"heilpädagogik aktuell", Frühjahr 2013, Nr. 8

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Drei historische Wurzeln belegen die Vielfalt der gegenwärtigen Spitalpädagogik. Die ersten Ansätze zeigten sich in Orbe (VD) im Jahr 1780. Vom Orthopädischen Institut zur Schu- le in der Rehabilitationsklinik: Mit Stolz dür- fen wir auf den Schweizer Arzt Jean-André Venel (1740–1791) verweisen, der als erster Begründer eines «Hospitals für Orthopädie» gilt. Im Spital waren zwei Lehrer für den Un- terricht zuständig. Die langen Liegezeiten sollten für Bildung genutzt werden und von den Leiden «ablenken». Venel gilt damit als Pionier eines auch die (Heil-)pädagogik um- fassenden ganzheitlichen Rehabilitationskon- zeptes. Dieses Konzept erkennen wir aktuell im Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche in Affoltern am Albis wieder. Von der Beobachtungsstation zur Klinik- schule: Bereits 1917 wurde durch Pro Juven- tute eine Beobachtungsstation in der Nähe der psychiatrischen Klinik Burghölzli Zürich eröffnet als Antwort auf die zunehmende Zahl hilfsbedürſtiger Kinder und Jugend licher während der Zeit des ersten Weltkrie- ges (Jugendfürsorge). Gleichzeitig wies die Klinik darauf hin, dass es unangemessen sei, psychisch beeinträchtigte Kinder und Ju- gendliche zusammen mit Erwachsenen zu behandeln. So wurde 1921 die «Kantonale Kinderbeobachtungsstation Stephansburg» in Zürich eröffnet. Leiter war der mit dem damaligen Heilpädagogischen Seminar Zü- rich durch Lehre eng verbundene Kinder- psychiater Jakob Lutz (1903–1998). Unterdes- sen gibt es im Kanton Zürich mehrere Kli- nikschulen für Kinder und Jugendliche, die eine schwere psychische bzw. psychosoma- tische Krisensituation erleben. Von der Erzieherischen Unterhaltung zur Spitalschule: 1874 nahm in Zürich das Kinderspital (Eleonorenstiſtung) seinen Be- trieb auf. Von Beginn an veranlasste das «Damenkomitee», dass die Kinder wenigs- tens einmal pro Woche «erzieherische Unter- haltung» erhielten. Handarbeiten, Singen und Geschichten sollten den Kindern in entbehrungsreichen Zeiten Abwechslung bringen. Ab 1889 erteilten Lehrpersonen den Kindern auch Unterricht. Erziehungsrat Heinrich Näf (1830–1888) persönlich fand sich dazu im Spital ein. 1959 wird die erste Lehrstelle geschaffen, weitere folgten. 1978 wird eine Schulleitung bestellt. Dies kann als Geburtsstunde der eigentlichen Spitalschule des Kinderspitals Zürich verstanden werden. Schultypen und Aufgaben Für alle drei Schultypen, die als Sonderschu- len anerkannt sind, gilt: Spitalschulen decken Prof. Dr. Susanne Schriber sehr wichtige Aufgaben ab. Erstens die Siche- rung des Anschlusses im Schulstoff während der Hospitalisierungszeiten, zweitens die Unterstützung bei der Re-Integration in die HerkunſtsSchulsysteme bzw. die Vermitt- lung neuer Schullösungen, drittens die Auf- klärungs- und Beratungsarbeit in den Schu- len und Familien und schliesslich viertens die Unterstützung im äusseren und inneren Umgang mit dem Krank-Sein und dem Er- leben der Spitalzeit. Das sind anspruchsvolle Aufgaben, de- ren professionelle Einlösung wir Kindern mit schweren körperlichen und psychischen Krankheiten schuldig sind. Es braucht dafür qualifizierte, auch heilpädagogisch ausgebil- dete Lehrpersonen. Ausbildungen für Heil- pädagogik sind dazu aufgerufen, Spitalschu- len in Lehre und Forschung wahrzunehmen. Die vorliegende Ausgabe «heilpädagogik aktuell» verdeutlicht: Kinder im Spital sind im «Ausnahmezustand»; Schule im Spital je- doch ist Regelfall und dabei auch Gegenstand der Heilpädagogik. Prof. Dr. Susanne Schriber leitet an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik den Bereich Pädagogik bei Körper- und Mehrfachbehinderungen im Masterstudien- gang Sonderpädagogik, Vertiefungsrichtung Schulische Heilpädagogik. Unterricht im Kinderspital Zürich: Die Schulische Heilpädagogin und Spitallehrerin Christine Walser lernt mit einer Schülerin. Thomas Burla (Foto) Der Weg vom ersten Lernangebot in einem orthopädischen Institut zur heutigen Spitalschule. Die moderne Spitalpädagogik hat umfassende Aufgaben zu bewältigen, denn jedes Kind hat Anspruch auf Unterricht. Spitalschule – Schule im Ausnahmezustand? Magazin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Ausgabe 8 — Frühjahr 2013 heilpädagogik aktuell Thema: Lernen im Spital Lehre An den Schnittstellen von Medizin und Logopädie 2 Von Sabine Hüttche Chronisch kranke Kinder 3 Von Christine Walser Reportage Im Spital ist die Schule ein Dürfen, kein Müssen 4 Von Christine Loriol Masterarbeit Beim Coping half vor allem die Familie 6 Von Lars Mohr Im Interview Regierungsrätin Heidi Hanselmann (SG) 7 Von Sabine Hüttche Aktuelles Weiterbildung und Agenda 8

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Thema: Lernen im Spital Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

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Page 1: "heilpädagogik aktuell", Frühjahr 2013, Nr. 8

Drei historische Wurzeln belegen die Vielfalt der gegenwärtigen Spitalpädagogik. Die ersten Ansätze zeigten sich in Orbe (VD) im Jahr 1780.

Vom Orthopädischen Institut zur Schu-le in der Rehabilitationsklinik: Mit Stolz dür-fen wir auf den Schweizer Arzt Jean-André Venel (1740–1791) verweisen, der als erster Begründer eines «Hospitals für Orthopädie» gilt. Im Spital waren zwei Lehrer für den Un-terricht zuständig. Die langen Liegezeiten sollten für Bildung genutzt werden und von den Leiden «ablenken». Venel gilt damit als Pionier eines auch die (Heil-)pädagogik um-fassenden ganzheitlichen Rehabilitationskon-zeptes. Dieses Konzept erkennen wir aktuell im Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche in Affoltern am Albis wieder.

Von der Beobachtungsstation zur Klinik-schule: Bereits 1917 wurde durch Pro Juven-tute eine Beobachtungsstation in der Nähe der psychiatrischen Klinik Burghölzli Zürich eröffnet als Antwort auf die zunehmende Zahl hilfsbedürftiger Kinder und Jugend­licher während der Zeit des ersten Weltkrie-ges ( Jugendfürsorge). Gleichzeitig wies die Klinik darauf hin, dass es unangemessen sei, psychisch beeinträchtigte Kinder und Ju-gendliche zusammen mit Erwachsenen zu

behandeln. So wurde 1921 die «Kantonale Kinderbeobachtungsstation Stephansburg» in Zürich eröffnet. Leiter war der mit dem damaligen Heilpädagogischen Seminar Zü-rich durch Lehre eng verbundene Kinder-psychiater Jakob Lutz (1903–1998). Unterdes-sen gibt es im Kanton Zürich mehrere Kli-nikschulen für Kinder und Jugendliche, die eine schwere psychische bzw. psychosoma-tische Krisensituation erleben.

Von der Erzieherischen Unterhaltung zur Spitalschule: 1874 nahm in Zürich das Kinderspital (Eleonorenstiftung) seinen Be-trieb auf. Von Beginn an veranlasste das «Damen komitee», dass die Kinder wenigs-tens einmal pro Woche «erzieherische Unter-haltung» erhielten. Handarbeiten, Singen und Geschichten sollten den Kindern in entbehrungsreichen Zeiten Abwechslung bringen. Ab 1889 erteilten Lehrpersonen den Kindern auch Unterricht. Erziehungsrat Heinrich Näf (1830–1888) persönlich fand sich dazu im Spital ein. 1959 wird die erste Lehrstelle geschaffen, weitere folgten. 1978 wird eine Schulleitung bestellt. Dies kann als Geburtsstunde der eigentlichen Spitalschule des Kinderspitals Zürich verstanden werden.

Schultypen und Aufgaben

Für alle drei Schultypen, die als Sonderschu-len anerkannt sind, gilt: Spitalschulen decken

Prof. Dr. Susanne Schriber sehr wichtige Aufgaben ab. Erstens die Siche-rung des Anschlusses im Schulstoff während der Hospitalisierungszeiten, zweitens die Unterstützung bei der Re-Integration in die Herkunfts­Schulsysteme bzw. die Vermitt-lung neuer Schullösungen, drittens die Auf-klärungs- und Beratungsarbeit in den Schu-len und Familien und schliesslich viertens die Unterstützung im äusseren und inneren Umgang mit dem Krank-Sein und dem Er-leben der Spitalzeit.

Das sind anspruchsvolle Aufgaben, de-ren professionelle Einlösung wir Kindern mit schweren körperlichen und psychischen Krankheiten schuldig sind. Es braucht dafür qualifizierte, auch heilpädagogisch ausgebil-dete Lehrpersonen. Ausbildungen für Heil-pädagogik sind dazu aufgerufen, Spitalschu-len in Lehre und Forschung wahrzunehmen.

Die vorliegende Ausgabe «heilpädagogik aktuell» verdeutlicht: Kinder im Spital sind im «Ausnahmezustand»; Schule im Spital je-doch ist Regelfall und dabei auch Gegenstand der Heilpädagogik.

Prof. Dr. Susanne Schriber leitet an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik den Bereich Pädagogik bei Körper- und Mehrfachbehinderungen im Masterstudien-gang Sonderpädagogik, Vertiefungsrichtung Schulische Heilpädagogik.

Unterricht im Kinderspital Zürich: Die Schulische Heilpädagogin und Spitallehrerin Christine Walser lernt mit einer Schülerin. Thomas Burla (Foto)

Der Weg vom ersten Lernangebot in einem orthopädischen Institut zur heutigen Spitalschule. Die moderne Spitalpädagogik hat umfassende Aufgaben zu bewältigen, denn jedes Kind hat Anspruch auf Unterricht.

Spitalschule – Schule im Ausnahmezustand?

Magazin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik

Interkantonale Hochschulefür Heilpädagogik

Ausgabe 8 — Frühjahr 2013

heilpädagogik aktuell

Thema: Lernen im Spital

Lehre

An den Schnittstellen

von Medizin und Logopädie 2

Von Sabine Hüttche

Chronisch kranke Kinder 3

Von Christine Walser

Reportage

Im Spital ist die Schule

ein Dürfen, kein Müssen 4

Von Christine Loriol

Masterarbeit

Beim Coping half

vor allem die Familie 6

Von Lars Mohr

Im Interview

Regierungsrätin

Heidi Hanselmann (SG) 7

Von Sabine Hüttche

Aktuelles

Weiterbildung und Agenda 8

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Logopädische Fachpersonen arbeiten mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sie führen diagnostische, präventive, fördernde und therapeutische Massnahmen bezüglich der Sprachlichkeit, der Stimme und der Schluckfunktion durch. Je nach Problemstel-lung sind unterschiedliche Settings, wie z. B. Einzeltherapie, integrative Formen oder Gruppentherapie erforderlich. Kooperation, Beratung, Dokumentation, Evaluation und Gutachten spielen eine wichtige Rolle im Tätigkeitsbereich. Ziel jeder logopädischen Therapie ist eine ganzheitliche Förderung der Persönlichkeitsentwicklung.

Die Logopädie zählt in der Schweiz zum Bildungssystem, arbeitet aber eng mit Pro-fessionen des Gesundheitswesens zusam-men. Neben Pädagogik, Psychologie, Sprach-wissenschaften, Rechtskunde und Wissen-schaftsmethodologie ist daher Medizin ein sehr wichtiger Ausbildungsbereich im Studi-um an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik.

Prävention als wichtiges Tätigkeitsfeld

Die Logopädie befindet sich im Umbruch. Die HfH-Dozenten Jürgen Steiner und Wolfgang G. Braun beschreiben die Präven-tion als eines der interessantesten neuen Aufgabenfelder: «Als Massnahme unterstützt die Logopädie zeitlich befristet Menschen in ihrer sprachlich-stimmlichen Entwicklung, bearbeitet Risiken und Probleme und sensi-bilisiert sowie aktiviert Ressourcen und Schutzfaktoren.» (W. Braun und J. Steiner, 2012, Prävention und Gesundheitsförderung in der Sprachentwicklung, München: Rein-hardt-Verlag, S. 17).

Angehende Logopädinnen lernen an der HfH in verschiedenen Modulen die Risiken der Gesamt- und der Sprachentwicklung

kennen. Im Modul «Medizin» erwerben sie grundlegende Kenntnisse zur Funktion und zum Zusammenspiel von Organen und Or-gansystemen sowie ein Grundverständnis für Pathologie und medizinische Fachausdrücke. Aspekte der Sprachlichkeit werden in den Gesamtkontext Gesundheit, dem Zusam-menspiel von individuellen und kontext-bedingten Risiko- und Schutzfaktoren, ge-stellt. Die Ausbildung an der HfH ist dabei eng mit medizinischen Institutionen wie z. B. dem Kinderspital und dem Universitätsspital Zürich vernetzt. Dozierende der HfH struk-turieren Praktika gemeinsam mit Ärzten und Kolleginnen in der Logopädie.

PD Dr. med. Oskar Jenni, Leiter der Ent-wicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich, engagiert sich auch als Lehrbeauftragter an der HfH. Im Modul «Prävention» vermittelt er mit Kollegen aus anderen Professionen präventiv-logopädische Massnahmen bei

Risiken in der frühen Kindheit und der ge-samten Lebensspanne. Noch spezialisierter wird Prävention im Modul «Logopädie im Frühbereich» bearbeitet. Frühförderung ist ein wichtiges Anliegen der Sonderpädago-gikkonzepte der Kantone. Die HfH setzt diesen wichtigen Auftrag in der Ausbildung und Forschung um.

Verhältnis Pädiatrie und Logopädie

PD Dr. med. Oskar Jenni betont die grosse Bedeutung der Zusammenarbeit von Logo-päden und Kinderärztinnen. Risiken, Verzö-gerungen oder Störungen im Spracherwerb beobachtet der Kinderarzt in regulären Vor-sorgeuntersuchungen. Gegebenenfalls wird er den Rat der Logopädin einholen, die eine differenzierte Abklärung und Elternberatung vornimmt. Gemeinsam entscheiden dann Arzt und Logopädin, ob eine Therapie indi-ziert ist. Der richtige Zeitpunkt ist dabei we-sentlich: Frühe Erfassung und frühe Mass-nahmen verhindern Fehlentwicklungen.

«Früh Chancen nutzen – Logopädie bei Kindern im Vorschulbereich» ist auch der Titel einer wichtigen Tagung im September 2013 in Zürich. Die Veranstaltung wird von der HfH in Kooperation mit dem Kinder-spital Zürich geplant und durchgeführt. Hilda Geissmann, Mitorganisatorin und Lei-terin der Abteilung Logopädie-Pädaudiologie am Kinderspital Zürich, ist der Meinung, dass Kinder gerade in einem frühen Alter vor Schulbeginn von einer guten Zusammen-arbeit zwischen Entwicklungspädiatern, Kin-derärztinnen, Erziehern, Logopädinnen und Eltern profitieren und sich so ungünstige Entwicklungen verhindern lassen: «Es ist ein wichtiges Ziel der Tagung, neben neuen Er-kenntnissen zu Diagnostik und Therapie auch die Kooperation und den Austausch zwischen Professionen des Bildungs- und des Gesundheitssystems zu fördern.»

Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist in den pädagogisch-therapeutischen Berufen wichtig. Die HfH pflegt einen engen Austausch mit Medizinern.

An den Schnittstellen von Medizin und Logopädie

Prof. Dr. Urs Strasser

ist Rektor der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik

Logopädie und Prävention

An der Tagung am 20. September 2013 positioniert sich die Logopädie als kompetente Anbieterin und Partnerin in der Frühförderung. Informationen sind ab Ende März unter hfh.ch/tagungen zu finden. Empfehlenswert bei Fragen zur Prävention ist auch die Website: www.logopaedieundpraevention-hfh.ch. Das genannte Buch mit DVD aus dem Reinhardt-Verlag enthält Checklisten, Links und Literaturemp-fehlungen. Vor kurzem ist die DVD «Logopädie in der Klasse» in der HfH-Reihe erschienen, sie ist über www.hfh.ch/shop erhältlich.

2 — Lehre heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013

Sabine Hüttche

Während der Logopädie-Therapie. Thomas Burla (Foto)

«Zunahme der Sonderschüler um 60 bis 100%», schrieben einige Medien Ende 2012, das heisst konkret geht es um ein bis zwei Kinder in einem Schulhaus mit z. B. sechs Klassen und insgesamt 100 Schülern.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Die Regelschule integriert derzeit viele Schüler, die früher in Kleinklassen gefördert wurden. Dies erfordert stoffliche Anpassun-gen, Ab sprachen unter den Lehr personen, vermehrte Beach-tung und zusätzliche Kon takte zu Eltern und Fachstellen und bedeutet Mehraufwand. Kleine Pensen der Fachkräfte führen zu zahlreichen Schnitt stellen, erst recht, wenn im Team unter-richtet wird.

Gerne wird dazu mehr Support in Anspruch genommen. Man erhält ihn, wenn mehr Schüler als «behindert» deklariert werden, obwohl sie nicht voll als solche gelten.

Der Kanton Zürich wird nun einen Schulversuch starten: Mit 1,5 Lehrstellen pro Primarklasse oder Kindergarten, inklusive Spezialangeboten, Sonderschulung und auch teilweise Therapie. Schulische Heilpädagogen und Heilpädagoginnen können innerhalb eines Klassenteams eine Funktion im Regelunterricht übernehmen und / oder heilpädago-gische Kompetenzen beratend einbringen. An dem Schul versuch «Fokus: Starke Lernbeziehungen» sind inzwischen auch andere Kantone interessiert.

Wir halten diesen Schritt der Bildungsdirektion für richtig, und möchten aber dafür Sorge tragen, dass Schüler mit Förder bedarf nicht untergehen und (heil-)pädago-gisches Handeln optimal umgesetzt werden kann!

Mit herzlichen GrüssenUrs StrasserRektor

Liebe Leserinnen und Leser

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heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013 Lehre — 3

Für Fachpersonen, die sich mit integrierenden Schulungsformen be-fassen, hat die HfH neue Materialien auf den Markt gebracht:

Neue HfH- Publikationen

Ergebnisse eines HfH-Forschungs-projektes werden im Buch «Emotio-nales Erleben im Unterricht und schulbezogene Selbstbilder» präsen-tiert. Im Mittelpunkt stehen ver-gleichende Analysen von Lernenden in integrativen und separativen Schulformen. Neben bilanzierenden Selbst berichten zu emotionalen, so-zialen und motivationalen Merkma-len werden erstmals vergleichende Resultate zum momentanen Befin-den von Schülerinnen und Schülern aufgezeigt, die mittels der Experience Sampling Method im Unterricht er-hoben wurden. Die Ergebnisse zeich-nen ein differenziertes Bild vom ak-tuellen Erleben im Unterrichts alltag und von schulbezogenen Selbst-bildern mit neuartigen Befunden. Das Buch von Martin Venetz, Rupert Tarnutzer, Carmen Zurbriggen und Waltraud Sempert ist unter Neu-erscheinungen auf www.hfh.ch/shop für CHF 35 erhältlich.

Die DVD «Logopädie in der Klasse – Möglichkeiten und Grenzen» von Steff Aellig und Susanne Kempe Preti gibt einen lebendigen Einblick in die Organisation und die Umsetzung von logopädischen Projekten im Schulalltag. Der Film basiert auf Inter views mit Fachpersonen und liefert einen wertvollen Diskussions-beitrag zum Thema Logopädie und Integrative Schulung. Von der Praxis ausgehend eignet sich das Filmmate-rial sehr gut für die Weiterbildung und Schulentwicklung. Die DVD kann ab sofort für CHF 25 über www.hfh.ch/shop bestellt werden.

Christine Walser

«Bist Du wirklich eine richtige Lehrerin?», fragt die achtjährige Patientin im Spitalbett ungläubig. Der Zweifel ist berechtigt, denn welche Lehrerin kommt ans Bett der Patien-tin für die Schulstunde, die zudem noch von einer Blutentnahme und einer ärztlichen Visite unterbrochen und von einer Ultra-schall-Untersuchung abgelöst wird? Welche «richtige» Lehrerin lässt es zu, dass ein Schü-ler während der Schulstunde einschläft, weil er sich beim Vorlesen einer Geschichte trotz der Schmerzen endlich entspannen kann?

Pädagogik bei Krankheit ist nicht nur für die kleinen Patienten und Patientinnen etwas Exotisches. Auch in der Bildungslandschaft Schweiz wird wenig wahrgenommen, dass die steigende Anzahl der chronisch oder schwer kranken oder verletzten Kinder und Jugendlichen eine neue Herausforderung darstellt. Aufgrund von Statistiken geht man heute von rund 12 bis 15 % aller Schulkinder aus. Dank Spitzenmedizin überleben viele Kinder, die früher gestorben wären, sie füh-ren ein Leben mit gesundheitlichen Ein-schränkungen. Oft sieht man die Erkrankung nicht auf den ersten Blick und vergisst, was diese Kinder während gesundheitlich stabi-leren Phasen alles leisten. Sie müssen nicht nur verpasste Lern-, sondern auch Lebenszeit aufholen.

Ausbildungsmöglichkeiten

In den Spitalschulen (in somatischen Kinder-spitälern) und Klinikschulen (in kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychosomati-schen Kliniken) arbeiten zunehmend Primar- und Sekundarlehrpersonen mit heilpädago-gischem Master-Abschluss. Das kranken-pädagogische Fachwissen eignen sie sich am Arbeitsort an, denn an den meisten Ausbil-dungsinstitutionen sind chronische Krank-heiten (noch) kein Thema. Die Interkantona-le Hochschule für Heilpädagogik bietet aller-dings im Studiengang Sonderpädagogik innerhalb des Moduls «Pädagogik für Körper-

und Mehrfachbehinderte» eine Lehrveran-staltung zu diesem Thema an. In diesem Modul lernen alle Studierenden der Schuli-schen Heilpädagogik und der Heilpädagogi-schen Früherziehung grundlegende Aspekte von Körper- und Mehrfachbehinderungen, chronischen Krankheiten und deren Auswir-kungen auf die Entwicklung und das Lernen sowie Unterstützungsformen und -angebote im schulischen Kontext kennen.

Nicht alle chronisch kranken Schülerin-nen und Schüler haben einen besonderen Förderbedarf, aber die Krankheit oder Komor biditäten können dazu führen. Viele dieser Kinder sind entwicklungsverzögert, weisen Sekundärfolgen der Krankheit, der chronischen Stressbelastung und / oder Ne-benwirkungen der Behandlungen auf, wie beispielsweise Konzentrations- und Angst-störungen, motorische und psychische Auf-fälligkeiten, verminderte Handlungsperfor-mance und Lernschwierigkeiten. Zahlreiche Schulabsenzen hinterlassen bei den Lern-inhalten Lücken, die von Regellehrpersonen nicht mehr überblickt und aufgefangen wer-

den können. In den Niederlanden entstan-den vor einigen Jahren Kompetenzzentren für chronisch oder schwer kranke oder ver-unfallte Kinder und Jugendliche. Die dort angestellten Lehrpersonen unterrichten nicht nur, sondern gewährleisten auch eine langfristige Begleitung und Beratung der Be-troffenen und ihrer Herkunftsschulen.

Beratung und Information

Die Spitalschule des Kinderspitals Zürich hat ebenfalls einen Beratungsbedarf erkannt und führt seit über zehn Jahren Informations-nachmittage für Lehrpersonen von krebs- und nierenkranken Schülerinnen und Schü-lern durch. Gut informierte Lehrpersonen der Herkunftsschule und Mitschülerinnen und -schüler bewahren die chronisch Kran-ken vor Ausgrenzung wegen ihrer vermin-derten Grösse und ihres veränderten Aus-sehens aufgrund von Narben und Neben-wirkungen der Behandlungen.

«Du bist doch keine richtige Lehrerin«, ist das Fazit der achtjährigen Schülerin nach einigen Tagen Schulunterricht im Kranken-zimmer, «denn Du bist nicht so streng.» Diese Aussage erstaunt, denn Spitallehrer und Spi-tallehrerinnen verlangen viel. In einer Stunde müssen – wenn es der Gesundheitszustand erlaubt – faktisch die Hauptfächer eines Schultages aufgearbeitet werden. Selbstver-ständlich wird aber auf eine perfekte Passung der Lerninhalte geachtet und auf den Res-sourcen der Schüler und Schülerinnen auf-gebaut, damit sie positive Erfahrungen machen und trotz dieser verunsichernden Situation ihre Selbst wirksam keits erwartung stärken können. Die Spitalschule schlägt damit eine Brücke zur Normalität.

Die Schulische Heilpädagogin Christine

Walser ist Lehrerin an der Spitalschule der Universitätskinderkliniken am Kinderspital Zürich und Lehrbeauftragte an der HfH. Bei «Hospital Organisation of Pedagogues in Europe» (www.hospitalteachers.eu) wirkt sie als Landesvertreterin der Schweiz mit.

Gesetzgebung unzureichend

Seit der Einführung des Neuen Finanzausgleichs und der Fallpauscha-len ist die Finanzierung vieler Spital schulen schwieriger geworden, der Handlungsbedarf ist allerdings erkannt. Viele kürzere Schulabsenzen aufzufangen, ist fast unmöglich, da Nachhilfe im Zuge der integrativen Förderung meist abgeschafft worden ist. Einzelunterricht wird mangels gesetzlicher Regelungen in den Kantonen sehr unterschiedlich und willkürlich umgesetzt. Manchmal stellen auch der Schulweg oder fehlende Lifte in Schulhäusern unüberwindbare Hindernisse dar.

Im Spitalkindergarten des Kinderspitals Zürich: Puppenspiel zur Verarbeitung von Spitalerlebnissen. Thomas Burla (Foto)

Die steigende Anzahl von betroffenen Kindern und Jugendlichen stellt die Schweizer Bildungslandschaft vor neue Herausforderungen. Sind chronische Krankheiten auch ein Thema für die Heilpädagogik?

Chronisch kranke Kinder

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4 — Reportage heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013

natürlich der Erfolg der Kinder! Man darf nicht vergessen, wie sehr die Kinder auch psychisch herausgefordert sind. Wenn ein Kind nach einem Unfall nicht mehr sprechen kann und fast daran verzweifelt, weil es weiss, dass es das einmal konnte, dann ist es schön und befreiend, wenn so ein Kind dann zum ersten Mal mit wenigen Sätzen wieder eine Geschichte erzählt!»

Die Kinder bleiben zwischen ein paar Wochen und mehreren Monaten im Reha­bilitationszentrum. Anita Dutler: «Wir wis­sen, dass sie wieder gehen und freuen uns mit ihnen. Aber manchmal ist es auch gar nicht so einfach, ein Kind wieder ziehen zu lassen. Sie wachsen uns schon auch ans Herz.»

Heilpädagogik in der Psychosomatik

Während die Schule im Rehabilitationszent­rum Affoltern am Albis aussieht wie eine normale Schule, erinnert die Psychosoma­tisch­Psychiatrische Therapiestation des Kinderspitals in der Stadt Zürich im Baustil ein bisschen an ein Ferienlagerhaus: ein von aussen schlichtes Gebäude, zweigeschossig, das einen Innenhof formt bzw. umfängt. Es hat diese freundliche, farbige, leichte Aus­strahlung, die man von Häusern aus Nord­europa kennt und auch diese gescheite Funk­tionalität: im Parterre sind die Schulzimmer, Therapieräume und Büros, in der oberen

Etage ist der Wohnbereich mit persönlichen Zimmern und Gemeinschaftsräumen.

Aufgenommen werden hier Kinder und Jugendliche, die an komplexen, oft lang­dauernden pyschosomatischen Störungen (insbesondere Anorexie und Bulimie) oder anderen Krankheitsbildern leiden, welche

durch ambulante Behandlungen nicht gebes­sert werden konnten. Durch den regelmäs­sigen Austausch von psychiatrischen, psy­chologischen, heilpädagogischen und medi­zinischen Perspektiven soll eine ganzheit­liche Diagnostik und Therapie erreicht werden.

Monika Kudelski ist Primarlehrerin und Schulische Heilpädagogin. Sie unterrichtet seit 22 Jahren in der Psychosomatisch­

Psychia trischen Therapiestation: «Und ich lerne immer noch jeden Tag hinzu! Ich freue mich immer noch.» Drei Lehrpersonen ste­hen zur Verfügung: ein weiterer Primarlehrer und Heilpädagoge sowie ein Oberstufenleh­rer. In zwei Schulzimmern unterrichten sie alle Schulniveaus in Gruppen von sechs bis sieben Kindern mit jeweils individuellem Arbeitsplan. «Flexibel ist bei uns das grosse Wort», sagt Monika Kudelski, «das prägt un­sere Arbeit.» Am Morgen stehen immer vier Lektionen Schulunterricht auf dem Pro­gramm, an dem alle teilnehmen. Am Nach­mittag finden verschiedene Gruppenarbeiten statt: von Gespräch über Entspannung bis zu Kunst­Ausdruck, Ergotherapie und Psycho­motoriktherapie. Die Kinder und Jugendli­chen – von Mittelstufe bis Gymnasium – sind im Durchschnitt drei Monate lang hier. «Wir versuchen einerseits, ihnen den An­schluss an ihre Stammschule nach der Rück­kehr zu ermöglichen. Und das gelingt meis­tens. Andererseits hat die Schule hier ganz klar einen therapeutischen Auftrag.»

Das heisst etwa: Alltagskonfrontation, Tagesstruktur, aber auch interdisziplinäre Information und genaue Beobachtung. Es geht u. a. auch um Schulangst, jegliche Arten von Essstörungen, selbstverletzendes Ver­halten und somatoforme Störungen, d. h. körperliche Symptome, die anhaltend oder

Vom Recht auf Schule und der grossen Befriedigung der Lehrpersonen beim Unterrichten von kranken Kindern – eine Reportage im Kinderspital Zürich: im Rehabilitationszentrum, auf der Psychosomatisch-Psychiatrischen Therapiestation und im Akutspital.

Im Spital ist die Schule ein Dürfen, kein Müssen

Christine Loriol (Text)Thomas Burla (Fotos)

«Die inter­disziplinäre Zusammenarbeit ist intensiv.»

Anita Dutler, Lehrerin Unterstufe und SHP,

Rehabilitationszentrum Affoltern

In der Schule im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis: Schüler mit Klassenlehrerin Anita Dutler.

Drei Kinder sind an diesem Morgen da. Jedes sitzt an einem Pult, zusammen mit einer Frau, und arbeitet. Es ist ruhig, auch wenn gesprochen wird. Es sind zwei Schulzimmer, getrennt durch eine Faltwand, die an diesem Morgen offen steht: hell, freundlich, das üb­liche Interieur. Schulmaterial, Arbeiten von Kindern, ein Schreibtisch mit Computer für die Lehrerin. Das Aussergewöhnliche zeigt sich an der Pinnwand neben der Türe: Dort hängt der Stundenplan der aktuellen Woche. Ein Stundenplan pro Kind! Und darin stehen nicht nur Schulstunden, sondern auch Phy­siotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Geh­training, Sporttherapie, Neuropsychologie usw. – je nach dem.

Das eine ist das Schulzimmer von Anita Dutler. Sie ist Klassenlehrerin Unterstufe im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis, Primarlehrerin, Schulische Heilpädagogin (SHP) und seit 16 Jahren hier tätig. Wie später ihre Kollegin­nen im Akutspital und in der Psychosoma­tisch­Psychiatrischen Therapiestation sagt sie, für diese Art Lehrberuf sei eine Zusatzausbil­dung als Schulische Heilpädagogin von gros­sem Vorteil. Und wie ausnahmslos alle Kolle­ginnen betont sie, wie gross die Zufriedenheit bei dieser Art Arbeit mit den Kindern sei, getragen von einem starken Gefühl von Sinn.

Grosse Wertschätzung der Schule

Rund 50 Kinder und Jugendliche werden im Rehabilitationszentrum von Lehrpersonen, pädagogischen Mitarbeiterinnen und Prak­tikantinnen schulisch betreut. Als Teil des Rehabilitationsprogrammes wird der Schul­unterricht individuell mit den verschiedenen Therapien abgestimmt. Deshalb werden von den Disponentinnen der Institution wö­chentlich um 4’000 Termine für die unter­schiedlichen Rehabilitationsaktivitäten der Schülerinnen und Schüler geplant.

Unterrichtet werden Kinder bereits im Vorschulalter (bis Vierjährige in der heilpäda­ gogischen Früherziehung), im Schulalter im Kindergarten und auf Unter­, Mittel­ und Oberstufenniveau sowie in zwei heilpädago­gischen Förderklassen. Alle Kinder haben einen individuell abgestimmten Förderplan, und es finden Absprachen mit der Her­kunftsschule statt. Schulleiter Richard Kiss­ling: «Auch Kinder im Spital oder in einem Rehabilitationsprozess haben ein Recht auf Schule.» Für sie kann die Schule auch das Highlight des Tages sein, eine Struktur, die sie trägt und die etwas Normalität in den Spitalalltag bringt. «Dann sind sie Schülerin­nen und Schüler – und nicht primär Patien­ten», sagt Richard Kissling. «Die Schule ist ein Ort, an dem es darum geht, was sie (noch) können und wie sie eigene Ressourcen zum Wiederaufbau von Fehlendem oder zu Kom­pensationsstrategien nutzen können.» Und die Schule ist auch der Ort, «an dem der Schmerz einmal Pause macht.»

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist intensiv, die Wertschätzung der Schule im Rehabilitationszentrum sehr gross. «Wir ha­ben Zugang zu allen Informationen und ste­hen in ständigem Austausch», sagt Klassen­lehrerin Anita Dutler. Dies mache einen Teil ihrer beruflichen Zufriedenheit aus, «und

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Page 5: "heilpädagogik aktuell", Frühjahr 2013, Nr. 8

4 — Reportage heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013

wieder­holt­auftreten­und­für­die­keine­aus-reichenden­Erklärungen­gefunden­werden­können.­«Es­ ist­alles­wichtig­ im­Austausch­mit­den­therapeutischen­und­medizinischen­Fachleuten.»­Ein­Leitsatz­heisst:­«Die­Lehr-personen­sehen­und­denken­therapeutisch,­handeln­ jedoch­ stets­ als­ Schulpädagogen.»­Der­Unterricht­soll­der­«Begegnung­mit­der­Realität­dienen»­und­die­Kinder­durchaus­auch­ablenken­vom­dauernden­Kreisen­um­ihre­ Probleme.­ Diesen­ Aspekt­ bestätigen­auch­die­beiden­Schülerinnen,­denen­­Monika­Kudelski­den­Auftrag­gegeben­hat,­der­Besu-cherin­das­Haus­zu­zeigen:­«Ich­bin­froh­um­den­Unterricht»,­sagt­die­eine.­«Es­gibt­mir­viel,­einen­normalen­Alltag­zu­haben.»

Wieder Schüler sein, nicht Patient

Der­Schulalltag­kann­in­sehr­aussergewöhn-lichen­Situationen­in­einer­einzelnen­Stunde­Platz­finden.­Und­dann­ist­er­nicht­weniger­wichtig,­ganz­im­Gegenteil.­Im­Kinderspital­der­ Universitätskliniken­ Zürich­ erwartet­Christine­ Walser­ die­ Besucherin­ in­ der­Spital­schule.­Diese­besteht­aus­einem­Schul-zimmer­mit­zwei­Pulten,­einem­Werkraum,­einem­Kindergartenraum­und­Arbeitsplätzen­für­die­Lehrpersonen.­Christine­Walser­ ist­Primarlehrerin­und­Schulische­Heilpädago-gin.­Sie­hat­zum­Arbeiten­nicht­nur­ein­Schul-zimmer,­sondern­auch­ein­Schulmobil:­ein­

zur­Bibliothek­und­zur­Materialsammlung­umfunktioniertes­«Servier-Wägeli»,­bestückt­mit­Farbstiften,­Lineal,­Aufgabensammlun-gen,­Lernspielen­und­Arbeitsblättern.

«Mobile­Kinder­kommen­ins­Schulzim-mer­zum­Unterricht,­wenn­es­irgendwie­geht­auch­in­kleinen­Gruppen»,­erklärt­Christine­Walser.­Einerseits­könne­die­Schule­und­das­Lehrteam­so­die­knappen­Ressourcen­besser­nutzen,­ andererseits­ sei­ es­wichtig­ für­die­Kinder,­«auch­wieder­einmal­Schülerin­oder­Schüler­zu­sein,­nicht­immer­Patient».­Zu­den­anderen­Kindern­kommt­eine­Lehrerin­mit­ihrem­Schulmobil­oder­der­Werklehrer­mit­seinen­Plastikboxen,­ in­denen­das­ speziell­gereinigte­Material­ zweifach­ in­Säcke­ver-packt­ist.­Kinder,­die­im­Akutspital­unterrich-tet­werden,­haben­eine­Krankheit,­die­akute­Behandlung(en)­verlangt­–­auch­wenn­das­in­gewissen­Fällen­Wochen,­Monate­oder­ein­Jahr­dauern­kann:­vor­oder­nach­schweren­Operationen,­ Herzpatienten,­ Kinder­ mit­Verbrennungen­oder­mit­Komplikationen­nach­Operationen,­Kinder­mit­Infektionen­oder­Krebs,­Kinder­in­Isolierzimmern,­deren­Immunsystem­beispielsweise­vor­einer­Kno-chenmark-Transplantation­ «heruntergefah-ren»­wird­und­die­dann­eben­ ihre­Schul-sachen­in­gereinigten­Boxen­bekommen.­

Oder­Kinder,­die­auf­eine­Niere­warten­und­in­dieser­Zeit­mehrmals­pro­Woche­ins­

Kinderspital­zur­Dialyse­kommen,­wie­der­Zweitklässler,­den­Christine­Walser­an­die-sem­Morgen­mit­ihrem­Schulmobil­besucht­und­über­dessen­Gesicht­ein­Strahlen­geht,­sobald­er­die­Lehrerin­in­der­Türe­erblickt.

Mit dem Schulmobil zur Dialyse

Während­ ein­ Maschinenturm­ sein­ Blut­wäscht,­setzt­sich­die­Lehrerin­zu­ihm.­Schon­nach­wenigen­Minuten­nehmen­die­beiden­nicht­mehr­wahr,­was­um­sie­herum­passiert.­Sie­ rechnen.­Das­Lehren­und­das­Lernen­scheinen­genau­gleich­viel­ Freude­ zu­ma-chen.­ Im­Nu­ ist­ die­ Stunde­ vorbei.­ Frau­­Walser­muss­weiter.­

«Dieses­Kind­braucht­den­Unterricht­nicht­zuletzt,­um­den­Anschluss­nicht­zu­ver-passen.­Er­kommt­aus­der­Zentralschweiz­nach­Zürich­zur­Dialyse,­zweimal­pro­Woche­

und­wartet­seit­einem­halben­Jahr­auf­eine­Niere.­In­dieser­Zeit­hätte­er­einfach­zu­viele­Absenzen­und­müsste­ohne­Spitalunterricht­vermutlich­eine­Klasse­wiederholen.»­

Christine­Walser­und­ihre­Kolleginnen­im­Kinderspital­haben­fast­alle­eine­Zusatz-ausbildung­ als­ Schulische­ Heilpädagogin.­«Das­setzt­sich­je­länger­je­mehr­durch.­Die­Förderdiagnostik­und­Förderplanung­muss­man­aus­dem­Ärmel­schütteln­können.­Man­muss­ein­Kind­sehr­schnell­richtig­einschät-zen­können.­Die­Kinder­sind­in­einer­so­ver-unsichernden­Situation,­dass­man­ihr­Niveau­sofort­treffen­muss.­Man­darf­sie­nicht­unter-fordern,­ sonst­haben­ sie­das­Gefühl:­ ‹Jetzt­denken­alle,­mein­Kopf­ist­auch­nicht­mehr­gut›.­Und­wenn­man­sie­in­so­einer­Situation­überfordert,­ist­das­ein­Riesenstress.»

Wenn das Ende nicht mehr weit ist

Und­was­ist,­wenn­das­Ende­nicht­mehr­weit­ist?­Die­Schule­weist­ ja­ immer­auch­in­die­Zukunft.­Was,­wenn­ein­Kind­nicht­mehr­viel­Zukunft­vor­sich­hat­und­den­baldigen­Tod­vor­ Augen?­ Geht­ es­ zur­ Schule­ bis­ zum­Schluss?­Anita­Dutler­hat­damit­Erfahrung:­«Ein­todkrankes­Kind­geht­solange­zur­Schu-le,­wie­es­mag­und­Freude­daran­hat.­Und­es­kann­sehr­lange­Freude­daran­haben.­Als­wir­noch­externe­Schüler­hatten,­kam­ein­Junge­täglich­im­Taxi­zur­Schule,­denn­die­Schule­war­Teil­ seines­Lebens.­Er­ ging­gerne­ zur­Schule,­bis­einen­Monat­vor­seinem­Tod.­Es­gab­für­ihn­keinen­Grund,­weshalb­er­nicht­hätte­kommen­sollen.­Die­Schule­weist­nicht­nur­in­die­Zukunft,­sie­ist­für­das­Kind­auch­Gegenwart­ –­ und­ damit­ Lebensqualität.»­Oder,­wie­Christine­Walser­es­formulierte:­«Wir­wollen­den­Kindern­auch­positive­Spi-talerlebnisse­ ermöglichen.­ Schule­ kann­manchmal­auch­ein­Wunschprogramm­sein.»

Christine Loriol ist Journalistin und Texterin und lebt in Zürich und Berlin.

Im Spital ist die Schule ein Dürfen, kein Müssen

Spital- und Klinikschulen

Das Akutspital in Zürich-Hottingen, das Rehabilitationszentrum Affoltern am Albis und die Psychiatrisch-Psychosomatische Therapiestation in Zürich bilden die drei Behand-lungsbereiche des Kinderspitals Zürich. Die zum universitären Kinderspital gehörende Spitalschule unterrichtet stationär untergebrach-te Kinder in diesen drei Bereichen. Das Kinderspital Zürich ist das grösste Zentrum für Pädiatrie und Kinderchirurgie in der Schweiz. Es beschäftigt rund 2’000 Mitarbei-tende, bietet gut 200 Betten und betreut jährlich knapp 7’000 stationäre und rund 80’000 ambu- lante Patienten. Im Auftrag der Universität bildet es Ärzte und Pflegende in Kinderheilkunde und Kinderchirurgie aus. Die Trägerschaft des Kinderspitals Zürich ist die seit 1868 bestehende Eleonorenstiftung, eine private, gemeinnützige Stiftung. Im Stiftungsrat sind auch Delegierte des Regierungsrats des Kantons Zürich und des Zürcher Stadtrats vertreten.

In der Schule im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis: Schüler mit Klassenlehrerin Anita Dutler. Schulmobil im Akutspital. Unterricht auf der Psychosomatisch-Psychiatrischen Station mit Monika Kudelski.

«Flexibel ist bei uns das grosse Wort!»

Monika Kudelski, Lehrerin und SHP, Psychosomatisch-Psychiatrische

Therapiestation

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Dr. Lars Mohr

Jedes Jahr erkranken in der Schweiz bis zu 250 Kinder und Jugendliche an Krebs. Für das Alter von 0 bis 14 Jahren zählt das Schwei-zer Kinderkrebsregister 1’941 Diagnosen im Zeitraum von 2002 bis 2011 (siehe «annual report 2011–2012», S. 22 f., www.kinderkrebs-register.ch). Jede der Diagnosen ist ein Schicksalsschlag für die Patienten wie für ihre Familien. Zwar sind die Heilungschan-cen im Kindes- und Jugendalter grösser als bei Erwachsenen, dennoch handelt es sich um sehr ernste Erkrankungen. Von den Be-troffenen und den Angehörigen verlangen sie alle Kräfte. Wie geht man damit um? Wie lässt sich die Krankheit in psychischer Hinsicht bewältigen? Wie verläuft ein Coping – so der englische Fachbegriff für Bewäl­tigung – und was kann eine pädagogische Begleitung tun?

Mit diesen Themen haben sich Christine Fluri und Franziska Flury während ihres Stu-diums eingehend auseinander gesetzt. Sie absolvierten von 2006 bis 2009 den Master-studiengang «Sonderpädagogik mit Vertie-fungsrichtung Schulische Heilpädagogik» (SHP) an der HfH. Gemeinsam verfassten sie ihre Abschlussarbeit über «Coping bei Krebs-erkrankungen im Kindes- und Jugendalter».

Interviews mit Betroffenen

Ausführlich kommen in der Masterarbeit Betroffene zu Wort. Aus forschungsethischen Gründen befragten die Autorinnen jedoch keine Kinder mit akuter Erkrankung, son-dern retrospektiv junge Erwachsene. Ent-sprechend formulierten sie die Fragestellung: «Wie beschreiben und beurteilen junge Erwachsene in der Rückschau ihr Coping mit ihrer Krebserkrankung im Kindes- und Jugend alter? Welche pädagogischen Konse-quenzen lassen sich daraus ziehen?» Fluri und Flury führten Leitfadeninterviews mit fünf Frauen, eine sechste beantwortete die Fragen schriftlich. Die Diagnose «Krebs» er-hielten die Auskunftspersonen im Alter zwi-schen elf und 16 Jahren. Den Kontakt zu ihnen ermöglichte vor allem die Selbsthilfe-gruppe Childhood Cancer Survivors Swit-zerland (www.survivors.ch).

Für die Auswertung der Befragung stützten sich Fluri und Flury hauptsächlich auf das Analysemodell kritischer Lebens-ereignisse von Sigrun-Heide Filipp, Psycho-logie-Professorin an der Universität Trier. Anschaulich arbeiten die Autorinnen heraus,

dass der Umgang ihrer Gesprächspartnerin-nen mit der Erkrankung und deren Behand-lung stets individuell geprägt ist.

Eine der Frauen schildert etwa, wie sie angesichts der schmerzhaften Therapie aus-fällig reagierte. Sie habe zuweilen «geflucht und […] ausgeschlagen». Anders klingt es bei einer zweiten Gesprächspartnerin. Sie be-schreibt sich nach aussen als widerstandslos: «Ich sagte immer nur ja, war mit allem ein-verstanden.» Stattdessen berichtet sie von starken psychischen Folgen wie depressiven Gefühlen, sozialem Rückzug, Schlafschwie-rigkeiten und Angst.

Neben den Unterschieden im Coping­Verhalten zeigt die Arbeit von Fluri und Flury durchaus Gemeinsamkeiten in den Coping­Themen, d. h. in den Herausforderungen, vor denen die Betroffenen stehen. So äussern alle Frauen, dass ihren Krebs-Diagnosen eine Zeit der Fehleinschätzungen und teilweise der Unterstellungen vorausging. Zum kör-perlichen Unbehagen kam somit das Gefühl hinzu, nicht ernst genommen zu werden. Eine der Interviewten erzählt: «Ich hatte ja, seit ich sieben war, immer Kopfschmerzen und keiner wusste warum. Es hiess immer: Simulant, der nicht in die Schule will.» Über-einstimmend nennen die Befragten als wich-tige Coping­Themen zudem: den Haarausfall während der Therapie, den grossen Einfluss wechselnder Gesundheitszustände oder das Finden von Ausdrucksmöglichkeiten für die eigenen Gefühle wie zum Beispiel Malen, Anlegen von Fotoalben oder Tagebuch- Schreiben.

Die Bedeutung von Familie und Schule

In den sozialen Beziehungen erlangt die Fa-milie höchste Bedeutung: Mutter, Vater, Ge-schwister, nahe Verwandte. «Das beschrei-ben auch diejenigen Befragten, welche zum Zeitpunkt der Diagnose am Anfang der Pu-bertät und damit eigentlich in einer Phase der Ablösung standen», betonen Fluri und Flury. Als wesentlich geringer beurteilen die Inter-viewpartnerinnen die Relevanz der Schule. Dennoch lassen sich aus ihren Aussagen zu-mindest drei Hinweise gewinnen: Erstens haben die Befragten die Krankenbesuche ihrer Lehrpersonen geschätzt, aber nur, wenn sie diese als authentisch erlebten. Das heisst: mit ehrlichem Interesse an ihrer Per-son und einer gewissen Unbeklommenheit gegenüber der Erkrankung. Zweitens sollte die Regel-Schule dafür sorgen, dass die Lehr-personen im Spital über den Lernstand des Kindes genau Bescheid wissen. Drittens gilt es, die Wiederaufnahme des Kindes in die «alte» Schule nach dessen Bedürfnissen zu gestalten, zum Beispiel – sofern gewünscht – die Klasse über den Verlauf der Krankheit und der Genesung vorab zu informieren. Dies hilft, bei der Rückkehr nicht immer dieselben Fragen beantworten zu müssen. Und schliesslich ist eine pädagogische Ein-sicht festzuhalten, die Christine Fluri und Franziska Flury in die Worte fassen: «Nach-vollziehbar scheint uns, dass die Schule auch aus Sicht der Eltern an Gewicht verlieren kann, wenn das eigene Kind schwer krank im Spital liegt.»

Dr. Lars Mohr ist an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik im Masterstu-diengang Sonderpädagogik in der Lehre tätig.

Welche Möglichkeiten der Bewältigung finden Kinder und Jugendliche mit einer Krebserkrankung? Ergebnisse einer Masterarbeit aus heilpädagogischer Perspektive.

Beim Coping half vor allem die Familie

Masterarbeit

C. Fluri und F. Flury absolvierten das SHP-Studium mit dem Schwerpunkt «Pädagogik für Körper- und Mehr-fachbehinderte» bzw. «Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinde-rung». Heute arbeiten die Fachperso-nen in der Integration: C. Fluri auf der Primarschulstufe in verschiedenen Gemeinden für das Zentrum für körper- und sinnesbehinderte Kinder und Jugendliche Solothurn, und F. Flury in einem Kindergarten in Langendorf SO. Die Masterarbeit ist verfügbar über htp://biblio.uzh.ch.

6 — Masterarbeit heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013

Ein Junge (acht Jahre alt) zeichnet zwei Raumschiffe, die mit der Erde kämpfen.

Der Junge ist in dem kleinen Raumschiff, das abstürzt.

Ein Junge (zehn Jahre alt) malt im Sommer Bäume ohne Laub und Erde, die nicht grünt.

Als er den schwierigsten Teil seiner inneren Auseinandersetzung hinter sich hat,

zeichnet er im Winter ein Bild, das zeigt, dass er jetzt an Kontakten interessiert ist

und sich dem Leben wieder neu zuwendet. Qu

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Sabine Hüttche (Interview)

Das Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen ist ein wichtiger Eckpfeiler in der Grund- und Notfallversorgung der vier Kantone SG, TG, AI, AR und des Fürstentums Liechten-stein. Der Leistungsauftrag verpflichtet das Spital, Kinder und Jugendliche in der Phase ihrer Krankheit zu betreuen und auf dem Weg zum Gesundwerden zu begleiten. Regierungsrätin Heidi Hanselmann gibt Auskunft über das Angebot der Spitalpäda-gogik.

Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit Spitalschulen? Das Angebot ist aus meiner Sicht sehr wert- und bedeutungsvoll. Es stellt sicher, dass Kinder, die länger im Spital bleiben müssen, nicht auch noch eine massive Benachteili-gung in Bezug auf die schulischen Anforde-rungen oder Lernnachholbedarf bewältigen müssen. Zudem bringt dieses Angebot etwas Normalität in den Spitalalltag und auch Ab-wechslung.

Wie viele Kinder und Jugendliche nutzen das Angebot der Spitalschule derzeit?Von der Abteilung Spitalpädagogik des Ost-schweizer Kinderspitals werden aktuell 30 Jugendliche schulisch begleitet. In der Abtei-lung Onkologie / Hämatologie sind derzeit fünf, in der Chirurgie zwei, in der Psychoso-matik / Medizin elf, in der Psychosomatischen Therapiestation «Romerhuus» neun und im Schlupfhuus des Kinderschutzzentrums drei Kinder und Jugendliche. Alle Schülerinnen und Schüler, deren Gesundheitszustand es ermöglicht, besuchen das Lernatelier. Die onkologischen Patientinnen und Patienten werden auf der Station unterrichtet.

Wie steht es um die Schul- bzw. Bildungs-pflicht während eines Spitalaufenthaltes? In Spitälern bzw. Kliniken bestehen schuli-sche Angebote für hospitalisierte Kinder. Damit sollen die Ausfälle im Unterricht am schulrechtlichen Aufenthaltsort überbrückt werden. Diese sogenannten Spitalschulen oder Klinikschulen sind in Organisation und Unterricht frei auf die Befindlichkeit der Kin-der ausgerichtet. Sie gelten weder als Sonder- noch als Privatschulen, sondern als öffent­liche bzw. im öffentlichen Auftrag geführte schulische Angebote. Die Gemeinden, wel-che für die Beschulung der Kinder grund-sätzlich verantwortlich sind, entschädigen die Trägerschaften der Kliniken für den Auf-wand, so legt es das Schulrecht der Volks-schule im Kanton St. Gallen fest.

Welche spitalpädagogischen Angebote stehen den Betroffenen zur Verfügung?Das Angebot des Lernateliers umfasst Pro-jektunterricht, Individualunterricht, Werken und Spielen und den Hort. Das pädagogische Angebot wird individuell auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten ausgerichtet, es reicht von der Ermöglichung einer «posi-tiven Lernerfahrung» bis zur Unterstützung in der Vorbereitung, z. B. auf eine Aufnahme-prüfung an der Kantonsschule.

Welche beruflichen Qualifikationen haben die Mitarbeitenden? Gibt es

Regierungsrätin Heidi Hanselmann, Gesundheitsdepartement des Kantons St. Gallen. (Foto: privat)

«Spitalschulen sind sehr wert- und bedeutungsvoll»

Regierungsrätin Heidi Hanselmann, Vorsteherin des Gesundheitsdepartementes, beantwortet Fragen zur Spitalpädagogik am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen.

heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013 Interview — 7

Heilpädagoginnen, Logopäden oder Psychomotoriktherapeuten bei Ihnen?Das Team des Lernateliers setzt sich aus einer Kindergartenlehrperson, einem Primarleh-rer, drei Oberstufenlehrpersonen, einer Heil-pädagogin und einer Praktikantin zusam-men. Logopädie und andere therapeutische Disziplinen werden im Kinderspital angebo-ten, gehören aber nicht zur Abteilung Spital-pädagogik.

Welche Massnahmen liegen Ihnen besonders am Herzen? An erster Stelle steht das Wohlbefinden des Kindes und des Jugendlichen. Da sein zu können, ohne dass die Krankheit oder schwierige Situation im Zentrum steht. Das Lernatelier soll ein Ort sein, wo «Normalität» stattfindet: soziale Kontakte, Motivation und Spass, Arbeit und Kreativität, Regeln und Pflichten. Bei der Zielsetzung für den Auf-enthalt im Lernatelier setzen wir stark auf die Partizipation der Jugendlichen, um die Eigen-verantwortung zu unterstützen. Die interdis-ziplinäre Zusammenarbeit ist ein wichtiges Qualitätsstandbein.

Wie wird der Austritt vorbereitet? Die Lehrpersonen des Lernateliers stehen im Kontakt mit den Klassenlehrpersonen der Schülerinnen und Schüler. Nach einem län-geren Aufenthalt ab ca. zwei Monaten wird der schrittweise Einstieg mit den interdiszi-plinären Teams geplant. Für die Kinder und Jugendlichen der Station für Onkologie / Hä-matologie wird im Anschluss an den Spital-aufenthalt die Heimbeschulung eingerichtet und danach die Rückkehr in die Klasse vor-bereitet.

Was machen Sie im Kanton St. Gallen anders als andere Kantone? Und warum?Speziell ist im Ostschweizer Kinderspitals sicherlich, dass die Kinder und Jugendlichen nicht auf den Zimmern unterrichtet werden, sondern sich im Lernatelier zum gemein-samen Lernen, Arbeiten und Spielen treffen. Das hängt damit zusammen, dass das Kin-derspital über eine grosse psychosomatische Station und eine Therapiestation verfügt, wo Kinder und Jugendliche oftmals über Monate leben. Für sie ist das Lernatelier ein wichtiger Teil der Tagesstruktur.

Welchen Bezug haben Sie zur Interkanto-nalen Hochschule für Heilpädagogik? Welche Rolle spielen die Ausbildungen Sonderpädagogik, Logopädie und Psychomotoriktherapie für Sie?Als ehemalige Studentin der HfH weiss ich nicht nur aus Büchern, was diese Ausbildun-gen für die optimale Betreuung von Kindern und Jugendlichen zu leisten vermögen, son-dern bin auch durch mein Erfahrungswis-sen – 13jährige logopädische Tätigkeit am Zentrumsspital mit Leitungsfunktion – da-von überzeugt, dass Kliniken genügend Praktikumsstellen für diese wertvollen Kom-petenzen anbieten müssen.

Heidi Hanselmann ist seit 2004 Vorsteherin des Gesundheitsdepartementes des Kantons SG. Davor leitete die Lehrerin und Logopädin (Abschluss 1992 am Heilpädagogischen Seminar Zürich, heute HfH) die Abteilung Logopädie am Kantonsspital St. Gallen. Sabine Hüttche ist Mitarbeiterin im Rektorat der HfH und zuständig für die Hochschulkommunikation.

Viele Fachpersonen engagieren sich für die Rechte von kranken Kindern.

Seit 1961 bildeten sich in vielen euro-päischen Ländern Selbsthilfegrup-pen, die sich für kindgerechte und familienorientierte Aufenthaltsbe-dingungen von Kindern im Spital einsetzten. Der Schweizer Verein «Kind+Spital» wurde 1978 gegründet. Er setzt sich für die Rechte von Kin-dern und Jugendlichen im Gesund-heitswesen ein und ist politisch und konfessionell neutral. Mitglieder sind engagierte Eltern, Kinderärzte und -ärztinnen, pädiatrische Pflegefach-kräfte, Pädagoginnen, Psychologen und weitere Personen, denen die Gesundheit und das Wohl von Kin-dern ein Anliegen ist. Im Jahr 1993 folgte die Gründung eines europä-ischen Dachverbands EACH (Euro-pean Association for Sick Children in Hospital).

1988 schlossen sich auch die Lehrpersonen an Spitalschulen im europäischen Verband HOPE (Hos-pital Organisation of Pedagogues in Europe) zusammen. Die im Jahr 2000 in Barcelona von ihnen verabschiede-te Charta umfasst zehn Grundsätze. An erster Stelle steht: «Jedes kranke Kind und jeder Jugendliche hat das Recht auf Unterricht im Krankenhaus oder zu Hause». Die im Jahr 2009 im Schweizer Nationalrat von Chantal Galladé (SP) eingereichte parlamen-tarische Initiative «Bildung für chro-nisch kranke Kinder» zur Schaffung gesetzlicher Bestimmungen betref-fend Bildung von chronisch kranken Kindern und zur Regelung der Finan-zierung von Spitalschulen in Zent-rumsspitälern wurde von Christine Walser (HOPE) und von Spitaldirek-toren, Hochschulvertretern sowie Elternvereinigungen unterstützt.

www.kindundspital.ch www.each-for-sick-children.org www.hospitalteachers.eu

Netzwerke

Neue Materialien.Ideenbörse. Veranstaltungen.

Das Didaktische Zentrum bietet ein Forum für aktuelle Konzepte, Innova tionen und Gedankenaustausch im heil pädagogischen Bereich.

Mehr Infos und Newsletterunter www.hfh.ch

Didaktisches Zentrum an der HfH

Interkantonale Hochschulefür Heilpädagogik

Schaffhauserstrasse 2398050 Zürich

www.hfh.ch

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Studieninformation am 17. April 2013Informationstag zu

BachelorstudiengängenDozierende der HfH informieren über das Studium der Logopädie, Psychomotorik­therapie und des Gebärdensprach dolmetschens. Von 15.00 bis 17.00 Uhr.

Ringvorlesung am 18. April 2013Erblindung im jungen Erwachsenenalter

– Krise, Herausforderung, Chance?Es referieren Prof. Dr. Ursula Hofer (HfH) und Alexander Wyssmann, Lehrer und Musiker. Beginn: 18.00 Uhr.

Studieninformation am 15. Mai 2013Informationstag

Masterstudiengang SonderpädagogikDozierende der HfH informieren über das Studium der Sonderpädagogik mit den Vertiefungsrichtungen Schulische Heil­pädagogik und Heilpädagogische Früherzie­hung. Von 15.00 bis 17.00 Uhr.

Kinder-Uni am 5. Juni 2013«Darf ich mich vorstellen? Orion, Blindenführhund!»

Mit Sybille Brütsch­Prévôt. Beginn: 14.00 Uhr. Anmeldung erforderlich, Eintritt frei. Weitere Termine der Kinder­Uni unter www.hfh.ch.

Tagung am 28. Juni 2013 Selbstbestimmt leben:

Zukunftsplanung im LebenslaufDie Zukunftsplanung ist ein wesentliches Ele­ment zur Förderung der Selbstbestimmung von Personen mit Behinderung. Die Tagung stellt Konzepte und Forschungsergebnisse vor.

Tagung am 20. September 2013Früh Chancen nutzen: Logopädie bei

Kindern im VorschulbereichDie HfH­Tagung in Kooperation mit dem Kinderspital Zürich positioniert die Logopä­die als wichtige Anbieterin und Partnerin im Arbeitsfeld der Frühförderung.

Tagung am 9. November 2013 Fit für die Berufslehre!

An der Tagung werden innovative Ansätze zur Berufswahlvorbereitung für Jugendliche mit Behinderung sowie aktuelle Trends in der Berufsbildungslandschaft aufgezeigt.

Zusatzausbildungen

September 2013— CAS Musik und Gestaltung in der Heil­pädagogik (Kurs 03) — CAS Logopädie bei Kindern mit geistiger Behinderung (Kurs 04)— CAS Autismus­Spektrum­Störung (ASS) im Kindes­ und Jugendalter: Grundlagen, Interventionen und Perspektiven (Kurs 05)— CARE­Index: Analyse früher Interaktionen zwischen Kind und Bezugsperson (Kurs 07)

November 2013— CAS Gerontologie in der Sozial­ und Heilpädagogik (Kurs 06)

Ausgewählte Weiterbildungskurse

April 2013— Onlinekurs Neurowissenschaften und Heilpädagogik (Kurs 77) — Kommunikation, Lesen, Schreiben bei Kindern mit schweren Körperbehinderungen (Kurs 16)— Wahrnehmungsstörungen im Schulalter: Erscheinungsbilder, Interpretation, Förderung (Kurs 43)— Workshop «Alltagspflege» eines Menschen mit Mehrfachbehinderung in der Institution oder zu Hause (Kurs 58)— Wie weiter nach der Schule? Eine praxis nahe Einführung in die Berufs(wahl)­vorbereitung auf der Oberstufe (Kurs 60)— Berufswahlprozesse gestalten für Jugend­liche mit einer Sehschädigung (Kurs 61)

Mai 2013— Übergang Schule – Berufsausbildung für Jugendliche mit Lern­, Körper­ und Mehr­fachbehinderungen (Kurs 62) — Integration von Kindern mit besonderen Voraussetzungen im Religionsunterricht (Kurs 29) — Kommunikationsanbahnung bei schwerer körperlicher Behinderung (Kurs 62) — Wahrnehmung der Welt und Aufbau von Vorstellungen (Kurs 42)— Workshop «Wenn bei Menschen mit einer Mehrfachbehinderung auch das Sehen beeinträchtigt ist!» (Kurs 55)

Agenda ImpressumWeiterbildung

heilpädagogik aktuellMagazin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, ISSN 2235-0055

Auflage10’000 Exemplare

ErscheinungsweiseJeweils März, Juni und November

HerausgeberInterkantonale Hochschule für HeilpädagogikSchaffhauserstrasse 239Postfach 5850CH-8050 ZürichTelefon +41 (0)44 317 11 11Telefax +41 (0)44 317 11 10www.hfh.ch

VerantwortlichProf. Dr. Urs Strasser

KonzeptIrene Forster

RedaktionSabine Hüttche (Redaktionsleitung), Christine Loriol, Dr. Lars Mohr

Autorinnen dieser AusgabeProf. Dr. Susanne Schriber, Christine Walser

GestaltungBodara GmbH, www.bodara.ch

FotografieThomas Burla, www.thomasburla.ch (S. 1–5), Zodiac Pictures Ltd. (S. 8)

DruckPeter Gehring AG, Winterthurwww.petergehring.ch

HinweisWegen der besseren Lesbarkeit verwenden wir geschlechtsneutrale Bezeichnungen oder abwechselnd die weibliche und männliche Form.

AbonnementHaben Sie schon ein Abo von «heilpädagogik aktuell»? Falls nicht, bestellen Sie es kostenlos über www.hfh.ch oder [email protected].

— Förderung des räumlichen Vorstellungs­vermögens bei Kindern mit motorischen Erfahrungsdefiziten (Kurs 54) — Beratungskompetenzen erwerben und erweitern (Kurs 40)— Ressourcenorientiertes Selbstmanagement für den Berufsalltag (Kurs 30)— Gemeinsam geht’s besser? Im Team leiten als Geschäfts-Leitung, Co-Leitung, Leitungs­Team (Kurs 74)

Juni 2013— Entwicklungsförderung im Dialog: Syste­mische Bewegungstherapie im Praxisfeld der Heilpädagogischen Früherziehung (Kurs 69)— Grundlagen der Audiologie und Audio­metrie (Kurs 41) — Frühförderung von Kindern mit Down­Syndrom (Kurs 67)— Förderung von Jugendlichen mit Down­Syndrom im Schulalter (Kurs 64)— Einsatz von Bewegung für Stimme und Sprechen bei Kindern und Jugendlichen mit Hör­ und Sprechbeeinträchtigung (Kurs 17)— ADHS im Vorschul­ und frühen Schulalter (Kurs 48)— Networking und Fundraising (Kurs 73)— Workshop «Routinen, die weiter­bringen … ?» Ritualisiertes Handeln in der Begleitung von Menschen mit Mehrfach­behinderung (Kurs 56)

August 2013— Grundkurs Basale Stimulation® in Heil pädagogik und Therapie (Kurs 21) — Trauma und seine Bedeutung im Schul alltag (Kurs 28)

September 2013— Geschichte der Logopädie in Zürich – eine Stadtwanderung (Kurs 12)— Perspektiven Psychomotorischer Präven tion (Kurs 18)

AnmeldungKursdaten, Detailprogramme, die Anmeldung – sowie alle weiteren Kurse – finden Sie unter www.hfh.ch/weiterbildung.

Weiterbildungsprogramm 2013Bestellungen des Weiterbildungsprogramms 2013 bitte an HfH, Bereich Weiterbildung und Zusatzausbildungen, per Email: [email protected] oder Telefon: 044 317 11 81.

8 — Aktuelles heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013

Sie heissen Jonas, Michi, Benji, Kevin und Sascha, sind zwischen zehn und 18 Jahren alt und teilen sich auf der onkologischen Station eines Spitals das Zimmer. Vier von ihnen haben Krebs, der fünfte wartet auf seine Diagnose. Während andere Jugendliche feiern und die erste Liebe erleben, müssen sie sich mit Diagnosen und Behandlungs­methoden befassen. Trotzdem sind die «Stationspiraten» auch und vor allem Kinder. Jeder reagiert anders auf die schwierige Situation. Ob­wohl Benjis Bein schmerzt, hält er die Station bei Laune mit lockeren Sprüchen. Michi wartet auf seine Beinprothese und hat den ehrgei­zigen Plan, bald wieder auf dem Fussballplatz zu stehen, und Kevin spürt dank Laura vom siebten Stock Schmetterlinge im Bauch. Gemeinsam lachen sie der schwierigen Krankheit ins Gesicht.

Grund lage für das Drehbuch war das autobiografische, spanische Theaterstück «Los Pelones». Mit den «Stationspiraten» hat der Schwei­zer Erstlingsregisseur Michael Schaerer im Jahr 2010 den Publikums­preis beim Zürich Film Festival gewonnen.

2010 (CH), 93 Minuten, ab sechs Jahre, Schweizerdeutsch mit Untertiteln, Regie: Michael Schaerer, Infos auf www.stationspiraten.ch. DVD erhältlich unter anderem bei exlibris für CHF 14.90.

DVD-Tipp: «Stationspiraten»

Die nächste Ausgabe von «heilpädagogik aktuell» erscheint im Juni 2013.

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