und der Versicherte imInteresse niedri.~er Prämien können die Verantwortung wahrneh-men, auf eine Ubermedikalisierung zu verzichten.

- Bedarf und Notwendigkeit von Abklärungen und spezialärztlicherBetreuung werden durch die hausärztliche Erstabklärung durchden HMO-Arzt bestimmt. Die sogenannte Gatekeeper-RoUedieses Hausarztes ist von Bedeutung, damit Spezialisten gezieltund effizient eingesetzt werden, und damit auch eine gewisseManagementphilosophie von Wirksamkeit und Relevanz medizi-nischer Leistungen durchgesetzt werden kann. Schlägt der HMO-Arzt allfällige Patientenwünsche nach spezialärztlicher Abklä-rung jedoch zu stark inden Wind, riskiert er unerwünschte Aus-tritte aus »seiner- Versicherung.

- Die Themen der Übermedikalisierung und der wirtschaftlichenVerantwortlichkeit können in einem Dialog zwischen HMO-Team

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und Versicherten gesundheitserzieherisch aufgearbeitet werden.Es ist auch denkbar, daß ein Versichertenausschuß im Falle vonStreitfällen Ombudsfunktionen übernimmt. Alle Beteiligten sindin der HMO daran interessiert.

- Eine mögliche Unterversorgung mit negativen Konsequenzen fürdie Gesundheit der Versicherten ist für die HMO einerseits auf-grund möglicher Folgekosten, die der Arzt ja teilweise mitträgt,uninteressant, andererseits würde eine ruchbare Unterversorgungzum unerwünschten Austritt von Versicherten führen.

- Das medizinische Team ist daran interessiert, Schwerpunkte inDiagnostik, Behandlung und Prävention aufgrund von Wirksam-keits- und Relevanzkriterien zu setzen, und ist dabei vonKassenhonorar-Vorgaben unabhängig. Diagnostik ohne therapeu-tische Konsequenzen, Verlegenheits behandlungen bei beispiels-weise den häufigen funktionellen Syndromen sind in der HMOuninteressant. Interessant ist andererseits beispielsweise die Ent-wicklung wirksamer Strategien zur Verhinderung chronischerKrankheitskarrieren von Hypochondern.

- Die gemeinsame Sorge für die Gesundheit in einem überschau-baren System fordert familiäre Beziehungen und eine Kommuni-kation über Bewältigungsmöglichkeiten von Gesundheitsproble-men bzw. Schicksalsschlägen. Ausgereifte Bewältigungsstrategienkönnen bei vielen Gesundheitsstörungen entscheidender sein alsmedizinische Möglichkeiten. Aufgrund des Interesses der HMOan einer wirksamen Medizin tritt auch das Wissen um die Gren-zen der Medizin und um die Beschränktheit rein medizinischerBewältigung von Gesundheitsproblemen mehr in den Vorder-grund. Eine gute Gesundheitserziehung soll deshalb auch in dieseRichtung wirken und ist um so erfolgreicher, je mehr eine gegen-seitige Bewältigungshilfe existiert.

Dies entspricht nicht unbedingt der Praxis der in den USA und in derSchweiz schon existierenden HMO's, ich will damit aber aufzeigen,welche Möglichkeiten und Dynamik eine HMO ermöglicht.

Wie bereits gesagt, ist ein entscheidendes Element der HMO, daßnicht die am verbandspolitischen Verhandlungstisch ausgehandelteHonorarstruktur Maßstab für das ärztliche Handeln ist, sondernWirksamkeit und Effizienz der durchgeführten oder veranlaßtenInterventionen. Voraussetzung dazu ist eine Definition von Zielenund Schwerpunkten sowie eine praxisbegleitende Evaluation. Einefunktionierende betriebsbegleitende Evaluation gehört.Ja zu einemguten »Management« - auch im Gesundheitswesen. Arzte in der

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HMO als Entwicklungsmodellfür eine modeme Medizin? 97HMO sind also völlig frei von einem arbiträren und unausgewogenenHonorierungssystem, sind aber andererseits vermehrt auf eine gutfunktionierende Evaluation ihrer Arbeit angewiesen.

Evaluation darf jedoch nicht einfach mit der modischen Qualitäts-sicherung gleichgesetzt werden. Sogenannte Qualitätssicherungs-programme für Praxislabors mögen dies illustrieren. Die jeweiligeVerteilung der Noten gut bis ungenügend an die teilnehmendenPraxislabors zeigt nämlich einfach die Gauß'sche Normalverteilungals Ausdruck der rein zufallsbedingten Fehler, die auch bei korrekterLabortechnik auftreten. Die Variabilität der Ergebnisse ist weit mehrstochastisch bedingt als durch Manipulationsfehler der Laborantin-nen verursacht, und damit ist diese Qualitätskontrolle eine reineFiktion. Wir dürfen nicht übersehen, daß unter dem modischenSchlagwort Qualitätskontrolle schon wieder ein neuer Markt er-schlossen werden soll, welcher ohne wesentlichen Nutzen nur dieKosten treibt. Ein Beispiel einer wertvollen Evaluation wäre ande-rerseits etwa die Überprüfung des Ausmaßes der Hospitalisationenaus rein sozialen Gründen. Eine HMO könnte dann ihre Mittel flexi-bel für einen Ausbau der ambulanten pflegerischen Dienste einsetz-ten, falls ein diesbezüglicher Mangel unnötige Hospitalisationenbedingen sollte. Mit Evaluation sind solche Dinge gemeint.

HMO-Allgemeinarzt als »Gate-Keeper«: Eingeschränkte Arztwahl

Wie schon kurz gesagt wurde, funktioniert ein solches System nurmit einer Einschränkung der Arztwahl, was als unerwünscht be-trachtet werden kann. Diese Tatsache scheint nach allen Erfahrun-gen für die Patienten allerdings gar nicht so wichtig.

Amerikanische Untersuchungen zeigen, daß für die Patienten-zufriedenheit gar nicht entscheidend ist, ob die medizinische Versor-gung in einer HMO mit eingeschränkter Arztwahl oder im konven-tionellen System mit freier Arztwahl erfolgt, sondern es kommtoffenbar darauf an, wie eine HMO-Praxis oder eine konventionellePraxis arbeitet. Folgende Faktoren sind es, welche gemäß einerStudie! die Patientenzufriedenheit, unabhängig von der Art desSystems, determinieren: 1) Die Sensibilität und das Gespür fürPatientenbedürfnisse; 2) Die Pünktlichkeit, d.h. kurze Wartezeiten;3) Das prompte Durchführen und Veranlassen von notwendigenMaßnahmen; 4) Die Individualität in der Betreuung. Eine andereStudie- erwähnt 1) die Wartezeit für einen Arzttermin; 2) das Vor-handensein von Parkplätzen; 3) die Aufnahmemöglichkeit in ein

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Spital (wahrscheinlich nur für USA bedeutsam); 4) die Kontinuitätin der Betreuung als entscheidende Faktoren für die Patientenzu-friedenheit. '

Untersuchungen in der Schweiz+" zeigen, daß einerseits bis zu3/4 der Patienten von einer im heutigen System vorhandenen Aus-wahl möglichkeit nicht Gebrauch machen, weil subjektiv gesehennur der einmal gewählte Arzt in Frage kommt, andererseits, daß 1/4der Versicherten spontan, bis 3/4 der Versicherten nach einigerÜberlegung bereit sind, Abstriche in der freien Arztwahl in Kauf zunehmen, wenn sie eine akzeptable Qualität in der medizinischenVersorgung und finanzielle Vorteile erwarten können. Seit Anfang1990 zeigt der Zulauf zu den HMO-Praxen in der Schweiz dennauch, daß viele Versicherte eine solche Wahl treffen, auch wenn ihreErwartungen noch durch wenig Erfahrungswerte abgesichert sind.

Beim Beitritt zu einer HMO in einem pluralistischen Gesundheits-wesen hat der Versicherte denn auch die Wahl, ob er einem solchenSystem mit einer eingeschränkten Arztwahl angehören möchte.HMO-Versicherte haben dann die Möglichkeit, nach einer gewissenKündigungsfrist wieder in eine konventionelle Kasse zu wechseln.Es geht also nicht um einen lebenslänglichen Verlust der freien Arzt-wahl; bei allenfalls schlechten Erfahrungen mit einer HMO kanndurch Austritt die Beitrittswahl wieder korrigiert werden. Diesbedingt deshalb von vornherein, daß die Einschränkung der freienArztwahl in einer HMO einem Wettbewerb unterworfen ist.

HM0 und eine klinisch-epidemiologisch fundierte Praxisder Allgemeinmedizin

Wieso diskutieren wir überhaupt über ein neues System wie dieHMO, und wieso ist dies gerade für Ärzte, v.a. niedergelasseneÄrzte, interessant?

Heute ist es so, daß einer zunehmenden Spezialisierung und Kom-plexität der medizinischen Versorgung kein Managementkonzeptund Entscheidungsinstrumentarium gefolgt ist, welches die rationaleVerwendung der gewachsenen technischen Möglichkeiten sichernwürde, denn niemand hatte wirklich ein Interesse daran. So hat diesehr erfolgreiche wissenschaftliche Entwicklung im Bereich dermedizinischen Diagnostik gleichzeitig eine zunehmend größer wer-dende Lücke geschaffen, nämlich die häufig völlig ungeklärte Fragedes rationalen Einsatzes von Diagnostik. Man kann beobachten, daßein abnehmendes Interesse an »health maintenance« mit einem

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HMO als Entwicklungsmodell for eine moderne Medizin? 99zunehmenden Interesse an einer in ihrem Nutzen oft ungeprüftenAngebotsausweitung stattgefunden hat (und ich möchte hier hervor-heben, daß Vorsorgemedizin nicht mit Gesundheitserhaltung ver-wechselt werden darf). Von der Interessenslage her hat also einegewisse Verschiebung von »health maintenance« nach »sicknessmaintenance- oder -sickness role maintenance« stattgefunden. Sol-che Entwicklungen lassen sich dokumentieren. Schweizerische~ntersuchungen zeigen eine praktisch proportionale Zunahme derArztekonsultationen bei zunehmender Arztedichte.

Es mag sein, daß Kritik von seiten der Ökonomen und Politiker ander gegenwärtigen medizinischen Praxis einseitig und übertriebenist. Dennoch können die gegenwärtigen Probleme nicht mehr ver-leugnet werden und es droht die Gefahr, daß zunehmend Verwaltun-gen Finanzierungsregelungen treffen, welche medizinisch unsinnigsind. In der HMO würde nun das Kostenmanagement hauptsächlichin die Hand der Ärzte gegeben, daja das Budget von den beteiligtenÄrzten nach medizinischen Gesichtspunkten verwaltet werden kann.

Die HMO bietet aber auch eine neue beruflich-fachliche Heraus-forderung, weil rationale und pragmatische Bewertungsmaßstäbeund Beurteilungsparameter für die Nützlichkeit und Relevanz medi-zinischer Maßnahmen an Bedeutung gewinnen. Die heute in Mittel-europa praktisch fehlende Klinische Epidemiologie, welche dasInstrumentarium für einen rationalen Einsatz der Mittel im Gesund-heitswesen bereithält, gewinnt in einer HMO an Bedeutung.

Dazu einige beispielhafte Anmerkungen: Die klinische Medizininteressiert beispielsweise vorwiegend die Frage, ob und wie ein dia-betiseher Zuckerspiegel »normalisiert« werden kann. Die klinischeEpidemiologie hingegen fragt vielmehr, ob und wann die Normali-sierung eines Blutzuckers die diabetischen Komplikationen oder dasLeiden insgesamt beeinflussen kann. Häufig ist es eben viel ein-facher meßbar, ob beispielsweise ein Laborwert oder eine Tumor-größe beeinflußt wird. Dennoch wissen wir, daß die Blutzucker-»Kontrolle« mittels Tabletten beim nicht insulinabhängigen Diabeteszwar etwas schönere Laborwerte erzielen kann, daß dadurch ins-gesamt die Sterblichkeit jedoch eher erhöht als gesenkt wird. Imherkömmlichen Honorarsystem ist es für Ärzte jedoch wirtschaft-lich sicher interessanter, sich für regelmäßige Blutzuckerkontrollenund eine zeitsparende Medikamentenabgabe zu entschließen. In einerHMO würde das ungelöste fachliche Problem jedoch eine andereDimension bekommen. Fraglich nützliche Maßnahmen könnendann im Interesse der HMO unterbleiben; und dies ist letztlich auch

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im Interesse der Patienten. Da von der Hierarchie der Evidenz dieempirischen Langzeitdaten, welche die Behandlung mit oralen Anti-diabetika als eher schädlich ausweisen, ausschlaggebender sind alsklinisch-pathophysiologische Überlegungen, würde ein solches Vor-gehen auf einer adäquateren Beurteilungsmethodik beruhen undtrotz möglicher Einsparungen die Qualität der medizinischen Ver-sorgung eher erhöhen. Diese Beispiel mag natürlich kontroversbeurteilt werden und meine Ausführungen noch nicht der Mehrheits-auffassung entsprechen. Wenn im heutigen Versorgungssystemjedoch aufgrund der fmanziellen Anreize und der etwas einseitigenAusbildung praktisch immer »in dubio pro interventionern« prakti-ziert wird, könnte man sich auch Zurückhaltung als gute und viel-leicht sogar rationalere Maxime vorstellen. Eine HMO fordert min-destens zu solchen Fragen auf, und Versicherte sind wieder direkteran der Frage interessiert, wie sinnvoll ihre Prämiengelder ver-braucht werden. Die Ärzte verdienen nun viel besser durch einenAbbau unnötiger alter Zöpfe.

Alte Zöpfe bestehen auch beim diagnostischen Abklären. Denndie Interpretation und Aussagekraft diagnostischer Resultate ist inder Praxis eine viel problematischere Sache als vielfach angenom-men wird. Ein zu häufiges Abklären bringt unerwünschte Wirkun-gen mit sich, die von einem gewissen Punkt an den möglichenNutzen einer Abklärung übertreffen können. Das dabei entschei-dende Maß bildet der prädiktive Wert einer Untersuchung. So hataufgrund dieser Überlegungen ein typisches Ischärnie- Belastungs-KG im Check-Up beim asymptomatischen jüngeren Mann nur einepositiv prädiktive Wertigkeit von rund 5 %, d.h. mit großer Wahr-scheinlichkeit ist ein solcher Untersuchungsbefund falsch positiv.Eine solche Diagnostik ist wenig sinnvoll, weil man vor und nachder Untersuchung praktisch gleich viel weiß. Auch das Testen zumAusschluß einer Krankheit ist häufig praktisch nutzlos. So kann einesymptomfreie mittelalterliche Frau schon ohne Mammographie-befund eine Gewißheit von rund 99.5 % haben, daß sie innerhalb vonzwei bis drei Jahren keinen Brustkrebs bekommen wird. Bei einernegativen Mammographie-Untersuchung erhöht sich diese Gewiß-heit auf etwa 99,8 %. Das heute häufig geübte Durchuntersuchenzum Krankheitsausschluß läßt sich somit rational kaum nachvoll-ziehen.

Will die kassenärztIiche Versorgung bzw. die Allgemeinmedizinals fachlich ansprechende Disziplin überleben und ihre angestammteBedeutung wiedererlangen, so muß sie m.E. neben klinischen

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Fertigkeiten solche Beurteilungsmethoden integrieren und sich zumeigentlichen Spezialfach der gezielten und rationalen Anwendungvon Diagnostik und Therapie entwickeln. Kritische Überprüfungender wissenschaftlichen Qualität von Publikationen in den bestenJournals legen nahe, daß nur rund 10% der Studien im Hinblick aufdie Forschungsfrage methodisch adäquat durchgeführt werden, unddaß von diesen wiederum nur etwa 10% praktisch relevanten For-schungsfragen nachgegangen sind." In der Primärmedizin unter-scheidet sich das Problemspektrum sehr stark von der Krankenhaus-medizin und eine rationale Allgemeinmedizin braucht heute neueMaßstäbe und eine kritische Überprüfung der von der Klinik vor-gegebenen Standards.

In der HMO ist ein solcher Paradigmawechsel ökonomisch inter-essant. Weil dies für dieses Versicherungssystem lohnend erscheint,können Ärzte und andere in der HMO mitwirkende Fachkräfte Zeitfür Weiterbildung, Forschung und Studien aufbringen. Führen kriti-sches Denken und Kreativität zu einer Effizienzsteigerung und zupraktischen Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung, hat derArzt eine größere fachliche Befriedigung und wird auch finanziellhonoriert.

Nachteile: HMO als Instrument der Verwaltungskultur

Wenn ich zum Schluß noch auf die Schweizerischen Erfahrungenmit HMO's eingehe, so muß ein Punkt zuerst klargestellt werden.Mit den herkömmlichen Krankenkassen und deren Verwaltungsauf-gaben hateine HMO sehr wenig zu tun. Wird die Organisationsformder HMO genauer betrachtet, so ist nämlich evident, daß die Kran-kenkassen in ihrer heutigen Struktur als Rechnungsprüfer undBegleieher quasi überflüssig werden und das heutige »know-how-und Personal der Krankenkassen in einer HMO gar nicht benötigtwird. Das Wegfallen von Abrechnungen nach Einzelleistungen dürf-te in einer HMO auch wesentliche zusätzliche Einsparungen in derVersichertenadministration mit sich bringen. In der Schweiz werdenheute etwa 8 Prozent der Krankenkassengusgaben allein durch dieKrankenkassenverwaltung verschlungen, die lediglich bürokrati-sche und kaum unternehmerische Aufgaben erfüllt. Dies sind einViertel der Aufwendungen für die niedergelassenen Ärzte und mehrals die Hälfte der Medikamentenkosten. Die bürokratischen Rezepteder Krankenkassen zur Kostenkontrolle haben jedenfalls bis heutenur zu einer massiven Zunahme unproduktiver Verwaltungsstellen

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geführt, ohne daß die Gesundheitsversorgung effizienter gewordenwäre oder die angebliche Kostenexplosion effektiver gebremst wor-den wäre.

Verdienen jedoch die Ärzte am efftzienten Einsatz der Mittel, sowerden sie selbst vermehrt eine Evaluation der Effektivität diagno-stischer und therapeutischer Maßnahmen vornehmen und eine Effi-zienzkontrolle institutionalisieren. Es kann kaum ein Zweifelbestehen, daß die dazu nötigen Instrumente aus dem Bereich derklinischen Epidemiologie und der ihr zugewandten Gesundheitsöko-nomie stammen müssen. Den heutigen Krankenkassen fehlt diesesKnow-how.

Für die Gruppe von Fachleuten, welche dieses Modell in derSchweiz in die Diskussion einbrachten, waren die Krankenkassenals Träger dieses Modells deshalb immer eine Verlegenheitslösung.Doch nur die etablierten Krankenkassen waren in der Lage, einekündbare Versicherung anzubieten, welche der Versicherte ohnePrämiennachteile wieder verlassen konnte. Jedenfalls bedeutete imjetzigen Zeitpunkt die Schaffung einer HMO eine Institution derherkömmlichen Krankenkassen. Damit war gegeben, daß auch dieeher bürokratische und ärztefeindliche Kultur der etablierten Kran-kenkassen die ersten Schweizer HMO-Versuche prägten. Dies hatdazu geführt, daß die Krankenkassen als Träger dieser erstenModellversuche sich verleitet sahen, statt dem Mechanismus derneuen Anreizstruktur zu vertrauen, eine der heutigen Kassenkulturentsprechende und den Ärzten mißtrauisch gesinnte Finanzkontrolleauszuüben. Damit haben sich die z.T. persönlich gefärbten Bestre-bungen der Auftraggeber, die als feindlich betrachteten Ärzte end-lich unter Kontrolle bekommen zu können, auf eine unglücklicheWeise mit dem HMO-Modell vermischt. Auch wenn die erstenHMO's diese Schwäche aufweisen, lassen sich natürlich Ärzteftnden, die dabei mitmachen.

In Zürich bestehen mittlerweilen zwei HMO's, eine weitere inBasel. Vorerst wurde mit einer sicher realisierbaren Größe von ca.4000 Versicherten pro HMO projektiert, und diese Mitgliederzahlließ sich offenbar auch gut anwerben. Die ideale Größe wird sicherst mit der Zeit herauskristallisieren.

Der Erfolg der ersten Schweizer HMO's läßt sich heute noch nichtabschätzen. Es scheint aber, daß die jetzige Konstellation zu einerungünstigen Entwicklung verleitet hat: Die jetzt beteiligten Ärztesind offenbar froh, die finanziellen Angelegenheiten den anstellen-den Krankenkassen überlassen zu können, und merken mangels

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einer entsprechenden epidemiologischen Ausbildung nicht, daß nureine Vernetzung ökonomischer Prinzipien mit dem klinischen Alltagim Sinne einer gezielten epidemiologischen Planung (Epidemio-logie hat ja wie Ökonomie mit Quantiftzieren und Abwägen zu tun)zum Erfolg führen kann. Die von den Kassen eingesetzten Ökono-men beschränken offenbar ihre Funktion ebenso reduktionistisch aufbetriebswirtschaftliehe Aspekte und rechnen den Ärzten beispiels-weise die Telefonkosten vor (als ob Telefonrechnungen und einjeweiliger Blick auf die Höhe des Betrags in der herkömmlichenPraxis unbekannt wäre; dazu braucht es doch keine Ökonomen).Solche Fehlleistungen scheinen Ausdruck davon zu sein, daß bessereIdeen fehlen, daß eine planerische Kompetenz zum gezielten Einsatzder Mittel aufgrund der Instrumente der klinischen Epidemiologiein den jetzigen HMO's fehlt. So wird mindestens auch in einer derHMO's von der falschen Annahme ausgegangen, mit einem Check-Up aller Versicherten ließen sich Kosten einsparen. Dabei wissenwir aus guten prospektiven Studien, daß der Check-Up keine prä-ventive Wirkung hat," jedoch zu zahlreichen gesundheitlich unnöti-gen und manchmal belastenden Folgeabklärungen führt. Wie derAnspruch einer Efftzienzsteigerung im Gesundheitswesen durchHMO's erfüllt werden soll, läßt sich im Moment in der Praxis derersten Schweizer HMO's noch wenig erkennen.

Dies könnte sich jedoch bald ändern, da in der Schweiz eine neueGesetzgebung geplant ist, welche den freien Krankenkassenwechselohne Prämiennachteile verwirklichen soll. Heute ist die Prämie jenach Eintrittsalter in eine Krankenkasse sehr unterschiedlich, undbei einem Übertritt in eine andere Krankenkasse wird die Prämieentsprechend viel höher. Durch die gesetzliche Aufhebung alters-abgestufter Eintrittsprämien, ermöglicht durch ein gleichzeitigesVersicherungsobligatorium, soll in Zukunft ein Kassenübertrittmöglich werden und Wettbewerb unter den Kassen einkehren.

Dann können Ärzte frei von der herkömmlichen Kassenkultureigene Versicherungsorganisationen gründen bzw. mitgründen.

Schlußthese

Als These läßt sich aus den ersten Erfahrungen in der Schweiz alsoableiten, daß eine HMO wahrscheinlich nur in Verbindung mit demskizzierten Paradigmawechsel in der Allgemeinmedizin, d.h. miteiner bewußten und kritischen Effizienzanalyse der praktischen Me-dizin anband klinisch-epidemiologischer Methoden, einen Ausweg

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aus der gegenwärtigen Krise bedeuten kann. Eine Bürokratisierungder Medizin kann und sollte dabei verhindert werden.

Dies könnte gelingen, wenn HMO's von Ärzteseite und nicht vonder Kassenbürokratie initiiert werden. Dies bedingt, daß die Ärztefinanziell und untemehmerisch von Anfang an mitbeteiligt sind, einPunkt, den wir in unserer Anfangseuphorie unterschätzt hatten.Dies erfordert von Ärzteseite auch eine allmähliche Abkehr von deridealisierten und inzwischen sicher falschen Vorstellung, medizini-sches Denken ließe sich nicht mit ökonomischem Denken verbin-den.

Korrespondenzadresse:Johannes G. SchmidtAllgemeinpraxis, Klinische EpidemiologieFurrenmatte 4CH-8840 Einsiedein

Anmerkungen

Holloway, R.L., Matson, C.C., Zismer, D.K.: Patient satisfaction and selectedphysician behaviors: does the type of practice make a difference? 1. Am. BoardFarn. Pract. 1989; 2: 87-92.

2 Davies, A.R., Ware, J.E. Jr., Brook, R.H., Peterson, 1.R., Newhouse, 1.P.: Con-sumer acceptance of prepaid and fee-for-service medical care. Health Servo Res.1986; 21: 429-452.

3 Junker, C., Schaufelberger, H.1.: Die Entscheidung, einen Arzt aufzusuchen.Schweiz. Ärztezeitung, 1989; 70: 1907-1914.

4 HMO-Umfrage 1985, IGAK (Interessengemeinschaft für alternativeKrankenversicherungs-Modelle), Oensingen, Schweiz.

5. Fletcher, R.H., Fletcher, SW.: Clinical Research in general rnedicaljournals: a30-year perspective. N. Eng!. 1. Med. 1979; 301: 180-183.

6 Friedman, G.D., Collen, M.F., Fireman, RH.: Multiphasic Health CheckupEvaluation: a 16-year follow-up. 1. Chronic Dis. 1986; 39: 453-463.

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