Heft 07/2011 - Jura Intensiv · 2019. 12. 17. · RA 2011, HEFT 7 ÖFFENTLICHES RECHT-388-ist oder...

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RA RechtsprechungsAuswertung Heft 07/2011 Öffentliches Recht Zum Element der Kundgabe von Meinungen bei Versammlungen ...................... 387 Zur Frage, wann ein Widerspruch der Behörde zugegangen ist ........................ 390 Anforderungen an die Prognose der Zuverlässigkeit eines Gewerbetreibenden ............ 393 Wiedergestattung der Gewerbeausübung nach langer Zeit ............................ 395 Chancengleichheit der Parteien (“Wahl-O-Mat”) ................................... 396 Zivilrecht Klage auf künftige Leistung im Mietrecht ......................................... 400 Organisationsverschulden des Anwalts bei Übertragung von Aufgaben an Referendar ...... 403 Zur Ersatzfähigkeit von Ein- und Ausbaukosten bei mangelhaften Sachen ............... 405 AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen ............................................ 411 Strafrecht Besonders schwerer Fall bei versuchtem Grunddelikt ............................... 414 Erhebliche dauernde Entstellung durch Narben .................................... 417 Kein Beweisverwertungsverbot bei “verdecktem Verhör” ............................ 419 Urteile in Fallstruktur Öffentliches Recht: Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung .................. 424 Zivilrecht: Handeln unter fremdem Namen bei ebay ................................. 433 Strafrecht: Garantenpflicht bei Suizid ............................................ 439 JURA INTENSIV Verlags-GmbH & Co. KG

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RA RechtsprechungsAuswertung

Heft 07/2011

Öffentliches RechtZum Element der Kundgabe von Meinungen bei Versammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387Zur Frage, wann ein Widerspruch der Behörde zugegangen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390Anforderungen an die Prognose der Zuverlässigkeit eines Gewerbetreibenden . . . . . . . . . . . . 393Wiedergestattung der Gewerbeausübung nach langer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395Chancengleichheit der Parteien (“Wahl-O-Mat”) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396

Zivilrecht Klage auf künftige Leistung im Mietrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400Organisationsverschulden des Anwalts bei Übertragung von Aufgaben an Referendar . . . . . . 403Zur Ersatzfähigkeit von Ein- und Ausbaukosten bei mangelhaften Sachen . . . . . . . . . . . . . . . 405AGB-Kontrolle von Arbeitsverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

StrafrechtBesonders schwerer Fall bei versuchtem Grunddelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414Erhebliche dauernde Entstellung durch Narben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417Kein Beweisverwertungsverbot bei “verdecktem Verhör” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419

Urteile in FallstrukturÖffentliches Recht: Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424Zivilrecht: Handeln unter fremdem Namen bei ebay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433Strafrecht: Garantenpflicht bei Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

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RA 2011, HEFT 7ÖFFENTLICHES RECHT

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Öffentliches Recht

Standort: Versammlungsrecht Problem: Versammlungsbegriff; “Polizeifestigkeit”

BVERFG, BESCHLUSS VOM 10.12.2010

1 BVR 1402/06 (BAYVBL 2011, 368)

Problemdarstellung:

Nach st.Rspr. des BVerfG liegt eine Versammlungi.S.d. Art. 8 I GG nur vor, wenn eine örtliche Zusam-menkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen,auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildunggerichteten Erörterung oder Kundgebung gegeben ist(BVerfGE 104, 92 [104]; BVerfGK 11, 102 [108]).Speziell das Element der Meinungskundgabe grenztdie über Art. 8 I GG geschützte Versammlung von derbloßen Ansammlung ab, die lediglich über Art. 2 I GGgeschützt ist.

Im vorliegenden Fall stellt das BVerfG klar, dass dasElement der Meinungskundgabe zwar nach wie vornotwendige Voraussetzung für eine Versammlung ist,hieran jedoch keine allzu strengen Anforderungen ge-stellt werden dürfen. Insbesondere sei keine offeneKommunikation (z.B. durch Rufen von Parolen oderZeigen von Transparenten) erforderlich. Vielmehr kön-ne auch nonverbal kommuniziert werden, z.B. durchGesten, Kleidung o.ä. Sogar die bloße Anwesenheit aneinem Ort könne bereits genügen (z.B. bei einemSchweigemarsch).

Nebenbei bemerkt das Gericht, dass die Frage der An-meldung für den Schutz des Art. 8 I GG völlig irrele-vant sei. Mit anderen Worten genießt auch eine Ver-sammlung den Schutz des Art. 8 I GG, die entgegen §14 I VersG nicht (oder nicht rechtzeitig) angemeldetworden ist. Die Anmeldung ist also keine Frage desSchutzbereichs, sondern der Schranken (vgl. die Auflö-sungsmöglichkeit nach § 15 III VersG).

Darüber hinaus stellt das BVerfG nochmals klar, dassdie Versammlungsgesetze des Bundes und - soweitvorhanden - der Länder Eingriffe in Art. 8 I GG grds.abschließend regeln, ein Rückgriff auf allgemeinesPolizei- und Ordnungsrecht also nicht möglich ist.Über diese “Polizeifestigkeit von Versammlungen”hatte die RA zuletzt immer wieder berichtet (vgl. Ver-tiefungshinweise).

Prüfungsrelevanz:

Die “Polizeifestigkeit von Versammlungen” und mitihr der Versammlungsbegriff gehört zu den gegenwär-

tig am meisten diskutierten - und damit examensrele-vantesten - Grundrechtsproblemen überhaupt. Deshalblohnt nicht nur das Studium der vorliegenden Entschei-dung, sondern auch der Vertiefungshinweise zu diesemThema.

Vertiefungshinweise:“ Zum Versammlungsbegriff, besonders zu den An-forderungen an den gemeinsamen kommunikativenZweck: Wiefelspütz, NJW 2002, 274

“ Polizeifestigkeit der Versammlung: VGH Mann-heim, RA 2010, 753 = VBlBW 2010, 468; BVerfG, RA2005, 75 = NVwZ 2005, 80; BVerwGE 82, 34 [38];VGH Mannheim, DVBl 1998, 837 [839]; RA 2007,705; OLG Celle, RA 2006, 270 = NVwZ-RR 2006, 25;Kötter/Nolte, DÖV 2009, 399 Meßmann, JuS 2007,524

“ Versammlungsbegriff: Wiefelspütz, NJW 2002, 274(zum kommunikativen Zweck); VG Lüneburg, RA2007, 38 = NJW 2006, 3299; NdsVBl 2003, 249(Skinhead-Konzert)

“ Spaßveranstaltungen sind keine Versammlung: VGHamburg, RA 2001, 450; Deger, NJW 1997, 923

“ Aktuelle Probleme des Versammlungsrechts: Leist,NVwZ 2005, 500; Kniesel/Poscher, NJW 2004, 422,Grigoleit/Battis, NVwZ 2001, 121; Wiefelspütz, ZRP2001, 60; Kniesel, NJW 2000, 2857

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “XYZ”

“ Examenskurs: “Waffen-SS”

Leitsätze (der Redaktion):1. Eine Versammlung muss nicht notwendig eineZusammenkunft von Menschen sein, bei der argu-mentiert und gestritten wird. Sie umfasst vielmehrvielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hinzu nicht verbalen Ausdrucksformen. Es genügt,dass die Teilnehmer nach außen Stellung nehmenund ihren Standpunkt bezeugen, und sei es nurdurch ihre bloße Anwesenheit an einem bestimmtenOrt.2. Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8GG erst bei kollektiver Unfriedlichkeit. Ob sie an-meldepflichtig und dementsprechend angemeldet

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ÖFFENTLICHES RECHTRA 2011, HEFT 7

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ist oder nicht, ist insoweit irrelevant.3. Die Versammlungsgesetze des Bundes und derLänder gehen als Spezialgesetze dem allgemeinenPolizeirecht vor (“Polizeifestigkeit von Versamm-lungen”). Folglich kann eine Person, solange siesich in einer Versammlung befindet, nicht mit ei-nem Platzverweis belegt werden. 4. Soll ein Platzverweis erteilt werden, müsste dem-gemäß entweder die Versammlung zuvor aufgelöstoder der betroffene Teilnehmer aus der Versamm-lung ausgeschlossen worden sein.

Sachverhalt:Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen dieAuferlegung eines Bußgeldes wegen fahrlässiger Teil-nahme an einer unerlaubten Ansammlung gem. § 113OWiG.Am Samstag, den 14. 8. 2004, fand in der Kleinstadt F.die angemeldete Demonstration unter freiem Himmelmit dem Motto „Keine schweigenden Provinzen - Lin-ke Freiräume schaffen“ statt. Anlässlich dieser Ver-sammlung begab sich der Bf. zusammen mit circa 40anderen Personen mit dem Kraftfahrzeug nach F. DieGruppe postierte sich entlang der Route der angemel-deten Demonstration. Die Mitglieder der Gruppe hat-ten überwiegend kurz geschorenes Haar. Dazu trugensie so genannte Bomberjacken und Springerstiefel so-wie die für die rechte Szene (jedenfalls damals) typi-sche Bekleidung der Marke L. Die Gruppe verfügteweder über Plakate oder Flugblätter noch über sonstigeHilfsmittel der Kommunikation.Als die Polizeikräfte vor Ort der Gruppe gewahr wur-den, ordnete der Einsatzleiter eine Identitätsfeststel-lung sowie einen Fahndungsabgleich des Initiators undWortführers der Gruppe, Herrn L. S, an. Daraufhinsprach der Einsatzleiter gegenüber der Gruppe einenPlatzverweis für die Stadt F. aus. Als diese darauf nichtreagierte und weiterdiskutierte, wiederholte der Ein-satzleiter den Platzverweis, dem ein Teil der GruppeFolge leistete. Nachdem weitere Polizeikräfte einge-troffen waren, sprach der Einsatzleiter unter gleich-zeitiger Androhung von Zwangsmitteln den drittenPlatzverweis aus. Diesem kamen die verbliebenen Per-sonen - darunter auch der Bf. - nach, nachdem weiterePolizeikräfte in Stellung gebracht worden waren.Mit angegriffenem Bußgeldbescheid vom 31.1.2005setzte die Zentrale Bußgeldstelle des Zentraldienstesder Polizei des Landes Brandenburg gegen den Bf.wegen fahrlässiger Teilnahme an einer unerlaubtenAnsammlung gem. § 113 OWiG eine Geldbuße samtzu zahlender Kosten in Höhe von ca. 175 Euro fest.Mit angegriffenem Urteil vom 13. 1. 2006 verurteiltedas AG den Bf. wegen fahrlässiger Teilnahme an einerunerlaubten Ansammlung gem. § 113 OWiG i.V. mit §16 I 1 des Brandenburgischen Polizeigesetzes(BbgPolG), der den Platzverweis regelt, zu einer Geld-

buße in Höhe von 75 Euro. Bei der kurzfristig von Herrn L. S anberaumten Zusam-menkunft sei es darum gegangen, gegenüber den Teil-nehmern der linken Demonstration “Gesicht zu zei-gen”. Man habe vor Ort stehen und den Teilnehmernder angemeldeten Demonstration beweisen wollen,dass es auch noch Rechte in F. gebe. Eine über die kör-perliche Präsenz hinausgehende Absprache bezüglichdes Zwecks der Veranstaltung habe es nicht gegeben.Nach Auffassung des AG war eine Auflösungsanord-nung gem. § 15 III VersG entbehrlich gewesen, weil essich bei der Zusammenkunft nicht um eine Versamm-lung i.S. des Art. 8 I GG, sondern um eine Ansamm-lung i.S. des § 113 I OWiG gehandelt habe.Mit angegriffenem Beschluss vom 16. 5. 2006 verwarfdas OLG den Antrag auf Zulassung der Rechts-beschwerde als unbegründet, da eine Zulassung zurFortbildung des Rechtes nicht erforderlich sei. DieVerfassungsbeschwerde führte zur Aufhebung des Ur-teils des AG wegen Verletzung des Grundrechts derVersammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG und zur Zurück-verweisung der Sache an das AG.

Aus den Gründen:[13] Die Verfassungsbeschwerde ist in dem aus demTenor ersichtlichen Umfang gem. § 93a II lit. bBVerfGG zur Entscheidung anzunehmen, da dies zurDurchsetzung der Grundrechte des Bf. angezeigt ist.[14] Das BVerfG hat die maßgeblichen Fragen zu derGewährleistung des Grundrechts der Versammlungs-freiheit aus Art. 8 GG bereits entschieden und dabeiauch die zu berücksichtigenden Grundsätze entwickelt.Dies gilt namentlich für die Reichweite des Begriffsder Versammlung i.S. von Art. 8 I GG sowie für denEinfluss des Grundrechts auf die Auslegung und An-wendung von Bußgeldvorschriften (vgl. BVerfGE 69,315 [343ff.] = NJW 1985, 2395; BVerfGE 87, 399[406ff.] = NJW 1993, 581; BVerfGE 104, 92 [104] =NJW 2002, 1031).

A. Zulässigkeit[15] 2. Soweit der Bf. eine Verletzung seines Grund-rechts der Versammlungsfreiheit durch die fachgericht-lichen Entscheidungen rügt, ist die Verfassungs-beschwerde zulässig.

B. Begründetheit[16] 3. In dem vorgenannten Umfang ist sie auch i.S.des § 93c I 1 BVerfGG offensichtlich begründet.[17] Die angegriffene Entscheidung des AG verletztden Bf. in seinem Grundrecht der Versammlungsfrei-heit aus Art. 8 I GG.

I. Schutzbereich betroffen[18] Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist -ausgehend von den der angegriffenen Entscheidung zu

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Grunde gelegten Feststellungen - eröffnet.

1. Versammlung[19] Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammen-kunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, aufdie Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ge-richteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfGE104, 92 [104] = NJW 2002, 1031; BVerfGK 11, 102[108] = NVwZ 2007, 1180). Die Versammlungsfreiheitschützt Versammlungen und Aufzüge - im Unterschiedzu bloßen Ansammlungen oder Volksbelustigungen -als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikationangelegter Entfaltung.

a. Gemeinsamer Zweck der KommunikationDieser Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt,auf denen argumentiert und gestritten wird, sondernumfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltensbis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen. Daher ge-hören auch solche Zusammenkünfte dazu, bei denendie Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oderaufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruchgenommen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 [342f.] = NJW1985, 2395; BVerfGE 87, 399 [406] = NJW 1993,581). Bei einer Versammlung geht es darum, dass dieTeilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwe-senheit, die Art des Auftretens und des Umgangs mit-einander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichenSinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Stand-punkt bezeugen (vgl. BVerfGE 69, 315 [345] = NJW1985, 2395).

b. Friedlichkeit[20] Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8GG grundsätzlich nur bei kollektiver Unfriedlichkeit,mithin wenn sie im Ganzen einen unfriedlichen Ver-lauf nimmt oder der Veranstalter und sein Anhang ei-nen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen(vgl. BVerfGE 69, 315 [361] = NJW 1985, 2395). DerSchutz des Art. 8 GG besteht unabhängig davon, obeine Versammlung anmeldepflichtig und dementspre-chend angemeldet ist (vgl. BVerfGE 69, 315 [351] =NJW 1985, 2395; BVerfGK 4, 154 [158] = NVwZ2005, 80; BVerfGK 11, 102 [108] = NVwZ 2007,1180).

c. Subsumtion[21] Ausgehend von diesen Kriterien spricht auf derGrundlage der Feststellungen in der angegriffenen Ent-scheidung alles dafür, dass vorliegend eine Versamm-lung gegeben war. Jedenfalls hat das AG den Ver-sammlungscharakter der Zusammenkunft, an welcherder Bf. teilgenommen hat, mit verfassungsrechtlichnicht tragfähigen Gründen verneint.[22] Das AG hat bei der Prüfung des Versammlungs-charakters der Zusammenkunft nicht berücksichtigt,

dass diese inhaltlich auf das Versammlungsmotto derangemeldeten Demonstration bezogen war. Der Bf.und die anderen Mitglieder der Gruppe wollten nachden tatsächlichen Feststellungen des AG mit der Zu-sammenkunft “Gesicht zeigen” und sich gegen dieAussage des von der angemeldeten Demonstration aus-gerufenen Mottos stellen. Die Anwesenheit der vonauswärts angereisten Gruppe zu diesem Zeitpunkt andiesem Ort war erkennbar geprägt von dem Willen derAuseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Diesergibt sich daraus, dass sich die Gruppe, die auf Grundder kurz geschorenen Haare und der szenetypischenAufmachung vom objektiven Empfängerhorizont ausbetrachtet als dem rechtsradikalen Spektrum angehö-rend identifizierbar war und als solche von den Polizei-kräften auch identifiziert wurde, in zeitlicher und örtli-cher Nähe zu der ausdrücklich linksgerichteten - derzweite Teil des Mottos lautete: „Linke Freiräumeschaffen“ - Versammlung postierte, nämlich an einerStraße entlang der Demonstrationsroute außerhalb desStadtkerns der Kleinstadt F., kurz bevor sich die ange-meldete Demonstration in Bewegung setzte.[23] Die Versagung der Versammlungseigenschaftkann das AG verfassungsrechtlich tragfähig nicht da-rauf stützen, dass nach dem Willen der Gruppe wedermit den Teilnehmern der angemeldeten Demonstrationnoch mit der Öffentlichkeit eine verbale Kommunikati-on stattfinden sollte. Ein kollektiver Beitrag zur öffent-lichen Meinungsbildung kann auch nonverbal, durchschlüssiges Verhalten wie beispielsweise durch einenSchweigemarsch, geäußert werden. Nach den tatsächlichen Feststellungen des AG wolltedie Gruppe mit ihrer Zusammenkunft ein Gegenbild zuder von der angemeldeten Demonstration propagiertenLebenswirklichkeit entwerfen. Überdies lautete dererste Teil des Mottos der angemeldeten Demonstration„Keine schweigenden Provinzen“. Angesichts dieserUmstände hätte das AG sich damit auseinandersetzenmüssen, dass der physischen Präsenz in einer die ge-genteilige politische Ausrichtung zu erkennen geben-den Aufmachung gepaart mit dem Schweigen derGruppe hier naheliegenderweise eine eigenständigeAussage zukommen kann. Sofern sich der von derGruppe geleistete Beitrag zu der öffentlichen Mei-nungsbildung darin erschöpfte, Ablehnung gegenüberdem von der angemeldeten Demonstration proklamier-ten Versammlungsmotto zu bekunden, wäre dies un-schädlich, da es auf die Wertigkeit der geäußerten Mei-nung nicht ankommt.

2. Anmeldung irrelevant[24] Verfassungsrechtlich tragfähige Anhaltspunktedafür, dass die - folglich auf der Grundlage der Fest-stellungen des AG als Gegendemonstration einzustu-fende - Zusammenkunft des Schutzes des Art. 8 GGwieder verlustig gegangen ist, sind der Entscheidung

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des AG nicht zu entnehmen. Insbesondere lässt eineeventuell notwendige, aber unterbliebene Anmeldungnicht den Grundrechtsschutz der Zusammenkunft ent-fallen. Feststellungen zu einer kollektiven Unfriedlich-keit der Zusammenkunft hat das AG nicht getroffen.

II. Eingriff[25] Hiervon ausgehend ist das Urteil des AG als Ein-griff in die Versammlungsfreiheit des Bf. zu beurtei-len.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung[26] Dieser Eingriff ist verfassungsrechtlich nicht ge-rechtfertigt. Die angegriffene Entscheidung lässt eineRechtsgrundlage für die Verurteilung des Bf. im Buß-geldverfahren nicht erkennen.[27] Das Grundgesetz erlaubt Beschränkungen vonVersammlungen unter freiem Himmel nur nach Maß-gabe des Art. 8 II GG. Danach kann die Versamm-lungsfreiheit für Versammlungen unter freiem Himmeldurch Gesetz oder auf Grund dieses Gesetzes be-schränkt werden. Gegenstand der verfassungsgericht-lichen Prüfung im vorliegenden Fall ist eine Verurtei-lung im Bußgeldverfahren wegen des Zuwiderhandelnsgegen eine auf das allgemeine Polizeirecht gestützteStandardmaßnahme zur Gefahrenabwehr gem. § 113OWiG i.V. mit § 16 I 1 BbgPolG.

1. Polizeifestigkeit von Versammlungen[28] Versammlungsspezifische Maßnahmen der Gefah-renabwehr richten sich nach den hierfür speziell erlas-senen Versammlungsgesetzen. Die dort geregelten, imVergleich zu dem allgemeinen Polizeirecht besonderenVoraussetzungen für beschränkende Verfügungen sind

Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungs-freiheit. Dementsprechend gehen die Versammlungs-gesetze als Spezialgesetze dem allgemeinen Polizei-recht vor, mit der Folge, dass auf Letzteres gestützteMaßnahmen gegen eine Person, insbesondere in Formeines Platzverweises, ausscheiden, solange sich diesein einer Versammlung befindet und sich auf die Ver-sammlungsfreiheit berufen kann (vgl. BVerfGK 4, 154[158] = NVwZ 2005, 80). Dieser Schutz endet erst mitder eindeutigen Auflösung der Versammlung oder demeindeutigen Ausschluss des Teilnehmers von der Ver-sammlung (vgl. BVerfGK 4, 154 [159] = NVwZ 2005,80; BVerfGK 11, 102 [115f.] = NVwZ 2007, 1180).

2. Subsumtion[29] Diese besonderen Voraussetzungen für den Erlassvon Maßnahmen auf Grund des allgemeinen Polizei-rechts sowohl gegen den Bf. als auch gegen die - alsGegendemonstration einzustufende - Zusammenkunftlagen indes nicht vor.[30] Den Feststellungen des AG ist nicht zu entneh-men, dass die Zusammenkunft den verfassungsrecht-lichen Anforderungen entsprechend aufgelöst oder derBf. hiervon ausgeschlossen wurde. Vielmehr hat sichdas AG gerade auf den Standpunkt gestellt, dass einesolche Auflösungsverfügung entbehrlich gewesen sei,weil es sich bei der Zusammenkunft bereits nicht umeine Versammlung i.S. des Art. 8 I GG gehandelt habe.Da sich ein Rückgriff auf die Bestimmungen des all-gemeinen Polizeirechts, insbesondere die Vorschriftenzum Platzverweis, aus Rücksicht auf die Versamm-lungsfreiheit verbietet, kann das gegen den Bf. ver-hängte Bußgeld nicht auf § 113 OWiG i.V. mit § 16 I 1BbgPolG gestützt werden.

Standort: § 70 VwGO Problem: “Machtbereich” der Behörde

OVG WEIMAR, BESCHLUSS VOM 07.02.2011

2 ZKO 621/09 (LKV 2011, 284)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Fall ging es um die Frage, wann einWiderspruch im Sinne des § 70 I VwGO fristwahrend“erhoben” worden ist. Konkret hatte der Kläger - einVerwaltungsbeamter - seinen Widerspruch gegen einefür ihn negative Besoldungsentscheidung seinesDienstherrn (angeblich) innerhalb der Frist der Dienst-post übergeben, indem er das Widerspruchsschreibenin das Fach für Dienstpost gelegt hatte. Tatsächlichließ sich das Widerspruchsschreiben aber nirgendsauffinden.

A. Das OVG definiert zunächst im Anschluss an dasBVerwG die “Erhebung” des Widerspruchs als denMoment, in dem der Widerspruch “mit Wissen undWollen des Widerspruchsführers in den Machtbereich

der zuständigen Behörde gelangt ist” (vgl. BVerwGE91, 334).

B. Sodann führt es aus, dass das Einlegen des Wider-spruchsschreibens in ein Fach der Dienstpost hierzunicht genüge. Ein solches sei nicht etwa einem Post-fach vergleichbar (das nach allg.M. zum “Machtbe-reich” des Empfängers gehört), weil anders als beidiesem die Beförderung noch nicht abgeschlossen sei,sondern erst noch stattfinden müsse. Die Übergabe andie Dienstpost sei vielmehr mit der Übergabe an einenPostboten zu vergleichen.

C. Sodann stellt das Gericht klar, dass die Übergabean einen Boten zur Fristwahrung auch nicht genüge.Dies widerspräche der Intention der §§ 69, 70 VwGO,die auf den Zugang des Widerspruchs bei der Behör-de, nicht aber auf dessen Absendung abstellten. Zu-dem zeige die Lebenserfahrung, dass immer wiederPost verloren ginge, sodass von der Übergabe an einen

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Boten auch nicht im Wege des Anscheinsbeweises aufden Zugang geschlossen werden könne.

D. Schließlich komme in einem solchen Fall auch kei-ne Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60VwGO in Betracht. Das Fristversäumnis sei nicht un-verschuldet, der Kläger habe auch als Laie erkennenkönnen und müssen, dass die Einlegung des Wider-spruchs in das Fach für Dienstpost zur Fristwahrungnicht genüge.

Prüfungsrelevanz:

Wie die Urteilsgründe zeigen, wird der Zugang desWiderspruchs ganz ähnlich wie der Zugang einer Wil-lenserklärung behandelt: Es kommt darauf an, dass errechtzeitig in den “Machtbereich” des Empfängers(also der Behörde) gelangt. Dass man ein Fach fürDienstpost nicht mit einem Postfach verwechseln darf,sollte man sich ebenfalls einprägen. Die Gerichte sindin diesem Punkt sehr streng. So hat der BGH in einemähnlich gelagerten Fall auch die Fristwahrung ver-neint, als ein für das Landgericht bestimmter Schrift-satz in das Gerichtsfach des Landgerichts am Amts-gericht eingelegt wurde (BGH, NJW-RR 1989, 1625).Die Argumentation war ähnlich wie hier beim OVG:Weil der Schriftsatz erst noch vom AG zum LG be-fördert werden musste, sei das Gerichtspostfach desLG beim AG noch nicht dem “Machtbereich” des LGzuzurechnen.

Die hier wiedergegebenen Ausführungen dürften nichtnur für Widerspruchsfristen nach § 70 VwGO, son-dern sinngemäß auch für Klagefristen nach § 74 IVwGO gelten, denn auch für deren Wahrung kommtes auf die “Erhebung” der Klage an.

Vertiefungshinweise:

“ Kein Anscheinsbeweis des Zugangs durch Aufgabezur Post: BGH, NJW-RR 1996, 939; NJW 2009, 512

Leitsätze:1. Ein Widerspruch ist erst wirksam erhoben,wenn er bei der zuständigen Behörde fristgerechteingegangen ist. Bei den Fächern für Dienstpost,die bei den Thüringer Behörden eingerichtet sind,handelt es sich nicht um eigens für die jeweiligenThüringer Behörden eingerichtete Empfangsein-richtungen – vergleichbar Postfächern – mit derFolge, dass bereits mit dem dortigen Eingang derSchriftstücke der Zugang bei der Empfängerbe-hörde bewirkt wird.2. Die Beweislast des Widerspruchsführers für denZugang des Widerspruchs kehrt sich mit derglaubhaft gemachten oder bewiesenen Aufgabe desWiderspruchsschreibens als einfacher Brief an denbehördeninternen Dienstkurier nicht um. Die

Grundsätze des Anscheinsbeweises gelten für denZugang nicht.

Sachverhalt:Der Kl. begehrt die Zahlung eines Zuschusses nach §4 der 2. BesÜV nebst Zinsen. Das VG Weimar hat dieam 20. 12. 2007 erhobene Klage auf Zahlung des Zu-schusses für die Jahre 1992 bis 1999 durch Urt. v. 28.7. 2009 abgewiesen, weil die geltend gemachten An-sprüche verjährt seien und die Verjährungseinrede desBekl. nicht treuwidrig erscheine. Der hiergegen ge-richtete Antrag auf Zulassung der Berufung blieb ohneErfolg.

Aus den Gründen:Zu Recht hat das VG angenommen, dass der Kl. denNachweis, rechtzeitig gegen den Bescheid vom 16. 8.2000 Widerspruch eingelegt zu haben, nicht führenkann und dies zu seinen Lasten geht, weil er für denfristwahrenden Zugang des Widerspruchs beweis-pflichtig ist.

A. Fristwahrung durch “Erhebung” des Wider-spruchs, § 70 I VwGOGemäß § 70 I VwGO ist der Widerspruch innerhalbeines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Be-schwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlichoder zur Niederschrift bei der Behörde zu erheben, dieden Verwaltungsakt erlassen hat oder die den Wider-spruchsbescheid zu erlassen hat. Fristgerecht erhobenist der Widerspruch, wenn er mit Wissen und Wollendes Widerspruchsführers vor Ablauf der gesetzlichenFrist in den Machtbereich der zuständigen Behördegelangt (vgl. BVerwGE 91, 334).

B. SubsumtionDer Zugang des Widerspruchs des Kl. vom 8. 10.2000 gegen den Bescheid vom 16. 8. 2000 bei der da-mals zuständigen OFD Erfurt – Zentrale Gehaltsstelle(nunmehr Thüringer Landesfinanzdirektion – ZentraleGehaltsstelle) lässt sich weder innerhalb der Monats-frist des § 70 I 1 VwGO, die mit der am 18. 9. 2000nachweisbaren Bekanntgabe des mit einer ordnungs-gemäßen Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheidszu laufen begann und damit am 18. 10. 2000 endete,noch später feststellen. [...]

I. Übergabe an Dienstpost genügt nichtUnerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob und zuwelchem Zeitpunkt etwa der Widerspruch des Kl. indas Fach für die Dienstpost bei der PolizeiinspektionE gelangt sein soll. Mit dem Einlegen des Schriftstücks in ein für Behör-denpost eingerichtetes Fach kann der Zugang der Er-klärung bei der zuständigen Behörde, damals der OFDErfurt – Zentrale Gehaltsstelle, nicht bewirkt werden.

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ÖFFENTLICHES RECHTRA 2011, HEFT 7

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Das Schriftstück wäre mit dieser Übergabe nichtschon in die tatsächliche Verfügungsgewalt der OFDErfurt gelangt. Bei den Fächern für Dienstpost, die beiden Thüringer Behörden eingerichtet sind, handelt essich nicht um eigens für die OFD bzw. nunmehr Thü-ringer Landesfinanzdirektion eingerichtete Empfangs-einrichtungen – vergleichbar einem Postfach – mit derFolge, dass die OFD bzw. Thüringer Landesfinanzdi-rektion Gewahrsam an den Schriftstücken mit ihremdortigen Eingang begründete bzw. begründet (Ellen-berger, in: Palandt, BGB-Komm., 70. Aufl., § 130 Rn.6). Die Dienstpostfächer bei den Thüringer Behördensind Teil eines behördeninternen Postvertriebs-systems. Hier laufen sämtliche Briefe ein, die dienst-lich veranlasst und an andere Thüringer Behörden ge-richtet sind. Sie werden vom behördeninternen Kurierabgeholt, gesammelt und an die jeweiligen Empfängerverteilt. Die Aufgabe von Sendungen an den behör-deninternen Dienstkurier bewirkt ebenso wenig wiedie Aufgabe von Sendungen an private Postdienstleis-ter den Zugang der Sendung beim Empfänger.

II. Kein AnscheinsbeweisAuch ein Anscheinsbeweis für den Zugang der Sen-dung besteht nicht. Zwar sind die Regeln über denBeweis des ersten Anscheins auch im Verwaltungs-prozess anwendbar (vgl. st.Rspr. des BVerwG,BVerwGE 20, 229). Sie gelten aber nur bei typischenGeschehensabläufen, bei denen nach der Lebenserfah-rung regelmäßig von einem bestimmten Ereignis aufeinen bestimmten Erfolg geschlossen werden kannund umgekehrt. Für Postsendungen trifft dies nicht zu. Nach den Er-fahrungen des täglichen Lebens kommt es auch unternormalen Postverhältnissen immer wieder vor, dassabgeschickte Briefe den Empfänger nicht erreichen.Auch wenn dies, gemessen an der Gesamtzahl derPostsendungen, nur ein sehr geringer Prozentsatz ist,so lässt sich doch jedenfalls unter diesen Umständenweder sagen, dass der Zugang, noch, dass der Verlusttypisch sei. Es gibt lediglich eine mehr oder minderhohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass abgesendeteBriefe auch ankommen. Der Anscheinsbeweis ist abernicht schon dann geführt, wenn zwei verschiedeneMöglichkeiten des Verlaufs erfahrungsgemäß in Be-tracht zu ziehen sind, von denen die eine wahrscheinli-cher ist als die andere (vgl. st.Rspr. des BGH, BGHZ24, 308). Nichts anderes gilt, wenn Briefe über denbehördeninternen Kurierdienst versandt werden. An-gesichts der auch hier bestehenden Unwägbarkeiten inden Arbeitsabläufen der beteiligten Behördenstellen –eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation unter-stellt – kann nicht allein aus der Postaufgabe regel-mäßig auf den Zugang der Sendungen geschlossenwerden.

Es widerspräche auch der klaren gesetzlichen Rege-lungen in §§ 69, 70 VwGO, wenn für den Nachweisdes Eingangs eines Widerspruchs der Nachweis derPostaufgabe als ausreichend anzusehen wäre und vonder zuständigen Behörde verlangt würde, sie solle den“ersten Anschein” durch den i. d. R. gar nicht zu füh-renden Beweis der negativen Möglichkeit, dass ihr dieSendung nicht zugegangen sei, entkräften. Auf dieseWeise würde die vom Widerspruchsführer zu bewei-sende Erhebung des Widerspruchs durch den bloßenNachweis der Absendung des Widerspruchs ersetzt.Der Widerspruch würde entgegen §§ 69, 70 VwGOmit der Aufgabe zur Post oder zur Postsammelstelleals erhoben gelten und das Vorverfahren damit begin-nen. Demgegenüber hat der Widerspruchsführer dieMöglichkeit, dem ihm obliegenden Beweis des Zu-gangs durch die Wahl entsprechender Versendungs-formen sicherzustellen. Macht er hiervon keinen Ge-brauch, ist es nicht unbillig, wenn er die volle Gefahrträgt, dass sein Widerspruch bei der zuständigen Be-hörde nicht fristwahrend eingeht oder er den Zugangnicht beweisen kann (vgl. OVG Hamburg, NJW 2006,2506).

III. Keine WiedereinsetzungZu Recht hat das VG festgestellt, dass dem Kl. auchnicht Wiedereinsetzung in die versäumte Wider-spruchsfrist zu gewähren ist. Die Rüge des Kl., dieAusschlussfrist des § 60 III VwGO greife entgegender Annahme der ersten Instanz nicht, weil er sich aufhöhere Gewalt berufen könne, bleibt ohne Erfolg. Unter höherer Gewalt ist nach der Rechtsprechung desBVerwG, der sich der Senat anschließt, ein Ereigniszu verstehen, das unter den gegebenen Umständenauch durch die größte, nach den Umständen des gege-benen Falls vernünftigerweise von dem Betroffenenunter Anlegung subjektiver Maßstäbe – also unter Be-rücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung –zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewen-det werden konnte. Dabei ist anerkannt, dass eineFristsäumnis dem Betroffenen nicht angelastet werdendarf, wenn er durch das Verhalten seines Gegners ander rechtzeitigen Einlegung des Rechtsbehelfs gehin-dert worden ist (vgl. BVerwG, Buchholz 310 § 60VwGO Nr. 54; BVerwGE 58, 100; 105, 288;Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 60 Rn. 28, § 58Rn. 20). Gemessen an diesen Maßstäben sind keine Umständeersichtlich, aufgrund deren es dem Kl. infolge höhererGewalt unmöglich war, Wiedereinsetzung in die ver-säumte Widerspruchsfrist vor Ablauf der Jahresfristdes § 60 III VwGO zu beantragen und die Erhebungdes Widerspruchs gegen den Bescheid vom 16. 8.2000 nachzuholen. [wird ausgeführt]

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RA 2011, HEFT 7ÖFFENTLICHES RECHT

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Standort: Gewerberecht Problem: Wiedergestattung nach Gewerbeuntersagung

OVG LÜNEBURG, BESCHLUSS VOM 03.02.2011

7 PA 101/10 (NVWZ-RR 2011, 318)

OVG LÜNEBURG, BESCHLUSS VOM 27.01.2011

7 PA 1/11 (NVWZ-RR 2011, 319)

Problemdarstellung:

Nach § 35 VI GewO ist die Ausübung eines Gewerbesauf Antrag wieder zu gestatten, wenn die Vorausset-zungen für eine Gewerbeuntersagung nicht mehr vor-liegen. Diese Norm hat in zweierlei Hinsicht Bedeu-tung:

A. Zunächst stellt sie klar, dass maßgeblicher Zeit-punkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einerGewerbeuntersagung - anders als sonst bei Dauerver-waltungsakten - nicht der Zeitpunkt der letzten münd-lichen Verhandlung vor Gericht, sondern die letzteBehördenentscheidung (also der Erlass des Verwal-tungsakts oder des Widerspruchsbescheids, wenn einVorverfahren statthaft ist) ist. Sämtliche nach der Un-tersagung eintretende Verbesserungen der Umständesind nicht gegen die Untersagungsverfügung, sondern(nur) in einem Neugestattungsverfahren verwendbar.

Prozessual sind die Konsequenzen klar: Entfallen dieVoraussetzungen für eine Gewerbeuntersagung nach-träglich, ist nicht die Gewerbeuntersagung anzufech-ten (§ 42 I 1. Fall VwGO), sondern ein Antrag aufWiedergestattung zu stellen, wobei nach dessen Ab-lehnung durch die Behörde (und u.U. Durchführungeines Vorverfahrens) Verpflichtungsklage nach § 42 I2. Fall VwGO auf Erlass eines Wiedergestattungsbe-scheids zu erheben ist.

B. Hier kommt die zweite Funktion des § 35 VI GewOins Spiel: Er ist Anspruchsgrundlage auf Wiederge-stattung, verleiht also zum einen die Klagebefugnis fürdie Verpflichtungsklage nach § 42 II VwGO und führtgleichzeitig zur Begründetheit derselben, wenn dieVoraussetzungen für eine Gewerbeuntersagung tat-sächlich entfallen sind.

C. Mit der Frage, wann dies der Fall ist, beschäftigensich die beiden nachstehend wiedergegebenen Ent-scheidungen des OVG Lüneburg.

I. Voraussetzung für eine Gewerbeuntersagung istnach § 35 I GewO die Unzuverlässigkeit des Gewer-betreibenden. Somit sind die Voraussetzungen füreine Gewerbeuntersagung entfallen, wenn der Gewer-betreibende nicht mehr unzuverlässig ist.

II. Die Prüfung dieses Tatbestandsmerkmals bedarfeiner Prognose. Keinesfalls dürfen schlechte Erfahrun-gen aus der Vergangenheit angeführt werden. Zu prü-fen ist vielmehr allein, ob der Betroffene in Zukunftsein Gewerbe ordnungsgemäß führen wird.

III. Allerdings können schlechte Erfahrungen aus derVergangenheit durchaus zur Grundlage dieser Progno-se gemacht werden (in Worten des OVG Lüneburg:als “Indiz” gelten). Wie weit diese Indizwirkung geht,ist Gegenstand der ersten Entscheidung des OVG (7PA 101/10). Sie stellt klar, dass die Behörde beweis-belastet bleibt, es also nicht etwa Sache des Gewerbe-treibenden ist, eine Verbesserung nachzuweisen. Wei-terhin führt das Gericht aus, dass auch “nachwachsen-de” Gründe berücksichtigungsfähig sind; sollte alsozwar der Grund für die ursprüngliche Gewerbeunter-sagung entfallen sein (im Fall: Steuerschulden), dafüraber ein neuer Grund die Unzuverlässigkeit begründen(im Fall: Begehung von Straftaten), bestünde kein An-spruch auf Wiedergestattung.

IV. Die zweiten Entscheidung des OVG Lüneburg (7PA 1/11) verdeutlicht, dass gerade wegen der notwen-digen Zukunftsprognose selbst die Indizwirkung ver-gangener Verfehlungen abnimmt, je länger diese zu-rückliegen (im Fall: über 20 Jahre).

Prüfungsrelevanz:

§ 35 GewO besitzt erhebliche Prüfungsrelevanz, undzwar sowohl bezüglich des § 35 I GewO als Ermächti-gungsgrundlage für eine Gewerbeuntersagung als auchbezüglich des hier interessierenden § 35 VI GewO.Entscheidend für den Examenserfolg wird sein, dassim Gutachten die Notwendigkeit einer in die Zukunftgerichteten Prognoseentscheidung deutlich wird, wo-bei diese im Idealfall nicht nur behauptet, sondern mitder rein präventiven Funktion des § 35 GewO auchbegründet wird. Obwohl es sich um eine Prognoseent-scheidung handelt, billigt die Rspr. den Behörden in-soweit keinen Beurteilungsspielraum zu. Die Prognoseist also in vollem Umfang gerichtlich überprüfbar(wobei - wie erwähnt - ein “non liquet” zu Lasten derBehörde geht).

Vertiefungshinweise:“ Gewerbeuntersagung bei Insolvenz: OVG Koblenz,NVwZ-RR 2011, 229

“ Zur Gewerbeuntersagung in der Insolvenz: OVGLüneburg, RA 2010, 4 = NVwZ-RR 2009, 922; Ge-wArch 2009, 162; GewArch 2003, 383; Hahn, Ge-wArch 2000, 361

“ Zur Rolle der GbR im Gewerberecht: OVG Lüne-burg, RA 2009, 295 (Gewerberechtsfähigkeit);NVwZ-RR 2003, 103 (Gewerbeuntersagung)

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Stuckateur”

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ÖFFENTLICHES RECHTRA 2011, HEFT 7

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1. Teil: Entscheidung des OVG Lüneburg vom03.02.2011 (7 PA 101/10):

Leitsatz:Auf die Wiedergestattung der Gewerbeausübungbesteht ein Rechtsanspruch, wenn die Voraussetz-ungen für die Gewerbeuntersagung entfallen sind.Die Beweislast für eine Aufrechterhaltung der Un-tersagungsverfügung trägt die Gewerbeaufsichts-behörde.

Sachverhalt:Die Beschwerde der Kl. richtet sich gegen den Be-schluss des VG, mit dem es ihr die Gewährung vonProzesskostenhilfe für die auf Wiedergestattung desFriseurhandwerkes gerichtete Klage versagt hat. Siebeabsichtigt mit einer Kollegin im Rahmen einer Ge-sellschaft bürgerlichen Rechts die selbstständige Tä-tigkeit als Friseurin im Umfang eines “Ein-Stuhl-Plat-zes” wieder aufzunehmen, nachdem ihr bisheriger Ar-beitgeber insolvent geworden ist.

Aus den Gründen:Die Beschwerde der Ast. hat Erfolg.

A. AnspruchsgrundlageNach § 35 VI GewO ist die Wiedergestattung auszu-sprechen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen,dass eine Unzuverlässigkeit i.S. von § 35 I GewOnicht mehr vorliegt.

B. Tatbestand

I. Positive ZukunftsprognoseDiese Entscheidung erfordert - wie die Gewerbeunter-sagung - eine Prognose über die Zuverlässigkeit desAst. nach Wiederaufnahme der gewerblichen Tätig-keit.

1. Präventiver Charakter des § 35 GewOSie muss prospektiv, d.h. bezogen auf eine Gefähr-dung des redlichen Geschäftsverkehrs in der Zukunft,begründet werden, wobei allerdings in der Vergangen-heit gezeigtes Verhalten als Indiz gewertet werdenkann. Zu beachten ist dabei, dass durch die Gewer-beuntersagung und ihre Aufrechterhaltung nicht ver-gangenes Verhalten “gleichsam bestraft” werden soll(OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2011, 319). Auf die Wie-dergestattung besteht ein Rechtsanspruch (VGH Kas-sel, NVwZ-RR 1991, 146 = GewA 1990, 326; Land-mann/Rohmer, GewO, § 35 Rdnr. 176; Tettinger/Wank, GewO, § 35 Rdnr. 206). Aus der Gewährlei-stung der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) ergibt sich,dass niemand länger von der Gewerbeausübung fern-gehalten werden darf, als dies durch überwiegendeInteressen der Allgemeinheit geboten ist (Kramer, Ge-

wA 2010, 273).

2. Beweislast bei BehördeDie Wiedergestattung ist antragsabhängig (§ 35 VIGewO). Mit der Einführung des Antragserfordernissesfür die Wiedergestattung 1973 hat der Gesetzgeberaber keine Umkehr der Beweislast verbinden wollen(Tettinger/Wank, § 35 Rdnr. 194 m.w.N.). Aus denGesetzesmaterialien ergibt sich eindeutig, dass beieiner Aufrechterhaltung der Untersagungsverfügungdie Behörde darzutun hat, dass der Ast. weiterhin un-zuverlässig ist (BT-Dr 7/111, S. 6). Sie trägt die Be-weislast für die Rechtmäßigkeit ihres Ablehnungsbe-scheids. Die Anforderungen an eine Ablehnung desWiedergestattungsantrags sind - nach Ablauf der Jah-resfrist (§ 35 VI 2 GewO) - daher nicht geringer alsfür die Untersagung des Gewerbes selbst.

II. SubsumtionHiervon ausgehend ist nach derzeitiger Aktenlage we-nig wahrscheinlich, dass der Ablehnungsbescheid derBekl. im Klageverfahren Bestand haben wird.

1. Gründe der Gewerbeuntersagung entfallen (hier:Schulden)Der Kl. ist im September 1996 die Gewerbeausübungwegen wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit untersagtworden. Damals bestanden Beitrags- und Steuerrüc-kstände gegenüber der gesetzlichen Rentenversiche-rung, der Berufsgenossenschaft und dem Finanzamt,die - auch im Wege der Zwangsvollstreckung - nichtbeigetrieben werden konnten. Diese Verschuldungs-situation ist inzwischen nicht mehr gegeben. Nach denwiederholten Mitteilungen des Finanzamtes bestehendie Steuerschulden, offenbar nach Verjährung, nichtmehr. Mit der Berufsgenossenschaft hat die Kl. einenVergleich geschlossen, die nach einer Teilzahlung aufden Restbetrag ihrer Forderung verzichtete. Bei derStadtkasse bestehen keine Verbindlichkeiten. Die ge-setzliche Rentenversicherung hatte der Bekl. bereitsmit Schreiben vom 24. 8. 2009 mitgeteilt, dass dienoch bestehende Forderung über 12.142,12 Euro biszum 30.9.2013 befristet niedergeschlagen sei. Einemauf diesem Schreiben befindlichen Vermerk des Sach-bearbeiters ist zu entnehmen, dass die Gläubigerineine - zuvor von der Kl. angebotene - Zahlung vonmonatlichen Raten von 200 Euro stillschweigend ak-zeptiert, so dass Vollstreckungen von dieser Seite, dieeinen geordneten Geschäftsbetrieb der Kl. beeinträch-tigen könnten, nicht zu erwarten sind. Bei dieser Sach-lage ist offensichtlich, dass die Gründe, die im Sep-tember 1996 zur Gewerbeuntersagung geführt haben,nicht mehr vorliegen.

2. Nachwachsen von (neuen) UntersagungsgründenDass inzwischen andere - eine Aufrechterhaltung der

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RA 2011, HEFT 7ÖFFENTLICHES RECHT

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Gewerbeuntersagung rechtfertigende - Gründe ”nach-gewachsen” wären, ist von der Bekl. nicht ausreichenddargelegt worden.

a. Zwischenzeitliches Fehlverhalten bei abhängigerBeschäftigungDurch die Gewerbeuntersagung vom September 1996war der Kl. lediglich die selbstständige Ausübung desFriseurgewerbes untersagt, nicht eine angestellte Tä-tigkeit im Betrieb eines anderen. Die Gewerbeuntersa-gung ist kein Berufsverbot. Sie schließt zwar (auch)die Übernahme einer Geschäftsführertätigkeit aus,nicht aber eine mit Leitungsfunktion verbundene in-nerbetriebliche Tätigkeit. Der Vorwurf, dass die Kl.,die bei der - inzwischen insolventen - Firma “B.-C.”offenbar als Friseurmeisterin und Betriebsleiterin an-gestellt gewesen ist, Anteil an der Insolvenz ihres Ar-beitgebers gehabt haben soll, insbesondere - worauf esallein ankäme - welche konkrete Verantwortung siefür die Nichtzahlung von Steuerschulden dieser Firmaträfe, wird durch den Akteninhalt nicht konkret belegt.Dass sie ein vorausgefülltes Pfändungsprotokoll unter-schrieben hat, nachdem der Vollstrecker des Finanz-amtes in den Geschäftsräumen der “„B.”- GmbH einen(vergeblichen) Pfändungsversuch unternommen hatte,reicht für diesen Nachweis allein nicht aus. Ebensowenig aussagekräftig ist, dass das Finanzamt die Kl.als “Ansprechpartnerin” in der Firma notiert hatte,weil auch dies keinerlei Aufschluss darüber gibt, werfür die Bezahlung der Steuerschulden bzw. derenNichtzahlung verantwortlich war. Für die Schuldenihres früheren Arbeitgebers haftet sie nicht.

b. Zwischenzeitliche (fahrlässige) StraftatNach einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft D. istdie Kl. am 16. 2. 2010 vom AG E. wegen eines “fahr-lässigen Vergehens gegen die Insolvenzordnung” zueiner Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt wor-den. Nur diese Mitteilung findet sich in der Akte. DasUrteil selbst ist von der Bekl. ebenso wenig beigezo-gen worden wie die Anklageschrift der Staatsanwalt-schaft. Das ist schon deshalb ein gravierender Mangeldes behördlichen Verfahrens, weil § 35 III GewO, derauf das Wiedergestattungsverfahren entsprechend an-zuwenden ist, eine Bindungswirkung des Urteils vor-sieht. Soll Unzuverlässigkeit mit strafbaren Handlun-gen begründet werden, darf die Behörde sich nicht mitder Feststellung der erfolgten Bestrafungen allein aufGrund von Strafregisterauszügen begnügen, vielmehrmuss sie den ihnen zu Grunde liegenden Sachverhaltin eigener Verantwortung daraufhin prüfen, ob er dieAnnahme der Unzuverlässigkeit rechtfertigt (vgl.BVerwG, Beschl. v. 17. 1. 1964 – VII B 159.63; Land-mann/Rohmer, § 35 Rdnr. 37). [...]Vorliegend ist die Kl. wegen einer Fahrlässigkeitstatbestraft worden. Zwar mag auch die fahrlässige Be-

gehung von Straftaten im Rahmen der gewerberecht-lichen Zuverlässigkeit von Bedeutung sein, es darfaber nicht aus dem Blick geraten, dass der Schuldvor-wurf in einem solchen Fall geringer ist und der Ge-setzgeber gewerberechtliche Folgen regelmäßig nur anVorsatztaten knüpft (vgl. §§ 33c II 2, 34b IV Nr. 1,34c II Nr. 1GewO). Offenbar handelt es sich zudemum einen einzelnen Verstoß, jedenfalls lassen sich denAkten weitere Verurteilungen nicht entnehmen. Dassdiese Straftat allein eine Aufrechterhaltung der Ge-werbeuntersagung rechtfertigen kann, ist daher, auchunter Berücksichtigung ihres Gewerbebezuges, wenigwahrscheinlich (vgl. Landmann/Rohmer, Rdnrn. 37ff.; Tettinger/Wank, § 35 Rdnr. Rdnr. 37; Leisner, Ge-wA 2008, 225 [229]).

C. ErgebnisBei dieser Sachlage kann der Kl. Prozesskostenhilfenicht versagt werden (§ 166 VwGO i.V. mit § 114 S. 1ZPO).

2. Teil: Entscheidung des OVG Lüneburg vom27.02.2011 (7 PA 1/11):

Leitsatz:Zur Wiedergestattung gewerblicher Betätigungnach Ablauf von mehr als 20 Jahren seit Erlass derGewerbeuntersagung und zu den Bemessungs-grundsätzen bei Festsetzung einer Verwaltungs-gebühr.

Sachverhalt:Mit Bescheid vom 26. 4. 1990 untersagte der ehemali-ge Landkreis H. dem Kl. das damals von ihm ausgeüb-te Gewerbe “Elektroinstallation” sowie die Ausübungaller weiteren Gewerbe wegen steuerlicher Unzuver-lässigkeit. Unter dem 3.3.2009 beantragte der Kl. eineWiedergestattung des Gewerbes “Unabhängige Ge-bäudeenergieberatung, Ausarbeitung von Finanzie-rungsplänen, Baubegleitung”, nachdem er offenbarlange Zeit arbeitslos gewesen war und im November2008 bei der Handwerkskammer H. die Prüfung zumGebäudeenergieberater (HWK) bestanden hatte. DieBekl. lehnte den Wiedergestattungsantrag durch Be-scheid ab. Dem Kl. fehle noch immer die erforderlicheZuverlässigkeit. Die Rückstände beim Finanzamt sei-en auf inzwischen über 148.000 Euro angestiegen; dieletzte Zahlung dort habe er im April 1996 geleistet. Seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfehat das VG mit dem im Tenor bezeichneten Beschlussabgelehnt. Die gegen diesen Beschluss gerichtete Be-schwerde des Kl. hatte Erfolg.

Aus den Gründen:[Prozesskostenhilfe] wird nach § 166 VwGO i.V. mit§ 114 S. 1 ZPO bewilligt, wenn die beabsichtigte

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Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichen-de Aussicht auf Erfolg bietet. Die Anforderungen andie Erfolgsaussichten dürfen nicht überspannt werden.Es reicht in der Regel aus, wenn Letztere sich beisummarischer Prüfung als zumindest offen darstellen(vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 16 Rdnr. 8, m.w.N.).So liegt es hier.

A. AnspruchsgrundlageNach § 35 VI 1 GewO ist die Ausübung eines Gewer-bes wieder zu gestatten, wenn Tatsachen die Annahmerechtfertigen, dass eine Unzuverlässigkeit im Sinnedes Absatzes 1 jener Vorschrift nicht mehr vorliegt.

B. Tatbestand

I. Positive ZukunftsprognoseDer Untersagungsgrund der Unzuverlässigkeit aussteuerrechtlichen Gründen, um den es vorliegend geht,entfällt regelmäßig zwar erst dann, wenn der Ast. dieRückstände inzwischen abgebaut, Abzahlungsverein-barungen eingehalten, neue Verpflichtungen erfülltund keine weiteren Schulden hat auflaufen lassen(Landmann/Rohmer/Marcks, GewO, § 35 Rdnr. 174,m.w.N.). Es darf jedoch nicht aus dem Auge geraten,dass es bei der Gewerbeuntersagung nach § 35 I Ge-wO um den Schutz der Allgemeinheit vor solchen Per-sonen geht, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie ihrGewerbe (auch) in Zukunft nicht ordnungsgemäß aus-üben werden. Das in der Vergangenheit gezeigte Ver-halten dient für diese prognostische Entscheidung als -durchaus starkes - Indiz; nicht soll es durch die Ge-werbeuntersagung aber gleichsam bestraft werden.

II. Insbesondere nach lange zurückliegender Unter-sagungDieser Zusammenhang macht deutlich, das ein Verhal-ten in der Vergangenheit, das sehr lange zurückliegtund seither durch eine wechselnde Erwerbsbiografienachhaltig unterbrochen worden ist, nur noch bedingt

Schlüsse auf ein zukünftiges gewerbliches Gebarenzulässt. Die hier zur seinerzeitigen Gewerbeuntersa-gung führende Schuldensituation ist vor mehr als 20Jahren eingetreten. Wenn es zutrifft, dass der Kl., wieer vorträgt, danach in abhängiger Beschäftigung zuwenig oder wegen Arbeitslosigkeit gar nichts verdienthat und deshalb mit dem Finanzamt keine Abzah-lungsvereinbarung schließen konnte, erklärte dies,dass die Rückstände nicht gesunken, sondern durchden fortwährenden Anfall von Säumniszuschlägensogar stark gestiegen sind. Das kann den Kl. zwarnicht von seiner Verantwortlichkeit für das damaligeEntstehenlassen der Steuerrückstände befreien. Esbietet jedoch möglicherweise keinen Grund für denVorwurf, die Rückstände nicht abgebaut zu haben,und eine daraus gleichsam automatisch abgeleiteteSchlussfolgerung, er werde auch als Gewerbetreiben-der mit Einnahmen sich wieder ohne weiteres steuer-rechtswidrig verhalten.Eine Gewerbeuntersagung ist auch dann nicht mehrrechtmäßig, wenn es inzwischen an der Erforderlich-keit oder Verhältnismäßigkeit mangelt (Marcks, § 35Rdnr. 174). Insbesondere letzterer Gesichtspunkt ist inden Blick zu nehmen, wenn die Untersagung auf einegleichsam lebenslängliche hinauszulaufen droht.Das Fortbestehen auch erheblicher Steuerschulden aus(sehr) alter Zeit kann damit nicht schematisch als Be-gründung der Ablehnung einer Wiedergestattung die-nen. Es wird vielmehr detailliert zu würdigen sein, wieder Kl. sich nach der Gewerbeuntersagung steuerlichund finanziell verhalten hat und welche Schlussfolge-rungen daraus für die jetzt von ihm beabsichtigte ge-werbliche Betätigung in Bezug auf seine Zuverlässig-keit zu ziehen sind. Zu berücksichtigen dürfte auchsein, dass es sich offensichtlich um einen Ein-Personen-Betrieb handeln wird, für den Waren nichtgekauft zu werden brauchen, der Kl. im Gegenteil mitseiner Dienstleistung in Vorlage treten würde. Ein Er-folg des Wiedergestattungsbegehrens ist danach nichtausgeschlossen.

Standort: Parteienrecht Problem: Chancengleichheit bei “Wahl-O-Mat”

VG KÖLN, BESCHLUSS VOM 18.03.2011

6 L 372/11 (NVWZ-RR 2011, 475)

Problemdarstellung:

Die Bundeszentrale für politische Bildung ist eine1952 von der Bundesregierung ins Leben gerufeneEinrichtung der Bundesregierung, deren Aufgabe da-rin besteht, das Verständnis der Bevölkerung für poli-tische Sachverhalte zu fördern, ihr demokratischesBewusstsein zu festigen und ihre Bereitschaft zur poli-tischen Mitarbeit zu stärken. Im Rahmen dieser Tätig-keit unterhält sie u.a. einen Internetauftritt, zu dessen

Angebot vor Wahlen ein sog. “Wahl-O-Mat” gehört,der Interessierten auf der Grundlage der Beantwortungeiniger Fragen interaktiv aufzeigt, welche Partei ihrerpolitischen Gesinnung besonders nahesteht.

Dieser “Wahl-O-Mat” war Gegenstand der vorliegen-den Entscheidung des VG Köln, denn eine kleine Par-tei (die “ddp”) sah sich bei den Auswahlmöglichkeitennicht hinreichend repräsentiert und dadurch in ihrerChancengleichheit verletzt. Das VG Köln führt aus,dass...

...sich aus Art. 21 I i.V.m. Art. 3 I GG sehr wohl einAnspruch aller Parteien - also auch der außerparla-

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mentarischen, kleinen Parteien - auf Chancengleich-heit im Rahmen von Wahlen ergebe,

...sich dieser Anspruch auch gegen die Bundeszentralefür politische Bildung richte, weil diese von der Bun-desregierung unterhalten werde und somit eine staatli-che Stelle sei,

...dass die Bundeszentrale für politische Bildung dieLegitimation für ihr Informationshandeln jedoch eben-so wie die Bundesregierung selbst in Art. 65 GG findeund

...die konkrete Ausgestaltung des “Wahl-O-Mat” eineUngleichbehandlung der Parteien nicht (bzw. nichtüber das unvermeidliche Maß hinaus) erkennen lasse,sodass ein Verstoß gegen Art. 21 i.V.m. 3 I GG nichtgegeben sei.

Prüfungsrelevanz:

Die Entscheidung des VG Köln erging im Rahmeneines Eilantrages nach § 123 I VwGO auf Abschaltungder Internetseite mit dem “Wahl-O-Mat”. Sie könntein diesem Rahmen oder im Rahmen eines verfassungs-rechtlichen Antrags vor dem BVerfG in Prüfungsauf-gaben verwendet werden. In st.Rspr. erkennt dasBVerfG das Recht der Parteien an, gestützt auf ihrenAnspruch auf Chancengleichheit Organstreitverfahrennach Art. 93 I Nr. 1 GG durchzuführen (so z.B. inBVerfG, RA 2005, 112 = NVwZ 2004, 1473; BVerfG,NJW 1992, 2545; BVerfG, LKV 1996, 333; BVerfGE66, 107, 115).

Die Prüfungsrelevanz der Entscheidung wird dadurcherhöht, dass die Bundeszentrale für politische Bildungmit ihrem Informationshandeln in der jüngeren Ver-gangenheit bereits das BVerfG beschäftigt hat. Dortging es zwar nicht um den Internatauftritt und dieChancengleichheit von Parteien, aber um die minde-stens ebenso examensrelevante Veröffentlichung einerSchrift mit grundrechtswidrigem Inhalt (vgl. dazu dieVertiefungshinweise).

Gut merken sollte man sich, dass die Informations-kompetenz der Bundeszentrale für politische Bildungaus der “gubernativen Staatsleitungskompetenz” desArt. 65 GG folgt. Zwar spricht Art. 65 S. 2 GG nurvom Bundeskanzler (S. 1, 4), den Ministerien (S. 2)und der Bundesregierung (S. 3), die Bundeszentralefür politische Bildung wird jedoch vom Bundesminis-terium des Innern geführt und diesem von den Gerich-ten (hier das VG Köln, ebenso das BVerfG a.a.O.) inpuncto Öffentlichkeitsarbeit gleichgestellt.

Vertiefungshinweise:“ Zu grundrechtswidrigen Äußerungen der Bundes-zentrale für politische Bildung: BVerfG, RA 2010, 626= NJW 2011, 511; Bertram, NJW 2011, 513

“ Chancengleichheit der Parteien als Anspruchs-

grundlage: OVG Münster, NJW 2002, 3417; VGHMünchen, NVwZ 1991, 581; Klenke, NWVBl 1990,334 [336]; Hoefer, NVwZ 2002, 695

“ Allgemein zur Chancengleichheit der Parteien:BVerfG, RA 2005, 112 = NVwZ 2004, 1473; BVerfGE85, 264 [296]; 107, 286 [294]

Kursprogramm:

“ Examenskurs : “Krampf mit dem Wahlkampf”

Leitsatz (der Redaktion):Die Bundeszentrale für politische Bildung hat kei-nen Verstoß gegen die Chancengleichheit der Par-teien aus Art. 3 I i.V.m. Art. 21 GG dadurch be-gangen, dass sie im Vorfeld der Landtagswahl vom27.3.2011 in Rheinland-Pfalz einen “Wahl-O-Mat”in ihren Internetauftritt integriert hat.

Sachverhalt:Der Landesverband Rheinland-Pfalz der “deutschendemokratischen partei” (ddp) beantragte, es der Bun-deszentrale für politische Bildung in Bonn durcheinstweilige Anordnung zu untersagen, die Inter-net-Seite mit dem „Wahl-O-Mat“ bis zur Landtags-wahl am 27.3.2011 zu betreiben. Der “Wahl-O-Mat” ist ein von der Bundeszentrale fürpolitische Bildung seit mehreren Jahren vor Wahlenim Internet angebotenes Frage- und Antwort-Pro-gramm, das interaktiv genutzt werden kann und zeigensoll, welche zu einer Wahl zugelassene Partei der ei-genen politischen Position am nächsten steht. Mit ih-rem Eilantrag machte die ddp geltend, dass die mitdem “Wahl-O-Mat” bei den Nutzern abgefragten 38Thesen zur Landtagswahl in Rheinland-Pfalz einseitigan den Programmen der großen Parteien ausgerichtetseien. Darum verletzten sie die ddp in ihrem Recht aufChancengleichheit.

Aus den Gründen:Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweili-gen Anordnung gem. § 123 I 2 VwGO liegen nichtvor.

A. Zulässigkeit/StatthaftigkeitNach dieser Vorschrift kann das VG eine einstweiligeAnordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandsin Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen,wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicherNachteile oder zur Verhinderung drohender Gewaltoder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dies setztgem. § 123 III VwGO i.V. mit § 920 II ZPO voraus,dass der Ast. einen Anordnungsanspruch (ein subjek-tiv öffentliches Recht auf das begehrte Verwaltungs-handeln) und einen Anordnungsgrund (die besondereEilbedürftigkeit) glaubhaft macht.

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B. Begründetheit

I. Vorwegnahme der HauptsacheIst der Antrag - wie vorliegend - auf eine (teilweise)Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet, sind an dieGlaubhaftmachung von Anordnungsgrund und An-ordnungsanspruch erhöhte Anforderungen zu stellen.Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt mitBlick auf Art. 19 IV GG allerdings in Betracht, wennein Obsiegen des Ast. in der Hauptsache bei summari-scher Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwar-ten ist und dem Ast. ohne den Erlass einer einstweili-gen Anordnung schwere und unzumutbare Nachteileentstünden, die auch bei einem späteren Erfolg in derHauptsache nicht mehr beseitigt werden könnten (vgl.BVerwGE 109, 258; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl.[2009], § 123 Rdnr. 14, m.w.N.).Auf dieser Grundlage beschränkt sich die Kammernicht auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaus-sichten in der Hauptsache, denn der behaupteten Ver-letzung der Chancengleichheit des Ast. könnte miteiner Hauptsacheentscheidung nach dem Wahltagnicht mehr wirksam begegnet werden. Das wäre mitArt. 19 IV GG unvereinbar.

II. AnordnungsanspruchGemessen hieran kommt der Erlass einer einstweiligenAnordnung nicht in Betracht. Der Ast. hat einen An-ordnungsanspruch auf Deaktivierung der fraglichenInternetseite in Rheinland-Pfalz nicht glaubhaft ge-macht. Eine Verletzung des verfassungsrechtlich ge-währleisteten Rechts auf Chancengleichheit (Art. 21 IGG i.V.m. Art. 3 I GG) liegt nicht vor.

1. Betreiben des Internetauftritts an sichDabei ist im Ausgangspunkt zu beachten, dass dieBundeszentrale für politische Bildung (im Folgenden:Bundeszentrale) mit dem “Wahl-O-Mat” im Zusam-menwirken mit der Landeszentrale für politische Bil-dung in Rheinland-Pfalz ihren verfassungsrechtlichenInformationsauftrag erfüllt. Hierfür kann sie sich aufdie kompetenzielle Rechtsgrundlage in Art. 65 GGberufen. Dabei handelt es sich um die der Bundesre-gierung zukommende Aufgabe der Staatsleitung, die,ohne dass es darüber hinaus einer besonderen gesetzli-chen Eingriffsermächtigung bedürfte, staatliches In-formationshandeln legitimieren kann. Namentlich ge-stattet sie es der Bundesregierung, die Bürger mit sol-chen Informationen zu versorgen, deren diese zur Mit-wirkung an der demokratischen Willensbildung bedür-fen. Angesichts dessen ist es verfassungsrechtlichnicht zu beanstanden, dass die Bundesregierung eineBundeszentrale für politische Bildung unterhält, dieihrerseits ein Internetangebot zur politischen Bildungbetreibt.

2. Betreiben des “Wahl-O-Mat”Eingebunden in einen Bildungsauftrag ist diese auchnicht von vornherein darauf verwiesen, alle von Art. 5I GG geschützten Meinungen und alle über Art. 21 IGG geschützten Parteien formal gleich zu behandeln;vielmehr kann sie insoweit auch wertende Unterschei-dungen treffen, hat dabei aber Ausgewogenheit undrechtsstaatliche Distanz zu wahren. Hierbei könneninsbesondere Kriterien wie Qualität und Repräsentati-vität eine maßgebliche Rolle spielen; insofern ist esder Bundeszentrale für politische Bildung nicht grund-sätzlich verwehrt, Extremmeinungen am Rande despolitischen Spektrums und solche, die von der Wis-senschaft nicht ernst genommen werden, nicht zu be-rücksichtigen, sie als solche zu bezeichnen und sichdemgegenüber auf die Präsentation von Haupt-strömungen zu konzentrieren (vgl. BVerfG, NJW2011, 511 m.Anm. Bertram).

a. Grundsatz der ChancengleichheitVor Wahlen hat die Bundeszentrale jedoch das Rechtder Bewerber auf gleiche Chancen im Wettbewerb umdie Wählerstimmen in besonderer Weise zu beachten.Sie ist verpflichtet, jeder Partei grundsätzlich die glei-chen Möglichkeiten im Wahlkampf und im Wahlver-fahren offen zu halten. Aus der besonderen verfas-sungsrechtlichen Bedeutung der Parteien, die sie vonanderen Institutionen wesentlich unterscheidet, folgtder Anspruch auf Beachtung des Grundsatzes derChancengleichheit ohne Weiteres als ein Bestandteilder demokratischen Grundordnung mit Verfassungs-rang. Die politischen Parteien wirken bei der politi-schen Willensbildung des Volkes in einer herausgeho-benen und von der Verfassung anerkannten Funktionmit. „Kernstück“ dieser Mitwirkung ist die Teilnahmean Parlamentswahlen mit dem Ziel, durch die Entsen-dung von Abgeordneten an der Bildung funktionsfähi-ger Verfassungsorgane mitzuwirken (vgl. BVerfGE44, 125 [145]). Wird die unverzichtbare Funktion derParteien dadurch berührt, dass die Chancengleichheitauf Grund von redaktionsähnlichen Maßnahmen derBundeszentrale verletzt wird, haben die Parteien einedurchsetzbare Rechtsposition zur Wahrung ihrer zen-tralen Aufgaben jedenfalls im unmittelbaren zeitlichenund sachlichen Zusammenhang mit einer Wahl (vgl.OVG Münster, NJW 2002, 3417 m.w.N.; Klenke,NWVBl 1990, 334 [336]; BremStGH, NVwZ-RR1997, 329).

b. SubsumtionHiervon ausgehend verstößt das fragliche Internetan-gebot der Ag. nicht gegen Art. 21 I i.V. mit Art. 3 IGG.

aa. Auswahl der ThesenUnberechtigt ist zunächst der Einwand des Ast., die

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RA 2011, HEFT 7ÖFFENTLICHES RECHT

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insgesamt 38 ausgewählten politischen Thesen, dieder “Wahl-O-Mat” berücksichtige, seien willkürlichvorgegeben worden. Die fraglichen Thesen sind nachLage der Akten in einem – von der Ag. eingehend wienachvollziehbar dargestellten – mehrstufigen Verfah-ren durch parteipolitisch „unbefangene“ Jugendlicheerarbeitet und ausgewählt worden. Die Jugendlichensind dabei von Experten aus dem Bundesland und er-fahrenen Politikwissenschaftlern begleitet worden. Inden Auswahlprozess sind zudem sämtliche zur Wahlzugelassenen Parteien und insbesondere auch der Ast.selbst eingebunden worden. Dass es im Rahmen diesesAuswahlverfahrens notwendigerweise zu einer Be-grenzung der Anzahl der veröffentlichen Thesen undzu einer Beschränkung auf – von den Jugendlichen –als landespolitisch besonders bedeutsam erachteteThemen gekommen ist, ist verfassungsrechtlich un-problematisch. Mit Blick auf das Ziel des Angebots –die Förderung des Interesses Jugendlicher an Wahlen– ist es weder möglich noch geboten, alle politischenPositionen jeder zur Wahl zugelassenen Partei in denThesenkatalog einzubeziehen.

bb. Anzeige der ParteienErfolglos bleibt auch der Einwand des Ast., der

„Wahl-O-Mat“ hebe vor Anzeige des Ergebnisses dieParteien SPD, CDU und FDP besonders hervor. Dieseoptische Hervorhebung (durch einen „umrandentenKasten“) ist zulässig. Sie dient allein der Kennzeich-nung der Parteien, deren Abgeordnete schon jetzt imLandtag vertreten sind. Dabei handelt es sich um einesinnvolle Information für die Nutzer, mit der eine Ma-nipulation des Nutzer- und Wählerverhaltens nichtansatzweise verbunden ist.

cc. Beschränkung auf acht ParteienNicht zu beanstanden ist schließlich auch die Be-schränkung der Auswahlmöglichkeit auf acht Parteien.Die Befürchtung des Ast., damit könne das Nutzer-und Wählerverhalten beeinflusst werden, teilt dieKammer nicht. Jedem Nutzer ist es auf der Grundlageder auf der fraglichen Internetseite veröffentlichenParteipositionen möglich, auch den Ast. in die „engereWahl“ von höchstens acht Parteien einzubeziehen.Eine gleichheitswidrige Bevorzugung anderer Parteienist damit nicht verbunden. Dies gilt umso mehr, als dieNutzer die Parteiauswahl jederzeit ändern und so kurz-fristig ein vergleichendes Ergebnis zu jeder der zurWahl zugelassenen Partei erhalten können.

IMPRESSUM

HERAUSGEBERIN: JURA INTENSIV VERLAGS-GMBH & CO. KG, Salzstraße 18, 48143 Münster

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Zivilrecht

Standort: ZPO I Problem: § 259 ZPO

BGH, URTEIL VOM 04.05.2011

VIII ZR 146/10 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Die Bekl. sind seit Oktober 2004 Mieter einer Woh-nung der Kl. in H. Die monatliche Warmmiete beträgt470,- i. In den Monaten Dezember 2006, Oktober2007 und September 2008 zahlten die Bekl. die Mietenicht. Daraufhin kündigten die Kl. das Mietverhältnisaußerordentlich und verlangten Räumung und Heraus-gabe der Wohnung bis spätestens 31.12.2008. Gleich-zeitig forderten sie die Bekl. zur Zahlung der rückstän-digen Miete auf. Die Bekl. zahlten am 28.11.2008 dieMiete für September 2008 nach und verblieben in derWohnung. Weitere Zahlungen erfolgten nicht.

Mit ihrer am 31.01.2009 zugestellten Klage begehrendie Kl. die Zahlung der ausstehenden Miete, sowieRäumung und Herausgabe der Wohnung. Vorsorglicherklären sie erneut die fristlose Kündigung wegen derzwischenzeitlich angefallenen Zahlungsrückstände.Außerdem begehren sie die Verurteilung der Bekl., abFebruar 2009 bis zur vollständigen Räumung und He-rausgabe der Wohnung an die Kläger eine Nutzungs-entschädigung in Höhe von 470 i pro Monat zu zah-len.

Die Bekl. sind der Ansicht, dass jedenfalls eine Ver-urteilung zur künftigen Zahlung einer monatlichenNutzungsentschädigung nicht erfolgen könne.

Prüfungsrelevanz:Das Urteil verbindet mietrechtliche Erwägungen mitder zivilprozessualen Frage, wann eine Klage aufkünftige Leistung zulässig ist.

A. Kündigung

Ein Mietverhältnis kann gem. § 543 II 1 Nr. 3 b) BGBaußerordentlich gekündigt werden, wenn sich der Mie-ter im Kündigungszeitpunkt mit mehr als zwei Mo-natsmieten im Rückstand befindet. Das war vorliegendder Fall. Das Berufungsgericht hatte jedoch die Aus-sprache der Kündigung als rechtsmissbräuchlich ange-sehen, da zwischen den einzelnen Nichtzahlungen derBekl. erhebliche Zeiträume lagen. Da § 314 III BGBjedoch verlange, dass Dauerschuldverhältnisse in einerangemessenen Frist nach Kenntnis des Kündigungs-grundes gekündigt werden, sei hier vor der Kündigungeine Abmahnung zu verlangen gewesen.

Der Senat weist daraufhin, dass die Voraussetzungenfür eine außerordentliche Kündigung jedenfalls imZeitpunkt der erneuten Aussprache derselben in derKlageschrift erfüllt waren. Zu diesem Zeitpunkt hattendie Bekl. erneut die Miete für zwei Monate (Dezember2008, Januar 2009) nicht gezahlt (§ 543 II 1 Nr. 3 bBGB), wobei mit der erstmaligen Kündigung und derKlageerhebung das Abmahnungserfordernis erfüllt ist.

In der Sache war dennoch fraglich, ob die Kündigungdurchgriff, da zwischen den Parteien streitig war, obdie Kl. auch gegenüber allen Mietern gekündigt hatten(Rn. 12, 13 d. Urteils).

B. Klage auf künftige Leistung der Nutzungsentschädi-gung

Gem. § 259 ZPO ist eine Klage auf künftige Leistungzulässig, wenn die Besorgnis gerechtfertigt ist, dassder Schuldner sich der rechtzeitigen Erfüllung entzie-hen wird. Nach h.M. ist das anzunehmen, wenn derSchuldner ohne triftigen Grund die Erfüllung des Be-gehrens verweigert oder den Anspruch ernsthaft be-streitet (Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivil-recht, Rn. L-5 m.w.N.). Der Senat sieht diese Voraus-setzungen als erfüllt an, da die Bekl. einen Betrag ha-ben auflaufen lassen, der die Bruttomonatsmiete von470,- i mehrfach überstieg. Insofern ist zu befürch-ten, dass sie auch einer Forderung nach Nutzungsent-schädigung nicht nachkommen werden.

Vertiefungshinweise:“ Zur Klage auf künftige Leistung: BAG, NZA 2008,1257 (Klage auf zukünftige Vergütungsleistung);BGH, NJW 2003, 1395 (Klage auf künftige Nutzungs-entschädigung); Peter, JuS 2011, 322; Gsell, JZ 2004,110 (Klage auf Schadensersatz statt der Leistung)

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Keine Lust auf Schönheitsreparatu-ren”

“ Examenskurs: “Die Traumwohnung”

Leitsatz:Eine Klage des Vermieters auf zukünftige Leistunggemäß § 259 ZPO ist zulässig, wenn der Mieter ei-nen Rückstand an Miete und Mietnebenkosten ineiner die Bruttomiete mehrfach übersteigenden

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RA 2011, HEFT 7ZIVILRECHT

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Höhe hat auflaufen lassen.

Sachverhalt: Die Beklagten sind seit 1. Oktober 2004 Mieter einerWohnung der Kläger in H. . In dem mit der Rechts-vorgängerin der Kläger am 24. September 2004 ge-schlossenen Mietvertrag vereinbarten die Parteien einemonatliche Kaltmiete von 395 i zuzüglich Neben-kostenvorauszahlungen in Höhe von 75 i/Monat.Die Beklagten zahlten die spätestens am dritten Werk-tag eines Monats zur Zahlung fälligen Mieten für dieMonate Dezember 2006, Oktober 2007 und September2008 nicht. Am 17. November 2008 erklärte dieRechtsvorgängerin der Kläger - gestützt auf den aufge-laufenen Mietrückstand von 1.410 i - ohne vorherigeAbmahnung gegenüber den Beklagten die außeror-dentliche Kündigung des Mietverhältnisses und ver-langte Räumung und Herausgabe der Wohnung bisspätestens 31. Dezember 2008. Mit Schreiben vom 20.November 2008 forderte die Rechtsvorgängerin derKläger die Beklagten auf, die rückständigen Mietenzuzüglich nicht gezahlter Nebenkosten für die Jahre2005 bis 2007 (insgesamt 2.888,29 i) bis spätestens10. Dezember 2008 zu zahlen, und drohte an, Klage zuerheben, wenn der geforderte Betrag nicht fristgemäßeingehen sollte. Am 28. November 2008 zahlten dieBeklagten die Miete für September 2008 einschließ-lich der Nebenkosten (470 i); weitere Zahlungen er-folgten nicht.Mit der den Beklagten am 31. Januar 2009 zugestell-ten Klage vom 22. Januar 2009 nehmen die Kläger,die den Prozess als Rechtsnachfolger der ursprüng-lichen Klägerin aufgenommen haben, die Beklagtenauf Zahlung von 3.147,05 i nebst Zinsen sowie Er-stattung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von489,95 i, ferner auf Räumung und Herausgabe derWohnung in Anspruch. Die geltend gemachte Forde-rung in Höhe von 3.147,05 i setzt sich zusammen ausden rückständigen Mieten für Dezember 2006 undOktober 2007 zuzüglich nicht gezahlter Nebenkostenfür die Jahre 2005 bis 2007 sowie Nutzungsentschädi-gung für die Monate Dezember 2008 und Januar 2009.Weiter begehren die Kläger die Verurteilung der Be-klagten, ab Februar 2009 bis zur vollständigen Räu-mung und Herausgabe der Wohnung an die Klägereine Nutzungsentschädigung in Höhe von 470 i/Mo-nat nebst Zinsen zu zahlen. In der Klageschrift hat dieRechtsvorgängerin der Kläger - gestützt auf die imEinzelnen aufgeführten Zahlungsrückstände - vorsorg-lich erneut die fristlose Kündigung des Mietverhält-nisses erklärt.Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Hierge-gen haben die Beklagten Berufung eingelegt, soweitsie zur Räumung und zur zukünftigen Leistung einermonatlichen Nutzungsentschädigung in Höhe von 470i ab Februar 2009 verurteilt worden sind. Das Land-

gericht hat das erstinstanzliche Urteil insoweit abgeän-dert und die Klage auf Räumung und auf zukünftigeZahlung - letztere als unzulässig - abgewiesen. Mit dervom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstre-ben die Kläger die Wiederherstellung des amtsgericht-lichen Urteils.

Aus den Gründen:[5] Die Revision hat Erfolg.

A. Ausführungen des Berufungsgerichts [6] Das Berufungsgericht hat zur Begründung seinerEntscheidung im Wesentlichen ausgeführt:[7] Den Klägern stehe ein Räumungs- und Herausga-beanspruch gegen die Beklagten nicht zu, da die au-ßerordentliche Kündigung vom 17. November 2008rechtsmissbräuchlich sei. Zwar hätten sich die Beklag-ten im Kündigungszeitpunkt mit den Mietzahlungenfür Dezember 2006, Oktober 2007 und September2008, mithin mit mehr als zwei Monatsmieten, in Rüc-kstand befunden, so dass die Kündigungsvorausset-zungen nach § 543 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. bBGB an sich erfüllt gewesen seien. Die Rechtsvorgän-gerin der Kläger hätte die Beklagten aber vor Aus-spruch der Kündigung darauf hinweisen müssen, dasssie nicht länger bereit sei, weitere Zahlungsrückständefolgenlos hinzunehmen. Zwar bedürfe es im Falle ei-nes Verzugs der Mietzahlung grundsätzlich keiner Ab-mahnung. Im Streitfall sei jedoch zu berücksichtigen,dass zwischen der Entstehung der Zahlungsrückständeein Zeitraum von zehn beziehungsweise elf Monatenliege. Bei dieser Sachlage hätte die Rechtsvorgängerinder Kläger die Beklagten abmahnen müssen, dennnach § 314 Abs. 3 BGB könne ein Dauerschuldver-hältnis nur innerhalb einer angemessenen Frist, nach-dem der Kündigende vom Kündigungsgrund Kenntniserlangt habe, gekündigt werden. Die Rechtsvorgänge-rin der Kläger habe jedoch zwischen dem zweiten unddritten Zahlungsrückstand einen Zeitraum von elf Mo-naten verstreichen lassen, ohne die rückständigen Mie-ten anzumahnen oder das Mietverhältnis zu kündigen.Die fehlende Abmahnung habe bei den Beklagten dasVertrauen entstehen lassen, dass auch weitere Nicht-zahlungen nicht zum Anlass für eine Kündigung ge-nommen würden.[8] Die Klage auf Zahlung zukünftiger Nutzungsent-schädigung sei unzulässig, da die Voraussetzungendes § 259 ZPO nicht gegeben seien. Weder hätten dieBeklagten die Berechtigung der Mietforderungen derKläger ernsthaft bestritten, noch seien Anhaltspunktefür eine dauerhafte Zahlungsunfähigkeit der Beklagtenersichtlich. Insbesondere könne aus der Nichtzahlungvon drei Monatsmieten innerhalb eines Zeitraums vondrei Jahren nichts für eine Zahlungsunfähigkeit derBeklagten hergeleitet werden.

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B. Entscheidung des BGH [9] Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfungnicht stand. Auf der Grundlage der vom Berufungs-gericht getroffenen Feststellungen kann ein Anspruchder Kläger auf Räumung und Herausgabe der Woh-nung aus § 546 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 543Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b BGB nichtverneintwerden. Die Klage auf künftige Zahlung von Mietebeziehungsweise Nutzungsentschädigung ist entgegender Auffassung des Berufungsgerichts zulässig; sie istauch begründet.

I. Über Anwendbarkeit des § 314 III BGB muss nichtentschieden werden [10] Es bedarf keiner Entscheidung, ob - wie es dasBerufungsgericht annimmt und der Senat auch bisheroffen lassen konnte (Senatsurteil vom 11. März 2009 -VIII ZR 115/08, NZM 2009, 314 Rn. 17 mwN) - § 314Abs. 3 BGB bei der Wohnraummiete im Rahmen desaußerordentlichen Kündigungsrechts wegen Zahlungs-verzugs gemäß § 543 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. bBGB Anwendung finden kann. Denn den Klägernsteht ungeachtet dessen das Recht zur fristlosen Kün-digung aus der genannten Vorschrift zu. Ob damit al-lerdings der Räumungs- und Herausgabeanspruch derKläger nach § 546 BGB begründet ist, entzieht sichderzeit einer abschließenden Beurteilung, da das Beru-fungsgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat,ob die Rechtsvorgängerin der Kläger gegenüber allenmit ihr vertraglich verbundenen Mietern gekündigthat, und hiervon die Wirksamkeit der Kündigung ab-hängt.

II. Kündigung der Kl. gem. § 543 I, II Nr. 3 b) BGB [11] Gemäß § 543 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. bBGB liegt ein wichtiger Grund für eine außerordentli-che fristlose Kündigung des Mietverhältnisses vor,wenn der Mieter in einem Zeitraum, der sich übermehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtungder Miete in Höhe eines Betrages in Verzug ist, derdie Miete für zwei Monate erreicht. Das war nach denFeststellungen des Berufungsgerichts jedenfalls beiAusspruch der weiteren fristlosen Kündigung in derKlageschrift der Fall, die sich unter anderem auf die inunmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dieserKündigung stehenden neuerlichen Mietrückstände fürdie Monate Dezember 2008 und Januar 2009 stützt.Allein dieser Zahlungsverzug erfüllt bereits die Vor-aussetzungen einer außerordentlichen Kündigung nach§ 543 Abs. 1, 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b BGB. Das Be-rufungsgericht hätte seiner Beurteilung diese Mietrüc-kstände bei Beachtung der in der Zustellung der Kla-geschrift am 31. Januar 2009 liegenden Kündigungder Kläger bereits deshalb zu Grunde legen müssen,weil mit der von den Beklagten mit der Berufung nichtangegriffenen erstinstanzlichen Verurteilung zur Zah-

lung von 3.147,05 i rechtskräftig fest steht, dass dieBeklagten der Klägerin im Kündigungszeitpunkt auchdie in der Urteilssumme enthaltenen Mietzahlungenfür Dezember 2008 und Januar 2009 schuldeten.[12] b) Auf der Grundlage der vom Berufungsgerichtgetroffenen Feststellungen kann indessen nicht ab-schließend beurteilt werden, ob die von der Rechts-vorgängerin der Kläger ausgesprochene Kündigungwirksam ist, was voraussetzt, dass sie gegenüber allenMietern erklärt worden ist (Senatsurteil vom 16. März2005 - VIII ZR 14/04, WuM 2005, 341 unter II 1).[13] Das Berufungsgericht hat hierzu keine Feststel-lungen getroffen. Dazu hätte Anlass bestanden, dennausweislich des mit der Klageschrift vorgelegtenMietvertrags war jedenfalls zu Vertragsbeginn auchdie Tochter der Beklagten Mieterin. (...)

III. Zulässigkeit der Klage auf künftige Leistung gem.§ 259 ZPO [14] Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichtsist die auf künftige Leistung gerichtete Zahlungsklagezulässig.[15] Gemäß § 259 ZPO kann Klage auf zukünftigeLeistung erhoben werden, wenn die Besorgnis ge-rechtfertigt ist, dass der Schuldner sich der rechtzeiti-gen Leistung entziehen werde. Die Besorgnis der nichtrechtzeitigen Leistung der Beklagten besteht im Streit-fall bereits deshalb, weil auf Grund der von den Be-klagten mit der Berufung nicht angegriffenen Verur-teilung zur Zahlung von 3.147,05 i nebst Zinsendurch das Amtsgericht rechtskräftig feststeht, dass dieBeklagten den Klägern diesen Betrag schulden. Wennaber die Beklagten einen Rückstand an Miete undMietnebenkosten in einer die Bruttomonatsmiete von470 i mehrfach übersteigenden Höhe haben auflaufenlassen, ist zu besorgen, dass die Beklagten künftigeNutzungsentgeltforderungen der Kläger - unabhängigdavon, ob sie Miete oder Nutzungsentschädigung zumGegenstand haben - nicht rechtzeitig erfüllen werden.Aus dem Senatsbeschluss vom 20. November 2002(VIII ZB 66/02, NJW 2003, 1395) ergibt sich entge-gen der Auffassung des Berufungsgerichts nichts an-deres.

IV. Zurückverweisung gem. § 563 I ZPO [16] Das Berufungsurteil kann nach allem keinen Be-stand haben; es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO).Die Sache ist hinsichtlich der Klage auf Räumung undHerausgabe der Mietwohnung gemäß § 563 Abs. 1ZPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dasBerufungsgericht zurückzuverweisen, damit die er-forderlichen Feststellungen zur Wirksamkeit der Kün-digung getroffen werden können. Bezüglich der - zu-lässigen - Klage auf künftige Zahlung von Miete be-ziehungsweise Nutzungsentschädigung ist der Rechts-streit zur Endentscheidung reif, so dass der Senat in

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RA 2011, HEFT 7ZIVILRECHT

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der Sache selbst zu entscheiden hat (§ 563 Abs. 3ZPO). Da die Beklagten den von den Klägern gefor-derten Betrag von monatlich 470 i im Falle der Un-wirksamkeit der Kündigung als Miete, andern-falls in

gleicher Höhe als Nutzungsentschädigung (§ 546aAbs. 1 BGB) schulden, ist insoweit die Berufung derBeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts zurückzuweisen.

Standort: ZPO I Problem: Zurechnung gem. § 85 II ZPO

OLG CELLE, BESCHLUSS VOM 09.12.2010

8 U 200/10 (NJOZ 2011, 1092)

Problemdarstellung:

Der Rechtsanwalt hatte seinen Referendar angewie-sen, die Berufungsbegründungsschrift einer bereitsfristgemäß für die Kl. eingelegten Berufung vorab andas Gericht zu faxen, um die Berufungsbegründungs-frist des § 520 II 1 ZPO zu wahren. Anschließend soll-te der Referendar die Frist aus dem Fristenkalenderstreichen. Der Referendar schickte den Schriftsatz ver-sehentlich nur mit der Post an das Gericht, ohne die-sen vorab zu faxen, und löschte die Frist aus dem Ka-lender. Der Schriftsatz ging nach Ablauf der Frist beiGericht ein. Mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag ver-sucht die Kl., den Rechtsstreit in den Stand vor derFristversäumung zurück zu versetzen.

Prüfungsrelevanz:Die Entscheidung ist insbesondere, aber nicht nur fürReferendare (in der Anwalts- und Wahlstation) inter-essant.

Die Einlegung eines Rechtsmittels hängt nicht nur imZivilprozessrecht häufig von der Wahrung zweierFristen, nämlich der Einlegungs- und der Begrün-dungsfrist ab. Gem. § 517 ZPO ist die Berufung regel-mäßig innerhalb eines Monats einzulegen; gem. § 520II 1 ZPO ist sie innerhalb von zwei Monaten ab Zu-stellung des Urteils zu begründen (aus § 130 Nr. 6ZPO ergibt sich, dass die Übermittlung von Schriftsät-zen per Telefax zulässig ist). Die Begründung ist gem.§ 520 I ZPO obligatorisch, so dass gem. § 522 I 2 ZPOeine Verwerfung der Berufung als unzulässig erfolgt,wenn sie nicht oder nicht fristgerecht begründet wird(anders z.B. bei der Berufung gegen ein Strafurteil, diegem. § 317 StPO keine Begründung erfordert). Zwarist die Begründungsfrist – wie sich z.B. aus der Mög-lichkeit einer Verlängerung in § 520 II 2 ZPO ersehenlässt – keine Notfrist. Dennoch kommt bei Fristversäu-mung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Standgem. §§ 233 ff. ZPO in Betracht (Anders/Gehle, Rn.S-50 m.w.N.).

Das setzt allerdings voraus, dass die Frist unverschul-det versäumt wurde.

Die Kl. war nicht selbst dafür verantwortlich, dass derSchriftsatz verspätet bei Gericht einging. Jedoch musssie sich grundsätzlich gem. § 85 II ZPO das Verschul-

den ihres Prozessbevollmächtigen zurechnen lassen.Verschulden Dritter, insbesondere des Büropersonalsdes Rechtsanwalts, hat sie dagegen nicht zu vertreten.Etwas anderes gilt nur, wenn das Handeln Dritter aufden Rechtsanwalt zurückzuführen ist, so dass wieder-um § 85 II ZPO eingreift.

Dabei gilt, dass der Anwalt bestimmte Arbeiten ansein Büropersonal und auch an einen Referendar über-tragen darf. Geht es dabei um die Wahrung von Fris-ten, sind bestimmte Voraussetzungen zu beachten:Zum einen erfordern derartige Aufgaben den Einsatzerfahrenen Personals. Zum anderen trifft den Anwalteine Anweisungs- und im Zweifel eine Kontroll-pflicht. So muss er sein Personal anweisen, nach einerÜbermittlung per Fax anhand des Sendeprotokolls zuüberprüfen, ob die Übermittlung vollständig und anden richtigen Empfänger erfolgt ist und erst danachdie Frist im Kalender zu streichen (BGH, NJW-RR2011, 138). Eine derartige Anweisung hatte derRechtsanwalt dem Referendar nicht erteilt. Daher hät-te er selbst kontrollieren müssen, ob das Fax beimrichtigen Empfänger eingegangen ist, was ebenfallsnicht geschah.

Zudem kritisiert der Senat, dass die Aufgabe nicht ei-nem erfahrenen Büroangestellten, sondern einem Re-ferendar übertragen wurde. Die juristische Vorbildungversetze den Referendar noch nicht in die Lage, Auf-gaben erfahrenen Büropersonals wahrzunehmen.

Die Kl. musste sich somit das Verschulden des An-walts gem. § 85 II ZPO zurechnen lassen, so dass derWiedereinsetzungsantrag keinen Erfolg haben konnte.

Vertiefungshinweise:

“ Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts bei Aufgaben-übertragung: BVerfG NJW 2008, 932; BGH, NJW-RR2011, 138; NJW 2010, 2287 (Vertrauen des Rechts-anwalts in ordnungsgemäße Durchführung der Anwei-sung); NJW-RR 2010, 998 (Wiedereinsetzung); NJW2004, 367

Kursprogramm:“ Assessorkurs: “Ein englisches Teeservice”

“ Assessorkurs: “Wer nicht zahlt, der fliegt ...”

Leitsatz (der Redaktion):Beauftragt ein Rechtsanwalt Büropersonal odereinen Referendar mit der Versendung fristwahren-

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der Schriftsätze per Telefax, muss er diese anwei-sen, anhand des Sendeprotokolls den Eingang beimrichtigen Empfänger zu kontrollieren und erst da-nach die entsprechende Frist aus einem Fristenka-lender zu löschen. Unterlässt er eine derartige An-weisung, trifft ihn selbst eine Kontrollpflicht.

Sachverhalt: Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist das am17. September 2010 verkündete Urteil der Einzelrich-terin der 13. Zivilkammer des Landgerichts Hannoveram 29. September 2010 zugestellt worden. MitSchriftsatz vom 28. Oktober 2010, eingegangen perFax beim Oberlandesgericht am gleichen Tag, hat dieKlägerin Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 29.November 2010, eingegangen beim Oberlandesgerichtam 1. Dezember 2010, hat die Klägerin durch ihrenProzessbevollmächtigten die Berufung begründe. Einevorherige Übersendung des Schriftsatzes per Fax er-folgte nicht. Die Berufungsbegründung vom 29. No-vember 2010 enthält auch, insoweit anders als der Be-rufungsschriftsatz vom 28. Oktober 2010 sowie einweiterer Schriftsatz vom gleichen Tag an das Landge-richt Hannover, keinen maschinenschriftlichen Hin-weis auf eine Vorabübersendung per Fax.Der am 1. Dezember 2010 beim Oberlandesgerichteingegangene Schriftsatz mit der Berufungsbegrün-dung hat die Frist des § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO nichtgewahrt. Dies nimmt auch die Klägerin nicht in Abre-de. Mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag vom 2. De-zember 2010, beim Oberlandesgericht per Fax einge-gangen am 6. Dezember 2010, beantragt sie unter Vor-lage einer Eidesstattlichen Versicherung des (damali-gen) Referendars ihres Prozessbevollmächtigten Wie-dereinsetzung in den vorigen Stand. Er habe den Re-ferendar angewiesen, die Berufungsbegründung vorabper Telefax an das Oberlandesgericht zu faxen undsodann die Frist im Fristenkalender zu streichen. Diessei versehentlich unterblieben.

Aus den Gründen:[3] Mit dieser Begründung kann Wiedereinsetzung inden vorigen Stand nicht gewährt werden. Gemäß §233 ZPO kann einer Partei auf Antrag Wiedereinset-zung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn sieohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist zur Be-gründung der Berufung einzuhalten. Die Partei hatdabei eigenes Verschulden sowie das Verschuldenihres bevollmächtigten Anwalts (§ 85 Abs. 2 ZPO) zuvertreten. Dagegen wird ihr ein Verschulden Dritter,insbesondere des Büropersonals ihres Anwalts, nichtzugerechnet.

A. Gesteigerte Anforderungen bei Aufgabenübertra-gung im Zusammenhang mit Fristen [4] Dessen Verschulden wird für die Partei nur maß-

geblich, wenn es auf ein eigenes Verschulden des An-walts zurückzuführen ist und damit wiederum § 85Abs. 2 ZPO Anwendung findet. Anerkanntermaßendarf der Anwalt bestimmte anfallende Arbeiten sei-nem Büropersonal übertragen. Auch eine Übertragungan einen Referendar ist nicht ausgeschlossen. Nichtausgeschlossen ist auch die Übertragung von Aufga-ben im Bereich der Fristenwahrung. Insoweit abersind in Fällen wie dem Vorliegenden strenge Anforde-rungen zu stellen, sodass grundsätzlich nur der Einsatzlangjährig erprobter und regelmäßig überwachter An-gestellter in Betracht kommt. Allerdings gilt auch beiMängeln im Bereich der Organisation, dass sie füreine Fristenversäumung nicht ursächlich sind, wennder Anwalt im Einzelfall eine ausreichende Einzel-anweisung an einen zuverlässigen Mitarbeiter erteilthat, deren Befolgung die Fristwahrung sichergestellthätte, der betreffende Mitarbeiter der Weisung abernicht nachkommt. Dies ist aber wiederum mit einerEinschränkung dahingehend zu versehen, dass auchEinzelanweisungen die hinreichende Gewähr bietenmüssen, dass eine Fristenversäumung zuverlässig ver-hindert wird (vgl. BGH, NJW 2004, 367, 369). Inhaltder behaupteten Anweisung an den Referendar warvorliegend nur das Faxen der Berufungsbegründungan das Oberlandesgericht und das anschließende Strei-chen der Frist im Fristenkalender. Dabei mag man denVortrag im Wiedereinsetzungsschriftsatz, es gehe umden 29. Oktober 2010, noch für ein Versehen halten,auch wenn man erwarten durfte, dass ein Anwalt je-denfalls im Wiedereinsetzungsschriftsatz ausreichendeSorgfalt walten lässt. Weiter ist dem Wiedereinset-zungsschriftsatz ebenso wie der Eidesstattlichen Ver-sicherung des Referendars nicht ausreichend deutlichzu entnehmen, dass eine ausreichend klare und un-missverständliche Anweisung dahingehend bestand,noch am gleichen, dem letzten Tag der Berufungsbe-gründungsfrist, die Berufungsbegründung an dasOberlandesgericht zu faxen. Allein dem Wort „vorab“lässt sich dies nicht mit hinreichender Sicherheit ent-nehmen. Ungenügend war es aber insbesondere, dassnach Versenden der Berufungsbegründung der Refer-endar die Frist im Fristenkalender streichen sollte.Allein mit dem Versenden war es aber nicht getan.Dieses rechtfertigte für sich genommen noch nicht, dieFrist als erledigt zu vermerken. Abzuwarten war vordem Löschen der Frist das Erstellen des Sendeberich-tes, weil erst dieser eine relative Sicherheit dafür bie-tet, dass das Fax den Empfänger auch, und zwar voll-ständig, erreicht hat. Es entspricht der ständigen ober-gerichtlichen Praxis, dass ein Anwalt seiner Pflichtzur wirksamen Ausgangskontrolle fristwahrenderSchriftsätze nur dann genügt, wenn er seine Angestell-ten anweist, nach einer Übermittlung per Telefax an-hand des Sendeprotokolls zu überprüfen, ob die Über-mittlung vollständig und an den richtigen Empfänger

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erfolgt ist und erst danach die Frist im Fristenkalenderzu streichen (vgl. zuletzt BGH, XII ZB 117/10, Be-schluss vom 22. September 2010, zit. nach juris). Einsolches Vorgehen ist vorliegend nicht behauptet wor-den.

B. Verschulden im konkreten Fall[5] Daneben war der Prozessbevollmächtigte der Klä-gerin aufgrund der Besonderheiten des Einzelfallesauch verpflichtet, sich zu vergewissern, dass seiner(ohnehin unvollständigen) Weisung entsprochen wor-den war. Dies gilt zum einen, weil ersichtlich die Fristvoll ausgeschöpft werden sollte. Das vollständigeAusschöpfen einer Frist steht einer Partei auch frei,aber die Sorgfaltsanforderungen steigen in dem Maße,in dem das Fristende bevorsteht. Aufmerksam werdenmusste der Prozessbevollmächtigte der Klägerin au-ßerdem, weil der Berufungsbegründungsschriftsatz,wie er vom Referendar entworfen, vervielfältigt undvom Prozessbevollmächtigten der Klägerin unter-schrieben worden war, anders als frühere Schriftsätzegerade keinen Hinweis darauf enthielt, dass derSchriftsatz vorab gefaxt werden sollte. Außerdemübertrug er die Arbeit nicht einer/einem erfahrenen

Büroangestellten, sondern seinem Referendar. Diesenmag er zwar, wie er ohne weitere Angaben pauschalbehauptet hat, eingewiesen haben. Dessen ungeachtetliegt der Ausbildungs- und Tätigkeitsschwerpunkt ei-nes Referendars nicht darin, Bürotätigkeiten zu erledi-gen. Die juristische Vorbildung versetzt einen Refer-endar noch nicht in die Lage, ohne weiteres solcheAufgaben wahrzunehmen, die ansonsten erfahrenemBüropersonal vorbehalten sind. Nimmt man weiterhinzu, dass es an einer vollständigen Weisung fehlteund der Referendar nicht einmal angewiesen war, denSendebericht abzuwarten, musste der Prozessbevoll-mächtigte der Klägerin sich über die Ausführung sei-ner Weisung vergewissern, damit nicht bereits ein all-tägliches Ereignis, wie das Entgegennehmen zweierTelefonanrufe durch den Referendar, zur Nichtaus-führung der Weisung führt (s. a. BGH, MDR 2004,1375).[6] Nach Überzeugung des Senats hat der Prozessbe-vollmächtigte der Klägerin daher schuldhaft gehan-delt. Dieses Verschulden muss sich die Klägerin ge-mäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen, sodass man-gels Verschuldens eine Wiedereinsetzung in den vori-gen Stand nicht in Betracht kommt.

Standort: Kaufrecht Problem: Ein- und Ausbaukosten

EUGH, URTEIL VOM 16.06.2011

C-65/09 UND C-87/09 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Dem EuGH stellte sich anhand zweier Fallgestaltun-gen die Frage nach der Ersatzfähigkeit von Ein- undAusbaukosten mangelhafter Kaufsachen:

I. Rechtssache C-65/09

W bestellte beim Verkäufer polierte Bodenfliesen zumPreis von 1.382,27 i. Nachdem diese zu zwei Drittelnverlegt worden waren, stellte W auf der OberflächeSchattierungen fest, die sich nicht entfernen ließen.Die Kosten für den notwendigen Austausch der Flie-sen bezifferte ein Sachverständiger mit ca. 5.800,- i.W begehrt diesen Betrag neben der Lieferung mangel-freier Fliesen vom Verkäufer ersetzt.

II. Rechtssache C-87/09

P bestellte im Internet eine Spülmaschine. Nach demordnungsgemäßen Einbau zeigte sich ein Mangel, denP bei der Verkäuferin rügte. Diese bot den Austauschan. P verlangte zudem den Ausbau der mangelhaftenMaschine und den Einbau des Ersatzgerätes auf Kos-ten der Verkäuferin. Dies lehnte die Verkäuferin ab.Nach erfolgloser Fristsetzung trat P vom Kaufvertragzurück und verlangt nun Rückzahlung des Kaufprei-

ses.

Prüfungsrelevanz:Der Gerichtshof legt eine lange erwartete Entschei-dung vor, die – trotz ihrer Folgeprobleme – Examens-relevanz haben wird.

Der BGH und das Amtsgericht Schorndorf hatten demGerichtshof anhand der o.g. Fallgestaltungen die Fra-gen vorgelegt, ob Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufricht-linie (1999/44/EG) dahingehend auszulegen sei, dassein zur Ersatzlieferung verpflichteter Verkäufer dieKosten des Ausbaus der mangelhaften Sache und dieKosten des Einbaus der Ersatzsache tragen muss, so-fern die betroffene Sache ihrer Art und ihrem Verwen-dungszweck nach einzubauen ist.

Der BGH hatte außerdem gefragt, ob die Regelung des§ 439 III BGB mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinievereinbar sei, sofern auf die Vorschrift auch eine ab-solute Unverhältnismäßigkeit erfasse. Denn zumindestder Wortlaut des § 439 III BGB gestattet dem Verkäu-fer, die vom Verbraucher gewählte Art der Nacherfül-lung (Nachbesserung, § 439 I Var. 1 BGB oder Nach-lieferung, § 439 I Var. 2 BGB) mit dem Hinweis aufunverhältnismäßig hohe Kosten zu verweigern, selbstwenn sie im Einzelfall die einzig mögliche Art derNacherfüllung darstellt (absolute Unverhältnismäßig-keit). Diese Frage hatte sich dem BGH aufgedrängt, daer in der zugrundeliegenden Entscheidung die Erstat-

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tungsfähigkeit der Ein- und Ausbaukosten im Ergebnisbloß deswegen versagt hatte, weil sie i.S.d. § 439 IIIBGB absolut unverhältnismäßig waren.

Zunächst bejaht der Gerichtshof die erste Frage: Ein-und Ausbaukosten müssen nach seiner Ansicht vomVerkäufer getragen werden. Dabei beruft er sich inerster Linie auf Art. 3 Abs. 2, 3 der Richtlinie, wonachder Käufer bei Vertragswidrigkeit eines Verbrauchs-gutes die unentgeltliche Herstellung des vertragsmäßi-gen Zustandes, also die unentgeltliche Nachbesserungoder –lieferung verlangen kann. Art. 3 Abs. 2, 3 derRichtlinie sollen den Verbraucher also vor drohendenfinanziellen Belastungen schützen. Daher seien geradeauch die Ein- und Ausbaukosten typischerweise zuverbauender Kaufsachen zu ersetzen. Denn hätte derVerkäufer von vornherein ordnungsgemäß erfüllt, wä-ren dem Käufer bloß einmalig Einbau- und überhauptkeine Ausbaukosten entstanden. Hierfür spreche auch,dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie den Verbraucher vonerheblichen Unannehmlichkeiten freistellen will, dieihm durch die Geltendmachung seiner Rechte entste-hen könnten. Schließlich betont der Gerichtshof, dassdies unabhängig davon gelte, ob der Verkäufer nachdem Vertrag zum Einbau verpflichtet war. Zwar werdedas Erfordernis des Einbaus durch die vertraglicheRegelung, also den Kaufvertrag bestimmt. Jedoch er-gäben sich Ansprüche wegen Schlechterfüllung ebennicht bloß aus eben diesem Vertrag, sondern geradeauch aus den Vorschriften über den Verbraucher-schutz, mithin aus Art. 3 der Richtlinie.

Auf die zweite Frage (absolute Unverhältnismäßig-keit) antwortet der Gerichtshof, dass eine nationaleRegelung wie § 439 III BGB dem Verkäufer zwarnicht das Recht gewähre, die einzig mögliche Art derNacherfüllung zu verweigern. Doch zeigten Art. 4 und5 der Richtlinie, dass gleichermaßen ein finanziellerSchutz des Verkäufers gewährleistet werden müsse.Dieser habe somit das Recht, die vom Käufer begehrteNacherfüllungsleistung wertmäßig auf ein verhältnis-mäßiges Maß herabzusetzen (zum Umfang: Rn. 76 d.Urteils).

Die Entscheidung wirft einige Folgeprobleme auf, na-mentlich die Frage nach den richtigen Anspruchs-grundlagen. Der Anspruch des Käufers auf Nacherfül-lung aus §§ 437 Nr. 1, 439 BGB erfasst nach derzeitigh.A. nämlich keinen Kostenerstattungsanspruch. Zwarstellt § 439 II BGB klar, dass der Käufer von den Kos-ten der Nacherfüllung weitgehend freigestellt werdensoll. Doch stellt dies keine taugliche Anspruchsgrund-lage für einen Ersatzanspruch in Geld dar, da im Kauf-recht eine Selbstvornahme nicht vorgesehen ist(MünchKommBGB/Westermann, § 439 Rn. 10m.w.N.). Sollte sich diese Auffassung nicht grundle-gend ändern, wäre dem Käufer nur mit einem Scha-densersatzanspruch aus §§ 437 Nr. 3, 280 I, III, 281

BGB geholfen. Unklar ist außerdem, wie der Verkäu-fer, der im Hinblick auf § 439 III BGB eine wertmäßi-ge Begrenzung des Nacherfüllungsverlangens hättevornehmen können, seine insoweit überpflichtmäßigeLeistung zurückfordern kann. Hier ist abzuwarten,welche Entwicklungen sich in Rechtsprechungen undLiteratur ergeben.

Vertiefungshinweise:“ Zur Erstattung von Ein- und Ausbaukosten: Cziup-ka, VuR 2009, 137 (Zur Reichweite des Ersatzliefe-rungsanspruchs bei eingebauten Gegenständen); Ska-mel, NJW 2008, 2820 (Nacherfüllung und Schadens-ersatz beim Einbau mangelhafter Sachen); BGH,BeckRS 2009, 05318 (Vorlagebeschluss des BGH);EuGH; NJW 2008, 1433 (“Quelle-Urteil”; Kein Wert-ersatz für die Nutzung vertragswidrigen Verbrauchs-guts)

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Der nostalgische Ofen”

“ Examenskurs: “Augen auf beim Mustangkauf”

Leitsätze:1. Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/EGdes Europäischen Parlaments und des Rates vom25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Ver-brauchsgüterkaufs und der Garantien für Ver-brauchsgüter ist dahin auszulegen, dass, wenn dervertragsgemäße Zustand eines vertragswidrigenVerbrauchsguts, das vor Auftreten des Mangelsvom Verbraucher gutgläubig gemäß seiner Artund seinem Verwendungszweck eingebaut wurde,durch Ersatzlieferung hergestellt wird, der Ver-käufer verpflichtet ist, entweder selbst den Ausbaudieses Verbrauchsguts aus der Sache, in die es ein-gebaut wurde, vor- zunehmen und das als Ersatzgelieferte Verbrauchsgut in diese Sache einzubau-en, oder die Kosten zu tragen, die für diesen Aus-bau und den Einbau des als Ersatz gelieferten Ver-brauchsguts notwendig sind. Diese Verpflichtungdes Verkäufers besteht unabhängig davon, ob ersich im Kaufvertrag verpflichtet hatte, das ur-sprünglich gekaufte Verbrauchsgut einzubauen.2. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 1999/44 ist dahinauszulegen, dass er ausschließt, dass eine nationalegesetzliche Regelung dem Verkäufer das Recht ge-währt, die Ersatzlieferung für ein vertragswidrigesVerbrauchsgut als einzig mögliche Art der Abhilfezu verweigern, weil sie ihm wegen der Verpflich-tung, den Ausbau dieses Verbrauchsguts aus derSache, in die es eingebaut wurde, und den Einbaudes als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts in dieseSache vorzunehmen, Kosten verursachen würde,

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die verglichen mit dem Wert, den das Verbrauchs-gut hätte, wenn es vertragsgemäß wäre, und derBedeutung der Vertragswidrigkeit unverhältnis-mäßig wären. Art. 3 Abs. 3 schließt jedoch nichtaus, dass der Anspruch des Verbrauchers auf Er-stattung der Kosten für den Ausbau des mangel-haften Verbrauchsguts und den Einbau des als Er-satz gelieferten Verbrauchsguts in einem solchenFall auf die Übernahme eines angemessenen Be-trags durch den Verkäufer beschränkt wird.

Sachverhalt:

A. In der Rechtssache C-65/09Herr Wittmer und Gebr. Weber schlossen einen Kauf-vertrag über polierte Bodenfliesen zum Preis von1 382,27 Euro. Nachdem Herr Wittmer rund zweiDrittel der Fliesen in seinem Haus hatte verlegen las-sen, stellte er auf der Oberfläche Schattierungen fest,die mit bloßem Auge zu erkennen waren.Daraufhin erhob Herr Wittmer eine Mängelrüge, dieGebr. Weber nach Rücksprache mit dem Herstellerder Fliesen zurückwies. In einem von Herrn Wittmereingeleiteten selbständigen Beweisverfahren kam derSachverständige zu dem Ergebnis, dass es sich bei denSchattierungen um feine Mikroschleifspuren handele,die nicht beseitigt werden könnten, so dass Abhilfenur durch einen kompletten Austausch der Fliesenmöglich sei. Die Kosten dafür bezifferte der Sachver-ständige mit 5 830,57 Euro.18. Nachdem Herr Wittmer Gebr. Weber vergeblichzur Leistung aufgefordert hatte, erhob er gegen siebeim Landgericht Kassel Klage auf Lieferung mangel-freier Fliesen und Zahlung von 5 830,57 Euro. DasLandgericht Kassel verurteilte Gebr. Weber aus demGesichtspunkt der Minderung zur Zahlung von 273,10Euro und wies die Klage im Übrigen ab. Auf die Beru-fung von Herrn Wittmer gegen die Entscheidung desLandgerichts Kassel verurteilte das OberlandesgerichtFrankfurt Gebr. Weber zur Lieferung neuer, mangel-freier Fliesen und zur Zahlung von 2 122,37 Euro fürAusbau und Entsorgung der mangelhaften Fliesen undwies die Klage im Übrigen ab.Gebr. Weber legte gegen das Urteil des Oberlandes-gerichts Frankfurt Revision beim Bundesgerichtshofein, der darauf hinweist, dass seine Entscheidung da-von abhänge, ob das Berufungsgericht zu Recht an-genommen habe, dass Herr Wittmer Erstattung derKosten des Ausbaus der mangelhaften Fliesen ver-langen könne. Da Herr Wittmer nach deutschem Rechtkeine Kostenerstattung verlangen könne, hänge dieAntwort auf diese Frage von der Auslegung des Art. 3Abs. 2 und 3 Unterabs. 3 der Richtlinie ab; gegebe-nenfalls sei § 439 BGB richtlinienkonform auszule-gen.Der Bundesgerichtshof führt hierzu aus, dass aus der

Verwendung des Begriffs „Ersatzlieferung“ in Art. 3Abs. 2 der Richtlinie gefolgert werden könnte, dassnicht nur ein vertragsgemäßes Verbrauchsgut zu lie-fern, sondern darüber hinaus das mangelhafte Ver-brauchsgut zu ersetzen und damit zu entfernen sei.Zudem könnte die nach Art. 3 Abs. 3 gebotene Be-rücksichtigung der Art und des Verwendungszwecksdes Verbrauchsguts im Zusammenhang mit der Pflichtzur Herstellung des vertragsgemäßen Zustands dafürsprechen, dass der Verkäufer im Zuge der Ersatzliefe-rung mehr als nur die Lieferung des vertragsgemäßenVerbrauchsguts, nämlich auch die Beseitigung desmangelhaften Verbrauchsguts schulde, um die art- undzweckentsprechende Verwendung des Ersatzes zu er-möglichen.Diese Frage brauchte allerdings nach Ansicht desBundesgerichtshofs nicht geprüft zu werden, wennGebr. Weber die Erstattung der Kosten des Ausbausder vertragswidrigen Fliesen unter Berufung auf ihreUnverhältnismäßigkeit habe verweigern können. Nach§ 439 Abs. 3 BGB könne der Verkäufer die vom Käu-fer gewählte Art der Nacherfüllung nicht nur dannverweigern, wenn ihm diese Art der Nacherfüllung imVergleich zu der anderen Art der Nacherfüllung un-verhältnismäßige Kosten verursache („relative Un-verhältnismäßigkeit“), sondern auch dann, wenn dievom Käufer gewählte Art der Nacherfüllung, selbstwenn sie die einzig mögliche sei, schon für sich alleinunverhältnismäßige Kosten verursache („absolute Un-verhältnismäßigkeit“). In der vorliegenden Rechtssa-che sei die begehrte Nacherfüllung durch Lieferungvertragsgemäßer Fliesen ein solcher Fall der absolutenUnverhältnismäßigkeit, da Gebr. Weber dadurch ne-ben den Kosten für die Lieferung in Höhe von rund1 200 Euro Kosten für den Ausbau der vertragswidri-gen Fliesen in Höhe von rund 2 100 Euro und damitinsgesamt Kosten von rund 3 300 Euro entstünden,was über der Schwelle von 150 % des Wertes desmangelfreien Verbrauchsguts liege, anhand deren dieVerhältnismäßigkeit eines solchen Begehrens im Vor-aus beurteilt werde.Die dem Verkäufer durch das nationale Recht gewähr-te Möglichkeit, die Nacherfüllung wegen einer sol-chen absoluten Unverhältnismäßigkeit ihrer Kosten zuverweigern, könnte jedoch im Widerspruch zu Art. 3Abs. 3 der Richtlinie stehen, der sich nach seinemWortlaut nur auf die relative Unverhältnismäßigkeitzu beziehen scheine. Es sei aber nicht ausgeschlossen,dass eine auf absolute Unverhältnismäßigkeit gestützteVerweigerung in den Geltungsbereich des Begriffs„Unmöglichkeit“ in Art. 3 Abs. 3 falle, da nicht davonausgegangen werden könne, dass die Richtlinie aus-schließlich Fälle physischer Unmöglichkeit erfassenund den Verkäufer auch zu einer wirtschaftlich un-sinnigen Nacherfüllung verpflichten wolle.Der Bundesgerichtshof hat daher das Verfahren ausge-

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setzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vor-abentscheidung vorgelegt:1. Sind die Bestimmungen des Art. 3 Abs. 3Unterabs. 1 und 2 der Richtlinie dahin auszulegen,dass sie einer nationalen gesetzlichen Regelung ent-gegenstehen, wonach der Verkäufer im Fall der Ver-tragswidrigkeit des gelieferten Verbrauchsguts dievom Verbraucher verlangte Art der Abhilfe auch dannverweigern kann, wenn sie ihm Kosten verursachenwürde, die verglichen mit dem Wert, den das Ver-brauchsgut ohne die Vertragswidrigkeit hätte, und derBedeutung der Vertragswidrigkeit unzumutbar (abso-lut unverhältnismäßig) wären?2. Falls die erste Frage zu bejahen ist: Sind die Be-stimmungen des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 Unterabs. 3der Richtlinie dahin auszulegen, dass der Verkäuferim Fall der Herstellung des vertragsgemäßen Zustandsdes Verbrauchsguts durch Ersatzlieferung die Kostendes Ausbaus des vertragswidrigen Verbrauchsguts auseiner Sache, in die der Verbraucher das Verbrauchsgutgemäß dessen Art und Verwendungszweck eingebauthat, tragen muss?

B. In der Rechtssache C-87/09Frau Putz und Medianess Electronics schlossen überdas Internet einen Kaufvertrag über eine neue Spül-maschine zum Preis von 367 Euro zuzüglich Nach-nahmekosten von 9,52 Euro. Die Parteien vereinbarteneine Lieferung bis vor die Haustür von Frau Putz. DieLieferung der Spülmaschine und die Kaufpreiszahlungerfolgten vereinbarungsgemäß.Nachdem Frau Putz die Spülmaschine bei sich in derWohnung hatte montieren lassen, stellte sich heraus,dass die Maschine einen nicht beseitigbaren Mangelaufwies, der nicht durch die Montage entstanden seinkonnte.Die Parteien einigten sich daher auf den Austausch derSpülmaschine. In diesem Rahmen verlangte Frau Putzvon Medianess Electronics, dass sie nicht nur die neueSpülmaschine anliefert, sondern auch die mangelhafteMaschine ausbaut und die Ersatzmaschine einbaut,oder dass sie die Aus- und Einbaukosten trägt, wasMedianess Electronics ablehnte. Da Medianess Elec-tronics auf die Aufforderung, die Frau Putz an sie ge-richtet hatte, nicht reagierte, trat Letztere vom Kauf-vertrag zurück.Frau Putz erhob gegen Medianess Electronics beimAmtsgericht Schorndorf Klage auf Rückerstattung desKaufpreises Zug-um-Zug gegen Übergabe der mangel-haften Spülmaschine.In der Vorlageentscheidung wird erläutert, dass nachdeutschem Recht die Wirksamkeit des Rücktritts vomKaufvertrag davon abhänge, ob Frau Putz MedianessElectronics erfolglos eine wirksame Frist zur Nach-erfüllung gesetzt habe, indem sie nur das geforderthabe, was Medianess Electronics schulde. Mithin

komme es für die Entscheidung des Rechtsstreits da-rauf an, ob Frau Putz habe verlangen dürfen, dass Me-dianess Electronics die mangelhafte Maschine aus-baue und die neue Maschine einbaue oder die Kostendieser Vorgänge trage.Das Amtsgericht Schorndorf stellt hierzu fest, dass derVerkäufer nach deutschem Recht auch dann nicht ver-schuldensunabhängig den Ausbau der mangelhaftenSache oder den Einbau der neuen Sache bzw. die ent-sprechenden Kosten zu übernehmen habe, wenn derVerbraucher die mangelhafte Sache vor dem Auftretendes Mangels bereits ihrer Bestimmung gemäß einge-baut habe. Eine solche Verpflichtung könnte sich aberaus der Richtlinie ergeben, da diese die Erreichungeines hohen Verbraucherschutzniveaus anstrebe undin Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 vorsehe, dass die Ersatz-lieferung ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für denVerbraucher zu erfolgen habe.Würden dem Käufer die Kosten des Einbaus der Er-satzsache nicht ersetzt, müsse er sie zweimal tragen,nämlich einmal für den Einbau der mangelhaften Sa-che und ein zweites Mal für den Einbau der Ersatzsa-che. Bei vertragsgemäßer Lieferung hätte er sie abernur einmal aufbringen müssen. Es sei zwar denkbar,dass der Verkäufer nur im Fall des Verschuldens ver-pflichtet sei, die Kosten des Einbaus der Ersatzsachezu tragen. Der Umstand, dass dem Verbraucher keinVerschulden vorgeworfen werden könne und der Man-gel eher dem Verkäufer zuzurechnen sei als dem Ver-braucher, rechtfertige es jedoch, diesem einen An-spruch unabhängig von einem Verschulden des Ver-käufers zu gewähren, für den es darüber hinaus leich-ter sei, den Hersteller in Regress zu nehmen.Zum Ausbau der mangelhaften Sache stellt das vorle-gende Gericht fest, dass der vertragsgemäße Zustandnicht nur umfasse, dass ein mangelfreies Vertragsgutgeliefert werde, sondern ebenso, dass kein mangelhaf-tes Vertragsgut in der Wohnung des Käufers verblei-be, was für eine Auslegung spreche, wonach der Ver-käufer zum Ausbau einer solchen Sache verpflichtetsei. Zudem könnte darin, dass eine mangelhafte Sachein der Wohnung des Verbrauchers verbleibe, eine er-hebliche Unannehmlichkeit für diesen liegen. Schließ-lich scheine der in Art. 3 der Richtlinie verwendeteBegriff „Ersatzlieferung“ darauf hinzuweisen, dasssich die Verpflichtung des Verkäufers nicht auf diebloße Lieferung einer mangelfreien Ersatzsache be-schränke, sondern auch auf den Austausch der man-gelhaften durch die mangelfreie Sache erstrecke.Das Amtsgericht Schorndorf hat daher das Verfahrenausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zurVorabentscheidung vorgelegt:1. Sind die Bestimmungen des Art. 3 Abs. 2 undAbs. 3 Unterabs. 3 der Richtlinie dahin auszulegen,dass sie einer nationalen gesetzlichen Regelung ent-gegenstehen, die besagt, dass der Verkäufer im Fall

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der Herstellung des vertragsgemäßen Zustands desVerbrauchsguts durch Ersatzlieferung die Kosten desEinbaus des nachgelieferten Verbrauchsguts in eineSache, in die der Verbraucher das vertragswidrigeVerbrauchsgut gemäß dessen Art und Verwendungs-zweck eingebaut hat, nicht tragen muss, wenn der Ein-bau ursprünglich nicht vertraglich geschuldet wurde?2. Sind die Bestimmungen des Art. 3 Abs. 2 undAbs. 3 Unterabs. 3 der Richtlinie dahin auszulegen,dass der Verkäufer im Fall der Herstellung des ver-tragsgemäßen Zustands des Verbrauchsguts durch Er-satzlieferung die Kosten des Ausbaus des vertrags-widrigen Verbrauchsguts aus einer Sache, in die derVerbraucher das Verbrauchsgut gemäß dessen Art undVerwendungszweck eingebaut hat, tragen muss?

Aus den Gründen:

A. Zur Verpflichtung des Verkäufers, die Ein- undAusbaukosten zu tragen

I. Maßgebliche Normen [43] Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3Abs. 1 der Richtlinie der Verkäufer dem Verbraucherfür jede Vertragswidrigkeit haftet, die zum Zeitpunktder Lieferung des Verbrauchsguts besteht.[44] Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie nennt die Ansprüche,die der Verbraucher bei Vertragswidrigkeit des gelie-ferten Verbrauchsguts gegen den Verkäufer hat. Zu-nächst kann der Verbraucher die Herstellung des ver-tragsgemäßen Zustands des Verbrauchsguts verlangen.Kann er die Herstellung des vertragsgemäßen Zu-stands nicht erlangen, so kann er in einem zweitenSchritt eine Minderung des Kaufpreises oder die Ver-tragsauflösung verlangen.[45] Zur Herstellung des vertragsgemäßen Zustandsdes Verbrauchsguts bestimmt Art. 3 Abs. 3 der Richt-linie, dass der Verbraucher vom Verkäufer die unent-geltliche Nachbesserung des Verbrauchsguts oder eineunentgeltliche Ersatzlieferung verlangen kann, sofernnicht die Erfüllung seiner Forderung unmöglich oderdie Forderung unverhältnismäßig ist.

II. Wesentlich: Unentgeltlichkeit[46] Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, gehtdemnach aus dem Wortlaut von Art. 3 der Richtliniewie auch im Übrigen aus den einschlägigen Vorarbei-ten der Richtlinie hervor, dass der Unionsgesetzgeberdie Unentgeltlichkeit der Herstellung des vertragsge-mäßen Zustands des Verbrauchsguts durch den Ver-käufer zu einem wesentlichen Bestandteil des durchdie Richtlinie gewährleisteten Verbraucherschutzesmachen wollte. Diese dem Verkäufer auferlegte Ver-pflichtung, die Herstellung des vertragsgemäßen Zu-stands des Verbrauchsguts unentgeltlich zu bewirken,sei es durch Nachbesserung, sei es durch Austausch

des vertragswidrigen Verbrauchsguts, soll den Ver-braucher vor drohenden finanziellen Belastungenschützen, die ihn in Ermangelung eines solchen Schut-zes davon abhalten könnten, seine Ansprüche geltendzu machen (vgl. Urteil vom 17. April 2008, Quelle, C-404/06, Slg. 2008, 2685, Randnrn. 33 und 34).[47] Wenn aber der Verbraucher im Fall der Ersatzlie-ferung für ein vertragswidriges Verbrauchsgut vomVerkäufer nicht verlangen könnte, dass er den Ausbaudes Verbrauchsguts aus der Sache, in die es gemäßseiner Art und seinem Verwendungszweck eingebautwurde, und den Einbau des als Ersatz gelieferten Ver-brauchsguts in dieselbe Sache oder die entsprechendenKosten übernimmt, würde diese Ersatzlieferung fürihn zu zusätzlichen finanziellen Lasten führen, die ernicht hätte tragen müssen, wenn der Verkäufer denKaufvertrag ordnungsgemäß erfüllt hätte. Wenn diesernämlich von vornherein ein vertragsgemäßes Ver-brauchsgut geliefert hätte, hätte der Verbraucher dieEinbaukosten nur einmal getragen und hätte keineKosten für den Ausbau des mangelhaften Verbrauchs-guts tragen müssen.[48] Würde Art. 3 der Richtlinie dahin ausgelegt, dasser den Verkäufer nicht verpflichtet, den Ausbau desvertragswidrigen Verbrauchsguts und den Einbau desals Ersatz gelieferten Verbrauchsguts oder die entspre-chenden Kosten zu übernehmen, hätte dies somit zurFolge, dass der Verbraucher, um die ihm durch dengenannten Artikel verliehenen Rechte ausüben zu kön-nen, diese zusätzlichen Kosten tragen müsste, die sichaus der Lieferung eines vertragswidrigen Verbrauchs-guts durch den Verkäufer ergeben.[49] In diesem Fall würde die Ersatzlieferung für dasVerbrauchsgut entgegen Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richt-linie nicht unentgeltlich für den Verbraucher vorge-nommen.

III. Systematik[51] Im Übrigen ergibt sich entsprechend dem Vor-bringen der Kommission aus der Systematik vonArt. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie, dass die beiden indiesem Artikel genannten Arten der Herstellung desvertragsgemäßen Zustands dasselbe Verbraucher-schutzniveau gewährleisten sollen. Es steht aber fest,dass die Nachbesserung eines vertragswidrigen Ver-brauchsguts im Allgemeinen an diesem Verbrauchsgutin der Situation erfolgt, in der es sich zum Zeitpunktdes Auftretens des Mangels befand, so dass der Ver-braucher in diesem Fall nicht die Kosten für den Aus-bau und den Neueinbau trägt.

IV. „Ohne erhebliche Unannehmlichkeiten“ [52] Ferner ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3Abs. 3 der Richtlinie die Nachbesserung eines ver-tragswidrigen Verbrauchsguts und die Ersatzlieferungnicht nur unentgeltlich, sondern auch innerhalb einer

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angemessenen Frist und ohne erhebliche Unannehm-lichkeiten für den Verbraucher zu erfolgen haben.Dieses dreifache Erfordernis ist Ausdruck des offen-kundigen Willens des Unionsgesetzgebers, einen wirk-samen Verbraucherschutz zu gewährleisten (vgl. indiesem Sinne Urteil Quelle, Randnr. 35).[53] Angesichts dieses Willens des Gesetzgebers kannder Begriff „ohne erhebliche Unannehmlichkeiten fürden Verbraucher“ in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 derRichtlinie nicht die von der deutschen, der belgischenund der österreichischen Regierung vorgeschlageneenge Auslegung erfahren. So kann der Umstand, dassder Verkäufer das vertragswidrige Verbrauchsgutnicht ausbaut und das als Ersatz gelieferte Ver-brauchsgut nicht einbaut, zweifellos eine erheblicheUnannehmlichkeit für den Verbraucher darstellen,insbesondere in Fällen wie denen der Ausgangsverfah-ren, in denen das als Ersatz gelieferte Verbrauchsgut,um seiner üblichen Bestimmung entsprechend verwen-det werden zu können, zunächst eingebaut werdenmuss, was den vorherigen Ausbau des vertragswidri-gen Verbrauchsguts erforderlich macht. Darüber hin-aus ist in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 ausdrücklich be-stimmt, dass „die Art des Verbrauchsgutes sowie derZweck, für den der Verbraucher das Verbrauchsgutbenötigte“, zu berücksichtigen sind.

V. Insgesamt sachegerechtes Ergebnis [56] In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dasseine solche Auslegung auch nicht zu einem ungerech-ten Ergebnis führt. Selbst wenn nämlich die Vertrags-widrigkeit des Verbrauchsguts nicht auf einem Ver-schulden des Verkäufers beruht, hat dieser doch auf-grund der Lieferung eines vertragswidrigen Ver-brauchsguts die Verpflichtung, die er im Kaufvertrageingegangen ist, nicht ordnungsgemäß erfüllt undmuss daher die Folgen der Schlechterfüllung tragen.Dagegen hat der Verbraucher seinerseits den Kauf-preis gezahlt und damit seine vertragliche Verpflich-tung ordnungsgemäß erfüllt (vgl. in diesem Sinne Ur-teil Quelle, Randnr. 41). Zudem kann der Umstand,dass der Verbraucher im Vertrauen auf die Vertrags-mäßigkeit des gelieferten Verbrauchsguts das mangel-hafte Verbrauchsgut vor Auftreten des Mangels gut-gläubig gemäß seiner Art und seinem Verwendungs-zweck eingebaut hat, kein Verschulden darstellen, dasdem betreffenden Verbraucher zur Last gelegt werdenkönnte.[57] In einem Fall, in dem keine der beiden Vertrags-parteien schuldhaft gehandelt hat, ist es demnach ge-rechtfertigt, dem Verkäufer die Kosten für den Ausbaudes vertragswidrigen Verbrauchsguts und den Einbaudes als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts aufzuerle-gen, da diese Zusatzkosten zum einen vermieden wor-den wären, wenn der Verkäufer von vornherein seinevertraglichen Verpflichtungen ordnungsgemäß erfüllt

hätte, und zum anderen nunmehr notwendig sind, umden vertragsgemäßen Zustand des Verbrauchsguts her-zustellen.

VI. Ergebnis [62] Nach alldem ist Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtliniedahin auszulegen, dass, wenn der vertragsgemäße Zu-stand eines vertragswidrigen Verbrauchsguts, das vorAuftreten des Mangels vom Verbraucher gutgläubiggemäß seiner Art und seinem Verwendungszweck ein-gebaut wurde, durch Ersatzlieferung hergestellt wird,der Verkäufer verpflichtet ist, entweder selbst denAusbau dieses Verbrauchsguts aus der Sache, in die eseingebaut wurde, vorzunehmen und das als Ersatz ge-lieferte Verbrauchsgut in diese Sache einzubauen,oder die Kosten zu tragen, die für diesen Ausbau undden Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsgutsnotwendig sind. Diese Verpflichtung des Verkäufersbesteht unabhängig davon, ob er sich im Kaufvertragverpflichtet hatte, das ursprünglich gekaufte Ver-brauchsgut einzubauen.

B. Zur Möglichkeit des Verkäufers, die Nacherfüllungwegen absoluter Unverhältnismäßigkeit der Kosten zuverweigern

I. Maßgebliche Normen [66] Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie der Verbraucher zu-nächst vom Verkäufer die unentgeltliche Nachbesse-rung des Verbrauchsguts oder eine unentgeltliche Er-satzlieferung verlangen kann, sofern dies nicht unmög-lich oder unverhältnismäßig ist.[67] Nach Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie gilteine Abhilfe als unverhältnismäßig, wenn sie demVerkäufer Kosten verursachen würde, die angesichtsdes Wertes, den das Verbrauchsgut ohne die Vertrags-widrigkeit hätte, unter Berücksichtigung der Bedeu-tung der Vertragswidrigkeit und nach Erwägung derFrage, ob auf die alternative Abhilfemöglichkeit ohneerhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucherzurückgegriffen werden könnte, verglichen mit deralternativen Abhilfemöglichkeit unzumutbar wären.[68] Daher ist festzustellen, dass zwar Art. 3 Abs. 3Unterabs. 1 der Richtlinie an sich so offen gefasst ist,dass er auch Fälle der absoluten Unverhältnismäßig-keit erfassen kann, dass aber Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2den Begriff „unverhältnismäßig“ ausschließlich in Be-ziehung zur anderen Abhilfemöglichkeit definiert unddamit auf Fälle der relativen Unverhältnismäßigkeiteingrenzt. Im Übrigen geht aus dem Wortlaut und derSystematik von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie eindeutighervor, dass sich dieser auf die beiden Arten der inerster Linie vorgesehenen Abhilfe bezieht, d. h. dieNachbesserung des vertragswidrigen Verbrauchsgutsund die Ersatzlieferung.

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II. Verweigerung der Nacherfüllung bei absoluter Un-verhältnismäßigkeit unzulässig [71] Folglich zeigt sich, dass der Unionsgesetzgeberdem Verkäufer das Recht zur Verweigerung der Nach-besserung des mangelhaften Verbrauchsguts oder derErsatzlieferung nur im Fall der Unmöglichkeit odereiner relativen Unverhältnismäßigkeit gewähren woll-te. Erweist sich nur eine dieser beiden Abhilfen alsmöglich, kann der Verkäufer die einzige Abhilfe,durch die sich der vertragsgemäße Zustand des Ver-brauchsguts herstellen lässt, somit nicht verweigern.

III. Jedoch betragsmäßige Beschränkung des Kosten-erstattungsanspruchs[73] Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie schließtfolglich aus, dass eine nationale gesetzliche Regelungdem Verkäufer das Recht gewährt, die einzig mögli-che Art der Abhilfe wegen ihrer absoluten Unverhält-nismäßigkeit zu verweigern, doch erlaubt dieser Arti-kel einen wirksamen Schutz der berechtigten finan-ziellen Interessen des Verkäufers, der, wie in Randnr.58 des vorliegenden Urteils festgestellt, zu dem in denArt. 4 und 5 der Richtlinie vorgesehenen hinzukommt.[74] In diesem Zusammenhang ist im Hinblick auf diebesonderen Situation, die das vorlegende Gerichtprüft, in der die Ersatzlieferung für das vertragswidri-ge Verbrauchsgut als einzig mögliche Art der Abhilfedeswegen zu unverhältnismäßigen Kosten führen wür-de, weil das vertragswidrige Verbrauchsgut aus derSache, in der es eingebaut wurde, ausgebaut und dasals Ersatz gelieferte Verbrauchsgut eingebaut werdenmuss, darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 3 derRichtlinie nicht ausschließt, dass der Anspruch desVerbrauchers auf Erstattung der Kosten für den Aus-bau des vertragswidrigen Verbrauchsguts und den Ein-bau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts, fallserforderlich, auf einen Betrag beschränkt wird, derdem Wert, den das Verbrauchsgut hätte, wenn es ver-tragsgemäß wäre, und der Bedeutung der Vertrags-widrigkeit angemessen ist. Eine solche Beschränkunglässt das Recht des Verbrauchers, Ersatzlieferung fürdas vertragswidrige Verbrauchsgut zu verlangen, näm-

lich unberührt.[75] In diesem Rahmen ist zu unterstreichen, dassArt. 3 einen gerechten Ausgleich zwischen den Inter-essen des Verbrauchers und denen des Verkäufers her-stellen soll, indem er dem Verbraucher als schwäche-rer Vertragspartei einen umfassenden und wirksamenSchutz dagegen gewährt, dass der Verkäufer seinevertraglichen Verpflichtungen schlecht erfüllt, undzugleich erlaubt, vom Verkäufer angeführte wirt-schaftliche Überlegungen zu berücksichtigen.[76] Wenn das vorlegende Gericht prüft, ob im Aus-gangsverfahren der Anspruch des Verbrauchers aufErstattung der Kosten für den Ausbau des vertrags-widrigen Verbrauchsguts und den Einbau des als Er-satz gelieferten Verbrauchsguts herabzusetzen ist,wird es somit zum einen dem Wert, den das Ver-brauchsgut hätte, wenn es vertragsgemäß wäre, unddie Bedeutung der Vertragswidrigkeit sowie zum an-deren den Zweck der Richtlinie, der darin besteht, einhohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, zuberücksichtigen haben. Die Möglichkeit, eine solcheHerabsetzung vorzunehmen, darf dementsprechendnicht zur Folge haben, dass das Recht des Verbrau-chers auf Erstattung dieser Kosten in Fällen, in denener das vertragswidrige Verbrauchsgut gutgläubig vorAuftreten des Mangels gemäß seiner Art und seinemVerwendungszweck eingebaut hat, in der Praxis aus-gehöhlt wird.

IV. Umfang der Herabsetzung[77] Schließlich ist dem Verbraucher im Fall einerHerabsetzung des Anspruchs auf Erstattung der ge-nannten Kosten die Möglichkeit zu gewähren, statteiner Ersatzlieferung für das vertragswidrige Ver-brauchsgut gemäß Art. 3 Abs. 5 letzter Gedanken-strich der Richtlinie eine angemessene Minderung desKaufpreises oder die Vertragsauflösung zu verlangen,da der Umstand, dass der Verbraucher die Herstellungdes vertragsgemäßen Zustands des mangelhaften Ver-brauchsguts nur erlangen kann, indem er einen Teilder Kosten selber trägt, für ihn eine erhebliche Unan-nehmlichkeit darstellt.

Standort: Arbeitsrecht/Schuldrecht Problem: § 308 Nr. 4 BGB

BAG, URTEIL VOM 20.04.2011

5 AZR 191/10 (NJW 2011, 2153)

Problemdarstellung:

Der Kl. ist Arbeitnehmer des Bekl. Der Formularar-beitsvertrag sieht vor, dass der Bekl. dem Kl. zumAusgleich der Arbeitnehmeranteile an den Sozialversi-cherungsbeiträgen eine Zulage in entsprechender Hö-he gewährt. Ferner ist die Widerruflichkeit der vor-genannten Regelung vereinbart.

Im September 2007 widerrief der Bekl. die Zahlungder Zulage aus wirtschaftlichen Gründen. Hiergegenwendet sich der Kl. mit seiner Klage.

Prüfungsrelevanz:Da es sich bei den Regelungen im vorliegenden Ar-beitsvertrag um Allgemeine Geschäftsbedingungeni.S.d. § 305 I BGB handelte, war vom Senat eine In-haltskontrolle vorzunehmen. § 310 IV 1, 2 BGB stel-len klar, dass auch Arbeitsverträge einer Inhaltskon-

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trolle zugänglich sind, wenn die Besonderheiten desArbeitsrechts berücksichtigt werden. Die Vornahmeeiner AGB-Kontrolle ist in Klausuren insbesondere inMiet- und Arbeitsverträgen zu erwarten, da diese typi-scherweise durch Formularverträge geschlossen wer-den. Dabei bietet sich folgendes Prüfungsschema an:

1. Vorliegen von AGB gem. § 305 I BGB

2. Wirksame Einbeziehung gem. § 305 II BGB

3. Keine vorrangige Individualabrede gem. § 305 bund keine überraschende Klausel gem. § 305 cBGB (bzw. Auslegung einer mehrdeutigen Klau-sel)

4. Eröffnung der Inhaltskontrolle gem. § 307 III BGB(Abweichen von Rechtsvorschriften)

5. Kontrolle gem. § 309, § 308, § 307 II, I BGB

6. Rechtsfolge bei Unwirksamkeit: Anwendung dergesetzlichen Bestimmung gem. § 306 II BGB

Häufig wird eine Klausel an § 309 Nr. 7 oder 8 BGBzu messen sein. Deutlich seltener, aber dennoch klau-surrelevant ist die Prüfung des § 308 BGB. Dabei istzu beachten, dass § 308 BGB Klauselverbote mit Wer-tungsmöglichkeiten normiert. Anders als bei § 309BGB führt ein zunächst festgestellter Verstoß derKlausel gegen ein Klauselverbot also nicht automa-tisch zu deren Unwirksamkeit. Vielmehr muss ersteine Abwägung aller Umstände im Einzelfall ergeben,dass die Klausel den Vertragspartner des Verwendersunangemessen benachteiligt.

Vorliegend hatte der Bekl. eine Klausel verwendet,die ihm ohne Angabe irgendwelcher Gründe den je-derzeitigen Widerruf der Zulage gestattete. Dies wi-derspricht § 308 Nr. 4 BGB, wonach die einseitigeWiderrufsmöglichkeit des Verwenders für den Ver-tragspartner zumutbar sein muss. Das setzt aber vor-aus, dass dieser jedenfalls erahnen können muss, auswelchen Gründen der Widerruf möglich sein soll. Sind– wie hier – jedoch weder Gründe angegeben nochsolche erkennbar, ist der Widerrufsvorbehalt gem. §§308 Nr. 4, 306 II BG unwirksam.

Der Senat weist schließlich darauf hin, dass im Falledes § 308 Nr. 4 BGB , also bei der Vereinbarung einereinseitigen Leistungsbestimmung durch den Arbeit-geber, außerdem § 315 BGB beachtet werden muss.Während § 308 Nr. 4 BGB die Klausel als solche ei-ner Prüfung unterzieht (Inhaltskontrolle), ordnet§ 315 BGB an, dass die Ausübung eines solchen Be-stimmungsrechts billigem Ermessen entsprechen muss(Ausübungskontrolle). Der Grundsatz der Bindungs-wirkung von Verträgen (pacta sunt servanda) wirdalso doppelt geschützt und bedarf auch in der Klausurbesonderer Beachtung.

Vertiefungshinweise:

“ Zur AGB-Kontrolle von Widerrufsvorbehalten:

BAG, NZA-RR 2010, 457 (Widerruf der Dienstwagen-überlassung); LAG Hamm, BeckRS 2011, 71205 (Wi-derrufsrecht und betriebliche Übung); Kroeschell,NZA 2008, 1393; Hunold, NZA 2010, 1276 (Widerrufder Dienstwagenüberlassung)

Kursprogramm:“ Examenskurs: “Keine Lust auf Schönheitsreparatu-ren”

“ Examenskurs: “Die Traumwohnung”

Leitsätze:1. Ein Widerrufsvorbehalt in einer AllgemeinenGeschäftsbedingung muss seit Inkrafttreten der §§305 ff. BGB den formellen Anforderungen von §308 Nr. 4 BGB genügen. Der Verwender muss vor-geben, was ihn zum Widerruf berechtigen soll.2. Fehlt die Angabe von Widerrufsgründen in ei-nem vor dem 1. Januar 2002 abgeschlossenen Ar-beitsvertrag, kommt eine ergänzende Vertragsaus-legung in Betracht.

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Wirksamkeit des Wider-rufs einer Zulage.Der Kläger ist langjährig beim Beklagten als Tierarztbeschäftigt. Der Beklagte zahlt eine Vergütung, dieder Beamtenbesoldungsgruppe A14 entspricht.In § 3 des vom Beklagten formulierten Arbeitsvertragshaben die Parteien folgende Nebenabreden vereinbart:„1. Zum Ausgleich der Arbeitnehmeranteile an denSozialversicherungsbeiträgen wird eine nicht gesamt-versogungsfähige Zulage in entsprechender Höhe ge-währt.2. Die Nebenabreden unter 1) und 2) sind widerruf-lich“Der Beklagte passte die Zulage zunächst an die Erhö-hungen der Sozialversicherungsbeiträge an. Diese An-passung widerrief er zum 30. Juni 1992 und behieltsich dabei ausdrücklich vor, auch den „eingefrorenen“Bestand ganz oder teilweise zu widerrufen, wenn diesaus wirtschaftlichen Gründen geboten sei. Das Bun-desarbeitsgericht bestätigte mit Urteil vom 10. Juli1996 (- 5 AZR 977/94 -) die Wirksamkeit dieses Wi-derrufs. Mit Schreiben vom 10. September 2007 wi-derrief der Beklagte die Zulage aus wirtschaftlichenGründen insgesamt.Der Kläger hat geltend gemacht, der Widerruf sei un-wirksam, und beantragt die Nachzahlung der Zulage inHöhe von insgesamt 2.503,26 Euro brutto.Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, dasLandesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der vomLandesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrtder Beklagte die Zurückweisung der Berufung.

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Aus den Gründen:[8] Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führtzur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an dasLandesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Ent-scheidung (§ 563 Abs. 1 ZPO). Die Rechtswirksam-keit des Widerrufs kann noch nicht abschließend beur-teilt werden. Es bedarf hierfür weiterer tatsächlicherFeststellungen durch das Landesarbeitsgericht.

A. Unwirksamkeit des formularmäßig vereinbartenWiderrufsvorbehalts gem. § 308 Nr. 4 BGB [9] Die arbeitsvertragliche Regelung des Widerrufs in§ 3 Abs. 3 ist gemäß § 308 Nr. 4 BGB unwirksam.Das haben die Vorinstanzen zutreffend erkannt.[10] Der im Arbeitsvertrag der Parteien geregelte Wi-derrufsvorbehalt ist eine Allgemeine Geschäftsbedin-gung iSd. §§ 305 ff. BGB. Zwischen den Parteiensteht außer Streit, dass der Arbeitsvertragstext beimBeklagten standardmäßig Verwendung fand. Der Wi-derrufsvorbehalt, der das Recht des Beklagten begrün-dete, die versprochene Leistung einseitig zu ändern,stellt eine von Rechtsvorschriften abweichende Rege-lung iSv. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB dar, weil ein Ver-trag grundsätzlich bindend ist. Nach § 308 Nr. 4 BGBist die Vereinbarung des Widerrufsrechts zumutbar,wenn der Widerruf nicht grundlos erfolgen soll, son-dern wegen der unsicheren Entwicklung der Verhält-nisse als Instrument der Anpassung notwendig ist. Dasgilt auch im Arbeitsverhältnis. Ein Widerrufsvorbehaltmuss seit Inkrafttreten der §§ 305 ff. BGB den formel-len Anforderungen von § 308 Nr. 4 BGB gerecht wer-den. Bei den Widerrufsgründen muss zumindest dieRichtung angegeben werden, aus der der Widerrufmöglich sein soll, zB wirtschaftliche Gründe, Leistungoder Verhalten des Arbeitnehmers (BAGE 113, 140).Dabei ist zu beachten, dass der Verwender vorgibt,was ihn zum Widerruf berechtigen soll.[11] Diesen Anforderungen entspricht § 3 Abs. 3 desArbeitsvertrags nicht, denn darin wird kein Widerrufs-grund angegeben. Der Widerrufsvorbehalt ist seit dem1. Januar 2003 (vgl. Art. 229 § 5 EGBGB) gemäߧ 308 Nr. 4, § 306 BGB unwirksam.

B. Rechtsfolge [12] Eine aus formellen Gründen unwirksame und vordem 1. Januar 2002 vereinbarte Klausel entfällt nichtersatzlos.

I. Ergänzende Vertragsauslegung bei „Alt-Klauseln“ [13] Da der Verwender bei Abschluss des Arbeitsver-

trags die §§ 305 ff. BGB nicht berücksichtigen konnteund die Klausel nur unwirksam ist, weil sie in formel-ler Hinsicht den neuen Anforderungen nicht genügt,bedarf es zur Schließung der entstandenen Lücke derergänzenden Vertragsauslegung (grundsätzlich zurLückenschließung in Allgemeinen Geschäftsbedingun-gen durch ergänzende Vertragsauslegung: BAGE 113,140; BGHZ 137, 153; NJW 2008, 3422; BGHZ 185,166). Andernfalls liefe die Anwendung der Anforde-rungen an die Vertragsformulierung auf einen vor dem1. Januar 2002 abgeschlossenen Sachverhalt auf eineechte Rückwirkung des Schuldrechtsmodernisierungs-gesetzes hinaus. Es ist deshalb zu fragen, was die Par-teien vereinbart hätten, wenn ihnen die gesetzlich an-geordnete Unwirksamkeit der Widerrufsklausel be-kannt gewesen wäre (BAG 12. Januar 2005 - 5 AZR364/04 - aaO; 11. Oktober 2006 - 5 AZR 721/05 -Rn. 33 f., aaO).

II. Abschließende Entscheidung hier nicht möglich[18] Ausgehend von den zutreffenden Ausführungendes Arbeitsgerichts liegt es im Streitfall zumindestnahe, dass die Parteien bei Kenntnis der neuen gesetz-lichen Anforderungen die Widerrufsmöglichkeit fürden Fall wirtschaftlicher Verluste des Beklagten vor-gesehen hätten. Eine solche Bestimmung wäre für denKläger zumutbar gewesen und hätte ihn nicht benach-teiligt. Bei Kenntnis der neuen gesetzlichen Anforde-rungen hätten redliche Parteien die Widerrufsmöglich-keit für den Fall wirtschaftlicher Verluste vereinbart,zumal der Beklagte schon anlässlich des Widerrufs derDynamisierung der Zulage im Jahr 1992 auf die Mög-lichkeit eines weiteren Widerrufs aus wirtschaftlichenGründen hingewiesen hatte. Danach ist der Vortragdes Beklagten erheblich. Doch hat das Berufungsge-richt von der Feststellung der notwendigen Tatsachenabgesehen. Dies ist nachzuholen.[19] Die Rechtskraft des Urteils vom 10. Juli 1996(- 5 AZR 977/94 -) steht einer ergänzenden Vertrags-auslegung und damit einem Widerruf der „eingefrore-nen“ Zulage nicht entgegen.

III. § 315 BGB zu beachten[20] Neben der Inhaltskontrolle steht weiterhin dieAusübungskontrolle im Einzelfall gemäß § 315 BGB.Die Erklärung des Widerrufs stellt eine Bestimmungder Leistung durch den Arbeitgeber nach § 315 Abs. 1BGB dar. Der Widerruf muss im Einzelfall billigemErmessen entsprechen. Daran hat die generelle Rege-lung der §§ 305 ff. BGB nichts geändert.

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Strafrecht

Standort: § 263 II, III StGB Problem: Regelbeispiel und Versuch

BGH, BESCHLUSS VOM 03.05.2011

3 STR 33/11 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Der Angeklagte hatte eigene Sachen in Brand gesetzt,und später seine Versicherung über das Vorliegen ei-nes Versicherungsfalles getäuscht. Diese hatte jedochdie Schadenssumme nicht an den Angeklagten ausge-zahlt.

Das Landgericht Mönchengladbach hatte den Ange-klagten aufgrund der Täuschung der Versicherungwegen Betrugs in einem besonders schweren Fall, §263 I, III 2 Nr. 5 StGB, verurteilt. Auf die Revisiondes Angeklagten hin stellt der BGH in der vorliegen-den Entscheidung klar, dass dieser zwar das Regelbei-spiel des § 263 III 2 Nr. 5 StGB voll verwirklicht ha-be. Der Tatbestand des Grunddelikts, § 263 I StGB,sei jedoch noch nicht vollendet, da die Versicherungnicht gezahlt habe und es deshalb an dem für die Voll-endung von § 263 I StGB erforderlichen Vermögens-schaden fehle. Deshalb komme nur eine Strafbarkeitwegen versuchten Betrugs in einem besonders schwe-ren Fall, §§ 263 I, 22, 23 I, 263 III 2 Nr. 5 StGB, inBetracht. Die bloße Vollendung des Regelbeispielsohne Vollendung des Grunddelikts reiche zur Begrün-dung einer Vollendungsstrafbarkeit nämlich nicht aus.

Prüfungsrelevanz:

Zwar handelt es sich bei Regelbeispielen wie denen in§§ 243 I 2, 263 III 2 StGB nur um Strafzumessungs-gesichtspunkte, die für die Prüfung der Strafbarkeit alssolche deshalb streng genommen keine Rolle spielen.Trotzdem wird auch schon im ersten Examen vomKandidaten insb. wegen der tatbestandsähnlichenStruktur der Regelbeispiele erwartet, dass diese erör-tert werden. Die vom BGH ebenfalls angesprocheneProblematik einer Verjährungsunterbrechung bei meh-reren Beteiligten ist ein Problem, das ausschließlichim zweiten Examen Relevanz erlangen dürfte, dortaber in allen Arten von Klausuren und auch in dermündlichen Prüfung.

Da Regelbeispiele lediglich Strafzumessungsgesichts-punkte darstellen, enthalten sie - anders als Qualifika-tionen - keine eigenen Tatbestandsmerkmale, sondernlediglich tatbestandsähnliche Voraussetzungen. Des-halb sind sie auch im Gutachten nicht bereits im Tat-

bestand zu prüfen, sondern - wie alle Strafzumes-sungsgesichtspunkte - nach der Schuld.

Ein klassisches Examensproblem stellt die Frage dar,ob auch bereits der Versuch eines Regelbeispiels denerhöhten Strafrahmen eines besonders schweren Fallesauslöst (vgl. hierzu die Darstellung im Skript StrafRBT I, Rn. 94 ff. und bei Fischer, § 46 Rn. 97 ff.). Pro-blematisch ist dies in solchen Konstellationen, in de-nen das Grunddelikt nur versucht oder bereits voll-endet ist und der Täter zur Verwirklichung des Regel-beispiels nur unmittelbar angesetzt, dieses aber nochnicht voll verwirklicht hat. Die herrschende Literaturlehnt in solchen Fällen die Anwendung des erhöhtenStrafrahmens für einen besonders schweren Fall ab(Joecks, § 243 Rn. 42; Schönke/Schröder-Eser, § 243Rn. 44; Wessels/Hillenkamp, BT II, Rn. 202; Otto,JURA 1989, 200, 201). Die Annahme eines Regelbei-spiels sei nur dann gerechtfertigt, wenn sämtliche ob-jektiven und subjektiven Voraussetzungen des Regel-beispiels vorlägen. Auch setze eine Versuchsstrafbar-keit gem. § 22 StGB stets voraus, dass der Täter “zurVerwirklichung des Tatbestands” unmittelbar ansetze.Da Regelbeispiele aber keine Tatbestände hätten, son-dern allenfalls tatbestandsähnliche Voraussetzungen,könne diese Voraussetzung beim “Versuch” eines Re-gelbeispiels nie gegeben sein. Die Rechtsprechungund ein Teil der Literatur erachten jedoch bereits denVersuch des Regelbeispiels als ausreichend für dieVerwirkung des höheren Strafrahmens eines beson-ders schweren Falls (BGH, RA 2010, 677, 678 f. =NStZ 2011, 167; NStZ 1984, 262, 263; NJW 1986,940, 942; BayObLG, NStZ 1997, 442; Schäfer, JR1986, 522, 523). Zwischen Regelbeispielen und echtenTatbeständen gebe es keinen tief greifenden Wesens-unterschied, sodass sie gleich behandelt werden müss-ten mit der Folge, dass es auch den Versuch eines Re-gelbeispiels geben müsse. Auch sei der von § 22 StGBverwendete Begriff des “Tatbestandes” nicht legalde-finiert, sodass auch eine weite Auslegung der Normunter Einbeziehung der “Quasi-Tatbestände” von Re-gelbeispielen denkbar sei.

Im vorliegenden Fall ging es jedoch gar nicht um dieFrage, ob der bloße Versuch eines Regelbeispiels diestrafschärfende Wirkung des besonders schweren Fal-les auslösen kann. Denn der Angeklagte hatte die Vor-aussetzungen des Regelbeispiels gem. § 263 III 2 Nr. 5StGB bereits voll verwirklicht, da er einen Versiche-

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rungsfall vorgetäuscht hatte, nachdem er zu diesemZweck eine Sache von bedeutendem Wert in Brandgesetzt hatte. Im Gegensatz zum Regelbeispiel warenallerdings die Voraussetzungen des Grunddelikts, §263 I StGB, noch nicht gegeben, denn die Versiche-rung hatte den Schaden gar nicht reguliert, sodass beidieser auch nicht der für die Vollendung des Betrugserforderliche Vermögensschaden eingetreten war. DerBGH stellt in der vorliegenden Entscheidung klar,dass in einer solchen Konstellation, in der zwar dasRegelbeispiel voll verwirklicht wurde, nicht jedochdas Grunddelikt des Betruges, der Angeklagte auchnicht wegen vollendeten Betruges in einem besondersschweren Fall, §§ 263 I, III 2 Nr. 5 StGB, verurteiltwerden kann. Denn die bloße Verwirklichung des Re-gelbeispiels ohne Vollendung des Grunddelikts reichezur Annahme einer vollendeten Tat nicht aus. Statt-dessen sei lediglich eine Strafbarkeit wegen versuch-ten Betrugs in einem besonders schweren Fall, §§ 263I, 22, 23 I, 263 III 2 Nr. 5 StGB, gegeben.

Des Weiteren befasst sich der BGH mit den Voraus-setzungen für eine Verjährungsunterbrechung gem. §78c StGB bei mehreren Beteiligten.

Die Verjährung einer Straftat wird insb. unterbrochendurch eine richterliche Durchsuchungsanordnung, §78c I 1 Nr. 5 StGB. Nach dieser Unterbrechung be-ginnt die Verjährungsfrist des entsprechenden Deliktsvon neuem, § 78c III 1 StGB. Gem. § 78c IV StGBwirkt diese Verjährungsunterbrechung jedoch nur ge-genüber demjenigen, auf den sich die Unterbrechungs-handlung (also im Falle des § 78c I 1 Nr. 5 StGB dieDurchsuchungsanordnung) bezieht. In der vorliegen-den Entscheidung stellt der BGH jedoch klar, dasssich insb. eine Durchsuchungsanordnung nicht nur aufdenjenigen i.S.v. § 78c IV StGB bezieht, der von ihrunmittelbar betroffen ist, sondern auch auf andereVerfahrensbeteiligte, wenn die Handlung erkennbarbezweckt, auch deren Tatbeitrag aufzuklären (so be-reits RGSt 36, 350, 351). Dies sein gerade bei Durch-suchungsbeschlüssen regelmäßig der Fall, da diesedazu dienten, Beweismaterial aufzufinden, das dann janicht nur denjenigen Beschuldigten belasten würde,dessen Räumlichkeiten durchsucht wurden, sondernauch die anderen Beteiligten. Im vorliegenden Fallrichtete sich der fragliche Durchsuchungsbeschlusszwar nicht gegen den Angeklagten selbst, sondern ge-gen einen damaligen Mitbeschuldigten. Da der Ange-klagte jedoch im Rubrum des Durchsuchungsbeschlus-ses als Mitbeschuldigter aufgeführt worden war unddie fragliche Durchsuchung gerade den Zweck hatte,Dokumente aufzufinden, die den Angeklagten belastensollten, bezog sich diese Maßnahme auch auf diesen.Deshalb wirkte die durch den Durchsuchungs-beschluss bewirkte Verjährungsunterbrechung auchgegenüber dem Angeklagten.

Vertiefungshinweise:

“ Zum Versuch eines Regelbeispiels: BGHSt 33, 374;BGH, RA 2010, 677 = NStZ 2011, 167; NStZ 2003,602; NStZ-RR 2009, 206; wistra 2007, 111; Bay-ObLG, NStZ 1997,442; Zieschang, JURA 1999, 561;Zopfs, GA 1995, 324

“ Zur Verjährungsunterbrechung bei mehreren Be-teiligten gem. § 78c IV StGB: BGH, StV 1995, 585;OLG Hamburg, wistra 1993, 272; OLG Karlsruhe,wistra 1987, 228

Kursprogramm:

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Leitsätze (der Redaktion):1. Für eine Verurteilung wegen vollendeten Betru-ges in einem besonders schweren Fall genügt esnicht, dass die Voraussetzungen dieses Regelbei-spiels verwirklicht sind. Sie setzt daneben u.a. vo-raus, dass der Grundtatbestand - hier: des § 263Abs. 1 StGB - vollendet ist. 2. Gemäß § 78c Abs. 4 StGB wirkt die Verjäh-rungsunterbrechung nur gegenüber demjenigen,auf den sich die Unterbrechungshandlung bezieht.Hierfür ist bei einer Durchsuchung oder Beschlag-nahme jedoch nicht allein maßgebend, wer von die-ser Maßnahme unmittelbar betroffen ist. 3. Bei mehreren Tatverdächtigen kann sich eineUnterbrechungshandlung, von der nur ein Be-schuldigter unmittelbar betroffen ist, dennochnach Lage der Umstände ebenfalls auf die übrigenBeteiligten beziehen, indem sie deren Verfolgungerkennbar in den Blick nimmt. Deshalb werdenüber unmittelbar Betroffene hinaus auch anderean der Straftat Beteiligte erfasst, wenn die Hand-lung erkennbar bezweckt, auch deren Tatbeitragaufzuklären. Dies ist bei Beschlagnahme- undDurchsuchungsanordnungen regelmäßig der Fall.

Sachverhalt (vereinfacht):Der Angeklagte hatte eigene Sachen in Brand gesetzt,um die entsprechenden Schäden über die von ihm ab-geschlossene Feuerversicherung regulieren zu könnenund sich so zu bereichern. Die Versicherung hatte je-doch die entsprechenden Beträge nicht an den Ange-klagten ausgezahlt, da dessen Verhalten vorher aufge-deckt worden war.Während des Ermittlungsverfahrens war gegen dendamaligen Mitbeschuldigten T ein Durchsuchungs-beschluss vom zuständigen AG Mönchengladbacherlassen worden.

Aus den Gründen:[1] Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Be-

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truges zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und dreiMonaten verurteilt. Mit seiner hiergegen gerichtetenRevision beanstandet der Angeklagte die Verletzungformellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittelhat mit der Sachrüge den aus der Entscheidungsformelersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegrün-det im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Zur Unterbrechung der Verjährung gem. § 78c I 1Nr. 4 StGB[2] Die Tat des Angeklagten ist nicht verjährt; denndie Verjährung ist durch den Durchsuchungsbeschlussdes Amtsgerichts Mönchengladbach vom 19. Dezem-ber 2005 unterbrochen worden (§ 78c Abs. 1 Satz 1Nr. 4 StGB). Dem steht nicht entgegen, dass der ge-nannte Beschluss gegen den damaligen Mitbeschul-digten T ergangen ist und die Durchsuchung von des-sen Wohnung, Neben- und Geschäftsräumen, Kraft-fahrzeugen, sonstigen Sachen sowie dessen Personangeordnet hat.

a) Zur Wirkung der Verjährungsunterbrechung beimehreren Beteiligten, § 78c IV StGB[3] Gemäß § 78c Abs. 4 StGB wirkt die Verjährungs-unterbrechung nur gegenüber demjenigen, auf densich die Unterbrechungshandlung bezieht. Die Hand-lung muss daher gegen eine bestimmte Person als Tä-ter oder Teilnehmer gerichtet sein. Dies ist zu bejahen,wenn sie dazu dient, das den Täter oder Teilnehmerbetreffende Verfahren fortzusetzen.[4] Hierfür ist es jedenfalls nicht allein maßgebend,wer von einer Durchsuchung oder Beschlagnahmeunmittelbar betroffen ist. Dies zeigt sich schon daran,dass die Strafprozessordnung einerseits in § 103 StPODurchsuchungen auch zu Lasten nicht tatverdächtigerDritter zulässt, während andererseits § 78c Abs. 1 Satz1 Nr. 4 StGB jede Durchsuchungsanordnung für dieVerjährungsunterbrechung genügen lässt. Sogar eineMaßnahme, die ausschließlich nicht tatverdächtigeDritte unmittelbar betrifft, ist daher grundsätzlich ge-eignet, die Verjährung gegenüber einem Beschuldig-ten zu unterbrechen (BGH, Beschluss vom 1. August1995 - 1 StR 275/95, StV 1995, 585).[5] Bei mehreren Tatverdächtigen kann sich eine Un-terbrechungshandlung, von der nur ein Beschuldigterunmittelbar betroffen ist, dennoch nach Lage der Um-stände ebenfalls auf die übrigen Beteiligten beziehen,indem sie deren Verfolgung erkennbar in den Blicknimmt (vgl. schon RG, Urteil vom 10. Juli 1903 - Rep.2206/03, RGSt 36, 350, 351). Deshalb werden überunmittelbar Betroffene hinaus auch andere an derStraftat Beteiligte erfasst, wenn die Handlung erkenn-bar bezweckt, auch deren Tatbeitrag aufzuklären. Diesist bei Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnun-gen regelmäßig der Fall. Diese Unterbrechungshand-lungen beziehen sich - anders als etwa eine Beschul-

digtenvernehmung (BGH, Beschluss vom 2. Septem-ber 1992 - 3 StR 110/92, StV 1993, 71) - nicht ihrerNatur nach lediglich auf den unmittelbar Betroffenen.Sie dienen vielmehr in der Regel einer umfassendenSachaufklärung und richten sich daher, soweit keineEinschränkung ersichtlich ist, grundsätzlich gegen alleTatverdächtigen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10.April 1987 - 3 Ss 190/86, wistra 1987, 228, 229; OLGHamburg, Urteil vom 26. Mai 1993 - 1 Ss 8/93, wistra1993, 272, 273; LK/Schmid, StGB, 12. Aufl., § 78cRn. 7; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch,StGB, 28. Aufl., § 78c Rn. 24 f.).

b) Zum Bezug des Durchsuchungsbeschlusses auf denAngeklagten[6] Nach diesen Maßstäben bezog sich der amtsge-richtliche Durchsuchungsbeschluss hier auch auf denAngeklagten. Dieser war im Beschlussrubrum als Mit-beschuldigter aufgeführt. Ausweislich der Beschluss-begründung diente die Ermittlungsmaßnahme geradedazu, Beweismittel aufzufinden, die Zahlungen desAngeklagten für eine Brandlegung und somit seineBeteiligung an der Straftat belegen.

2. Zur Annahme eines vollendeten Betrugs in einembesonders schweren Fall gem. § 263 I, III 2 Nr. 5StGB[7] Die rechtliche Würdigung des Landgerichts, derAngeklagte habe einen vollendeten Betrug in einembesonders schweren Fall nach § 263 Abs. 1, Abs. 3Satz 2 Nr. 5 StGB begangen, hält sachlichrechtlicherPrüfung nicht stand.[8] § 263 Abs. 3 StGB regelt besonders schwere Fälledes Betruges, wobei § 263 Abs. 3 Satz 2 StGB mehre-re Regelbeispiele aufführt. Auch § 263 Abs. 3 Satz 2Nr. 5 StGB ist als unselbstständiges, strafschärfendesRegelbeispiel zum Betrug konzipiert (vgl. LK/Tiede-mann, StGB, 11. Aufl., § 263 Rn. 302). Für eine Ver-urteilung wegen vollendeten Betruges in einem be-sonders schweren Fall genügt - den allgemeinenGrundsätzen entsprechend (vgl. Fischer, StGB, 58.Aufl., § 46 Rn. 88 ff.) - deshalb nicht, dass die Vor-aussetzungen dieses Regelbeispiels verwirklicht sind(vgl. hierzu Fischer aaO § 263 Rn. 222 ff.). Sie setztdaneben u.a. voraus, dass der Grundtatbestand - hier:des § 263 Abs. 1 StGB - vollendet ist. Dies wird durchdie Feststellungen nicht belegt. Danach fehlt es jeden-falls am Eintritt eines Vermögensschadens; denn dievom Angeklagten nach dem Brand in Anspruch ge-nommene Versicherung leistete keine Zahlungen.

3. Zur Änderung des Schuldspruchs durch das Revi-sionsgericht[9] Der Senat schließt aus, dass in einer neuen Haupt-verhandlung weiter gehende Feststellungen getroffenwerden können, welche die Strafbarkeit des Angeklag-

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STRAFRECHT RA 2011, HEFT 7

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ten wegen vollendeten Betruges belegen. Er ändertdeshalb den Schuldspruch in entsprechender Anwen-dung von § 354 Abs. 1 StPO selbst ab. Dem steht §265 StPO nicht entgegen. Die Staatsanwaltschaft hatdem Angeklagten in ihrer Anklageschrift einen ver-suchten Betrug vorgeworfen. Das Landgericht hat dasHauptverfahren ohne abweichende rechtliche Würdi-gung eröffnet und erst am letzten Tag der Hauptver-handlung einen rechtlichen Hinweis dahin erteilt, eskomme auch die Verurteilung wegen vollendeten Be-

truges in Betracht.

4. Zum Strafausspruch[10] Aufgrund der Änderung des Schuldspruchs kannder Strafausspruch keinen Bestand haben. Die zugrun-de liegenden Strafzumessungstatsachen werden aller-dings von dem Wertungsfehler nicht erfasst; sie kön-nen deshalb bestehen bleiben. Ergänzende Feststel-lungen sind zulässig, soweit sie den bisherigen nichtwidersprechen.

Standort: § 226 I Nr. 3 StGB Problem: Erhebliche dauernde Entstellung

BGH, URTEIL VOM 20.04.2011

2 STR 29/11 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:Der Angeklagte hatte den Nebenkläger mehrfach miteinem Messer in den Oberkörper gestochen; diesemmusste deshalb insb. die Milz entfernt werden. Hier-durch blieben zahlreiche markante Narben im Ober-körperbereich zurück.

Das Landgericht Kassel hatte den Angeklagten wegenversuchten Totschlags, §§ 212 I, 22, 23 I StGB, undgefährlicher Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5StGB, verurteilt. Hiergegen legte der Nebenkläger Re-vision ein, mit der er insbesondere rügte, dass der An-geklagte nicht auch wegen schwerer Körperverlet-zung, § 226 I Nr. 3 StGB, verurteilt worden war. DerBGH gab der Revision statt, da die beim Nebenklägerentstandenen Narben durchaus eine erhebliche dau-erhafte Entstellung i.S.v. § 226 I Nr. 3 StGB darstellenkönnten. Da das angefochtene Urteil jedoch keine ge-nauen Angaben zur Charakterisierung der Narben ent-hielt, verwies der BGH zurück, damit das LG weiterediesbezügliche Feststellungen treffen kann.

Prüfungsrelevanz:Körperverletzungs- und Tötungsdelikte sind immerwieder Gegenstand von Examensaufgaben in beidenExamen. Diese lassen sich nämlich zum einen sehr gutmit Problemen des Allgemeinen Teils kombinieren,und beinhalten zudem interessante tatbestandsspezi-fische Probleme. Gerade die Erfolgsqualifikationender Körperverletzung, §§ 226; 227 StGB, bieten sichaus Prüfersicht als Grundlage für Examensaufgabenan. Dort besteht zum einen ein klassischer Streit hin-sichtlich der Anforderungen an den erforderlichenUnmittelbarkeitszusammenhang. Aber auch die Vor-aussetzungen für die in § 226 I StGB genanntenschweren Folgen sind im Einzelfall u.U. schwierigfestzustellen und bieten sich deshalb als Inhalt einerExamensaufgabe an.

Gem. § 226 I Nr. 3 StGB wirkt es insbesondere quali-

fizierend, wenn die vom Täter begangene Körperver-letzung zur Folge hat, dass die verletzte Person in er-heblicher Weise dauernd entstellt wird. Eine Entstel-lung des Opfers ist erheblich, wenn dessen äußere Ge-samterscheinung in ihrer ästhetischen Wirkung derartverändert ist, dass das Opfer erhebliche psychischeNachteile im Verkehr mit anderen Menschen zu erlei-den hat (BGH, NJW 1967, 297; Schönke/Schröder-Stree/Sternberg-Lieben, § 226 Rn. 3). Dauernd ist dieEntstellung, wenn damit gerechnet werden muss, dassdas Opfer der entsprechenden Beeinträchtigung fürunabsehbare Zeit ausgesetzt sein wird (BGHSt 24,317; LK-Hirsch, § 226 Rn. 8).

Insgesamt ist hinsichtlich der Anforderungen an dieerhebliche dauernde Entstellung i.S.v. § 226 I Nr. 3StGB anerkannt, dass eine solche nur dann angenom-men werden kann, wenn die Entstellung den gering-sten der in § 226 I Nrn. 1, 2 StGB genannten Folgenan Gewicht in etwa gleichkommt (BGH, StV 1992,115; NStZ 2006, 686; 2008, 32; Fischer, § 226 Rn. 9;Lackner/Kühl, § 226 Rn. 4; Küper, BT, S. 131). Diesbetont auch der BGH in der vorliegenden Entschei-dung und stellt klar, dass die Voraussetzungen einererheblichen dauernden Entstellung auch bei deutlichsichtbaren Narben gegeben sein kann. Die vorliegendeEntscheidung macht auch deutlich, dass eine Qualifi-kation gem. § 226 I Nr. 3 StGB auch dann gegebensein kann, wenn der vernarbte Körperteil - wie derOberkörper des Opfers im vorliegenden Fall - meistbekleidet und die Narben deshalb in der Regel bedecktund somit nicht unmittelbar wahrnehmbar sind (soauch BGH, NJW 1988, 2747; NStZ 2006, 686).

Vertiefungshinweise:“ Zur erheblichen dauernden Entstellung i.S.v. § 226I Nr. 3 StGB, insb. bei Narben: BGH, NStZ 2006, 686;2008, 32; NJW 1967, 297; 1988, 2747; StV 1992,115; LG Berlin, NStZ 1993, 286

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Brennender Zorn”

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RA 2011, HEFT 7 STRAFRECHT

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Leitsatz (der Redaktion):Erheblich i.S.v. § 226 I Nr. 3 StGB ist eine Entstel-lung zwar nur dann, wenn sie zumindest dem Ge-wicht der geringsten Fälle nach § 226 I Nr. 1 undNr. 2 StGB gleichkommt. Dies kann jedoch im Ein-zelfall bei besonders großen oder markanten Nar-ben der Fall sein, ebenso bei einer Vielzahl vonNarben in derselben Körperregion.

Sachverhalt:Der Angeklagte hatte am Morgen des 16. August 2009gegen 05.10 Uhr die Diskothek C. in K. verlassen, woer Alkohol konsumiert und Cannabis geraucht hatte.Er hatte im Imbiss A. eine Mahlzeit eingenommen undsich danach zu Fuß auf den Weg nach Hause begeben.Er befand sich in einer aggressiven Grundstimmung.Unterwegs begegnete ihm der alkoholisierte Zeuge B,von dem er sich angesprochen und beleidigt fühlte.Der Angeklagte schlug und trat diesen. Der Zeuge Bsann auf Rache, eilte zur nahe gelegenen DiskothekN., informierte dort den Nebenkläger und bewegtediesen dazu, den Angeklagten zur Rede zu stellen.Nachdem sich zwischen dem Nebenkläger und demAngeklagten eine Schlägerei entwickelt hatte, fühltesich der Nebenkläger unterlegen, versuchte zu fliehen,wurde aber vom Angeklagten am Kragen festgehaltenund mit einem Springmesser zweimal in den linkenArm und siebenmal auf der linken Seite in den Ober-körper gestochen. Der Nebenkläger musste danachintensivmedizinisch behandelt werden; ihm wurde dieMilz entfernt.

Aus den Gründen:

I. Entscheidung des Landgerichts; Revision[1] Das Landgericht hat den Angeklagten wegen ver-suchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Kör-perverletzung und wegen vorsätzlicher Körperverlet-zung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahrenund fünf Monaten verurteilt. Es hat den Angeklagtenferner verurteilt, an den Nebenkläger ein Schmerzens-geld in Höhe von 12.000 Euro nebst Zinsen in Höhevon fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seitdem 1. Juni 2010 zu zahlen. Überdies hat es festge-stellt, dass der Angeklagte verpflichtet ist, dem Ne-benkläger sämtliche künftigen immateriellen Schädenzu ersetzen, die aus dem Vorfall vom 16. August 2009in Kassel entstehen werden. Gegen den strafrechtli-chen Teil dieses Urteils richtet sich die Revision desNebenklägers, mit der dieser die Verurteilung des An-geklagten auch wegen einer tateinheitlich mit versuch-

tem Totschlag zu seinem Nachteil begangenen schwe-ren Körperverletzung erstrebt. Das Rechtsmittel hatmit der Sachbeschwerde Erfolg. [...]

II. Entscheidung des BGH[3] Die Revision ist begründet. Der Nebenkläger bean-standet mit der Sachbeschwerde zu Recht, dass dasLandgericht § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht erörterthat.

1. Zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 226 I Nr.3 StGB[4] Das Landgericht hat festgestellt, dass der Neben-kläger unter anderem sieben Stichverletzungen davon-getragen hat, die den Oberkörper betrafen; außerdementstanden Operationsnarben. Insgesamt handelt essich um “eine Vielzahl markant bleibender Narben”und “überdauernde große Narben im Oberkörperbe-reich”.[5] Aufgrund dieser Feststellungen musste sich dasLandgericht zur Erörterung der Frage gedrängt sehen,ob der Nebenkläger durch die Körperverletzung imSinne von § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB in erheblicherWeise dauernd entstellt wurde. Erheblich ist eine Ent-stellung zwar nur dann, wenn sie zumindest dem Ge-wicht der geringsten Fälle nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 undNr. 2 StGB gleichkommt (BGHR StGB § 226 Abs. 1Entstellung 1). Dies kann jedoch im Einzelfall bei be-sonders großen oder markanten Narben der Fall sein(BGHR StGB § 226 Abs. 1 Entstellung 2), ebenso beieiner Vielzahl von Narben in derselben Körperregion.Ob die Qualifikation der Tat auf das äußere Verlet-zungsbild des Nebenklägers mitsamt den Operations-narben zutrifft, kann anhand der Urteilsgründe nichtnachgeprüft werden. Das Landgericht hat insoweitkeine zur Charakterisierung der Narben ausreichendenFeststellungen getroffen. Dies wird der neue Tatrich-ter nachzuholen und sodann rechtlich zu beurteilenhaben, ob von einer dauernden und erheblichen Ent-stellung des Nebenklägers auszugehen ist. Eine Be-zugnahme auf Lichtbilder gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3StPO zur Ergänzung der textlichen Tatsachenfeststel-lungen ist dabei zulässig.

2. Zur Aufhebung der Gesamtstrafe[6] Mit der Aufhebung des Schuldspruchs hinsichtlichder Tat zum Nachteil des Nebenklägers entfällt diehierfür festgesetzte Einzelstrafe. Der Wegfall dieserEinsatzstrafe macht die Aufhebung der Gesamtstrafeerforderlich.

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STRAFRECHT RA 2011, HEFT 7

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Standort: StPO Problem: Kein Verwertungsverbot trotz “verdeckten Verhörs”

BGH, BESCHLUSS VOM 31.03.2011

3 STR 400/10 (NJW-SPEZIAL 2011, 408)

Problemdarstellung:Der wegen Drogendelikten verfolgte H hatte in dergegen ihn geführten Hauptverhandlung behauptet, derAngeklagte habe bei den Drogendelikten mitgewirkt.Daraufhin meldete sich die Ehefrau des H als Zeuginbei der Polizei und bot an, bei der Überführung desAngeklagten mitzuwirken, indem sie mit diesem einGespräch führe, in dem sie ihn zu einem Geständnisbringen würde. Dieses Gespräch werde sie aufzeich-nen und die Aufzeichnung der Polizei zur Verfügungstellen. Das zuständige Amtsgericht Düsseldorf ordne-te daraufhin gem. § 100f StPO das Abhören und Auf-zeichnen der außerhalb von Wohnungen geführtenGespräche zwischen dem Angeklagten und der Zeuginan. Die Zeugin traf sich mit dem Angeklagten und be-hauptete, ihr Mann habe ihr gestanden, dass er die ihmvorgeworfenen Taten begangen und der Angeklagteihm dabei geholfen habe. Sie bat den Angeklagtendarum, diese Angaben zu bestätigen oder zu widerle-gen und versicherte, sie werde das Gespräch vertrau-lich behandeln. Daraufhin gestand der Angeklagte ihrgegenüber seine Beteiligung an den fraglichen Strafta-ten. Das Gespräch wurde - wie angeordnet - aufge-zeichnet.

Das Landgericht Düsseldorf hatte den Angeklagtenwegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungs-mitteln in nicht geringer Menge, § 29a I Nr. 2 BtMG,verurteilt und sich zum Nachweis der Schuld des An-geklagten insbesondere auf die Gesprächsaufzeich-nung gestützt. Gegen dieses Urteil wandte sich derAngeklagte mit der Revision, mit der er insb. rügte,dass die fragliche Aufzeichnung rechtswidrig ange-fertigt worden sei und deshalb in dem Verfahren nichthätte verwertet werden dürfen. Der BGH wies dieseRevision als unbegründet zurück. Ein Beweisverwer-tungsverbot hinsichtlich der Aufzeichnung bestehenicht.

Prüfungsrelevanz:Ob Erkenntnisse, die in einem Ermittlungsverfahrendurch einen verdeckt handelnden Polizeibeamten odereine die Polizei unterstützende Privatperson gewonnenwurden, im Verfahren gegen den Beschuldigten ver-wertet werden können, ist ein im zweiten Examen im-mer wieder auftretendes Problem. In Klausuren kön-nen entsprechende Fälle sowohl in staatsanwaltschaft-liche Aufgabenstellungen eingebaut werden (denn beider Prüfung des für eine Anklageerhebung gem. §§170 I, 203 StPO erforderlichen hinreichenden Tatver-dachts dürfen unverwertbare Beweismittel selbstver-

ständlich nicht berücksichtigt werden) als auch inUrteils- oder Revisionsklausuren. Auch für Aktenvor-träge und insbesondere das Prüfungsgespräch bietensich solche Probleme an, da sie gerne als Aufhängerdazu herangezogen werden, um allgemeine Verfah-rensgrundsätze zu besprechen. Auch im ersten Exa-men können solche Aufgabenstellungen in Zusatzfra-gen oder im Prüfungsgespräch auftauchen.

In der jüngeren Vergangenheit hat sich der BGH vorallem mit Fallkonstellationen befasst, in denen dieBeschuldigten von verdeckten Ermittlern i.S.v. § 110aStPO oder anderen verdeckt handelnden Polizistendazu gebracht wurden, ein Geständnis abzulegen (vgl.BGH, RA 2007, 543 = NStZ 2007, 714; RA 2010, 481= NStZ 2010, 527). Die vorliegende Fallkonstellationunterscheidet sich von diesen insofern als es sich beider Person, die den Angeklagten dazu brachte, die Ta-ten zu gestehen, nicht um eine Polizistin handelte,sondern um die Ehefrau eines anderweitig Verfolgten,also eine Privatperson, die freiwillig und von sich ausmit der Polizei zusammenarbeitete. Die Probleme, diesich hinsichtlich der Verwertbarkeit der so erzieltenAussagen ergeben, sind aber in beiden Konstellatio-nen die selben.

Der BGH prüft zunächst, ob die Gesprächsaufzeich-nung vielleicht deshalb nicht verwertet werden kann,weil der Angeklagte nicht über sein Schweigerechtbelehrt wurde. Gem. §§ 163a IV 2, 136 I 2 StPO mussder Beschuldigte nämlich bei jeder Vernehmung durcheinen Polizeibeamten insb. über sein Schweigerechtbelehrt werden. Der BGH betont jedoch, dass dieseVorschriften im vorliegenden Fall keine Anwendungfänden, da der Angeklagte ja nicht durch einen Poli-zeibeamten vernommen worden sei, denn bei der Zeu-gin habe es sich um eine Privatperson gehandelt.Selbst bei einer Vernehmung des Beschuldigten durchverdeckt handelnde Polizisten besteht eine entspre-chende Belehrungspflicht nach ständiger Rechtspre-chung nicht (BGH, RA 2007, 543, 545 f. = NStZ2007, 714, 715; RA 2010, 481, 484 = NStZ 2010, 527,528). Denn - dies betont der BGH auch in der vorlie-genden Entscheidung - diese Belehrungspflicht sollnur sicherstellen, dass der Beschuldigte vor der irr-tümlichen Annahme einer Aussagepflicht bewahrtwird. Da der Eindruck des Bestehens einer Aussage-pflicht beim Beschuldigten aber nur dann entstehenkann, wenn er sich einem Amtsträger gegenüber sieht,ist eine Belehrung nur bei “offenen” Vernehmungenerforderlich, die im vorliegenden Fall aber geradenicht gegeben war.

Da die Zeugin dem Angeklagten nicht offenbart hatte,dass sie mit der Polizei zusammenarbeitete und dasGespräch aufzeichnen würde, prüft der BGH noch, ob

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nicht eine unzulässige Täuschung gem. §§ 163a III 2,136a I 1 StPO vorliegt, die dazu führen würde, dassdie so erlangte Aussage nicht verwertet werden dürfte,§ 136a III 2 StPO. Der BGH betont jedoch, dass dieTäuschungsvariante des § 136a I 1 StPO mit den ande-ren genannten verbotenen Vernehmungsmethoden(z.B. Misshandlung) verglichen werden müsse und nurdann unzulässig sei, wenn sie einen vergleichbarschweren Eingriff in die Rechte des Beschuldigtendarstelle. Diese Wertung ergebe jedoch, dass nichtjedes listige Vorgehen der Polizei und insb. nicht derEinsatz verdeckt handelnder “Spitzel” der Polizei einunzulässige Täuschung darstelle.

Schließlich prüft der BGH noch, ob sich die Mitwir-kung der Zeugin als Verstoß gegen das Recht des An-geklagten auf ein faires Verfahren (“fair trial”) dar-stellt. Dieses in Art 6 I EMRK ausdrücklich normiertePrinzip, das sich aber auch aus Art. 2 I i.V.m. Art. 20II GG herleiten lässt (BVerfGE 63, 380, 390; 66, 313,318; Meyer-Goßner, Einl. Rn. 19), beinhaltet insbe-sondere den Grundsatz, dass niemand gezwungenwerden darf, sich selbst zu belasten (“nemo tenetur seipsum accusare” oder Selbstbelastungsfreiheit). DiesesRecht kann auch dadurch in unzulässiger Weise um-gangen werden, dass die Polizei einen verdeckt han-delnden Polizisten oder eine Privatperson vorschickt,um den Beschuldigten so zu einer selbstbelastendenAussage zu veranlassen. Der BGH stellt jedoch in dervorliegenden Entscheidung - in Übereinstimmung mitseiner bisherigen Rechtsprechung und insbesonderederjenigen des EGMR (vgl. BGHSt 34, 362; RA 2007,543, 547 f. = NStZ 2007, 714, 715 f.; RA 2010, 481,485 = NStZ 2010, 527, 528; EGMR, NJW 2010, 2013,2015) - klar, dass solche verdeckten Ermittlungsmaß-nahmen nur dann unzulässig sind, wenn der Beschul-digte durch Ausnutzung einer Zwangslage zu einembelastenden Verhalten genötigt wird. Dies ist z.B.dann der Fall, wenn bei einem in Untersuchungshafteinsitzenden Beschuldigten, der sich geweigert hatte,gegenüber der Polizei auszusagen, ein verdeckter Er-mittler eingeschleust wird, der ein Vertrauensverhält-nis zu dem Beschuldigten aufbaut und diesen so unterDruck setzen und zu einer Aussage nötigen kann(BGH, NJW 2007, 3138, 3140 ff.). Im vorliegendenFall hatte der Angeklagte sich aber noch nicht auf seinSchweigerecht berufen. Und da die Zeugin und derAngeklagten auch nicht zusammen inhaftiert warenund sie auch nicht auf diesen Druck ausüben konnte,stelle sich dessen Befragung durch die Zeugin nichtals Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit des Ange-klagten und damit seines Rechts auf ein faires Verfah-ren dar.

Vertiefungshinweise:

“ Zur Verwertbarkeit von Gesprächen “verdeckter

Ermittler” mit dem Beschuldigten: BGHSt 34, 362;44, 129; 53, 294; BGH, RA 2007, 543 = NStZ 2007,714; RA 2010, 481 = NStZ 2010, 527; NJW 2007,3138; Schneider, NStZ 2004, 364

Kursprogramm:“ Assesorkurs: “Gottesfurcht”

Leitsätze (der Redaktion):1. Die Belehrungspflichten der §§ 163a IV, 136 IStPO sind auf Befragungen eines Beschuldigtendurch Privatpersonen nicht anwendbar.2. Veranlasst eine Privatperson unter Verheimli-chung ihres Ermittlungsinteresses einen Tatver-dächtigen, mit ihr ein Gespräch über die Tat zuführen, so begründet dies auch keinen Verstoß ge-gen die unmittelbar oder entsprechend heranzuzie-hende Regelung der §§ 163a III, 136a I StPO.3. Die Selbstbelastungsfreiheit, die zum Kernbe-reich des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiertenRechts auf ein faires Strafverfahren gehört, kannauch dadurch in unzulässiger Weise unterlaufenwerden, dass die Behörden in einem Fall, in demder Beschuldigte, der sich für das Schweigen ent-schieden hat, eine Täuschung anwenden, um ihmbelastende Äußerungen zu entlocken, die sie in derVernehmung nicht erlangen konnten, damit diesesodann im Prozess als Beweis eingeführt werdenkönnen. Ob bei Anwendung einer Täuschung dasSchweigerecht in einem solchen Maß beeinträch-tigt wurde, dass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1EMRK vorliegt, hängt indes von den Umständendes Einzelfalles ab.

Sachverhalt:[3] Nach den Feststellungen des Landgerichts kamender Ehemann der Zeugin E, der rechtskräftig wegender verfahrensgegenständlichen Betäubungsmitteltatverurteilte H, und der Angeklagte mit dem gesondertVerfolgten S überein, diesem für unbekannte Hinter-männer 2.500 kg Haschisch für 530 i pro Kilogrammzu liefern. Während H die persönlichen und telefo-nischen Verhandlungen mit dem Abnehmer S führte,hielt sich der Angeklagte, der sich gegenüber H bereiterklärt hatte, die Betäubungsmittel über spanischeDrogenkreise zu beschaffen, im Hintergrund. Zur Aus-führung des Geschäfts kam es letztendlich nicht, weilS die Kontakte zu seinen Hinterleuten verlor.[4] Im Februar/März 2009 belastete H während dergegen ihn geführten Hauptverhandlung erstmals denAngeklagten, an dem Betäubungsmittelgeschäft be-teiligt gewesen zu sein. Seine Ehefrau, die Zeugin E,erklärte sich daraufhin - aus eigenem Antrieb - gegen-über der Polizei bereit, an der Überführung des ihrvom Sehen her bekannten Angeklagten mitzuwirken,

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diesen zur Rede zu stellen und das Gespräch heimlichaufzuzeichnen, um ihrem Ehemann die Vergünstigun-gen des § 31 BtMG zu sichern. Mit Beschluss vom 14.April 2009 ordnete das Amtsgericht Düsseldorf indem gegen den Angeklagten eingeleiteten Ermitt-lungsverfahren gemäß § 100f StPO das Abhören undAufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wor-tes für zwischen dem Angeklagten und der Zeuginaußerhalb von Wohnungen geführte Gespräche an.Noch am selben Tag suchte die Zeugin den nicht in-haftierten Angeklagten auf und befragte ihn u.a. zu derverfahrensgegenständlichen Betäubungsmitteltat. ImVerlauf des Gesprächs belastete sich der Angeklagteselbst im Sinne der vom Landgericht getroffenen Fest-stellungen. Die Zeugin, die dieses Gespräch mittelsvon der Polizei ausgehändigter technischer Geräteheimlich aufzeichnete, spiegelte dem Angeklagtenwahrheitswidrig vor, ihr Ehemann habe ihr im Rah-men einer unbewachten Unterhaltung in der Justiz-vollzugsanstalt die Tat und die Tatbeteiligung des An-geklagten geschildert und sie wolle nun vomAngeklagten wissen, ob ihr Ehemann die Wahrheitgesagt oder sie wieder belogen habe. Zudem sichertesie - ebenfalls wahrheitswidrig - dem Angeklagten zu,das Gespräch vertraulich zu behandeln.[5] Die Überzeugung von der Mittäterschaft des eineTatbeteiligung bestreitenden Angeklagten hat dasLandgericht neben den den Angeklagten belastendenAngaben des Zeugen H, denen es keine ausschlagge-bende Bedeutung beigemessen hat, maßgeblich auf dievon der Zeugin gefertigte Gesprächsaufzeichnung ge-stützt. Der Verwertung dieser Aufzeichnung hat derAngeklagte in der Hauptverhandlung widersprochen.

Aus den Gründen:[1] Das Landgericht hat den Angeklagten wegen un-erlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln innicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von sie-ben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hierge-gen gerichtete Revision des Angeklagten, mit der erdie Verletzung formellen und materiellen Rechts be-anstandet, ist unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2StPO. Das Urteil weist weder in verfahrensrechtlichernoch in sachlich-rechtlicher Hinsicht Rechtsfehlerzum Nachteil des Angeklagten auf. Ergänzender Erör-terung bedürfen lediglich die erhobenen Verfahrens-rügen:

1. Zur Rüge der Unzulässigkeit der Verwertung derTonaufzeichnung[2] Die Beanstandung, die auf der Grundlage einerrichterlichen Anordnung nach § 100f StPO aufge-zeichneten Angaben des Angeklagten gegenüber derZeugin E seien unter Verstoß gegen § 136, § 136aAbs. 1 Satz 2, § 163a Abs. 4 StPO sowie unter Verlet-zung des Gebots des fairen Verfahrens gewonnen wor-

den und hätten deshalb in dem Strafverfahren gegenden Angeklagten nicht verwertet werden dürfen, istunbegründet. [...][6] Das Landgericht hat das gemäß § 100f StPO heim-lich aufgezeichnete Gespräch zwischen der Zeuginund dem Angeklagten mit Recht seiner Überzeugungs-bildung zu Grunde gelegt. Die Erkenntnisse aus demGespräch unterlagen keinem Verwertungsverbot. Diegegenteilige Auffassung des Beschwerdeführers, dieauf der Annahme beruht, die Angaben des Angeklag-ten seien rechtswidrig erlangt worden, trifft nicht zu.Auf die Erwägungen des Generalbundesanwalts zudem in der Hauptverhandlung gegen die Verwertungder Aufzeichnung erhobenen Widerspruch kommt esdaher nicht an.

a) Kein Verstoß gegen die Belehrungspflichten aus §§163a IV, 136 I StPO[7] Die Angaben des Angeklagten gegenüber der Zeu-gin E sind nicht unter Verstoß gegen die Belehrungs-pflichten des § 163a Abs. 4, § 136 Abs. 1 StPO zuStande gekommen.[8] Nach ständiger Rechtsprechung des Bundes-gerichtshofs sind diese Vorschriften auf Befragungeneines Beschuldigten durch Privatpersonen nicht an-wendbar. Zum Begriff der Vernehmung im Sinne derStPO gehört vielmehr, dass der Vernehmende derAuskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertrittund in dieser Eigenschaft von ihr eine Auskunft ver-langt. Da die Regelungen nach ihrem Sinn und Zweckden Beschuldigten vor der irrtümlichen Annahme ei-ner Aussagepflicht im Rahmen einer Kraft staatlicherAutorität vorgenommenen Befragung bewahren sol-len, sind sie auch dann nicht entsprechend anwendbar,wenn eine “vernehmungsähnliche” Situation durcheine Privatperson, die - wie hier - als Informantin derPolizei tätig wird, hergestellt wird. Aus den gleichenGründen stellt sich das hier in Rede stehende Vorge-hen auch nicht als unzulässige Umgehung des § 163aAbs. 4, § 136 Abs. 1 StPO dar (BGHSt 42, 139, 145;BGHSt 52, 11, 15 f.).

b) Keine Verstoß gegen §§ 163a III, 136a I StPO[9] Veranlasst eine Privatperson unter Verheimlichungihres Ermittlungsinteresses einen Tatverdächtigen, mitihr ein Gespräch über die Tat zu führen, so begründetdies entgegen der Auffassung des Beschwerdeführersauch keinen Verstoß gegen die unmittelbar oder ent-sprechend heranzuziehende Regelung der § 163a Abs.3, § 136a Abs. 1 StGB [gemeint ist StPO, die Red.].[10] Das vorliegend allein in Betracht kommende Ver-bot der Täuschung ist bei systematischer Betrachtungder anderen in § 136a Abs. 1 StPO aufgeführten ver-botenen Vernehmungsmethoden einschränkend auszu-legen (BGH, Beschluss vom 13. Mai 1996 - GSSt 1/96aaO). Mit der Beeinträchtigung der Willensentschlie-

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ßung durch Misshandlung, Ermüdung, körperlichenEingriff, Verabreichung von Mitteln, Quälerei oderHypnose lässt sich die unter wahrheitswidriger Zusi-cherung der Vertraulichkeit vorgenommene verdeckteBefragung des Angeklagten durch die Zeugin jedochnicht vergleichen.

c) Kein Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit[11] Schließlich verstößt nach dem Revisionsvorbrin-gen das von den Ermittlungsbehörden gebilligte Vor-gehen der Zeugin auch nicht gegen den Grundsatz,dass niemand gezwungen werden darf, sich selbst zubelasten (“nemo tenetur se ipsum accusare”).[12] Die Selbstbelastungsfreiheit gehört zum Kern-bereich des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiertenRechts auf ein faires Strafverfahren (EGMR, Urteilvom 5. November 2002 - 48539/99 - Fall Allen v.Großbritannien, StV 2003, 257, 259). Zwar dient dasRecht zu schweigen und der Schutz vor Selbstbela-stung ohne Rücksicht auf die Art der Straftat (EGMR,Urteil vom 10. März 2009 - 4378/02 - Bykov v. Russ-land, NJW 2010, 2013) nach der Rechtsprechung desEGMR in erster Linie dazu, den Beschuldigten vorunzulässigem Zwang der Behörde und vor Erlangungvon Beweisen durch Methoden des Drucks zu schüt-zen. Der EGMR hat jedoch anerkannt, dass die Frei-heit einer verdächtigen Person zu entscheiden, ob siein Polizeibefragungen aussagen oder schweigen will,auch dann unterlaufen wird, wenn die Behörden ineinem Fall, in dem der Beschuldigte, der sich für dasSchweigen entschieden hat, eine Täuschung anwen-den, um ihm belastende Äußerungen zu entlocken, diesie in der Vernehmung nicht erlangen konnten, damitdiese sodann im Prozess als Beweis eingeführt werdenkönnen (EGMR, Urteil vom 5. November 2002 -48539/99 aaO). Ob bei Anwendung einer Täuschungdas Schweigerecht in einem solchen Maß beeinträch-tigt wurde, dass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1EMRK vorliegt, hängt indes von den Umständen desEinzelfalles ab (EGMR, Urteil vom 5. November 2002- 48539/99 aaO).[13] So hat der EGMR die Verletzung des Rechts aufSelbstbelastungsfreiheit in einem Fall bejaht, in demein inhaftierter Beschuldigter, der sich durchgängigauf sein Schweigerecht berufen hatte, von einem inderselben Zelle einsitzenden, eigens von der Polizeiinstruierten und vorbereiteten Informanten unter Aus-nutzung des entstandenen Vertrauensverhältnisses be-harrlich zu dem ihm vorgeworfenen Tötungsdeliktbefragt wurde und schließlich der vermeintlichen Ver-trauensperson gegenüber selbstbelastende Angabenmachte. Der EGMR hat unter diesen Umständen dasVorgehen der Polizei als funktionales Äquivalent ei-ner Vernehmung angesehen, ohne dass die Sicherun-gen einer formalen Polizeibefragung, wie etwa dieübliche Belehrung, gewährleistet waren (EGMR, Ur-

teil vom 5. November 2002 - 48539/99 aaO, S. 260).[14] Bei einer ähnlichen Sachverhaltsgestaltung hatder Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 26. Juli2007 - 3 StR 104/07, BGHSt 52, 11) ein Verwertungs-verbot hinsichtlich der Erkenntnisse eines VerdecktenErmittlers wegen Verstoßes gegen den Grundsatz derSelbstbelastungsfreiheit angenommen. Auch in diesemFall wurde der Beschuldigte, obwohl er sich zuvorgegenüber den Ermittlungsbehörden auf sein Schwei-gerecht berufen hatte, von dem Verdeckten Ermittlerunter Hinweis auf ein vorgetäuschtes Vertrauensver-hältnis und unter Ausnutzung der den Beschuldigtenbelastenden Haft in einer vernehmungsähnlichen Si-tuation intensiv zu selbstbelastenden Aussagen zu derihm vorgeworfenen Tat gedrängt.[15] Demgegenüber hat der EGMR eine Verletzungdes Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit in einem Fallverneint, in welchem es dem Beschuldigten, der sichweder in Haft befand noch bis dahin polizeilich ver-nommen worden war, freistand, sich mit dem Infor-manten der Polizei, der das verdeckt geführte Ge-spräch heimlich aufzeichnete, zu unterhalten (EGMR,Urteil vom 10. März 2009 - 4378/02 - Bykov v. Russ-land, NJW 2010, 2013, 2015).[16] So liegt der Fall auch hier. Die von der Zeuginaufgezeichneten, den Angeklagten belastenden An-gaben sind nach dem Revisionsvorbringen wederdurch Zwang noch durch eine psychologischem Druckgleichkommende Täuschung, die eine Verletzung desRechts des Angeklagten zu schweigen begründenkönnte, zu Stande gekommen.[17] Die Revision behauptet schon nicht, dass der An-geklagte vor dem Gespräch mit der Zeugin gegenüberden Ermittlungsbehörden von seinem SchweigerechtGebrauch gemacht hat. Anhaltspunkte dafür, dass dasvom Angeklagten ausdrücklich ausgeübte Recht zuschweigen durch den Einsatz der Zeugin als Informan-tin der Polizei gezielt unterlaufen wurde, bestehen da-her nicht. Hinzu kommt, dass sich der Angeklagte imZeitpunkt des Gesprächs mit der Zeugin in Freiheitbefand. Selbst unter Berücksichtigung ihrer wahrheits-widrigen Angaben ergibt das Revisionsvorbringendeshalb nicht, dass sich der Angeklagte den drängen-den Fragen der Zeugin, mit der ihn keine engere Be-ziehung verband, nicht hätte entziehen können. Unterdiesen Umständen liegt es fern, dass eine psychologi-schem Druck gleichkommende Situation den Ange-klagten zu den sich selbst belastenden Angaben ver-anlasst hat.[18] Zudem wiegt das Vorgehen der Ermittlungsbe-hörden hier deshalb weniger schwer, weil sich dieZeugin von sich aus der Polizei als Informantin zurVerfügung gestellt hat, von dieser weder instruiertnoch angeleitet, sondern nur mit technischen Mittelnzur Aufzeichnung des Gesprächs ausgestattet wordenist. Mit Blick auf die Anforderungen, die an ein faires

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Verfahren zu stellen sind, ist ferner zu berücksichti-gen, dass die Gesprächsaufzeichnung zwar das maß-gebliche, aber nicht das einzige Beweismittel gewesenist, auf das das Landgericht seine Überzeugung für dieMittäterschaft des Angeklagten gestützt hat. Schließ-lich hatte der Angeklagte in der Hauptverhandlungauch Gelegenheit, der Verwertung dieses Beweismit-tels zu widersprechen und nahm diese Möglichkeitauch in Anspruch.

2. Zur Rüge der Unzuständigkeit des Gerichts, § 338Nr. 4 StPO[19] Die Rüge, das Gericht habe seine örtliche Zustän-digkeit zu Unrecht angenommen (§ 338 Nr. 4 i.V.m.§§ 7 ff. StPO), greift im Ergebnis ebenfalls nichtdurch.[20] Allerdings geht die vom Landgericht in dem denZuständigkeitseinwand zurückweisenden Beschlussgeäußerte und vom Generalbundesanwalt geteilte Auf-fassung fehl, der Erfolg der tatbestandlichen Handlungdes Zeugen H sei in Düsseldorf eingetreten, weil sichder potentielle Abnehmer der Betäubungsmittel inDüsseldorf aufgehalten habe, als H mit ihm telefo-nisch das Betäubungsmittelgeschäft verabredet habe.[21]Die örtliche Zuständigkeit des erkennenden Ge-richts ergibt sich im vorliegenden Fall nicht aus § 7Abs. 1 StPO, § 9 Abs. 1 3. Var. StGB, da in Düssel-dorf kein zum Tatbestand des § 29a Abs. 1 Nr. 2BtMG gehörender Erfolg eingetreten ist. Handeltrei-ben mit Betäubungsmitteln ist ein Tätigkeits- und keinErfolgsdelikt. Für die Frage, ob der Gerichtsstand desTatorts gemäß § 7 Abs. 1 StPO i.V.m. § 9 Abs. 1StGB begründet ist, ist hier deshalb allein auf denHandlungsort abzustellen (BGH, Beschluss vom 17.Juli 2002 - 2 ARs 77/02, NJW 2002, 3486).[22] Zwar ist im Falle der Mittäterschaft die Tat anjedem Ort begangen, an dem auch einer der Mittätergehandelt hat (BGH, Urteil vom 4. Dezember 1992 - 2StR 442/92, BGHSt 39, 88). Nach der Rechtsprechungdes Bundesgerichtshofs stellt sich aber das Zusam-menwirken von Veräußerer und Erwerber von Betäu-bungsmitteln nicht als Mittäterschaft, sondern jeweilsals selbständige Täterschaft dar, weil sich beide alsGeschäftspartner gegenüberstehen und gegensätzlicheInteressen verfolgen, so dass ihr Zusammenwirkenallein durch die Art der Deliktsverwirklichung vor-gegeben ist (BGH, Urteil vom 30. September 2008 - 5

StR 215/08, NStZ 2009, 221). Die örtliche Zuständig-keit des Landgerichts Düsseldorf kann deshalb für dengemeinschaftlich mit dem Zeugen H auf Veräußer-erseite handelnden Angeklagten auch nicht daraus her-geleitet werden, dass der Erwerber der Betäubungs-mittel in Düsseldorf eine auf die Verwirklichung derTat gerichtete Handlung vorgenommen hat.[23] Das Landgericht Düsseldorf war aber gemäß § 7Abs. 1 StPO, § 9 Abs. 1 1. Var. StGB örtlich zustän-dig, weil auch ein Handlungsort des Mittäters des An-geklagten im Bezirk des erkennenden Gerichts lag.[24] In dem für die Beurteilung der Zuständigkeits-bestimmung maßgeblichen Zeitpunkt der Eröffnungdes Hauptverfahrens (Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl.,§ 338 Rn. 31) bestanden - worauf das Landgericht inzweiter Linie abgestellt hat - hinreichende Anhalts-punkte dafür, dass sich der Zeuge H mit dem poten-tiellen Abnehmer des Rauschgifts zumindest einmal inDüsseldorf getroffen und dort auch Gespräche überdas Betäubungsmittelgeschäft geführt hatte (SA Bl.146 ff. und Bl. 168 ff.). Damit lagen bei Eröffnung desHauptverfahrens zumindest hinreichend sichere Tatsa-chen dafür vor, dass der Mittäter des Angeklagten je-denfalls im Versuchsstadium des Delikts - was für dieZuständigkeitsbegründung ausreichend ist (BGH, Ur-teil vom 4. Dezember 1992 - 2 StR 442/92, BGHSt 39,88) - im Bezirk des erkennenden Gerichts eine auf dieTatbestandsverwirklichung gerichtete Tätigkeit entfal-tet hat. Damit war auch für den Angeklagten die örtli-che Zuständigkeit des Landgerichts Düsseldorf be-gründet.

3. Zur Rüge der Mitwirkung befangener Richter, § 338Nr. 3 StPO[25] Die Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 3 i.V.m. §24 StPO ist unzulässig, weil die Revision den Inhaltder dienstlichen Stellungnahmen der abgelehntenRichter nicht mitteilt (Meyer-Goßner aaO, § 338 Rn.29 mwN).

4. Zur Besetzungsrüge, § 338 Nr. 1 StPO[26] Der Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 1 StPOi.V.m. § 76 Abs. 2 GVG bleibt der Erfolg schon des-halb versagt, weil in der Hauptverhandlung ein auf dieVerletzung des § 76 Abs. 2 GVG gestützter Beset-zungseinwand nach § 222b StPO nicht erhoben wor-den ist (Meyer-Goßner aaO, § 222b Rn. 3a und 7).

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URTEILE IN FALLSTRUKTURRA 2011, HEFT 7

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Urteile in Fallstruktur

Standort: Öffentliches Recht Problem: Sicherungsverwahrung

BVERFG, URTEIL VOM 04.05.2011

2 BVR 2365/09 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Das BVerfG hatte sich mit der Verfassungsmäßigkeitder §§ 66 ff. StGB zu befassen, die bekanntlich dieSicherungsverwahrung von Straftätern regeln. Das mitSpannung erwartete Urteil enthält einige sehr ex-amensrelevante Ausführungen:

A. Das BVerfG hält - entgegen der Rechtsprechungdes EGMR - die deutsche Sicherungsverwahrung nichtfür eine Strafe, sondern für eine Gefahrenabwehrmaß-nahme. Erste Konsequenz dieser Einstufung ist, dassdie Gesetzgebungskompetenz des Bundes problema-tisch ist, denn diese kann nach Art. 74 I 1 Nr. 1 GGallenfalls über das “Strafrecht” kommen. Das BVerfGgeht hierauf allerdings nur kurz ein, weil es durch sei-ne frühere Rechtsprechung bereits als geklärt ansieht,dass der Begriff “Strafrecht” in Art. 74 I Nr. 1 GGüber die eigentlichen Strafnormen hinaus traditionellauch Maßregeln der Besserung und Sicherung um-fasst, zu denen die Sicherungsverwahrung gehört.

B. Zweite Konsequenz ist, dass in materieller Hinsichtnicht etwa Art. 103 II GG, sondern allein Art. 2 II 2GG zu prüfen ist, der bei Freiheitsentzug in Verbin-dung mit Art. 104 I GG als einheitliches Grundrechtgeprüft wird. Hier sieht das BVerfG - nach unproble-matischer Bejahung eines Eingriffs in den Schutzbe-reich - vor allem zwei Probleme:

I. Zum einen genügt es dem BVerfG nicht, dass derdeutsche Gesetzgeber die Sicherungsverwahrung alsGefahrenabwehrmaßnahme einstuft. Vielmehr müssesie auch so ausgestaltet werden. Wenn einem Straftä-ter nach Verbüßung seiner Strafe - also schuldunab-hängig - weiterhin die Freiheit entzogen werde, sokönne dies aus Gefahrenabwehrgesichtspunkten zwarzulässig sein; seine Verwahrung müsse sich dann aberelementar von einer Strafhaft unterscheiden (sog. “Ab-standsgebot”). Beispielsweise müsse er in anderenBereichen untergebracht werden und nicht, wie jetztgängige Praxis, einfach neben den Strafgefangenen inder JVA. Es müsste ein weitgehend normaler Tages-ablauf ermöglicht werden, Therapieangebote und Mo-tivation der Betroffenen zur Annahme derselben müss-ten gesetzlich geregelt werden, die Fortdauer des Frei-heitsentzugs müsse (einklagbar) immer wieder über-prüft werden u.v.m. Diesen Anforderungen genügen

§§ 66 ff. StGB nicht, sie sind somit unverhältnismäßigund damit verfassungswidrig.

II. Zum zweiten gefiel dem BVerfG nicht, dass dieSicherungsverwahrung unter bestimmten Vorausset-zungen auch nachträglich angeordnet werden kannund die früher im Gesetz vorgeschriebene Höchstdau-er der Sicherungsverwahrung von 10 Jahren rückwir-kend durch ein richterliches Prüfverfahren nach 10Jahren ersetzt worden ist. Zwar handelt es sich in Be-zug auf bereits in Sicherungsverwahrung befindlichePersonen nur um eine (grundsätzlich zulässige) “un-echte” Rückwirkung; wegen des besonderen Vertrau-ensschutzes sei hier aber ausnahmsweise von einerunzulässigen Rückwirkung auszugehen, da den Siche-rungsverwahrten die Hoffnung auf “Licht am Endedes Tunnels” genommen werde und die persönlicheFreiheit ein besonders hohes Gut sei.

Prüfungsrelevanz:

Das Urteil könnte in eine verfassungsrechtlich ausge-staltete Examensklausur übernommen werden. Nochbesser eignet es sich für mündliche Prüfungsgesprä-che.

Weite Passagen des Urteils beschäftigen sich übrigensmit der Europäischen Menschenrechtskonvention undder Frage, ob die Urteile des Europäischen Gerichts-hofs für Menschenrechte (EGMR) in DeutschlandBindungswirkung haben. Hintergrund ist, dass derEGMR die deutsche Sicherungsverwahrung - andersals das BVerfG - als Strafe angesehen hat und - da sieunabhängig von Schuld verhängt wird - zu einem Ver-stoß gegen Art. 5 I 1 EMRK gelangte. Das BVerfGvertritt allerdings in st.Rspr., dass die EMRK - danicht selbst im Verfassungsrang stehend - nur eineAuslegungshilfe bei der Anwendung des Grundgeset-zes sein könne. Da diese völkerrechtlichen Fragennicht Gegenstand des Pflichtfachstoffs im Staatsexa-men sind, wird auf diese Passagen in der nachfolgen-den Falllösung nur in der gebotenen Kürze eingegan-gen.

Vertiefungshinweise:

“ Aktuelle Rechtsprechung zur Sicherungsverwah-rung: BVerfGE 109, 133; EuGMR, NJW 2010, 2495

“ Urteilsanmerkungen: Bachmann/Goeck, NJ 2010,457

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“ Zur beabsichtigten Neuregelung der Sicherungs-verwahrung: Kinzig, NJW 2011, 177; Klein/Grosse-Brömer, ZRP 2010, 172; Kreuzer, ZRP 2011, 7

“ Sicherungsverwahrung aus strafrechtlicher Sicht:Ullenbruch, NStZ 2008, 5; Folkers, NStZ 2006, 426;Veh, NStZ 2005, 307

“ Speziell zur nachträglichen Sicherungsverwahrung:Sydow/Würtenberger, NVwZ 2001, 1201; Poseck,NJW 2004, 2559; Peglau, NJW 2004, 3599; Ullen-bruch, NStZ 1998, 326

Leitsätze:1. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofsfür Menschenrechte, die neue Aspekte für die Aus-legung des Grundgesetzes enthalten, stehen rechts-erheblichen Änderungen gleich, die zu einer Über-windung der Rechtskraft einer Entscheidung desBundesverfassungsgerichts führen können. 2a) Die Europäische Menschenrechtskonventionsteht zwar innerstaatlich im Rang unter demGrundgesetz. Die Bestimmungen des Grundgeset-zes sind jedoch völkerrechtsfreundlich auszulegen.Der Konventionstext und die Rechtsprechung desEuropäischen Gerichtshofs für Menschenrechtedienen auf der Ebene des Verfassungsrechts alsAuslegungshilfen für die Bestimmung von Inhaltund Reichweite von Grundrechten und rechtsstaat-lichen Grundsätzen des Grundgesetzes.b) Die völkerrechtsfreundliche Auslegung erfor-dert keine schematische Parallelisierung der Aus-sagen des Grundgesetzes mit denen der EMRK.c) Grenzen der völkerrechtsfreundlichen Ausle-gung ergeben sich aus dem Grundgesetz. Die Be-rücksichtigung der Europäischen Menschenrechts-konvention darf nicht dazu führen, dass derGrundrechtsschutz nach dem Grundgesetz einge-schränkt wird; das schließt auch die EuropäischeMenschenrechtskonvention selbst aus (vgl. Art. 53EMRK). Dieses Rezeptionshemmnis kann vor al-lem in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen rele-vant werden, in denen das „Mehr“ an Freiheit fürden einen Grundrechtsträger zugleich ein „Weni-ger“ für den anderen bedeutet. Die Möglichkeiteneiner völkerrechtsfreundlichen Auslegung endendort, wo diese nach den anerkannten Methodender Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpreta-tion nicht mehr vertretbar erscheint. 3a) Der in der Sicherungsverwahrung liegende,schwerwiegende Eingriff in das Freiheitsgrund-recht (Art. 2 II 2 GG) ist nur nach Maßgabe strik-ter Verhältnismäßigkeitsprüfung und unter Wah-rung strenger Anforderungen an die zugrundelie-genden Entscheidungen und die Ausgestaltung desVollzugs zu rechtfertigen. Dabei sind auch dieWertungen des Art. 7 Abs. 1 EMRK zu berücks-

ichtigen.b) Die Sicherungsverwahrung ist nur zu rechtferti-gen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Konzeptiondem besonderen Charakter des in ihr liegendenEingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorgeträgt, dass über den unabdingbaren Entzug der„äußeren“ Freiheit hinaus weitere Belastungenvermieden werden. Dem muss durch einen frei-heitsorientierten und therapiegerichteten VollzugRechnung getragen werden, der den allein präven-tiven Charakter der Maßregel sowohl gegenüberdem Untergebrachten als auch gegenüber der All-gemeinheit deutlich macht. Die Freiheitsentziehungist - in deutlichem Abstand zum Strafvollzug(„Abstandsgebot“, vgl. BVerfGE 109, 133 [166]) -so auszugestalten, dass die Perspektive der Wieder-erlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Un-terbringung bestimmt.c) Das verfassungsrechtliche Abstandsgebot ist füralle staatliche Gewalt verbindlich und richtet sichzunächst an den Gesetzgeber, dem aufgegeben ist,ein entsprechendes Gesamtkonzept der Siche-rungsverwahrung zu entwickeln und normativfestzuschreiben. Die zentrale Bedeutung, die die-sem Konzept für die Verwirklichung des Freiheits-grundrechts des Untergebrachten zukommt, gebie-tet eine gesetzliche Regelungsdichte, die keine maß-geblichen Fragen der Entscheidungsmacht vonExekutive oder Judikative überlässt, sondern de-ren Handeln in allen wesentlichen Bereichen de-terminiert.d) Die Ausgestaltung des Abstandsgebots muss be-stimmten verfassungsrechtlichen Mindestanforde-rungen genügen. 4. Der in der nachträglichen Verlängerung der Si-cherungsverwahrung über die frühere Zehnjah-reshöchstfrist hinaus und in der nachträglichenAnordnung der Sicherungsverwahrung liegende,schwerwiegende Eingriff in das Vertrauen des be-troffenen Personenkreises ist angesichts des damitverbundenen schwerwiegenden Eingriffs in dasFreiheitsgrundrecht (Art. 2 II 2 GG) verfassungs-rechtlich nur nach Maßgabe strikter Verhältnis-mäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster Ver-fassungsgüter zulässig. Das Gewicht der berührtenVertrauensschutzbelange wird durch die Wertun-gen der Europäischen Menschenrechtskonventionin Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 EMRK verstärkt.

Sachverhalt:In §§ 66 ff. StGB ist die Möglichkeit normiert, Straftä-ter nach Verbüßung ihrer Strafe unter bestimmtenVoraussetzungen in staatliche Sicherungsverwahrungzu nehmen, wobei die Sicherungsverwahrung norma-lerweise im Strafurteil neben der Freiheitsstrafe an-geordnet wird, in den Fällen des § 66b StGB aber auch

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noch nachträglich angeordnet werden kann. Früher war die Sicherungsverwahrung auf höchstens10 Jahre beschränkt (§ 67a I StGB a.F.). Mit Gesetzvom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) wurde dies je-doch geändert: An dies Stelle der Höchstdauer von 10Jahren ist nach § 67d III 1 StGB eine gerichtliche Prü-fung der (Un-)gefährlichkeit des Betroffenen für dieAllgemeinheit getreten. Gemäß Art. 1a III EGStGBgilt diese Regelung in zeitlicher Hinsicht ausdrücklichuneingeschränkt - also auch für “Altfälle”, in deneneine Sicherungsverwahrung bereits lief.Die Beschwerdeführer sind ehemalige Straftäter, diein Sicherungsverwahrung genommen wurden. Sie mei-nen, die Sicherungsverwahrung in §§ 66 ff. StGB ansich verstoße schon gegen das Grundgesetz, weil ers-tens der Bund keine Gesetzgebungskompetenz für siehabe und sie zweitens grundrechtswidrig sei. Dabei seizu berücksichtigen, dass die persönliche Freiheit auchin der Europäischen Konvention zum Schutz der Men-schenrechte in Art. 5 I 1 EMRK geschützt sei. InDeutschland könne folglich nichts anderes gelten. Jedenfalls verstoße aber die Möglichkeit der nachträg-lichen Anordnung (§ 66b StGB) und die rückwirkendeErsetzung der Höchstdauer von 10 Jahren durch eingerichtliches Prüfverfahren gegen das verfassungs-rechtliche Rückwirkungsverbot.

Sind die §§ 66 ff. StGB formell und materiell verfas-sungsgemäß?

[Anm.: Unterstellen Sie bei Ihrer Prüfung, dass derEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)in einem Urteil tatsächlich einen Verstoß der §§ 66 ff.StGB gegen Art. 5 I 1 EMRK festgestellt hat. SolltenSie im Gutachten zur Frage der Rückwirkung nichtmehr gelangen, ist diese ggf. hilfsweise zu erörtern.]

Lösung:§§ 66 ff. StGB im allgemeinen und § 67d III 1 StGBi.V.m. Art. 1a III EGStGB im besonderen sind formellverfassungsgemäß, wenn der Bund die Vorschriftenaufgrund seiner Gesetzgebungskompetenz nach ord-nungsgemäßem Verfahren in der richtigen Form erlas-sen hat. Sie sind materiell verfassungsgemäß, wenn sienicht gegen Grundrechte oder Staatsprinzipien vonVerfassungsrang verstoßen.

A. Formelle VerfassungsmäßigkeitIn formeller Hinsicht ist zunächst die Gesetzgebungs-kompetenz des Bundes fraglich.

I. Grundsatz: LänderkompetenzGrundsätzlich liegt die Gesetzgebungskompetenz beiden Ländern, Art. 70 GG. Bliebe es für die Regelungder Sicherungsverwahrung dabei, wäre sie - da durchden Bund erfolgt - formell verfassungswidrig.

II. Ausnahme: Bundeskompetenz aus Art. 74 I Nr. 1GGDer Bund hat jedoch aus Art. 74 I Nr. 1 GG die kon-kurrierende Gesetzgebungskompetenz für das “Straf-recht”. Fraglich ist, was unter “Strafrecht” in diesemSinne zu verstehen ist.

1. Strafe/RepressionZunächst fällt unzweifelhaft das Kriminalstrafrechtunter diese Regelung, also die Normen des StGB unddes Nebenstrafrechts, die an ein Verhalten eine Sank-tion in Form einer Repression anknüpfen (Degenhart,in: Sachs, GG, Art. 74 Rn 11) . Nach h.M. gehört hier-zu auch das Ordnungswidrigkeitenrecht (BVerfGE 23,113, 123; 45, 272, 288).Insbesondere der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte ist der Auffassung, auch die Sicherungs-verwahrung sei eine “Strafe” in diesem Sinne (JuS2010, 1121 = NJW 2010, 2495). Sie habe wie eineFreiheitsstrafe eine Freiheitsentziehung zur Folge undwerde in regulären Justizvollzugsanstalten vollzogen.Auch sei die tatsächliche Situation der Sicherungs-verwahrten mit denen der Strafgefangenen identisch;es gebe insbesondere keine besonderen, auf Siche-rungsverwahrte gerichteten Maßnahmen, Instrumenteoder Einrichtungen, die zum Ziel hätten, ihre Gefähr-lichkeit zu verringern und damit ihre Haft auf die Dau-er zu beschränken, die unbedingt erforderlich sei, umsie von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten.Handelte es sich um eine Strafe, wäre die Gesetzge-bungskompetenz des Bundes aus Art. 74 I Nr. 1 GGunzweifelhaft gegeben.

2. Gefahrenabwehr/PräventionDie Sicherungsverwahrung ist nach hierzulande ganzh.M. aber keine Strafe, sondern schließt sich als“zweite Spur” (Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn12) an diese an, um die Gemeinschaft vor (weiterhin)gefährlichen Straftätern zu schützen. Sie hat m.a.W.nicht repressiven, sondern präventiven Charakter. Da-ran hält auch das BVerfG fest:

“[101] Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 5.Februar 2004 ausgeführt, dass nicht die Schuld, son-dern die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeitbestimmend ist für Anordnung, zeitliche Dauer undvor allem die Ausgestaltung der Maßregel der Siche-rungsverwahrung (BVerfGE 109, 133 [174]). Die An-lasstat ist bloßer Anknüpfungspunkt für das Merkmalder “Gefährlichkeit” im Sinne der Anordnungsvoraus-setzungen der Sicherungsverwahrung, nicht derenGrund. Nach der Konzeption, die dem zweispurigenSanktionensystem des Strafgesetzbuchs zugrundeliegt, dient der Freiheitsentzug des Sicherungs-verwahrten nicht der Vergeltung zurückliegenderRechtsgutsverletzungen, sondern der Verhinderung

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zukünftiger Straftaten. [...]”

Gefahrenabwehr ist grundsätzlich Aufgabe der Län-der. Somit könnte man nach dieser Einordnung an derGesetzgebungskompetenz des Bundes zweifeln.

3. Traditionelle DefinitionJedoch zählen Maßregeln der Besserung und Siche-rung in Deutschland traditionell - d.h. spätestens seitder Reichsverfassung von 1871 (dort Art. 4 Nr. 13)zum “Strafrecht”, mögen sie begrifflich auch keine“Strafen” darstellen. Diese in der Weimarer Reichs-verfassung fortgeschriebene Tradition (Art. 7 Nr. 2WRV) hatte der Parlamentarische Rat vor Augen, alser 1949 das Grundgesetz schuf. Weder aus den Moti-ven, noch aus dem Wortlaut des Art. 74 GG, noch ausseiner systematischen Beziehung zu anderen Verfas-sungsnormen ergibt sich, dass der Verfassungsgeberan dieser Tradition etwas ändern wollte.“Strafrecht” i.S.d. Art. 74 I Nr. 1 GG darf also nicht ineinem strengen Wortsinn verstanden werden, sondernmuss historisch dahingehend ausgelegt werden, dasses auch die Maßregeln der Besserung und Sicherungumfassen sollte (BVerfGE109, 133, 170; 109, 190,213; Kinzig, NJW 2001, 1455; Degenhart, in: Sachs,GG, Art. 74 Rn 12). Somit kann jedenfalls an dieser Stelle dahinstehen, obes sich um eine “Strafe” im engeren Sinn handelt odernicht. Der Bund hat in jedem Fall die Gesetzgebungs-kompetenz für die Sicherungsverwahrung aus Art. 74 INr. 1 GG.

[Anm.: Die Gesetzgebungskompetenz für den Straf-vollzug hat der Bund hingegen im Rahmen der Föder-alismusreform 2006 verloren. Es ist somit Sache derLänder, die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrungzu regeln. Das BVerfG spricht hier von einer “Koope-rationspflicht” von Bund und Ländern:“[129] Aus Sicht des Freiheitsschutzes spielt es inso-weit keine Rolle, dass der Bundesgesetzgeber seit derFöderalismusreform im Jahr 2006 nicht mehr über dieGesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug verfügt.Wenn er sich im Rahmen seiner Gesetzgebungskompe-tenz für das Strafrecht aus Art. 74 I Nr. 1 GG für einzweispuriges Sanktionensystem und den Einsatz einerso einschneidenden freiheitsentziehenden Maßnahmewie der Sicherungsverwahrung entscheidet, muss erdie wesentlichen Leitlinien des freiheitsorientiertenund therapiegerichteten Gesamtkonzepts, das der Si-cherungsverwahrung von Verfassungs wegen zugrun-dezulegen ist, selbst regeln und sicherstellen, dassdiese konzeptionelle Ausrichtung der Sicherungsver-wahrung nicht durch landesrechtliche Regelungenunterlaufen werden kann.[130] Bundes- und Landesgesetzgeber stehen gemein-sam in der Pflicht, ein normatives Regelungskonzept

zu schaffen, welches den dargelegten Anforderungengenügt. Ihre Aufgabe ist es, unter Berücksichtigungdes verfassungsrechtlichen Kompetenzgefüges einfreiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamt-konzept der Sicherungsverwahrung zu entwickeln. Da-bei ist der Bundesgesetzgeber angesichts seiner kon-kurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für den Be-reich des Strafrechts nach § 74 I Nr. 1 GG darauf be-schränkt - aber, wenn er am Institut der Sicherungs-verwahrung grundsätzlich festhalten will, auch gehal-ten - die wesentlichen Leitlinien vorzugeben. [...] Da-rüber hinaus ist er zuständig für die Regelungen zurgerichtlichen Überprüfung der Fortdauer der Siche-rungsverwahrung und für Verfahrensvorschriften. DieLandesgesetzgeber wiederum haben im Rahmen ihrerGesetzgebungszuständigkeit das Abstandsgebot si-chernde, effektive Regelungen für den Vollzug derMaßregel zu treffen, die einen freiheitsorientiertenund therapiegerichteten Vollzug gewährleisten. Dabeiist vor allem sicherzustellen, dass die genannten An-forderungen nicht durch Gewährung zu weiter Spiel-räume in der Praxis umgangen werden können.]

III. ZwischenergebnisDer Bund hatte die Gesetzgebungskompetenz zur Re-gelung der Sicherungsverwahrung. Hinsichtlich desGesetzgebungsverfahrens (Art. 76 ff. GG) und derForm (Art. 82 GG) sind keine Verstöße ersichtlich.Solche werden von den Bf. auch nicht gerügt. Somitsind die angegriffenen Normen formell verfassungs-gemäß.

B. Materielle VerfassungsmäßigkeitFraglich ist, ob die Sicherungsverwahrung gegenGrundrechte der Betroffenen und/oder sonstige Ver-fassungsprinzipien wie das Rückwirkungsverbot ver-stößt.

I. Verstoß gegen Art. 11 I GGDie Sicherungsverwahrung nach §§ 66 ff. StGB könn-te an Art. 11 I GG zu messen sein. Dieser schützt dieFreizügigkeit. Darunter ist die freie Wahl des ständi-gen Aufenthaltsortes einer Person, also seines Wohn-sitzes, zu verstehen. Wird jemand in Sicherungsver-wahrung genommen, kann er seinen Lebensmittel-punkt nicht mehr frei bestimmen. Somit liegt eine Be-troffenheit des Schutzbereichs von Art. 11 I GG nichtfern.Jedoch ist Art. 11 I GG abzugrenzen von der Freiheitder Person aus Art. 2 II 2 GG. Streitig ist insoweit, ob allein auf die zeitliche Dauerdes Verweilens abzustellen ist (Jarass/Pieroth, GG,Art. 11 Rn 2) oder eine Einzelfallbetrachtung zu erfol-gen hat (Kunig, JURA 1990, 306, 308 m.w.N.). Diesmag hier jedoch auf sich beruhen, da der Sonderfallfreiheitsentziehender Maßnahmen des Staates wie die

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Sicherungsverwahrung unstreitig ausschließlich anArt. 2 II 2 GG gemessen werden (BVerfG, NJW 2006,668, 669; NJW 2006, 672, 672; NJW 2006, 677, 678).Dies ergibt sich aus Art. 104 GG, der auf Schranken-ebene in Art. 104 II-IV GG qualifizierte Vorausset-zungen hierfür enthält, die sinnlos wären, wollte manArt. 11 GG anwenden, der in Art. 11 II GG bereitseigene - völlig andere - qualifizierte Voraussetzungenenthält.Somit ist der Schutzbereich von Art. 11 I GG nichtbetroffen.

II. Verstoß gegen Art. 103 II GGIndem der Gesetzgeber die früher geltende Höchst-dauer der Sicherungsverwahrung von 10 Jahren in §67d I StGB a.F. abgeschafft und durch eine richterli-che Einzelfallprüfung in § 67d III 1 StGB ersetzt hat,könnte er gegen das qualifizierte Rückwirkungsverbotdes Art. 103 II GG insoweit verstoßen haben, als Art.1a III EGStGB diese Regelung auch auf solche Fälleerstreckt, in denen die Sicherungsverwahrung bereitsläuft.Nach Art. 103 II GG darf keine Strafe ohne Gesetzverhängt werden. Hier ist nun der oben bereits zur Ge-setzgebungskompetenz erörterte, dort allerdings i.E.offen gelassene Streit zu entscheiden, ob es sich beider Sicherungsverwahrung um eine “Strafe” handelt.Nur eine solche wäre an Art. 103 II GG zu messen.Das BVerfG bleibt - ungeachtet der a.A. des EGMR -jedoch bei seiner Ansicht, dass keine “Strafe” vorlie-ge:“[104] Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung un-terscheiden sich grundlegend in ihrer verfassungs-rechtlichen Legitimation. Die Berechtigung des Staa-tes, Freiheitsstrafen zu verhängen und zu vollziehen,beruht wesentlich auf der schuldhaften Begehung derStraftat. Nur weil der Täter in vorwerfbarer WeiseUnrecht begangen hat, darf er zu einer Freiheitsstrafeverurteilt und deren Vollzug unterworfen werden.Dem liegt das Menschenbild des Grundgesetzes voneinem zu freier Selbstbestimmung befähigten Men-schen zugrunde, dem mit dem in der Menschenwürdewurzelnden Schuldprinzip Rechnung zu tragen ist(vgl. BVerfGE 123, 267 [413]). Das Schuldprinzipbegrenzt in seiner strafzumessungsleitenden Funktiondie Dauer der Freiheitsstrafe auf das der TatschuldAngemessene. Die Schuld ist einer der legitimieren-den Gründe und äußerste Grenze der Anordnung unddes Vollzugs der Freiheitsstrafe. Die Berechtigung zurAnordnung und zum Vollzug freiheitsentziehenderMaßregeln wie der Sicherungsverwahrung folgt dem-gegenüber aus dem Prinzip des überwiegenden Inter-esses (vgl. Radtke, in: Münchener Kommentar zumStGB, Bd. 1, 1. Aufl. 2003, Vor §§ 38 ff. Rn. 68). An-ordnung und Vollzug sind nur dann legitim, wenn dasSicherheitsinteresse der Allgemeinheit das Freiheits-

recht des Betroffenen im Einzelfall überwiegt (vgl.BVerfGE 109, 133 [159]).[105] Der Zweck der Freiheitsstrafe besteht dement-sprechend vornehmlich in einer repressiven Übelszu-fügung als Reaktion auf schuldhaftes Verhalten, wel-che – jenseits anderer denkbarer zusätzlicher Straf-zwecke, die die Verfassung nicht ausschließt – demSchuldausgleich dient (BVerfGE 109, 133 [173]). Da-gegen liegt der Zweck der Maßregel allein in der zu-künftigen Sicherung der Gesellschaft und ihrer Mit-glieder vor einzelnen, aufgrund ihres bisherigen Ver-haltens als hochgefährlich eingeschätzten Tätern.”Somit ist Art. 103 II GG nicht verletzt.

III. Verstoß gegen Art. 2 II 2 i.V.m. 104 I 1 GGJedoch könnte die Sicherungsverwahrung nach §§ 66ff. StGB insgesamt eine Verletzung des Grundrechtsauf Freiheit der Person aus Art. 2 II 2 i.V.m. 104 I 1GG darstellen. Dann müsste ein nicht gerechtfertigterEingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vor-liegen.

1. Schutzbereich betroffenDie Freiheit der Person gewährt das Recht, jeden be-liebigen Ort aufzusuchen und dort zu verweilen(BVerfG, NJW 2002, 3161, 3161; NVwZ 2006, 579,579; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2007, 103, 103). Art.2 II 2 GG schützt also die körperliche Bewegungsfrei-heit. Dass diese eingeschränkt wird, wenn jemand instaatliche Sicherungsverwahrung genommen wird, istoffensichtlich. Dass Art. 2 II 2 i.V.m. 104 I 1 GG vor-liegend auch nicht von Art. 11 I GG verdrängt werden,wurde bereits oben ausgeführt.

[Anm.: Art. 104 I 1 GG wiederholt nur das, was sichaus Art. 2 II 2 GG ohnehin schon ergibt. Es handeltsich somit um eine überflüssige Verdoppelung, die zuArt. 2 II 2 GG hinzu zitiert wird, auf Schutzbereichs-e b e n e a b e r k e i n e e i g e n e B e d e u t u n g h a t(v.Münch/Kunig, GG, Art. 2 Rn 80; vgl. aber dieSchrankenanforderungen des Art. 104 II-IV GG).]

2. EingriffUnter einem Eingriff ist jede spürbare Verkürzung desSchutzbereichs zu verstehen. Ausgenommen sind alsolediglich Bagatellfälle. Davon kann bei der Siche-rungsverwahrung keine Rede sein.

3. Verfassungsrechtliche RechtfertigungDer Eingriff müsste von den Schranken des Grund-rechts gedeckt sein.

a. SchrankenAuf Schrankenebene ist zwischen Freiheitsbeschrän-kung und Freiheitsentziehung zu unterscheiden.

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aa. FreiheitsentziehungDie Freiheitsentziehung ist eine qualifizierte Form derFreiheitsbeschränkung, für die Art. 104 II-IV GG be-sondere Schrankenanforderungen enthält, währendeine Freiheitsbeschränkung lediglich dem einfachenGesetzesvorbehalt des Art. 2 II 3 GG unterliegt.Freiheitsentziehung ist die Aufhebung der körperli-chen Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin, alsodas Festhalten an einem eng umgrenzten Ort. Dazugehört auch die Sicherungsverwahrung. Reine Frei-heitsbeschränkungen liegen nur vor, wenn ein be-stimmter Ort nicht erreicht werden kann oder der Be-troffene zwar an einem bestimmten Ort festgehaltenwird, dort aber noch hinreichende Bewegungsfreiheitgenießt, wie z.B. die schulpflichtigen Kinder in derSchule oder die Einwohner einer infolge Seuchenge-fahr abgeriegelten Stadt.Somit unterliegt die Sicherungsverwahrung einem(qualifizierten) Gesetzesvorbehalt nach Art. 104 I-IVGG.

bb. Qualifizierte Anforderungen des Art. 104 II-IV GGAn einem Parlamentsgesetz i.S.d. Art. 104 I GG fehltes nicht, da die Sicherungsverwahrung und ihre Vor-aussetzungen im Einzelnen in §§ 66 ff. StGB geregeltsind. Fraglich ist jeodch, ob auch die qualifiziertenAnforderungen des Art. 104 II-IV GG gewahrt sind.Einschlägig ist insoweit vor allem der Richtervorbe-halt des Art. 104 II 1 GG. Danach darf nur ein Richterüber Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentzie-hung entscheiden.Die Anordnung der Sicherungsverwahrung trifft nach§ 66 I StGB “das Gericht”. Auch über die Fortdauernach 10 Jahren entscheidet gem. § 67d III StGB “dasGericht”. Auch die übrigen, hier nicht streitgegen-ständlichen Vorschriften der §§ 66 ff. StGB über dieArt und Weise der Sicherungsverwahrung stellen diemaßgeblichen Entscheidungen sämtlich unter Richter-vorbehalt. Für Verstöße gegen die weiteren Regelungen in Art.104 II-IV GG ist auch nichts ersichtlich. Somit stellendie §§ 66 ff. StGB eine taugliche Schranke des Grund-rechts auf Freiheit der Person dar.

b. Schranken-SchrankenDennoch muss die Schranke selbst auch wieder denübrigen Verfassungsprinzipien genügen. Dies ist hierbzgl. der §§ 66 III, 67d III StGB im Hinblick auf denGrundsatz der Verhältnismäßigkeit und bzgl. des Art.1a II, III EGStGB a.F. im Hinblick auf das Rückwir-kungsverbot fraglich.

aa. VerhältnismäßigkeitIm Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit müsste dieSicherungsverwahrung einem legitimen Zweck dienenund zu dessen Förderung geeignet, erforderlich und

angemessen sein.

(1). Legitimer ZweckDer legitime Zweck liegt - wie oben bereits ausgeführt- in der Gefahrenabwehr. Die Bevölkerung soll vorStraftätern geschützt werden, von denen sicher anzu-nehmen ist, dass sie auch nach Verbüßung ihrer Strafewieder schwere Verbrechen begehen werden.

(2). GeeignetheitBefindet sich der potenzielle Straftäter in staatlicherSicherungsverwahrung, kann er während dieser Zeitkeine weiteren Verbrechen begehen. Die Sicherungs-verwahrung fördert also den Schutz der Bevölkerung.

(3). ErforderlichkeitErforderlich ist eine staatliche Maßnahme nur, wennkeine milderen, gleich effektiven Alternativen zurVerfügung stehen. Alternativen zur Sicherungsver-wahrung lassen sich denken, z.B. Meldepflichten,Hausarrest, Fußfesseln o.ä. Allerdings sind diese alle-samt nicht gleich effektiv wie eine Verwahrung in ei-ner geschlossenen Anstalt.

(4). AngemessenheitIn der Angemessenheit ist auf die Zweck-Mittel-Rela-tion einzugehen, also danach zu fragen, ob das Rege-lungsziel nicht außer Verhältnis zur Schwere des Ein-griffs steht. In den Worten des BVerfG:“[98] Die Freiheit der Person nimmt - als Grundlageund Voraussetzung der Entfaltungsmöglichkeiten desBürgers - einen hohen Rang unter den Grundrechtenein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs.2 Satz 2 GG sie als “unverletzlich” bezeichnet, Art.104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrundeines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien statuiert (vgl.BVerfGE 35, 185 [190]; 109, 133 [157]). PräventiveEingriffe in das Freiheitsgrundrecht, die - wie die Si-cherungsverwahrung - nicht dem Schuldausgleich die-nen, sind nur zulässig, wenn der Schutz hochwertigerRechtsgüter dies unter strikter Beachtung des Verhält-nismäßigkeitsgrundsatzes erfordert. Dem Freiheits-anspruch des Untergebrachten ist das Sicherungsbe-dürfnis der Allgemeinheit entgegenzuhalten; beidesind im Einzelfall abzuwägen (vgl. BVerfGE 109, 133[157]). Dabei müssen die Grenzen der Zumutbarkeitgewahrt bleiben.”

(a). AbstandsgebotGerade wegen der Tatsache, dass die Betroffenen ihreStrafe bereits verbüßt haben, kann die Verhängungeiner Sicherungsverwahrung nach Ansicht desBVerfG nur angemessen sein, wenn sie sich von derFreiheitsstrafe dadurch unterscheidet, dass ihre gesam-te Ausgestaltung an ihrem präventiven Zweck ausge-

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richtet ist (sog. “Abstandsgebot”):“[101] Der in der Sicherungsverwahrung liegende Ein-griff in das Freiheitsgrundrecht ist [...] äußerst schwer-wiegend, weil er ausschließlich präventiven Zweckendient und dem Betroffenen - da der Freiheitsentzugstets nur auf einer Gefährlichkeitsprognose, nicht aberauf dem Beweis begangener Straftaten beruht - im In-teresse der Allgemeinheit gleichsam ein Sonderopferauferlegt. Die Sicherungsverwahrung ist daher über-haupt nur dann zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeberbei ihrer Ausgestaltung dem besonderen Charakter desin ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung unddafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzugder “äußeren” Freiheit hinaus weitere Belastungenvermieden werden. Dem muss durch einen freiheits-orientierten und therapiegerichteten Vollzug Rech-nung getragen werden, der den allein präventiven Cha-rakter der Maßregel sowohl gegenüber dem Unterge-brachten als auch gegenüber der Allgemeinheit deut-lich macht. Die Freiheitsentziehung ist - in deutlichemAbstand zum Strafvollzug („Abstandsgebot“, vgl.BVerfGE 109, 133 [166]) - so auszugestalten, dass diePerspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbardie Praxis der Unterbringung bestimmt. Hierzu bedarfes eines freiheitsorientierten Gesamtkonzepts der Si-cherungsverwahrung mit klarer therapeutischer Aus-richtung auf das Ziel, die von dem Untergebrachtenausgehende Gefahr zu minimieren und auf diese Wei-se die Dauer der Freiheitsentziehung auf das unbe-dingt erforderliche Maß zu reduzieren.”

Dies bedeutet nach Ansicht des BVerfG konkret, dassdie Sicherungsverwahrung erstens sofort beendetwerden müsse, wenn von dem Betroffenen keine Ge-fahr mehr ausgehe, und zweitens während der Siche-rungsverwahrung alles getan werden müsse, um dieGefährlichkeit der Betroffenen zu beseitigen oder zumindern:

“[106] Die kategorial unterschiedlichen Legitima-tionsgrundlagen und Zwecksetzungen des Vollzugsder Freiheitsstrafe und des Vollzugs der Sicherungs-verwahrung führen insbesondere zu Differenzierungenauf zwei Ebenen:[107] Da sich der Maßregelvollzug allein aus demPrinzip des überwiegenden Interesses rechtfertigt,muss er umgehend beendet werden, wenn die Schutz-interessen der Allgemeinheit das Freiheitsrecht desUntergebrachten nicht länger überwiegen. Dabei trifftden Staat die Verpflichtung, im Vollzug von Anfangan geeignete Konzepte bereitzustellen, um die Gefähr-lichkeit des Verwahrten nach Möglichkeit zu beseiti-gen.[108] Die Vollzugsmodalitäten sind außerdem an derLeitlinie zu orientieren, dass das Leben im Vollzugallein solchen Beschränkungen unterworfen werden

darf, die zur Reduzierung der Gefährlichkeit erforder-lich sind. Das Resozialisierungsgebot, dem das Bilddes Grundgesetzes von einem zu freier Selbstbestim-mung befähigten Menschen zugrunde liegt (BVerfGE98, 169 [200]), gilt gleichermaßen für den Vollzug derFreiheitsstrafe und der Sicherungsverwahrung (BVerf-GE 109, 133 [151]). Dies mag der Ausfüllung des Ab-standsgebots gewisse faktische Grenzen setzen, ändertaber nichts an der Verschiedenartigkeit der Zielset-zungen von Strafhaft und Sicherungsverwahrung. Dasgesamte System der Sicherungsverwahrung ist so aus-zugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangungder Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung be-stimmt.”

[Anm.: Das BVerfG nimmt sich sodann die Freiheitheraus, seine genauen Vorstellungen von einem sol-chen, am Abstandsgebot orientierten Regelungskon-zept auszubreiten: Danach komme die Sicherungsver-wahrung stets nur als “ultima ratio “ in Betracht (Rn.112); eine umfassende, modernen wissenschaftlichenAnforderungen entsprechende Therapie sei anzubieten(Rn 113), wobei die Betroffenen zu motivieren seien,diese Angebote anzunehmen (Rn 114); der Vollzugmüsse sich vom Strafvollzug unterscheiden, d.h. so-weit möglich einen “normalen” Tagesablauf ermögli-chen und am besten in gesonderten Gebäuden - jeden-falls aber in besonderen Abteilungen einer JVA - statt-finden (Rn 115). Kosten dürften insoweit keine Rollespielen. Schließlich sei den Betroffenen ein Rechts-anspruch auf gerichtliche Kontrolle einzuräumen (Rn.117), wobei mindestens jährlich sogar v.A.w. geprüftwerden müsse, ob von dem Betroffenen noch eine Ge-fahr ausgehe (Rn 118).]

(b). Ausstrahlungswirkung der EMRKDabei kommt der Europäischen Menschenrechtskon-vention (EMRK) eine besondere Bedeutung zu. Diesehat zwar in Deutschland (nur) den Rang eines einfa-chen Bundesgesetzes, stellt m.a.W. kein Verfassungs-recht dar, jedoch sind die in ihr verbürgten Grundrech-te und Wertmaßstäbe nach st. Rspr. des BVerfG (vgl.BVerfGE 74, 358 [370]; 83, 119 [128]; 111, 307[317]; 120, 180 [200 f.]; NJW 2001, 2245 ff.; NJW2003, 344 [345]; NJW 2008, 2978 [2981]; NJW 2009,1133 f.; EuGRZ 2010, 145 [147]) bei der Anwendungdes Verfassungsrechts zu berücksichtigen. Konkretbedeutet dies, dass an die Verhältnismäßigkeit einesEingriffs strengere Voraussetzungen zu knüpfen sind,wenn neben nationalen Grundrechten auch die EMRKbetroffen ist, als wenn dies nicht der Fall wäre:“[86] Die hier einschlägigen Grundrechte des Art. 2 II2 in Verbindung mit Art. 104 I 1 GG und Art. 2 II 2 inVerbindung mit Art. 20 III GG sind völkerrechts-freundlich auszulegen. Die Europäische Menschen-rechtskonvention steht zwar innerstaatlich im Rang

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eines Bundesgesetzes und damit unter dem Grundge-setz. Sie ist jedoch als Auslegungshilfe bei der Aus-legung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grund-sätze des Grundgesetzes heranzuziehen. Dies gilt auchfür die Auslegung der Europäischen Menschenrechts-konvention durch den Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte. Diese verfassungsrechtliche Bedeu-tung der Europäischen Menschenrechtskonventionund damit auch der Rechtsprechung des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte beruht auf der Völ-kerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und seinerinhaltlichen Ausrichtung auf die Menschenrechte. IhreHeranziehung als Auslegungshilfe verlangt allerdingskeine schematische Parallelisierung der Aussagen desGrundgesetzes mit denen der Europäischen Men-schenrechtskonvention, sondern ein Aufnehmen derWertungen der Europäischen Menschenrechtskonven-tion, soweit dies methodisch vertretbar und mit denVorgaben des Grundgesetzes vereinbar ist.”

(c). SubsumtionHier ist Art. 5 I 1, 2 a) EMRK betroffen. Danach hatjede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit, wo-bei diese Freiheit nur in bestimmten Fällen und nurauf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogenwerden darf. Zu diesen Fällen gehört nach Art. 5 I 2 a)EMRK eine rechtmäßige Freiheitsentziehung nachVerurteilung durch ein zuständiges Gericht. Al-lerdings hat der EGMR bereits zur deutschen Siche-rungsverwahrung mehrfach entschieden, dass diesenicht mit Art. 5 I 2 a) EMRK vereinbar - da nichtschuldbezogen - sei (EGMR, Urteil vom 17. Dezem-ber 2009, Beschwerde-Nr. 19359/04, Rn. 97 ff., Rn.100; Urteil vom 13. Januar 2011, Beschwerde-Nr.6587/04, Rn. 84).Das BVerfG sieht sich mit seinem Postulat des Ab-standsgebots im Einklang mit dieser Rechtsprechungdes EGMR, denn auch nach seiner Ansicht kann einenicht schuldbezogene Sicherungsverwahrung ja nurbestehen, wenn sie konsequent auf Gefahrenabwehrausgerichtet ist (dazu oben Punkt (a)). Sie muss sichdeshalb elementar von einer Strafmaßnahme unter-scheiden. Dies ist nach Ansicht des BVerfG gegen-wärtig weder im Gesetz noch in der Praxis der Fall:“[121] [Die §§ 66 ff. StGB] eröffnen in wesentlichenKernbereichen - hinsichtlich Behandlung, Betreuungund Motivation des Untergebrachten und der Gewäh-rung von Vollzugslockerungen - zu weite Beur-teilungs- und Ermessensspielräume, ohne das Handelnder Vollzugsanstalten durch klare normative Vorgabenwirksam auf einen freiheitsorientierten und therapie-gerichteten Vollzug der Sicherungsverwahrung zu ver-pflichten. Hinsichtlich des vorangehenden Strafvoll-zugs fehlt es an Regelungen zur Vermeidung der Si-cherungsverwahrung. [...] Eine räumliche Trennungder Unterbringung vom Strafvollzug ist ebenso wenig

vorgeschrieben wie die Beiordnung eines Beistands.Hinzu treten weitere normative Defizite. Das normati-ve Gesamtkonzept muss zum Vollzug der Maßregelqualitative Anforderungen an die personelle und sach-liche Ausstattung enthalten, die vom Landeshaushalts-gesetzgeber Beachtung verlangen und der Exekutivekeine wesentlichen Gestaltungsspielräume überlassen.Ferner ist die gesetzliche Höchstfrist für die Überprü-fung der Sicherungsverwahrung [...] in § 67e II StGBmit zwei Jahren zu lang bemessen.”

(c). Ergebnis“[128] Das Fehlen eines dem verfassungsrechtlichenAbstandsgebot entsprechenden gesetzlichen Gesamt-konzepts der Sicherungsverwahrung führt zur Verfas-sungswidrigkeit der [...] Vorschriften.”

bb. Rückwirkungsverbot (hilfsweise)Darüber hinaus könnten die nachträgliche Verhängungder Sicherungsverwahrung in den Fällen des § 66bStGB und die rückwirkend - d.h. gem. Art. 1a IIIEGStGB auch für laufende Fälle geltende - Ersetzungder Höchstdauer der Sicherungsverwahrung durch einrichterliches Prüfungsverfahren im Einzelfall in § 67dIII 1 StGB gegen das (allgemeine) Rückwirkungsver-bot aus Art. 20 III GG verstoßen. In einem Rechtsstaatmuss Rechtssicherheit herrschen. Dazu gehört, dassGesetze jedenfalls grundsätzlich nicht rückwirkenderlassen werden. Das allgemeine Rückwirkungsverbotist also im Rechtsstaatsprinzip verankert.

(1). “Echte” und “unechte” RückwirkungGrundsätzlich unterscheidet das BVerfG nach “ech-ter” und “unechter” Rückwirkung: Die “echte” Rüc-kwirkung knüpft an einen bereits abgeschlossenenSachverhalt an. Sie ist wegen des besonders hohenVertrauensschutzes auf den Fortbestand des bestehen-den Zustandes in der Regel unzulässig. Demgegenüberknüpft die “unechte” Rückwirkung an einen zwar inder Vergangenheit begonnenen, aber noch nicht been-deten Sachverhalt an. Hier muss noch mit Veränderun-gen gerechnet werden, sodass Art. 20 III GG einer “un-echten” Rückwirkung in aller Regel nicht entgegensteht.Danach liegt hier in Art. 1a III EGStGB eine “unech-te” Rückwirkung vor, da die Sicherungsverwahrungder Betroffenen zwar begonnen hatte, im Zeitpunktder Gesetzesänderung aber noch nicht abgeschlossenwar. Gleiches gilt für § 66b StGB, der ebenfalls aneinen nicht abgeschlossenen Fall anknüpft.

(2). Ausnahmsweise unzulässige “unechte” Rückwir-kungDas BVerfG hält aber gerade in diesem Fall auch die“unechte” Rückwirkung für unzulässig, weil aus-nahmsweise das Vertrauen der Betroffenen darauf,

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von einer Sicherungsverwahrung verschont zu bleiben(§ 66b StGB) bzw. aus dieser nach 10 Jahren be-stimmt entlassen zu werden (Art. 1a III EGStGB)schwerer wiege als das staatliche Regelungsinteresse.

(a). Besondere Nähe zum strafrechtlichen Rückwir-kungsverbotZur Begründung wagt das Gericht einen Spagat: Zwarsei die vorliegende Rückwirkung - da rechtlich keineStrafe - nicht am strengen Art. 103 II GG zu messen(s.o.); sie sei aber faktisch nicht weit von einer sol-chen entfernt, sodass auch hier strengere Maßstäbe andie Rückwirkung anzulegen seien als sonst bei einer“unechten” Rückwirkung:“[141] Das Bundesverfassungsgericht hat schon inseiner Entscheidung vom 5. Februar 2004 den Aspektder faktischen Wirkung einer Maßnahme zwar nichtals begrifflich relevant für das Tatbestandsmerkmalder Strafe in Art. 103 II GG angesehen, aber eineBerücksichtigungsmöglichkeit im Rahmen des Art. 2II 2 in Verbindung mit Art. 20 III GG aufgezeigt (vgl.BVerfGE 109, 133 [185]). Das gilt auch für denAspekt der Schwere der Maßnahme - hier: eine unbe-fristete Freiheitsentziehung -, die zwar kein geeignetesDefinitionsmerkmal für den Begriff der Strafe im Sin-ne von Art. 103 GG (vgl. BVerfGE 109, 133 [175]),im Rahmen der Prüfung des Freiheitsgrundrechts je-doch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesver-fassungsgerichts ein zu berücksichtigendes Elementdarstellt (vgl. BVerfGE 109, 133 [160 f.]; 70, 297[314 f.]). Zwar rechtfertigen diesbezügliche Ähnlich-keiten keine Einbeziehung der Sicherungsverwahrungin den Begriff der Strafe im Sinne des Art. 103 GG(BVerfGE 109, 133 [176]). Bereits das Grundgesetzselbst enthält nach der Rechtsprechung des Senats je-doch auch im Rahmen der Prüfung einer Verletzungvon Art. 2 II in Verbindung mit Art. 20 III GG beilangjährigen, mit Freiheitsentzug verbundenen Maß-regeln das Gebot zu berücksichtigen, ob beziehungs-weise dass “der Untergebrachte die Sicherungsver-wahrung [...] auch im Hinblick auf ihren tatsächlichenVollzug als der Strafe vergleichbar empfinden dürfte”(vgl. BVerfGE 109, 133 [185]). Das Vertrauens-schutzgebot besitzt insoweit eine enge Verwandtschaftu n d S t r u k t u r ä h n l i c h k e i t m i t d e m “ n u l -la-poena-Prinzip” (vgl. BVerfGE 109, 133 [171 f.]).”

[Anm.: Das BVerfG geht damit einem Konflikt mitdem EGMR aus dem Weg, der zu Art. 5 I 2 a) EMRKbereits entschieden hatte, dass eine Rechtfertigung derrückwirkenden Verlängerung der Freiheitsentziehungnicht mehr in Betracht kommt (vgl. (EGMR, NJW2010, 2495; DÖV 2011, 280).]

(b). Besonders schwere Folgen für die BetroffenenZudem stellt das BVerfG die besonders schweren Fol-

gen für die Betroffenen heraus, die einer unzulässigen“echten” Rückwirkung gleichstehen: [134] Die Vorschriften enthalten jeweils einen erheb-lichen Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Per-son aus Art. 2 II 2 GG, der [...] eine zusätzliche Ver-schärfung erfährt, indem die Sicherungsverwahrungnachträglich entgegen der früheren, im Zeitpunkt derAnlasstaten geltenden Rechtslage über zehn Jahre hin-aus unbefristet verlängert werden kann (so in der Kon-stellation von § 67d III 1 StGB), oder indem gegen sienachträglich eine Unterbringung in der Sicherungs-verwahrung angeordnet werden kann, obwohl im Ur-teil des erkennenden Gerichts davon abgesehen unddies auch nicht vorbehalten wurde (so in der Konstel-lation von § 66b II StGB). Hierin liegt ein Eingriff indas Vertrauen der in ihrem Freiheitsgrundrecht betrof-fenen Grundrechtsträger, unabhängig davon, ob maninsoweit von einer “echten” oder einer “unechten”Rückwirkung beziehungsweise von einer Rückbewir-kung von Rechtsfolgen oder einer tatbestandlichenRückanknüpfung ausgeht (vgl. dazu bereits mit Blickauf § 67d III 1 i.V.m. Art. 1a III EGStGB a.F., BVerf-GE 109, 133 [182 f.]).”

cc. ErgebnisDie Regeln über die Sicherungsverwahrung nach §§66 ff. StGB sind insgesamt unverhältnismäßig. DieMöglichkeit zur nachträglichen Verhängung nach §66b StGB und die rückwirkende Abschaffung derHöchstdauer von 10 Jahren verstoßen zudem für lau-fende “Altfälle” gegen das Rückwirkungsverbot desArt. 20 III GG. Daher lässt sich der Eingriff in Art.Art. 2 II 1, 104 I 1 GG nicht rechtfertigen. Die §§ 66ff. StGB sind materiell verfassungswidrig.

[Anm.: Für Neufälle können die Ersetzung derHöchstdauer von 10 Jahren durch ein richterlichesPrüfverfahren und die Möglichkeit der nachträglichenAnordnung der Sicherungsverwahrung hingegen - un-ter strengsten Voraussetzungen - nach Ansicht desBVerfG wirksam sein:“[132] Der mit den zur Überprüfung gestellten Vor-schriften verbundene Eingriff in das Vertrauen desbetroffenen Personenkreises auf ein Ende der Siche-rungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren (§ 67dIII StGB) bzw. in das Vertrauen auf ein Unterbleibender Anordnung einer Sicherungsverwahrung (§ 66bStGB) ist angesichts des damit verbundenen Eingriffsin das Freiheitsrecht dieses Personenkreises (Art. 2 II2 GG) verfassungsrechtlich nur nach Maßgabe strik-ter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutzhöchster Verfassungsgüter zulässig. Das Gewicht derberührten Vertrauensschutzbelange wird überdiesdurch die Wertungen der Europäischen Menschen-rechtskonvention verstärkt mit der Folge, dass einerückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheits-

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entziehung nur noch als zulässig angesehen werdenkann, wenn der gebotene Abstand zur Strafe gewahrtwird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt-oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der

Person oder dem Verhalten des Untergebrachten ab-zuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1Satz 2 EMRK erfüllt sind.”]

Standort: Zivilrecht Problem: Handeln unter fremdem Namen

BGH, URTEIL VOM 11.05.2011

VIII ZR 289/09 (ZIP 2011, 1108)

Problemdarstellung:

Im März 2008 wurde unter dem Benutzernamen derBekl. auf der Internetplattform eBay ein Angebot übereine umfangreiche Gastronomieeinrichtung zum Start-preis von 1,- i eingestellt. Hierbei handelte nicht dieBekl., sondern deren Ehemann, der die Nutzerdaten inAbwesenheit der Bekl. ohne deren Kenntnis erlangthatte. Der Kl. gab ein Maximalgebot von 1.000,- i abund wurde dadurch zum Höchstbietenden. Kurz daraufwurde die Auktion vorzeitig durch Rücknahme desAngebots beendet.

Der Kl. verlangt von der Bekl. Schadensersatz in Höhevon rund 32.000,- i. Diese Forderung begründet ermit dem objektiven Wert der nicht gelieferten Gegen-stände abzüglich des von ihm gebotenen Kaufpreises.

Prüfungsrelevanz:

Die Entscheidung bietet den Prüfungsämtern eine guteGelegenheit, Probleme des Allgemeinen Teils und dieKenntnis aktueller Rechtsprechung abzufragen.

Ein Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung aus§§ 280 I, III; 281 I 1 Var. 1 BGB konnte nur in Be-tracht kommen, wenn zwischen dem Kl. und der Bekl.überhaupt ein Schuldverhältnis (hier in Form einesKaufvertrages gem. § 433 BGB) zustande gekommenwar. Das war fraglich, da nicht die Bekl., sondern de-ren Ehemann unter Verwendung ihres eBay-Nutzer-kontos gehandelt hatte. Die Abgabe einer Willenser-klärung durch den Ehemann wirkt nur unter den Vor-aussetzungen des § 164 BGB für und gegen die Bekl.Der Ehemann hatte zwar eine eigene Willenserklärungabgegeben, jedoch nicht aufgedeckt, dass er mit denDaten seiner Frau handelte. Folglich war das Offen-kundigkeitsprinzip des § 164 I 1 BGB nicht gewahrt,da er keine Erklärung im, sondern unter fremdem Na-men abgegeben hatte. Hierbei ist zwischen einer Na-mens- und einer Identitätstäuschung zu unterscheiden.Erstere liegt vor, wenn der Geschäftsgegner keinemIdentitätsirrtum unterliegt, weil es ihm bloß daraufankommt, mit der handelnden Person zu kontrahieren(BeckOK/Valenthin, § 164 BGB Rn. 33 m.w.N.). DerHandelnde schließt dann ein Eigengeschäft. Eine Iden-titätstäuschung ist dagegen anzunehmen, wenn derGeschäftsgegner nicht mit der Person des Handelnden,

sondern mit dem Träger des falsch angegebenen Na-mens kontrahieren möchte und dabei verkennt, dassdie handelnde Person mit der des Namensträgers nichtidentisch ist (BeckOK/Valenthin, § 164 Rn. 34m.w.N.). In diesen Fällen kommen die Stellver-tretungsregeln analog zur Anwendung, so dass dasGeschäft zustande kommt, wenn der Handelnde Ver-tretungsmacht hatte oder der “Vertretene“ das Ge-schäft analog § 177 I BGB durch Genehmigung ansich zieht.

Da sich die Vertragsparteien bei einem über eBay ab-geschlossenen Rechtsgeschäft nicht gegenüberstehenund damit entscheidend auf das Profil (insbesonderedie Bewertungen) des anderen Teils vertrauen müssen,besteht regelmäßig ein Interesse mit dem tatsächlichenNamensträger zu kontrahieren. Handelt dieser tatsäch-lich nicht, liegt eine Identitätstäuschung vor.

Damit stellte sich hier die Frage, ob die Bekl. sich dasHandeln ihres Mannes nach Rechtsscheingrundsätzenzurechnen lassen musste. Der Senat verneint die Fra-ge. Insbesondere liegen die Voraussetzungen einerAnscheinsvollmacht nicht vor, da der Ehemann nichtbereits mehrmals als “Vertreter“ der Bekl. aufgetretenwar und dieser außerdem keine Sorgfaltspflichtverlet-zung vorgeworfen werden konnte.

Vertiefungshinweise:“ Zur Haftung für das Verhalten Dritter: BGH, RA2010, 324 = BGHZ 185, 330 (Haftung für un-zureichend gesicherten WLAN-Anschluss); BGH,NJW 2009, 1960 („Halzband“); NJW-RR 2006,701(Haftung nach §§ 661 a, 179 BGB); NJW-RR1988, 814 (Scheinfirma); BGHZ 45, 193 (Stellvertre-tung ohne Vertretungswille des Handelnden)

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Die Internetauktion”

“ Examenskurs: “Anonym im Web – airplane_jackund die Tücken elektronischer Märkte”

Leitsätze:1. Werden unter Nutzung eines fremdeneBay-Mitgliedskontos auf den Abschluss eines Ver-trages gerichtete Erklärungen abgegeben, liegt einHandeln unter fremdem Namen vor, auf das dieRegeln über die Stellvertretung sowie die Grund-sätze der Anscheins- oder der Duldungsvollmacht

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entsprechend anzuwenden sind (im Anschluss anBGH 45, 193; NJW-RR 1988, 814; NJW-RR 2006,701).2. Ohne Vollmacht oder nachträgliche Genehmi-gung des Inhabers eines eBay-Mitgliedskontos un-ter fremdem Namen abgegebene rechtsgeschäftli-che Erklärungen sind dem Kontoinhaber nur unterden Voraussetzungen der Duldungs- oder der An-scheinsvollmacht zuzurechnen. Für eine Zurech-nung reicht es nicht bereits aus, dass der Kontoin-haber die Zugangsdaten nicht hinreichend vor demZugriff des Handelnden geschützt hat (Abgrenzungzu BGHZ 180, 134).3. Eine von eBay gestellte und von jedem regi-strierten Nutzer akzeptierte Formularklausel, wo-nach Mitglieder grundsätzlich für sämtliche Akti-vitäten haften, die unter Verwendung ihres Mit-gliedskontos vorgenommen werden, begründet kei-ne Haftung des Kontoinhabers gegenüber Auk-tionsteilnehmern.

Sachverhalt: B unterhält beim Internetauktionshaus eBay ein pass-wortgeschütztes Konto unter dem Mitgliedsnamen"Babsi74". Unter diesem Mitgliedsnamen hat sie beiihren 122 eBay-Geschäften ausnahmslos positive Be-wertungen der anderen Mitglieder erhalten. Der Ac-count der B wird daher auch von einem türkisfarbenenStern geziert, den das Auktionshaus bei wenigstens100 positiven Bewertungen vergibt. Während B am Wochenende ihre Eltern besucht, fin-det ihr Ehemann E in der gemeinsamen Wohnung zu-fä l l ig e inen Zet te l mi t dem Passwort zumeBay-Account der B. Dies kommt ihm gelegen, da ereinem befreundeten Gastwirt (G) zugesagt hatte, die-sem beim Verkauf einiger Gastronomiegegenständeunter die Arme zu greifen. E hat zwar ebenfalls eineneBay-Account, allerdings weist dieser erst elf Bewer-tungen auf, von denen vier negativ sind. Unter demMitgliedsnamen „Babsi74“ stellt er am 03.03.2008eine komplette "VIP-Gastronomieeinrichtung", die auszahlreichen gebrauchten Einzelgegenständen besteht,mit einem Eingangsgebot von 1,00 i zum Verkauf indas Onlineportal ein. Die Auktion ist auf zehn Tagebegrenzt.Am 04.03.2008 entdeckt K das Angebot. Er wittert eingutes Geschäft und gibt unter dem Eindruck der aus-nahmslos positiven Bewertungen von „Babsi74“ unterseinem Mitgliedsnamen „Klever_Käufer“ ein Maxi-malgebot von 1.000 i ab. Hierdurch wird er zumHöchstbietenden. Als er eine halbe Stunde später denStand der Auktion kontrollieren will, muss er feststel-len, dass das Angebot vorzeitig beendet und entferntwurde. Hierzu kam es, weil die Gastronomieeinrich-tung einem Feuer im Wohnhaus des G zum Opfer ge-fallen und vollständig zerstört worden war, so dass

dieser den E mit der Löschung des Angebots beauf-tragt hatte. K erkundigt sich und bringt in Erfahrung, dass dieEinrichtung vor der Zerstörung einen objektiven Wertvon rund 33.000 i hatte. Daher schickt er eine Emailan „Babsi74“ in der er diese zur Leistung von Scha-densersatz über 32.000 i, nämlich dem objektivenWert der Gastronomieeinrichtung abzüglich seinesMaximalgebots von 1.000 i, auffordert. Dabei ver-weist er auf § 2 Ziffer 9 der Allgemeinen Geschäfts-bedingungen von eBay, denen jedes registrierte Mit-glied zustimmen muss: "Mitglieder haften grundsätz-lich für sämtliche Aktivitäten, die unter Verwendungihres Mitgliedskontos vorgenommen werden." B weist das Ansinnen des K entschieden zurück. Siehabe mit der Sache nichts zu tun. Die Tatsache, dass Ezufällig Kenntnis von ihrem Passwort bekommenkonnte, könne für sie nicht zum Nachteil ausgelegtwerden. Passwörter verwahre sie für gewöhnlich ansicheren Orten; auch habe E – was zutrifft – noch nieohne vorherige Absprache in oder unter ihrem Namengehandelt.

Kann K von B Schadensersatz in der bezifferten Höheverlangen?

Lösung:A. Anspruch des K gegen B auf Schadensersatz gem.§§ 280 I, III; 281 I 1 Var. 1 BGB

K könnte gegen B einen Schadensersatzanspruch inHöhe von 32.820 i haben.

I. Schuldverhältnis Zunächst müsste zwischen K und B ein Schuldverhält-nis bestehen. Als solches kommt ein Kaufvertrag gem.§ 433 BGB in Betracht. Ein Kaufvertrag kommt zu-stande durch zwei übereinstimmende, sich inhaltlichdeckende und mit Bezug aufeinander abgegebene Wil-lenserklärungen, Angebot und Annahme.

1. Willenserklärung des E als Vertreter von B gem. §164 I 1 BGB Ein Angebot könnte im Einstellen der Gastronomie-einrichtung zu sehen sein. B hat selbst nicht gehandelt.Jedoch könnte das Tätigwerden des E auch ihr gegen-über wirken, wenn E sie wirksam gem. § 164 I 1 BGBvertreten hat.

a) eigene Willenserklärung Dazu müsste E gem. § 164 BGB eine eigene Willens-erklärung abgegeben haben. In dem Einstellen des An-gebots ist eine Willenserklärung zu sehen, die auchvon E abgegeben wurde. Dabei handelt es sich auchum eine eigene Willenserklärung des E, da er nichtbloß eine fremde Willenserklärung als Bote übermit-

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telte, sondern selbständig auf den Inhalt der ErklärungEinfluss nehmen konnte. Eine eigene Willenserklärung liegt mithin vor.

b) im fremdem Namen (Offenkundigkeit)Diese müsste E im fremdem Namen abgegeben haben.Problematisch ist insoweit aber, dass E die Erklärungnicht im Namen der B abgab. Vielmehr handelte Eunter fremdem Namen, indem er die Gastronomieein-richtung unter dem zu B gehörenden Pseudonym ein-stellte. Im Falle eines Handelns unter fremden Namen ist zwi-schen einer Identitätstäuschung und einer bloßen Na-menstäuschung zu unterscheiden. Von einer Identitäts-täuschung ist dann auszugehen, wenn der Vertrags-partner ein erkennbares Interesse an der Identität desVerkäufers hat, es ihm also gerade darauf ankommt,mit diesem einen Vertrag zu schließen. In einem sol-chen Fall entsteht auf Seiten des Vertragspartners eineFehlvorstellung über den Handelnden, so dass die §§1 6 4 f f . a n a l o g e A n w e n d u n g f i n d e n ( P a -landt/Heinrichs, § 164 Rn. 10). Von einer Namenstäu-schung andererseits ist auszugehen, wenn die Identitätdes Verkäufers für den Vertragspartner ohne Belangist, er nur mit dem „vor ihm stehenden“ kontrahierenwill. In diesen Fällen wird keine Fehlvorstellung überdie Identität des Handelnden hervorgerufen, von daherliegt ein Handeln in eigenem Namen vor.E hat die eBay Kennung der B genutzt. Die einzigenInformationen, die ein bietender Interessent bei EBayüber den Verkäufer erhält, ergeben sich aus dieserNutzerkennung. Es ist für den Bietenden nicht ersicht-lich, dass jemand anders als der Inhaber der Kennunghinter dem Angebot stehen könnte. Alles deutet nurauf den Kennungsinhaber als Anbietenden hin. DemBietenden wäre es überhaupt nicht möglich auch nurzu erkennen, dass ein Dritter bietet, geschweige denn,diesen zu identifizieren. Auch die nach Ende der Auk-tion mitgeteilten Daten gehören dem Inhaber der Ken-nung. Insoweit hatte K schon deshalb ein Interesse mitdem Inhaber der Kennung einen Vertrag zu schließen,um seinen Vertragspartner nach Ende der Auktionauch identifizieren zu können.Gestützt wird dies auch durch das Bewertungssystemvon eBay. Dieses hat gerade den Sinn eine Einschät-zung der Vertrauenswürdigkeit des Anbietenden zuermöglichen. Laut Sachverhalt war es für die Ent-scheidung des K mitzubieten auch gerade relevant,dass B viele gute Bewertungen erhalten hatte. Auchaus diesem Grund wollte K also gerade mit dem Inha-ber der Kennung und nicht irgendeinem Dritten kon-trahieren.Schließlich würde ein anderes Ergebnis auch den Sinndes Bewertungssystems konterkarieren. Könnte jederbeliebige Dritte unter einem fremdem Pseudonym bie-ten, wäre es nur allzu leicht möglich, den „guten Ruf“

Anderer auszunutzen. Eine Einschätzung der Vertrau-enswürdigkeit des Anbieters durch die Bewertungenwürde in diesem Fall kaum noch mit hinreichenderSicherheit ermöglicht (OLG München, MMR 2004,625).Folglich hatte K ein erhebliches Interesse daran, nurmit dem Inhaber der Kennung „Babsi74“, also B, ei-nen Vertrag zu schließen. Es liegt mithin ein Fall derIdentitätstäuschung vor. Hierbei finden die §§ 164 ff.analoge Anwendung (Palandt/Heinrichs, § 164 Rn.10).Folglich ist das Offenkundigkeitsprinzip jedenfalls inanaloger Anwendung der §§ 164 ff. BGB als gewahrtanzusehen, wenn auch E tatsächlich bloß unter frem-dem Namen handelte.

c) im Rahmen der Vertretungsmacht E müsste darüber hinaus auch mit Vertretungsmachtgehandelt haben. B hat E weder durch Rechtsgeschäftbevollmächtigt, noch hat sie das Geschäft analog §177 I BGB durch Genehmigung an sich gezogen. So-mit könnten allenfalls Rechtsscheingrundsätze zuguns-ten des K eingreifen.

aa) Duldungsvollmacht “[15] Eine Duldungsvollmacht liegt vor, wenn derVertretene es willentlich geschehen lässt, dass ein an-derer für ihn wie ein Vertreter auftritt, und der Ge-schäftspartner dieses Dulden nach Treu und Glaubendahin versteht und auch verstehen darf, dass der alsVertreter Handelnde zu den vorgenommenen Erklä-rungen bevollmächtigt ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH,Urteile vom 14. Mai 2002 - XI ZR 155/01, NJW 2002,2325 unter II 3 a bb (1); vom 10. März 2004 - IV ZR143/03, NJW-RR 2004, 1275 unter II 3 c bb (1); Se-natsurteil vom 10. Januar 2007 - VIII ZR 380/04, NJW2007, 987 Rn. 19; jeweils mwN). Bei einem unterVerwendung einer fremden Identität getätigten Ge-schäft des Namensträgers finden diese Grundsätze mitder Maßgabe entsprechende Anwendung, dass hierbeiauf dessen Verhalten abzustellen ist. Einen solchenDuldungstatbestand hat die Beklagte jedoch nach demfür das Revisionsverfahren maßgeblichen Sachverhaltnicht geschaffen. Nach den vom Berufungsgericht ge-troffenen und von der Revision nicht angegriffenenFeststellungen hatte die Beklagte ihrem Ehemann dieZugangsdaten für ihr Mitgliedskonto bei eBay nichtoffen gelegt und von dessen Vorgehen auch keineKenntnis; vielmehr hat dieser das von ihr eingerichteteMitgliedskonto während einer Ortsabwesenheit derBeklagten ohne deren Wissen und Einverständnis un-ter Verwendung der ihm zufällig bekannt gewordenenZugangsdaten zum Verkauf des Gaststätteninventarsgenutzt.“Somit liegt keine Duldungsvollmacht vor.

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bb) Anscheinsvollmacht Eventuell könnte sich K auf eine Anscheinsvollmachtberufen. Dann müsste B das Handeln des E zwar nichtgekannt haben, es aber bei Anwendung pflichtgemä-ßer Sorgfalt hätte erkennen und verhindern können,sofern K gutgläubig im Hinblick auf die Vertretungs-macht ist.

(1) Existenz der AnscheinsvollmachtDas setzt allerdings zunächst voraus, dass die An-scheinsvollmacht als Rechtsfigur anzuerkennen ist.Dies ist umstritten.

(a) Anscheinsvollmacht abzulehnen Nach einer Ansicht existiere die Anscheinsvollmachtnicht (Flume, AT II, § 49, 4; Medicus, AT, Rz. 970 f.).Das System der Rechtsscheinvollmachten im Zivil-recht sei abschließend gesetzlich normiert. Außerdemsei es systemwidrig, einen Sorgfaltsverstoß des Ver-tretenen für die Annahme von Vertretungsmacht unddamit letztlich für einen Vertragsschluss genügen zulassen. Denn ein Sorgfaltsverstoß stelle nichts anderesals Verschulden i.S.d. § 276 BGB dar. Verschuldenführe aber allenfalls zu einer Schadensersatzverpflich-tung, nicht aber zur Fiktion einer Willenserklärungoder einem Vertragsschluss. Nach dieser Ansicht hätte E ohne Vertretungsmachtgehandelt.

(b) Anscheinsvollmacht zu bejahen Nach anderer Ansicht ist die Existenz der Anscheins-vollmacht zu bejahen. Insbesondere gilt dies auch inden Fällen eines Handelns unter fremdem Namen, ge-rade auch bei Rechtsgeschäften im Internet oder imsonstigen digitalen Rechtsverkehr (OLG München,NJW 2004, 1328; LG Aachen, NJW-RR 07 565).Dieser Ansicht folgend ist im weiteren zu fragen, obdie Voraussetzungen der Anscheinsvollmacht vorgele-gen haben.

(c) Stellungnahme Die erstgenannte Ansicht mag dogmatisch auf denersten Blick einiges für sich haben. In der Tat mutet eszunächst systemfremd an, Verschulden für einen Ver-tragsschluss ausreichen zu lassen. Indes ordnet ebendiese Rechtsfolge das Gesetz selbst in den normiertenRechtsscheinvollmachten (§§ 170 – 173 BGB) an. Sohat der Vertreter gem. § 172 II BGB Vertretungs-macht, wenn der Vertretene es nach Widerruf derVollmacht pflichtwidrig versäumt, sich die ausgestell-te Vollmachtsurkunde zurückgeben zu lassen und derVertreter unter Vorlage der Urkunde Rechtsgeschäftetätigt. Darüber hinaus ist dem Rechtssystem, wenn-gleich auch nicht gesetzlich normiert, eine solche Fol-ge nach h.M. im Rahmen des potentiellen Erklärungs-bewusstseins bekannt, ebenso wie bei der Grundsätzen

des Schweigens auf ein kaufmännisches Bestätigungs-schreibens. In beiden Fällen werden Willenserklärun-gen infolge eines pflichtwidrigen Verhaltens fingiert.Insbesondere bezüglich des Vergleichs mit den §§171, 172 BGB wird jedoch eingewandt, dass es sichim Gegensatz zur Duldungsvollmacht aber nicht umeine bewusste Kundgabe eines Willens handelt.Demnach wäre auch die Interessenlage nicht mit den§§ 171, 172 BGB vergleichbar. Dabei muss jedochbedacht werden, dass es sich bei der Anscheinsvoll-macht um eine Rechtsscheinsvollmacht handelt. DieVertretungsmacht ergibt sich also gerade daraus, dassdas Vertrauen des Rechtsverkehrs geweckt wurde,indem ein bestimmter Rechtsschein zurechenbar ge-setzt wurde. Aus Sicht des schutzwürdigen Dritten,also desjenigen der auf den Rechtsschein vertraut, istes indes gleichgültig, ob eine bewusste Kundgabe er-folgte oder nicht. Dies wird er in aller Regel nicht wis-sen und auch nicht wissen können. Deswegen kann esfür die Frage der Existenz einer Anscheinsvollmachtauch nicht auf die Frage ankommen, ob eine bewussteKundgabe vorliegt. Für den gesetzten Rechtsschein istdies ohne Belang.Mithin ist der zu zweit genannten Meinung zu folgen.Die Rechtsfigur der Anscheinsvollmacht ist anzuer-kennen.

(2) Voraussetzungen der Anscheinsvollmacht Um eine Anscheinsvollmacht annehmen zu können,müsste der B zunächst ein Sorgfaltsverstoß vorgewor-fen werden können. B selbst wendet ein, E habe rein zufällig Kenntnisvom Passwort ihres Accounts erlangt. Anhaltspunktedafür, dass B mit ihren Daten fahrlässig umgegangenist, bestehen insoweit nicht. Auch musste B keinenerhöhten Sorgfaltsanforderungen gerecht werden, da Ebislang noch nie unter ihrem Namen handelte. DasRisiko, dass Daten in einer ehelichen Wohnung auf-grund von Zufälligkeiten auch dem anderen Ehepart-ner in die Hände fallen können, ist von vornhereinnicht zu begrenzen. Diese Zufälligkeit kann jedochnicht zulasten der B gehen. Ein Sorgfaltsverstoß istdaher zu verneinen. Zudem verlangt die Rechtsprechung und jedenfalls dieh.M. im Schrifttum, dass der Vertreter bereits mehr-fach als solcher aufgetreten ist und dadurch imRechtsverkehr einen Vertrauenstatbestand geschaffenhat (MünchKommBGB/Schramm, § 167 Rn. 54m.w.N.). Vorliegend handelte E jedoch das erste Malunter dem Namen der B:„[18] (...)Es fehlt daher an einem von der Beklagtengeschaffenen Vertrauenstatbestand, auf den sich derKläger hätte stützen können (vgl. hierzu auch Senats-urteile vom 13. Juli 1977 - VIII ZR 243/75, aaO; vom10. Januar 2007 - VIII ZR 380/04, aaO; BGH, Urteilvom 16. März 2006 - III ZR 152/05, aaO). Auf das

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Erfordernis einer gewissen Häufigkeit oder Dauer derunbefugten Verwendung ihres Mitgliedskontos kannnicht schon deswegen verzichtet werden, weil diesesim Internetverkehr aufgrund der bei eBay erfolgtenRegistrierung allein der Beklagten zugeordnet wird.Denn auch wenn den Zugangsdaten für die Internet-plattform eBay eine Identifikationsfunktion zukommt,weil das Mitgliedskonto nicht übertragbar und das ihmzugeordnete Passwort geheim zu halten ist (vgl. BGH,Urteil vom 11. März 2009 - I ZR 114/06, BGHZ 180,134 Rn. 18 - Halzband), kann hieraus angesichts desim Jahr 2008 gegebenen und auch derzeit vorhande-nen Sicherheitsstandards im Internet auch bei einemeBay-Account (vgl. zu den vielfältigen Möglichkeitendes Ausspähens und "Diebstahls" von ZugangsdatenBorges, NJW 2005, 3313 ff.) nicht zuverlässig ge-schlossen werden, dass unter einem registrierten Mit-gliedsnamen ausschließlich dessen tatsächlicher Inha-ber auftritt (so auch OLG Hamm, aaO S. 611; OLGKöln, aaO; LG Bonn, aaO; aA Herresthal, aaO S.708).”Somit liegt auch keine Anscheinsvollmacht vor. E hatdie B daher nicht wirksam gem. § 164 I 1 BGB ver-treten.

[Anm.: In einer Klausur könnte selbstverständlichauch ein abweichender Prüfungsaufbau gewählt wer-den. Die Tatsache, dass die Voraussetzungen der An-scheinsvollmacht i.E. nicht vorliegen macht eine Ent-scheidung des Streits um die Existenz der Anscheins-vollmacht eigentlich entbehrlich. Daher hätte die Prü-fung der Anscheinsvollmacht auch vorgezogen und einStreitentscheid mit Blick auf das Ergebnis unterblei-ben können.]

2. Zurechnung aufgrund unzureichender Sicherheits-vorkehrungenFraglich könnte allerdings sein, ob B sich – unabhän-gig von der Frage einer rechtsgeschäftlichen Vertre-tung nach §§ 164 ff. BGB – das Verhalten des E alleindeswegen zurechnen lassen muss, weil sie keine aus-reichenden Sicherheitsvorkehrungen gegen den Zu-griff des E auf ihre Daten getroffen hatte. Wie obengeprüft, überschreitet die Tatsache, dass B den Zugriffauf ihren eBay-Account nicht vor dem Zugriff Dritterschützte, noch nicht die Schwelle der Fahrlässigkeitim Sinne einer Sorgfaltspflichtverletzung. Indes kannB auch nicht von jedem denkbaren Vorwurf freige-sprochen werden. So wären hier jedenfalls theoretischSicherheitsvorkehrungen vorstellbar gewesen, die eineKenntnisnahme des E von ihren Daten verhindert hät-ten. In ähnlich gelagerten Fällen hat der BGH z.B. demInhaber eines WLAN-Anschlusses das Verhalten einesDritten bereits deswegen zugerechnet, weil der An-schlussinhaber seinen Internetzugang nicht aus-

reichend gesichert hatte (sog. „Halz-band-Entschei-dung“, NJW 2009, 1960; außerdem RA 2010, 324 =BGHZ 185, 330). Jedoch lag in diesen Fällen keinrechtsgeschäftliches, sondern stets ein deliktischesVerhalten des Dritten vor (z.B. hatte im Fall RA 2010,324 = BGHZ 185, 330 der Dritte unter der Verwen-dung des fremden Internetanschlusses unbefugt einenMusiktitel über eine Tauschbörse geladen und gleich-zeitig angeboten). Um der B das Verhalten des E nach diesen Grundsät-zen zurechnen zu können, müsste die vorgenannteBGH-Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall über-tragbar sein:„[19] (...) Diese für den Bereich der deliktischen Haf-tung entwickelten Grundsätze lassen sich jedoch nichtauf die Zurechnung einer unter unbefugter Nutzungeines Mitgliedskontos von einem Dritten abgegebenenrechtsgeschäftlichen Erklärung übertragen. Denn wäh-rend im Deliktsrecht der Schutz absoluter Rechte Vor-rang vor den Interessen des Schädigers genießt, ist beider Abgabe von auf den Abschluss eines Vertragesgerichteten Erklärungen eine Einstandspflicht desjen-igen, der eine unberechtigte Nutzung seines passwort-geschützten Mitgliedskontos ermöglicht hat, nur danngerechtfertigt, wenn die berechtigten Interessen desGeschäftspartners schutzwürdiger sind als seine eige-nen Belange (vgl. BGH, Urteil vom 11. März 2009 - IZR 114/06, aaO Rn. 19). Dies ist nicht schon alleindeswegen der Fall, weil der Kontoinhaber bei eBayein passwortgeschütztes Mitgliedskonto eingerichtetund sich den Betreibern dieser Platt- form zur Ge-heimhaltung der Zugangsdaten verpflichtet hat (aAHerresthal, aaO S. 708 f.).[20] Das Gesetz (vgl. §§ 164, 177, 179 BGB [analog])weist das Risiko einer fehlenden Vertretungsmachtdes Handelnden dem Geschäftsgegner und nicht dem-jenigen zu, in oder unter dessen Namen jemand alsVertreter oder scheinbarer Namensträger auftritt (vgl.Senatsurteil vom 13. Juli 1977 - VIII ZR 243/75, aaO).Eine Durchbrechung dieser Risikozuweisung ist nichtbereits dann gerechtfertigt, wenn der "Vertretene" dasHandeln des Dritten bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätteerkennen und verhindern können (vgl. Senatsurteilvom 13. Juli 1977 - VIII ZR 243/75, aaO). Vielmehrist in diesen Fällen für eine Zurechnung der von demDritten abgegebenen Erklärungen weiter zu fordern,dass der Geschäftsgegner annehmen durfte, der "Ver-tretene" kenne und billige das Verhalten des Dritten.Nur unter dieser zusätzlichen Voraussetzung verdientein vom "Vertretenen" oder Namensträger möglicher-weise schuldhaft mit verursachter Rechts- schein imRechtsverkehr in der Weise Schutz, dass das Handelndes Dritten dem "Vertretenen" zugerechnet wird (Se-natsurteil vom 13. Juli 1977 - VIII ZR 243/75, aaO).Ein solcher Vertrauenstatbestand lässt sich - wie obenunter II 1 b cc (2) ausgeführt - jedoch nicht allein da-

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raus ableiten, dass den Zugangsdaten eines bei eBayregistrierten Mitgliedskontos eine Identifikationsfunk-tion zukommt (OLG Köln, aaO; OLG Hamm, aaO;LG Bonn, aaO; aA Herresthal, aaO S. 707 ff.).“

3. Zurechnung gem. § 2 Ziff. 9 der AGBSchließlich ist zu fragen, ob sich B das Verhalten desE aufgrund von § 2 Ziff. 9 der AGB von eBay zurech-nen lassen muss: „[21] Eine Haftung der Beklagten lässt sich schließ-lich auch nicht aus § 2 Ziffer 9 der Allgemeinen Ge-schäftsbedingungen von eBay ableiten. Diese sehenzwar vor, dass Mitglieder grundsätzlich für "sämtlicheAktivitäten" haften, die unter Verwendung ihres Mit-gliedskontos vorgenommen werden. Da diese Allge-meinen Geschäftsbedingungen jedoch jeweils nur zwi-schen eBay und dem Inhaber eines Mitgliedskontosvereinbart sind, kommt ihnen keine unmittelbare Gel-tung zwischen Anbieter und Bieter zu. Sie können al-lenfalls für die Auslegung der vor ihrem Hintergrunderfolgten Erklärungen Bedeutung gewinnen. Die vomEhemann der Beklagten unter ihrem Namen abgegebe-nen Erklärungen können aber der Beklagten nur überdie - vorliegend nicht eingreifenden - Grundsätze derDuldungs- oder der Anscheinsvollmacht zugerechnetwer- den. Eine darüber hinausgehende Haftung könntedie Klausel nur dann begründen, wenn hier- in zu-gunsten zukünftiger Vertragspartner ein Vertrag zu-gunsten Dritter nach § 328 BGB oder ein Vertrag mitSchutzwirkung für Dritte zu sehen wäre (zum Mei-nungsstand vgl. Borges, aaO S. 3315; vgl. ferner Her-resthal, aaO S. 709 f.). Ob dies der Fall ist, bedarf kei-ner Entscheidung. Denn eine solche in ihrem Umfangunbegrenzte Haftungsverpflichtung des Kontoinhabersgegenüber beliebig vielen potentiellen Auktionsteil-nehmern ginge weit über die Rechtsgrundsätze derRechtsscheinhaftung hinaus und hielte einer Inhalt-skontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht stand,da sie bei der gebotenen kundenfeindlichsten Ausle-gung auch für die Fälle Geltung beanspruchen würde,in denen der Kontoinhaber die unbefugte Nutzung desMitgliedskontos weder kannte noch diese hätte verhin-dern können (iE auch Borges, aaO, allerdings ohne

AGB-rechtliche Anknüpfung). Die in § 2 Ziffer 9 derAllgemeinen Geschäftsbedingungen von eBay vor-gesehene Haftungsregelung kann daher allenfalls -ähnlich wie dies bei Allgemeinen Geschäftsbedingun-gen der Herausgeber von EC-Karten der Fall ist (vgl.hierzu etwa BGH, Urteil vom 5. Oktober 2004 - XI ZR210/03, BGHZ 160, 308, 312) - eine Einstandspflichtdes Kontoinhabers gegenüber dem Plattformbetreiberfür diesem entstandene Schäden begründen.“

II. ErgebnisDie von E abgegebene Willenserklärung ist der Bnicht zuzurechnen. Somit ist zwischen B und K keinSchuldverhältnis zustande gekommen. Damit scheidetauch eine Schadensersatzpflicht der B wegen Nicht-erfüllung aus §§ 280 I, III; § 281 I 1 Var. 1 BGB aus.

B. Anspruch des K gegen B auf Schadensersatz gem.§§ 280 I, 311 II, 214 II BGB (c.ic.)Ein Anspruch des K gegen B aus culpa in contrahendosetzt voraus, dass zwischen K und B ein vorvertragli-ches Schuldverhältnis gem. § 311 II BGB zustandegekommen ist. Da B jedoch nicht selbst handelte, kannein solches Schuldverhältnis nur durch Zurechnungdes Verhaltens des E zustande gekommen sein. Wiebereits gezeigt, muss sich B das Verhalten des E je-doch nicht zurechnen lassen. Dies gilt erst recht füreine Stellvertretung durch E gem. § 164 I 1 BGB.Denn ein Schuldverhältnis gem. § 311 II BGB setztgerade nicht die Abgabe von Willenserklärungen vor-aus. Die Anwendung von § 164 BGB im Bereich des§ 311 II BGB dürfte daher schon rein dogmatisch aus-geschlossen sein.

C. Anspruch des K gegen B auf Schadensersatz gem. §823 BGB Schließlich kommt auch kein Anspruch des K gegen Baus § 823 I oder § 823 II BGB in Betracht. K trägt le-diglich Vermögenseinbußen vor, die über § 823 I BGBnicht geschützt sind. Schutzgesetze i.S.d. § 823 IIBGB, die auf Vermögensschutz abzielen (wie etwa §263 StGB), sind nicht verletzt.

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Standort: § 13 I StGB Problem: Suizid und Garantenpflicht

STA MÜNCHEN I, VERFÜGUNG VOM 30.07.2010

125 JS 11736/09 (NSTZ 2011, 345)

Problemdarstellung:

Die Mutter der Beschuldigten hatte, nachdem sie er-fahren hatte, dass sie an Alzheimer-Demenz erkranktwar, den Entschluss gefasst, sich selbst zu töten. Siehatte insofern Erkundigungen bei Sterbehilfe-Organi-sationen, Alzheimer-Spezialisten und einem Rechts-anwalt eingeholt und sich dazu entschlossen, ihremLeben am 28.02.2009 durch die Einnahme tödlicherMedikamente ein Ende zu setzen. Hiervon hatte sieinsbesondere ihre Kinder, die Beschuldigten, vorherinformiert. Am fraglichen Tage fanden sich die Kinderbei ihrer Mutter ein und warteten im Nebenzimmer,während ihre Mutter nach Einnahme der tödlichenMedikamente einschlief und schließlich verstarb.

Die Staatsanwaltschaft München I hatte zunächst ge-gen die Beschuldigten insb. wegen Totschlags durchUnterlassen, §§ 212 I, 13 I StGB, ermittelt, weil diesekeine Hilfe für ihre Mutter gerufen hatten, nachdemdiese die Medikamente eingenommen hatte. DiesesVerfahren stelle die StA dann jedoch gem. § 170 IIStPO ein, da sie keinen hinreichenden Tatverdachtgegen die Beschuldigten feststellen konnte. Diese hät-ten zwar als Kinder der Verstorbenen grundsätzlicheine Garantenstellung zum Schutze von deren Lebeninnegehabt. Da die Mutter jedoch als Folge eines ei-genverantwortlichen Suizids gestorben war, hätte kei-ne entsprechende Garantenpflicht der Beschuldigtenzur Durchführung von Rettungshandlungen bestanden.

Prüfungsrelevanz:

Die Tötungsdelikte gehören zu den Tatbeständen, diein beiden Examen immer wieder zu prüfen sind. Gera-de Fallkonstellationen aus dem Bereich der Sterbehilfesind hier immer wieder zu lösen. In zwei aktuellenUrteilen (RA 2010, 505 = NJW 2010, 2963 und RA2011, 33 = NJW 2011, 161) hatte sich der BGH mitder Frage befasst hatte, unter welchen Voraussetzun-gen ein Behandlungsabbruch bei einem komatösenOpfer gerechtfertigt sein kann. In der vorliegendenEntscheidung geht es um die Frage, ob eine strafrecht-liche Pflicht dahin gehend bestehen kann, einen Suizi-denten, der sich selbst eigenverantwortlich töten will,zu retten. Aufgrund der großen politischen und gesell-schaftlichen Bedeutung der Sterbehilfe (im engerenund weiteren Sinne) und insb. weil sich die StA Mün-chen I in der vorliegenden Verfügung letztlich in Wi-derspruch zur Rechtsprechung des BGH setzt, bietetsich diese als Grundlage von Examenssachverhaltenan, auch wenn staatsanwaltschaftliche Verfügungen

üblicherweise nicht zu den Entscheidungen gehören,die für Examensaufgaben ausgewertet werden.

Im Rahmen der Beteiligung an einer Selbsttötungstellt sich zunächst die Frage, ob derjenige, der einenSuizid fördert oder einen solchen nicht verhindert, alsTäter eines Fremdtötungsdeliktes (ggf. durch Unter-lassen) - zumindest gem. § 216 I StGB - bestraft wer-den kann oder ob es sich hierbei nicht eher um eineBeihilfe (ggf. durch Unterlassen) zur Selbsttötunghandelt, die - mangels teilnahmefähiger Haupttat - garnicht strafbar sein kann. Im Rahmen der insofern er-forderlichen Abgrenzung besteht mittlerweile Einig-keit darüber, dass diese über das Kriterium der Tat-herrschaft zu erfolgen hat. Dabei ist allenfalls nochstreitig, ob das maßgebliche Kriterium insofern dieVornahme der letzen aktiven Handlung ist (so BGHSt19, 135, 139 f.; Kutzer, NStZ 1994, 110, 112), dasBestehen einer “Quasi-Mittäterschaft” (so Lac-kner/Kühl, § 216 Rn. 3; Roxin, NStZ 1987, 345, 347)oder die Möglichkeit des Sterbewilligen, selbst dieletzte Entscheidung über Leben und Tod zu treffen (soSchönke/Schröder-Eser, § 216 Rn. 11). Im vorliegen-den Fall hatte die Mutter der Beschuldigten zumindestbis zu dem Zeitpunkt, in dem sie nach Einnahme dertödlichen Medikamente einschlief, eindeutig die Tat-herrschaft inne. Deshalb hätte ein Nichteingreifen derBeschuldigten bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls eine -straflose - Beihilfe durch Unterlassen zum Suizid dar-stellen können. Folgerichtig hatte die StA auch einenhinreichenden Tatverdacht gegen die Beschuldigtenfür diesen Zeitraum gar nicht erst geprüft.

Nachdem die Mutter jedoch eingeschlafen war, dürftedie Tatherrschaft auf die Beschuldigten übergegangensein, sodass eine täterschaftliche Strafbarkeit für derenNicht-Hilfeleisten ab diesem Zeitpunkt durchaus inBetracht kam. Da die Beschuldigten sämtlich Kinderder Verstorbenen und somit grundsätzlich als Garan-ten zu deren Schutz verpflichtet waren, stellte sichinsbesondere die Frage, ob aus der entsprechendenGarantenstellung der Kinder auch die Garantenpflichtresultierte, den eigenverantwortlichen Suizid der Mut-ter zu verhindern. Der BGH hatte in der Vergangen-heit angenommen, dass der Garant jedenfalls ab demZeitpunkt, ab dem er (insb. wegen einer Bewusstlos-igkeit des Suizidenten) die Tatherrschaft innehat, auchdie Pflicht hat, einen eigenverantwortlichen Suizid zuverhindern (BGHSt 2, 150 ; 32, 367, 373 f.; ähnlichSK-Horn, § 212 Rn. 18; § 216 Rn. 14). Das OLGMünchen hingegen hatte in einer vergleichbaren Kon-stellation eine Garantenpflicht zur Rettung abgelehnt(OLG München, NJW 1987, 2940). In der vorliegen-den Entscheidung schließt sich die StA München I derRechtsauffassung des OLG München an und stellt in-

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sofern klar, dass das Fehlen einer entsprechendenHilfspflicht nicht nur eine Strafbarkeit wegen einesunechten Unterlassungsdelikts ausschließt, sondernauch eine solche wegen § 323c StGB.

Vertiefungshinweise:“ Zur Hilfspflicht bei eigenverantwortlicher Selbst-tötung: BGHSt 2, 150; 32, 262; 32, 307; OLG Mün-chen, NJW 1987, 2940; Engländer, GA 2010, 15;Kühl, JURA 2009, 881; Lüderssen, JZ 2006, 689;Steinhilber, JA 2010, 430;

Kursprogramm:

“ Examenskurs: “Drama am See”

Leitsatz (der Redaktion):Eine Garantenstellung verpflichtet nicht dazu, einefrei verantwortliche Selbsttötung zu verhindern.

Sachverhalt: Bereits im Jahr 1995 hatte V eine erste schriftlichePatientenverfügung verfasst. Diese wurde in den Fol-gejahren immer wieder, letztmals am 05.02.2009,durch V bestätigt. Als im Jahr 2005 zunehmend Ge-dächtnisstörungen auftraen, suchte V verschiedeneNervenärzte auf. Im Jahr 2006 traf sie in Anbetrachtihres Krankheitsbildes die Entscheidung, ihrem Lebenselbstbestimmt ein Ende zu setzen, um einen langsa-men, demenzbedingten Verfall zu entgehen. Zu die-sem Zeitpunkt wurden von ihr erstmals Informationenzur Rechtslage eingeholt und Kontakt zu Sterbehil-fe-Organisationen aufgenommen.Im Jahr 2007 wurde der Verdacht auf Alz-heimer-Demenz schließlich bestätigt. Am 27.07.2007 trat V der Vereinigung EX Interna-tional – Vereinigung zur Hilfe selbstbestimmten men-schenwürdigen Sterbens – bei und traf sich in der Fol-ge mit einem Vertreter dieser Organisation. Am19.11.2007 tat V ihren Sterbewunsch nochmalsschriftlich gegenüber ihren Kindern kund. Im Hinblickauf eine geplante Selbsttötung in der Schweiz in Zu-sammenarbeit mit oben genannter Organisation traf Vim Juli 2008 Vorkehrungen für ihre Bestattung unddie Abwicklung ihrer Angelegenheiten nach ihremAbleben. Nachdem jedoch die Sterbehilfe in derSchweiz nicht durchgeführt wurde, da dort der Geis-teszustand der V für noch zu gut befunden wurde, ent-schloss sich V, zu Hause zu sterben.Am 11.02.2009 begab sie sich in Begleitung ihrerTochter B zu verantwortlichen Ärzten der Alz-heimer-Ambulanz. Eine psychiatrische Erkrankungkonnte dabei nicht festgestellt werden. Im Übrigenwurde über die Beweggründe und die Alternativenzum Sterbevorhaben ausführlich diskutiert. Der Ent-

schluss der V stand jedoch auch nach diesem Ge-spräch fest. Am 18.02.2009 begab sich V außerdemzur Rechtsberatung bei einem Rechtsanwalt. Auchdieser hatte den Eindruck, dass es sich bei V um eineextrem einsichtige, wache und klare Patientin handel-te. Einschränkungen hinsichtlich ihrer Freiverantwort-lichkeit waren für den Rechtsanwalt nicht ersichtlich,vielmehr stellte dieser fest, er könne sich niemandenvorstellen, der noch entschlossener, überzeugter, fach-licher, kompetenter und auch emotional klarer undfreiverantwortlicher gewesen wäre. Am 27.02.2009verabschiedete sich die Verstorbene schließlich vonden Ärzten der Alzheimer-Ambulanz. Am 25.02.2009hatte sie sich die für ihre Selbsttötung notwendigenMedikamente selbst auf Grund eigener Verordnung ineiner Apotheke besorgt. Den Zeitpunkt für ihre Selbst-tötung setzte V auf den 28.02.2009 fest. Auch hierü-ber informierte sie ihre Kinder, insb. B.Am Abend dieses Tages kam B in die Wohnung ihrerMutter. Zunächst unterhielt man sich dort und aß ge-meinsam. Sodann nahm V ein Mittel gegen Übelkeitein. Zirka ½ Stunde später schluckte sie 16 Tablettendes Medikaments „Weimer quin forte” und 45 Tablet-ten des Medikaments „Luminal”. Daraufhin trank mangemeinsam Sekt.Nach ca. 10 Minuten wurde V müde, putzte sich dieZähne und zog sich ihr Nachthemd an. Anschließendbegab sie sich zu Bett. B ging dann zu ihrer Mutterund verabschiedete sich.Bei geöffneter Tür setzte sich B danach ins Wohnzim-mer. Ab und an sah sie nach V, welche innerhalb kür-zester Zeit tief und fest eingeschlafen war und ruhigund regelmäßig atmete. Als gegen 0.30 Uhr des01.03.2009 die Atmung flach und unregelmäßig wur-de, setzte sich B an das Bett ihrer Mutter und hieltderen Hand. Gegen 0.41 Uhr wurde aufgrund der feh-lenden Atmung und des fehlenden Pulses letztendlichder Tod festgestellt. Versuche, V zu retten, wurdenvon B nicht unternommen.

Hat B sich dadurch strafbar gemacht, dass sie nachdem Einschlafen der V keine Maßnahmen ergriff, umdiese zu retten?

[Bearbeitervermerk: Gehen Sie davon aus, dass derTod der V mit an Sicherheit grenzender Wahrschein-lichkeit hätte verhindert werden können, wenn Brechtzeitig einen Notarzt gerufen hätte.]

Lösung:

A. Strafbarkeit gem. §§ 212 I, 13 I StGBDadurch, dass B keine Maßnahmen ergriff, um V zuretten, nachdem diese die tödlich wirkenden Medika-mente eingenommen hatte, könnte B sich wegen Tot-schlags durch Unterlassen zum Nachteil der V gem.

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§§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

1. Eintritt des tatbestandlichen ErfolgsV ist tot, der tatbestandliche Erfolg des § 212 I StGBist somit eingetreten.

2. Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung gebote-nen HandlungB müsste die zur Erfolgsanwendung gebotenen Hand-lung nicht vorgenommen haben.Um den Erfolg, also den Tod der V, abzuwenden, wä-re es seitens der B geboten gewesen, Hilfsmaßnahmenzu ergreifen, insb. einen Notarzt zu verständigen. Dieshat sie jedoch nicht getan.

3. Physisch-reale Möglichkeit der Handlungsvornah-meDie Vornahme der gebotenen Handlung - Verständi-gung eines Notarztes - wäre B auch physisch-realmöglich gewesen.

4. Hypothetische KausalitätDas Unterlassen der B müsste auch kausal für den Todder V gewesen sein.Ein Unterlassen ist dann kausal für einen Erfolg, wenndie gebotenen Handlung nicht hinzugedacht werdenkann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzen-der Wahrscheinlichkeit entfiele (sog. “hypothetischeKausalität”; BGHSt 48, 77, 93; Fischer, Vor § 13 Rn.39; Kühl, AT, § 18 Rn. 36).Hätte B den Notarzt verständigt, so wäre V mit an Si-cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet wor-den. Die erforderliche Kausalität liegt somit vor.

5. Garantenstellung und -pflichtGem. § 13 I StGB kann sich wegen eines unechtenUnterlassungsdelikts nur strafbar machen, wer dafüreinzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt (sog.Garantenstellung). B müsste also eine solche Garan-tenstellung zum Schutze des Lebens ihrer Mutter Vgehabt haben.Kinder haben als Verwandte gerader Linie grundsätz-lich aus §§ 1601, 1618a BGB eine (Beschützer-) Ga-rantenstellung, die sie dazu verpflichtet, insbesonderedas Leben ihrer Eltern zu beschützen und deren Todzu verhindern (BGHSt 19,167; Joecks, § 13 Rn. 23;Lackner/Kühl, § 13 Rn. 10; Schönke/Schröder-Stree, §13 Rn. 18). Da B die Tocher der V ist, hatte sie somiteine Garantenstellung zum Schutze des Lebens der V.Fraglich ist jedoch, ob die aus dieser Garantenstellungresultierende Handlungspflicht (die sog. Garanten-pflicht) auch eine Verpflichtung der B dahin gehendbegründet, einen eigenverantwortlichen Suizid der Vzu verhindern.

Hierzu führt die StA München I aus: “2. [3] In ver-gleichbaren Fällen bejahte der BGH grundsätzlich ei-ne Handlungspflicht des Garanten in dem Sinne, dasser zum Einschreiten, also zur Rettung, verpflichtet sei(vgl. BGHSt 2, 150 ff.). Ähnlich äußerte sich der BGHim sog. ‘Wittig’-Fall, in dem er den Willen zum Frei-tod dem Grundsatz nach für unbeachtlich erklärte (vgl.BGHSt 32, 307 ff.).[4] Dieser Grundsatz wurde jedoch in der späterenRechtsprechung relativiert. Der BGH entschied, dasseine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichteSelbsttötung nicht den Tatbestand eines Tötungsde-likts unterfalle (vgl. BGHSt 32, 262 ff.). Auch späterentschied er, dass er der vorgenannten Entscheidungweiterhin zuneige und einem ernsthaften, freiverant-wortlich gefassten Selbsttötungsentschluss eine stärke-re rechtliche Bedeutung beimessen wolle (vgl. BGHNJW 1988, 1352). Abschließend geklärt hatte derBGH diese Frage jedoch mangels Entscheidungser-heblichkeit dort nicht.[5] Der frühere Grundsatz, dass eine absolute Ret-tungspflicht des Garanten bestehe, erfuhr später auchdadurch eine Einschränkung, dass eine Rettungspflichtsowohl nach § 13 StGB wie auch nach§ 323c StGBerst mit der Handlungs- bzw. Bewusstlosigkeit desSuizidenten einsetzen sollte (BGH NJW 1960, 1821f.). Erst ab diesem Zeitpunkt gehe die Tatherrschaftauf den Garanten über, so dass aus der straflosen Bei-hilfe zum Selbstmord ein tatherrschaftliches Tötungs-delikt werde.[6] Auch diese Konstruktion führt jedoch zu unauflös-baren Wertungswidersprüchen: Demnach dürfte einAngehöriger oder Arzt straflos einen Suizidenten beider Realisierung seines Tötungsentschlusses unter-stützen – etwa indem er Gift besorgt – um dann nachEinnahme des Giftes zur Rettung verpflichtet zu sein.[7] Vorzugswürdig erscheint deshalb die durch dasOLG München im Fall „Hackethal” vertretene An-sicht, wonach bei einer gegebenen Garantenstellungdie sich daraus ergebende Garantenpflicht durch denfreiverantwortlich gefassten Selbsttötungswillen desSuizidenten eingeschränkt wird (vgl. NJW 1987, 2940ff.).3. [8] Entscheidend ist daher der sicher feststellbareoder mutmaßliche Wille des Suizidenten. Einem An-gehörigen kann kein strafrechtlicher Vorwurf gemachtwerden, wenn er den ernsthaften Todeswillen seinesAngehörigen respektiert und nicht sofort bei Verlustder Handlungsfähigkeit und des Bewusstseins ärzt-liche Hilfe ruft, oder sonstige Rettungsmaßnahmeneinleitet.[9] Auch die neuere Rechtsprechung misst demSelbstbestimmungsrecht eines Menschen demgemäßhöhere Bedeutung bei als früher. Der 12. Zivilsenatdes BGH hat insoweit entschieden, dass auch wennein Patient einwilligungsunfähig ist und sein Grundlei-

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den einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommenhat, lebenserhaltende oder lebensverlängernde Maß-nahmen unterbleiben müssen, wenn dies einem zuvor– etwa in Form einer sogenannten Patientenverfügung– geäußerten Willen entspricht. Dies folge aus derWürde des Menschen, die es gebiete, sein im einwil-l igungsfähigen Zustand ausgeübtes Se lbs t -bestimmungsrecht auch dann noch zu respektieren,wenn er zu einer eigenverantwortlichen Entscheidungnicht mehr in der Lage ist (vgl. BGHZ 154, BGHZBand 154 Seite 205ff.). Dieser Entscheidung lässt sichauch für den strafrechtlichen Bereich entnehmen, dassdie freiverantwortlich getroffene Entscheidung einesMenschen auch nach Eintritt der Handlungsunfähig-keit bzw. der Bewusstlosigkeit verbindlich sein soll.4. [10] Voraussetzung für die Straflosigkeit ist dem-nach, dass die Entscheidung zum Freitod tatsächlicheigenverantwortlich und im Bewusstsein der vollenTragweite des Tuns getroffen wurde.[11] Diesbezüglich ergaben die Ermittlungen, dass dieverstorbene Frau im vollem Besitz ihrer geistigenKräfte ihre Selbsttötung freiverantwortlich plante undschließlich durchführte. [...] Hinweise darauf, dass dieVerstorbene durch Dritte in einer Art und Weise be-einflusst wurde, die ihre freiverantwortliche Willens-betätigung ausgeschlossen oder auch nur beeinträch-tigt hätte, sind – genauso wenig – wie dafür, dass dieVerstorbene sich der Tragweite ihres Tuns nicht be-wusst gewesen wäre – vorhanden. Insgesamt ist es beidieser Sachlage den Beschuldigten als nahe Angehöri-ge nicht zumutbar gewesen, die geäußerte Selbsttö-tungsabsicht der Mutter durch Rettungsmaßnahmeunterlaufen zu müssen.”Eine Garantenpflicht der B zur Verhinderung des Sui-zides ihrer Mutter V bestand somit nicht.

II. ErgebnisB ist nicht strafbar gem. §§ 212 I, 13 I StGB.

B. Strafbarkeit gem. § 221 I Nr. 2, III StGBDadurch, dass sie keine Maßnahmen zur Rettung derV ergriff, insb. keinen Notarzt verständigte, könnte Bsich jedoch wegen Aussetzung mit Todesfolge gem. §221 I Nr. 2, III StGB zum Nachteil der V strafbar ge-

macht haben.

I. TatbestandDer Tatbestand des Grunddelikts gem. § 221 I Nr. 2StGB würde es insb. voraussetzen, dass B die V ineiner hilflosen Lage im Stich ließ, obwohl sie diese inihrer Obhut hatte oder ihr sonst beizustehen verpflich-tet war.Die i.R.v. § 221 I Nr. 2 StGB erforderliche Obhuts-oder Beistandspflicht entspricht von den Anforderun-gen her der für die unechten Unterlassungsdelikte er-forderlichen Garantenstellung und -pflicht (BGH,NJW 1993, 6228; Joecks, § 221 Rn. 11 f.; SK-Horn/Wolters, § 221 Rn. 8; Wessels/Hettinger, BT 1,Rn. 202). Da im vorliegenden Fall aber eine Garanten-pflicht der B zur Rettung des Lebens der V geradenicht gegeben war (s.o.), fehlt es somit auch an der für§ 221 I Nr. 2 StGB erforderlichen Obhuts- oder Bei-standspflicht.

II. ErgebnisB ist nicht strafbar gem. § 221 I Nr. 2, III StGB.

C. Strafbarkeit gem. § 323c StGBDurch das Nichtergreifen von Rettungsmaßnahmenkönnte sich B allerdings wegen unterlassener Hilfelei-stung gem. § 323c StGB strafbar gemacht haben.

Zwar stellt ein eigenverantwortlicher Suizid - wie imvorliegenden Fall - nach h.M. einen Unglücksfalli.S.v. § 323c StGB dar (BGHSt 13, 162, 168 f.; 32,367, 375; Fischer, § 323c Rn. 5; Wessels/Hettinger,BT 1, Rn. 60). Jedoch entfällt in diesem Fall wegender Eigenverantwortlichkeit des Verhaltens des Suizi-denten nicht nur die Garantenpflicht zur Verhinderungdes Todes (s.o.), sondern konsequenterweise auch dieJedermanns-Hilfspflicht aus § 323c StGB (BGH,NStZ 1983, 117; Fischer, § 323c Rn. 5; Joecks, § 323cRn. 21; SK-Rudolphi/Stein, § 323c Rn. 24).Eine Strafbarkeit der B gem. § 323c StGB ist somitnicht gegeben.

D. ErgebnisB hat sich nicht strafbar gemacht.