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Heinrich Schönker Ich war acht und wollte leben Eine Kindheit in Zeiten der Shoah Aus dem Polnischen von Krzysztof und Sabine Lipi´ nski Mit einem Vorwort von Charlotte Knobloch Patmos

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Heinrich Schönker

Ich war achtund wollte lebenEine Kindheit in Zeiten der Shoah

Aus dem Polnischen vonKrzysztof und Sabine Lipinski

Mit einem Vorwort vonCharlotte Knobloch

Patmos

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Titel der polnischen Originalausgabe:Dotknięcie aniołaOśrodek Karta © 2005, 2006 Henryk Schönker

Dieses Buch widme ich meinen Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© der deutschen Übersetzung2008 Patmos Verlag GmbH & Co. KG, DüsseldorfAlle Rechte vorbehalten Printed in Germany ISBN 978-3-491-35023-6www.patmos.de

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Inhaltsverzeichnis

7 Vorwort von Charlotte Knobloch

9 Unser Leben vor dem Krieg18 Auschwitz45 Krakau61 Wieliczka

111 Tarnów145 Bochnia161 Bergen-Belsen189 Tröbitz227 Auschwitz nach dem Krieg

231 Nachwort für die deutsche Ausgabe233 Danksagung234 Anmerkungen

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Vorwort

Heinrich Schönkers Erinnerungen an die Jahre der Verfolgung undder Vernichtung des europäischen Judentums sind ein weitereserschütterndes Dokument der Unfassbarkeit der Tragödie, die dienationalsozialistische Rassenideologie über die Menschen gebrachthat. Er beschreibt die Jahre der Verfolgung aus seiner damaligenSicht als Kind, das leben will und das um dieses Leben kämpft – umsein eigenes und um das Leben seiner Familie und Freunde. Auchin den Augenblicken der lähmenden Angst trägt der kleine Heinrichdie unerschütterliche Überzeugung in sich, dass er und seine Fami-lie überleben werden.

Dieses Zeugnis ist in verschiedener Hinsicht ein Dokument, dastiefe Eindrücke hinterlässt. Zunächst verbleiben wir sprach- und fas-sungslos angesichts von so viel Leid, Tod und Grauen – ebenso wieHeinrichs Familie und die große Mehrzahl der damaligen jüdischenBevölkerung in Polen fassungslos waren und nicht glauben konn-ten, dass stets noch eine Steigerung von Grauen und Wahnsinnmöglich ist. Und noch etwas zeigen Schönkers Erinnerungen: wieMenschen auch in den schlimmsten Stunden ihre Würde bewahren.

Das Schicksal des kleinen Heinrich, seiner Familie und Freundeist eines von Millionen – und doch ist es so einzigartig und unver-gleichlich wie jedes einzelne dieser Schicksale. Heinrich Schönkerbricht die Sprachlosigkeit und holt die Schicksale aus dem Nebel desVergessens hervor ans Licht der Gegenwart.

»Meine Puppen leben ihr Leben, das mit mir verbunden ist«, sagtdie kleine Francis in dem Buch. »Wenn ich sterbe, hören auch siezu leben auf.«

Heinrich Schönkers Buch gibt uns allen eine Aufgabe mit auf denWeg: nämlich dafür zu sorgen, dass Francis nicht recht behält. Esgilt, der unfassbaren Zahl von sechs Millionen Ermordeten Namen,Gesichter und eine Geschichte zu geben. Da gab es Adaś, der Brief-

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marken sammelte, es gab Nicha mit den grünen Augen und Ignaśund seinen Bruder Arie. Die Zeitzeugen für diese dunklen Jahrewerden immer weniger – doch ihre Geschichten und die Erinnerungan sie dürfen damit nicht dem Vergessen anheim gestellt werden.

Die Lehren, die wir aus dem nationalsozialistischen Rassenwahnund der Verfolgung ziehen müssen, bleiben relevant für alle Ewig-keit. Unsere Aufgabe ist es daher, die Menschen, die den Holocaustdurchlebt haben und ihm zum Opfer fielen, in unserer Erinnerungweiter am Leben zu erhalten.München im März 2008

Charlotte KnoblochPräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland

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Unser Leben vor dem Krieg

Oft frage ich mich, wie meine Eltern, meine Schwester und ich denKrieg überlebt haben. Wir hatten immer wieder unglaublichesGlück. Ich bin sicher, alle polnischen Juden sagen dasselbe. Ich glau-be, dass wir unsere Rettung vor allem der Entschlossenheit und derKreativität meines Vaters, Leon Eliezer1 Schönker (1903–1965), ver-danken. Er hat immer versucht, in scheinbar hoffnungslosen Situa-tionen eine Lösung zu finden. Ich selbst empfinde unsere Rettungbis heute wie die Berührung eines Schutzengels.

Vater wartete niemals untätig ab. Er besaß einen geradezu über-menschlichen Instinkt und war stets bereit zur Flucht – auch insUngewisse, wenn es nur unsere Lage verbesserte. Vater hatte eingutes Gespür. Geistesgegenwärtig hat er viele Missgeschicke ver -hindert. Mitunter gelang es ihm sogar, mit heiler Haut aus großenSchwierigkeiten herauszukommen. Ich glaube, er hat seine Origi -nalität, sein Urteilsvermögen und seine schnelle Auffassungsgabevon seiner Mutter geerbt. Fanny Schönker, geborene Hollender, solleine sehr energische und resolute Frau gewesen sein.

Meinem Großvater, Josef Schönker (1872–1945), gehörte dieKunstdüngerfabrik Agrochemia in Auschwitz. Als Stadtrat und Bera-ter der Stadtsparkasse war er der ganzen Stadt bekannt. Am Lebender Jüdischen Gemeinde nahm er aktiv teil und engagierte sich auchsozial. Von seinem Vater Izaak Aron hatte er viel über den Talmudgelernt. Seine Frau Fanny gebar ihm vier Kinder. Lieba war die Ältes-te, später kamen mein Vater, Emanuel und Sarah zur Welt.

Meine Großmutter Fanny stammte aus Rzeszów und war dieSchwester meiner anderen Großmutter Fryderyka. Mein Vater undmeine Mutter Mina (1905–1976) waren also Cousin und Cousine.Mein anderer Großvater, Markus Mordechai Münz, genannt Mote-le, lebte in Rzeszów. Seine Familie hatte dort große Besitzungen undbetrieb ein Ziegelwerk.

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Während des Ersten Weltkriegs flohen meine beiden Großväterwie Tausende andere galizische Juden mit ihren Familien nachWien. In der Kaiserstadt lebten Juden, Moslems und Christen unter-schiedlicher Herkunft zusammen. Das kulturelle Leben blühte unddie Stadt schien vielen Völkern eine sichere Heimat zu bieten.

Schon damals verliebten sich meine Eltern ineinander. Mutterwar neun, Vater elf Jahre alt. Meine Mutter erzählte, mein Vater habeihr sogar eine Puppe gekauft. Ihre Liebe lenkte sie vom Kriegsge-schehen ab. Trotz des Krieges machte die Familie schöne Ausflüge,unter anderem nach Tirol. In der Schule lernten meine Eltern Wie-nerisch. Dies half ihnen später oft in schwierigen Situationen. MeinVater hatte ein seltenes Zeichentalent und nutzte jeden freienAugenblick, um Landschaften und Porträts zu malen. 1916 wurdenGroßvater Josef und mein Vater von dem berühmten Kunstprofes-sor Kohn empfangen. Kohn ließ meinen Vater zum Test eine Vasezeichnen. Er bestand die Prüfung und der Professor überzeugteJosef Schönker, dass sein Sohn die Akademie der bildenden Künstebesuchen solle. Kohn nahm ihn als außerordentlichen Studenten inseine Obhut.

Nach dem Krieg kehrten sowohl die Eltern meiner Mutter alsauch meines Vaters nach Polen zurück. Mein Vater ging nachAmsterdam und studierte an der Akademie der Schönen KünsteMalerei. Später setzte er sein Studium in Paris fort. Im Jahr1922 bekam er ein Telegramm. Seine Mutter lag im Sterben. Er kehr-te sofort nach Auschwitz zurück und konnte sich in letzter Minutevon ihr verabschieden. Das Haus meines Großvaters versank inTrauer.

Mit zwanzig beschloss mein Vater, um die Hand meiner Mutteranzuhalten. Ihr Vater war ein frommer Chassid bei einem Rabbiner,den wir Rabbi Bluziwe nannten. Motele betrachtete meinen Vater,der bis vor kurzem in dem Sündenpfuhl Paris gelebt hatte, skep-tisch: Dieser Neffe rasierte sich die Schläfen, anstatt Locken zu tra-gen, und war in einen merkwürdigen gestreiften Cordanzug geklei-det. Um den Hals trug er eine große schwarze Seidenschleife, wasvöllig unannehmbar war.

Meine Mutter hat meinen Vater in ihren Liebesbriefen immerwieder gebeten, nicht direkt nach seiner Rückkehr um ihre Hand

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anzuhalten. Er laufe Gefahr, abgewiesen zu werden. Meinem Vateraber dauerte der ständige Aufschub zu lange und er beschloss zuhandeln. Von meiner Mutter wusste er, dass ihr Vater keine Ent-scheidung traf, ohne sich mit seinem Rabbiner zu beraten. DerSchlüssel zum Erfolg war also Rabbi Bluziwe.

An einem Freitag teilte Vater meinem Großvater mit, er wolleseine Tante und seinen Onkel in Rzeszów besuchen und bei dieserGelegenheit Onkel Motele um die Hand seiner Tochter bitten. MeinGroßvater riet meinem Vater, noch zu warten. Mit der Zeit werdeMotele vielleicht vergessen, dass mein Vater in Paris studiert hatte.

Großvater Josef war klug, aber er hatte offenbar meinen pfiffigenVater unterschätzt. Auf seinem Weg nach Rzeszów kam mein Vaterkurz vor Beginn des Sabbats in den Ort, in dem Rabbi Bluziwe lebte.Er besuchte ihn. Er fahre zu seinem Onkel Motele Münz, sagte er,habe aber so viel über Rabbi Bluziwe gehört, dass er ihn persönlichkennenlernen wolle. Er habe außerdem erfahren, dass der RabbiPfeifen sammle. Deshalb habe er sich erlaubt, ihm eine seltene Pfeife aus Bruyèreholz zu schenken.

Rabbi Bluziwe war entzückt. Er bat meinen Vater, über den Sab-bat sein Gast zu sein. Mein Vater ging mit dem Rabbiner zum Betenin die Synagoge – was er im Übrigen auch an jedem Sabbat inAuschwitz tat. Am nächsten Tag hielt der Rabbi eine Predigt und siebeteten wieder. Nach dem Mittagessen machten die beiden Männereinen Spaziergang und sprachen über dies und das. Gegen Abendfeierten sie in der Synagoge das Ende des Sabbats. Tags darauf ver-abschiedete sich mein Vater von Rabbi Bluziwe und dessen Frau.Beide waren von ihm begeistert.

In Rzeszów bat Vater Onkel Motele kurz entschlossen um dieHand seiner Tochter. Motele zögerte. Die Familie von Josele Schön-ker sagte ihm zwar sehr zu, aber Leiser, der Sohn, war ein etwasmerkwürdiger Mensch. Welcher normale Jude fuhr schon nachParis, um malen zu lernen? Wer wusste schon, was dieser Leiserdort sonst noch gelernt hatte? Motele beschloss, keine übereilteAntwort zu geben, sondern meinem Vater seine Entscheidung ineinigen Tagen mitzuteilen.

Motele verabredete sich mit Rabbi Bluziwe in einer dringendenAngelegenheit. Er erzählte ihm von seinem Dilemma. Doch auf

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meinen Großvater wartete eine Überraschung: Rabbi Bluziweerklärte, er kenne Leiser Schönker genau. Er halte ihn für einenaußergewöhnlichen Menschen und habe mit ihm lange Gesprächeüber verschiedene Themen geführt. »Motele«, sagte er, »du hastkeinen Grund, dich zu fürchten. Deine Tochter wird bei ihm eingutes Leben haben.«

Meinem Großvater fiel ein Stein vom Herzen. Er wagte nicht,dem Rabbiner weitere Fragen zu stellen, denn schließlich sieht eineinfacher Mensch nicht, was ein Rabbiner sieht. Am nächsten Tagerhielt Vater eine positive Antwort und kurz darauf fand die Hoch-zeit statt. Meine Mutter lebte sich sehr schnell in Auschwitz ein.Großvater Josef besaß ein Grundstück gegenüber seiner Villa. Dortbauten meine Eltern ihr Haus. Meine Großeltern wohnten in derJagiellońskastraße 36, die jungen Eheleute in Nummer 41.

Großvater überzeugte meinen Vater, sich mit etwas Ernsthaftemzu beschäftigen, wenn er eine Familie gründen wolle. Die Zeitenwaren schwer und von der Malerei konnte man nicht leben. MeinVater wollte nach Krakau übersiedeln, wo das künstlerische Lebenblühte, aber schließlich ging er auf die Bitte meines Großvaters einund blieb in Auschwitz. Zu dieser Zeit wurde die Stadt elektrifiziert.Deshalb eröffnete mein Vater ein Lampengeschäft. Die Nachfragewar groß. Mein Großvater stellte großzügig das Betriebskapital.Während seine Freunde in Paris erfolgreiche Maler wurden, verkauf-te mein Vater in Auschwitz Kronleuchter und Stehlampen.

Großvater musste das Geschäft die ganze Zeit bezuschussen,obwohl es sich hervorragend zu entwickeln schien. Schließlichsollte ein Buchhalter aus der Fabrik prüfen, was im Argen lag. DasErgebnis dieser Untersuchung war katastrophal. Mein Vater hattedie meisten Lampen auf Kredit verkauft. Anfangs schrieb er dieSchulden noch auf, doch das Geschäft wuchs und Vater hörte auf,irgendetwas zu notieren. Er glaubte den Leuten aufs Wort. Diemeisten Kunden waren doch seine Bekannten! Die Unordnung wareinzigartig. Niemand wusste, wer wie viel schuldig war. Großvaterraufte sich die Haare. Er hatte nicht nur sein Geld verloren, sondernmusste auch einsehen, dass sich sein geliebter Sohn überhauptnicht dazu eignete, ein Geschäft zu führen. Es blieb ihm nichtsübrig, als einzuwilligen, dass mein Vater wieder nach Krakau zog

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und dort seine Karriere als Maler fortsetzte. Ich habe bis heute denVerdacht, dass Vater das alles geplant hat.

In Krakau wurde mein Vater in kurzer Zeit ein renommierterMaler, der sich vor allem auf Porträts spezialisierte. Er malte aberauch Landschaften und Stillleben. Er erhielt den ehrenvollen Auf-trag, die Innenräume der alten Popper-Synagoge auszumalen.Außerdem nahm er an vielen Einzel- und Sammelausstellungen teil.Eines seiner Bilder kaufte die Eremitage in St. Petersburg, damalsnoch Leningrad, ein anderes das Museum der Bezalel Akademie fürKunst und Design in Jerusalem. In den dreißiger Jahren war VaterVorsitzender des Verbandes der Jüdischen Maler und Bildhauer inKrakau. Für die bekannte jüdische Tageszeitung Neues Tagblattschrieb er eine Kolumne. In der Wohnung am Szczepański-Platz 2trafen sich bekannte Maler, Schauspieler und andere Künstler, mitdenen meine Eltern befreundet waren.

Zu dieser Zeit wurden mein Bruder Musiu und ich geboren, spä-ter meine Schwester Lusia. Eigentlich hätte ich noch vor meinerGeburt sterben sollen. Mein Leben verdanke ich der Tatsache, dassmeine Mutter nicht bemerkte, dass sie schwanger war. Hätte sie esgewusst, hätte sie mich zweifellos abgetrieben. Sie hat es mir selbsterzählt. Trotzdem war meine Mutter die beste und liebste Mutterund der wunderbarste Mensch, den man sich vorstellen kann. Ichhabe mich oft gefragt, wie einer so klugen und intelligenten Frauunklar sein konnte, dass sie schwanger war? Heute denke ich, dassmich schon damals irgendeine höhere Macht beschützt hat.

Mich wundert die Haltung meiner Mutter nicht. Sie hatte Angst,dass alle ihre Kinder so wie ihr erster Sohn Musiu werden könnten.Musiu war fünf Jahre älter als ich. Er erkrankte als Säugling an Kin-derlähmung und konnte deshalb kaum laufen. Meine Eltern tatenalles, um ihm zu helfen. Jahrelang suchten sie Professoren, Ärzteund Physiotherapeuten auf. Es war ein großer Erfolg, als Musiu –beide Beine in Schienen und auf zwei Stöcke gestützt – imstandewar, sich selbstständig zu bewegen.

Trotz seiner schweren Behinderung war Musiu ein glücklichesKind. Sein herzliches Lachen klingt mir bis heute im Ohr. Er konn-te sich über jede Kleinigkeit freuen. Seine Freude übertrug sich aufdie anderen und alle hatten ihn gern um sich. Meine Eltern und ich

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liebten ihn sehr. Musiu war intelligent und begabt; im Alter von fünfJahren las er bereits Bücher. Alle seine Klassenkameraden mochtenihn. Oft kamen Kinder zu uns nach Hause, denen er die Schulauf-gaben erklärte. Am glücklichsten war er, wenn er jemandem helfenund auf diese Weise seine Zuneigung zeigen konnte.

Als ich sechs Jahre alt war, erkrankte Musiu an einer Hirnhaut-entzündung, verlor das Bewusstsein und starb nach wenigen Tagen.Ich erinnere mich, dass mein Vater ihn malte, als er auf dem Toten-bett lag. Sein Tod versetzte uns in tiefe Trauer. Dies war meine ersteBegegnung mit dem Tod eines nahestehenden und geliebten Men-schen.

1938, ein Jahr nach Musius Tod, kam meine Schwester zur Welt.Niemand hatte mich auf ihre Geburt vorbereitet. Dass meine Mut-ter schwanger war, wusste ich nicht. In der Nacht, in der Lusia gebo-ren wurde, erschien mir Musiu im Traum. Am nächsten Morgenweckte mich mein Vater, um mir die freudige Nachricht zu verkün-den. Noch bevor er ein Wort sagen konnte, fragte ich ihn, wo dasSchwesterchen sei, das mir Musiu aus dem Himmel geschickt habe.Mein Vater war so erstaunt, dass er kein Wort herausbrachte.

Mein Vater war in Krakau erfolgreich, und wenn er finanzielleSchwierigkeiten hatte, unterstützte ihn mein Großvater Josef. Leiderlief in dessen Fabrik Agrochemia nicht immer alles reibungslos. DieAgrochemia produzierte den Kunstdünger Superphosphat. Dafürbrauchte man Schwefelsäure. Große Superphosphatfabriken inPolen hatten eigene Schwefelsäurefabriken, doch dies war eine rie-sige Investition. Die Agrochemia war von Säurelieferungen ausHütten abhängig. Das Kunstdüngerkartell der großen Firmen übteDruck auf die Hütten und andere Unternehmen aus. Sie sollten dieLieferung von Schwefelsäure an Betriebe, die nicht dem Kartellangehörten, reduzieren. Agrochemia hatte oft Probleme damit. Abermein Vater fand immer wieder einen Ausweg. Einmal entdeckteer in einem Antiquitätengeschäft ein schönes Louis-seize-Emp -fangszimmer. Es war ein Original und stammte von einer aristokra-tischen Familie. Mein Vater liebte Antiquitäten und leistete soforteine Anzahlung. Er fuhr zu Großvater Josef, um sich den Restbetragzu leihen. Doch die Agrochemia war wieder einmal in Schwierigkei-ten, denn die Hütte aus Kattowitz wollte nicht genügend Schwefel-

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säure liefern. Großvater war verzweifelt. Unter diesen Umständenkonnte von einem Darlehen keine Rede sein. Am nächsten Tagbeschloss mein Vater, den Kauf des Empfangszimmers rückgängigzu machen. Der Antiquar Stieglitz erblasste beim Anblick meineswartenden Vaters: Es sei ein Unglück geschehen, er habe sein Emp-fangszimmer dem Woiwoden von Kattowitz verkaufen müssen.Mein Vater tat empört und verweigerte die Annullierung des Ver-trags. Noch am selben Tag fuhr er nach Warschau und legte dieAngelegenheit einem Rechtsanwalt vor. Der Anwalt handelte einenVergleich aus. Der Woiwode veranlasste, dass die Hütte in Katto-witz der Firma Agrochemia Schwefelsäure für die ganze Saison lie-ferte. Außerdem verpflichtete er sich, eine genaue Kopie desEmpfangszimmers anfertigen zu lassen und sie meinem Vater zuschenken. Dafür verzichtete mein Vater auf einen Rechtsstreit.

Doch ein Jahr später, 1937, hatten wir schon wieder Schwierigkei -ten. Das Kartell wollte unsere Firma aus dem Markt drängen. Maninformierte meinen Großvater, die Säurelieferungen seien beendet.Wohin er sich auch wandte, überall stieß er auf Ablehnung. Esschien, als sei das Schicksal der Agrochemia besiegelt. Dies wäreeinem Bankrott gleichgekommen und hätte den Untergang unsererganzen Familie bedeutet. Großvater ließ den Kopf hängen, aberVater wollte nicht aufgeben. Er erinnerte sich, dass in den zwanzi-ger Jahren, als Agrochemia noch eine Aktiengesellschaft war, auchder spätere polnische Staatspräsident Ignacy Mościcki im Aufsichts-rat saß. Zu jeder Sitzung reiste er aus Lemberg an und übernachte-te bei meinem Großvater. Später, als er bereits polnischer Staats -präsident war, besuchte er ihn mehrmals in Auschwitz auf derDurchreise und trug sich sogar in sein Gästebuch ein.

Vater beschloss, sich diese alte Bekanntschaft zunutze zu machen,und fuhr nach Warschau. Ohne Termin erhielt er sofort eineAudienz. Er wurde in ein großes, elegantes Arbeitszimmer geführt,und Präsident Mościcki kam ihm lächelnd entgegen und fragte nachGroßvater. Mein Vater erzählte ihm sein Problem

»Aber das ist doch Sabotage!«, rief Mościcki aus. »Sławoj, hast dugehört?«

Erst da bemerkte mein Vater, dass ein Mann in Uniform abge-wandt am Fenster stand.

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»Ich habe es gehört«, antwortete der Offizier und dreht sich um.Mein Vater erkannte ihn sofort: Es war General Sławoj Składkowski,der polnische Ministerpräsident und Innenminister.

»Das ist ein Skandal!«, sagte der Präsident. »Sławoj, ich bitte dich,erledige diese Angelegenheit.«

Damit war die Audienz beendet. Mein Vater verließ das Schloss in bester Stimmung und besuch-

te einen Freund. Er kehrte erst am späten Abend in sein Hotelzurück. An der Rezeption erwartete ihn aufgeregt der Hoteldirektorund bat ihn, umgehend eine bestimmte Telefonnummer anzurufen.Die Nummer gehörte dem Direktor des Kunstdüngerkartells, dererklärte, das Kartell sei einverstanden, Agrochemia in seinen Kreisaufzunehmen. Von nun an seien keinerlei Schwierigkeiten mit denLieferungen von Schwefelsäure mehr zu erwarten. Vater zierte sichein wenig und handelte ein noch höheres Kontingent heraus.

Großvater schlug meinem Vater vor, nach Auschwitz zurückzu-kehren und ihm bei der Firmenleitung zu helfen. Er überließ ihmfünfundzwanzig Prozent der Firma und machte ihn zum Vizedirek-tor. Meine Eltern berieten sich und wir zogen um.

Ende der dreißiger Jahre florierte die Agrochemia. Mein Vaterund meine Mutter genossen ihr Leben in Auschwitz. Wir wohntenin einer schönen Villa mit einem prächtigen Garten. Meine Elternwaren angesehene Bürger der Stadt und nahmen am gesellschaftli-chen Leben teil. Vater rationalisierte die Fabrik. Alles, was er in dieHand nahm, gelang ihm. Großvater war sehr zufrieden und berietsich mit Vater in allen wichtigen Angelegenheiten. Der Umzug rissmich aus meinen Gedanken an Musiu und zerstreute meine Trau-rigkeit ein wenig. Plötzlich hatte ich Onkel, eine Tante, Cousins undCousinen in der Nähe. Meinen Onkel Emanuel, den wir Mendeknannten, liebte ich sehr. Er strahlte Leichtigkeit und unerschütterli-chen Optimismus aus. Gleich nach unserer Ankunft in Auschwitzkaufte er mir einen kleinen Hund. Seine Frau Rózia lud mich häu-fig zu leckerem Kuchen ein. Wenig später kam ich in die Schule unddas Leben schien mir wieder zuzulächeln.

Agrochemia hätte unsere ganze Familie vor dem Holocaust ret-ten können, aber es kam anders: 1938 teilte mein Vater auf der Fahrtnach Warschau zu einer Versammlung des Kartells sein Schlafwa-

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genabteil mit einem jungen Amerikaner, der sich als Averell Harri-man2 vorstellte. Er fuhr zu derselben Versammlung. Sein Vater,Edward Henry Harriman, hatte ihn schon mehrmals nach Polengeschickt, weil er Einblick in die niederschlesische Schwerindustrienehmen sollte. Harriman besaß dort große Anteile an Kohleberg -werken und Hütten, aber auch an Kunstdüngerfabriken.

Im Gespräch mit meinem Vater zeichnete Averell Harriman eindüsteres Bild von der Lage der Juden in Polen und in Europa über-haupt. Er war der Meinung, wir sollten Polen verlassen, und schlugvor, Agrochemia gegen 100 000 Dollar in Gold an seinen Vater zuverkaufen. Die Zahlung sollte in New York oder in London erfol-gen – dort, wohin unsere Familie überzusiedeln beschloss. Für diedamalige Zeit waren 100 000 Dollar viel Geld. Doch wir entschiedenuns, das Angebot nicht anzunehmen, denn die zweite Frau meinesGroßvaters, Regina, hatte einen Sohn mit Familie in Krakau undwollte sich nicht von ihm trennen.

Kurz vor dem Überfall der Deutschen auf Polen flohen wir nachKazimierz an der Weichsel, weil wir meinten, dass die Deutschendorthin nicht so schnell kämen. Unter dem Eindruck der polnischenPropaganda waren wir überzeugt, Polen könne sich verteidigen.Schlimmstenfalls erwarteten wir einen Stellungskrieg wie den Ers-ten Weltkrieg. Überall war die Parole zu lesen: »Wir geben keinenFußbreit Heimaterde her.« Am besten gefiel mir das Plakat mit derAufschrift: »Wir geben nicht einmal einen Knopf her.« Ich war mirsicher, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten, und dass keinFeind Polen je erobern würde. Die Plakate konnten schließlich nichtlügen.

Mein Vater blieb in Auschwitz und versuchte, die für Herbst pro-duzierte Ware aus der Fabrik zu versenden. Doch dies war nichtdurchführbar. Das Militär beanspruchte alle Züge für seine Zweckeund überall herrschte Durcheinander. Das verhieß nichts Gutes,aber ich war zu klein, um es zu verstehen.

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Auschwitz

Am 1. September 1939 hätte ich das zweite Schuljahr in Auschwitzbeginnen sollen, stattdessen stand ich in einem Wald in Kazimierzan der Weichsel, inmitten anderer verschreckter und verunsicherterMenschen, die ängstlich zum Himmel blickten. Über uns kreistendeutsche Flugzeuge. Damals hörte ich zum ersten Mal das Zischeneiner Bombe und sofort danach ihre Explosion. Alle im Wald war-fen sich zu Boden. Nur ich blieb verwundert stehen, doch irgendje-mand drückte mich mit Gewalt nieder. Mein Onkel drohte mir mitdem Finger und ich streckte ihm die Zunge heraus.

Bereits in den ersten Kriegstagen zeigte sich, dass die Kräfteungleich verteilt waren. Die deutsche Armee rückte schnell vor. Diepolnische Regierung und viele hohe Würdenträger flohen nachRumänien. Mein Vater erzählte uns später, wie sie mit ihren belade-nen Autos durch Auschwitz fuhren. Einige versorgten sich in unse-rer Villa mit Wasser, manche Flüchtlinge übernachteten sogar beiuns. Die Bürger der Stadt Auschwitz standen am Straßenrand undblickten verächtlich auf jene, die so viel versprochen hatten und sichnun als Erste davonmachten.

Die Angreifer drangen immer weiter vor. Es dauerte nicht lange,bis die Deutschen auch den kleinen Ort bei Lublin eingenommenhatten, in den wir aus Kazimierz geflüchtet waren. Wir beschlossen,nach Auschwitz zurückzukehren.

Die Landstraßen waren voll von deutschem Militär, polnischenKriegsgefangenen und Flüchtlingen, die entweder in ihre Häuserzurückkehren wollten oder diese gerade verlassen hatten. Aufgereg-te und hungrige, völlig orientierungslose Frauen, Kinder und Altemit ihrem Hab und Gut auf Handwagen oder Fuhrwerken versuch-ten, irgendwo Zuflucht zu finden, sei es auch nur für einen Tag odereine Nacht. Die einen zogen nach Osten, die anderen nach Westen.Die Staus auf den Straßen waren viele Kilometer lang. Die deut-

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schen Militärkolonnen bahnten sich ihren Weg, indem sie die Men-schen in die Straßengräben drängten.

Auf einem Gespann fuhr ich mit meiner Mutter, Lusia und mitmeinem Großvater und Regina. Da es an Essen und sogar Wassermangelte, hatten wir Hunger und Durst. Manchmal gingen wir vieleKilometer zu Fuß. Meine zweijährige Schwester weinte vor Schmer-zen; sie hatte am ganzen Körper Eitergeschwüre. Ein Arzt, den wirunterwegs trafen, stellte Vitaminmangel fest. Wir hatten Angst, dassLusia das Ende unserer Reise nicht erleben würde.

Da wir den langen Staus ausweichen wollten, fuhren oder gingenwir auf kleinen Landstraßen, die oft in die Irre führten; dann muss-ten wir umkehren und einen anderen Weg suchen. Wir schliefen inHütten am Straßenrand. Viele Bauern ließen uns kostenlos über-nachten und mitessen, denn wir hatten fast kein Geld mehr. Bisheute bin ich einer Bauersfrau dankbar, die mir eine Scheibe Brotmit Butter gab und mir über den Kopf strich. Diese Bauern warensehr arm, aber sie teilten mit uns, was sie hatten. Es gab auch ande-re, die ihre Tür vor uns verschlossen.

Schließlich kamen wir nach mehrwöchiger Irrfahrt erschöpft inKrakau an und schlüpften bei meiner Tante unter. Wir benachrich-tigten meinen Vater in Auschwitz und warteten darauf, dass er unsnach Hause holte. Damals glaubte ich, dass mir nach diesen Qua-len nichts Schlimmeres zustoßen könne. Auf unserem Weg hatteich so viel Böses, so viel Leid, Schmerz, Trauer und Verzweiflungerlebt, dass es mir schwerfiel, mir etwas Schrecklicheres vorzustel-len. Doch ich war erst acht Jahre alt und noch sehr naiv.

Am 1. September 1939 bombardierten die Deutschen Auschwitz.Die Bomben trafen zwei Häuser am Kirchplatz und brachten siezum Einsturz. Die Bewohner hatten ihre Häuser kurz zuvor verlas-sen, um sich dem Flüchtlingsstrom anzuschließen. Das retteteihnen das Leben. Mein Vater lief zur Fabrik, weil er befürchtete, dortkönne Feuer ausbrechen. Zusammen mit dem Wächter Gozler unddessen Frau stand er vor dem Bürogebäude und beobachtete die For-mation deutscher Flugzeuge am Himmel, die ungehindert von derpolnischen Flugabwehr über ihre Köpfe hinwegflog. Plötzlich setz-ten einige Flugzeuge zum Sturzflug an. Maschinengewehre ratter-

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ten, ein lautes Zischen war zu hören und gleich darauf explodierteeine Bombe. Alle drei warfen sich zu Boden.

Als mein Vater den Kopf hob, sah er entsetzt, wie ein brennendesFlugzeug direkt auf ihn zuflog. Glücklicherweise traf es nicht dieFabrik, sondern explodierte auf einem nahen Feld. Nach einer Weilezeigte sich am Himmel eine kleine Wolke und unter ihr ein schwar-zer Punkt. Die kleine Wolke verwandelte sich in einen weißen Fall-schirm und der schwarze Punkt in einen Menschen. Der Fallschirmging in der Nähe des Fabrikzauns zu Boden.

Mein Vater und Gozler liefen hin und fanden einen deutschenOffizier in Uniform, der offensichtlich verletzt war. Mit schmerzver-zerrtem Gesicht hielt er seinen Arm fest. Mein Vater stand vor einerschwierigen Entscheidung. Laut Gesetz musste er sofort die Behör-den benachrichtigen und ihnen den Flieger übergeben. Doch wel-che Strafe drohte ihm, wenn die Deutschen Auschwitz einnahmenund erfuhren, dass er als Jude einen ihrer Offiziere den polnischenBehörden übergeben hatte? Gozler war meinem Vater ergeben, aberdeutscher Abstammung. Es gab auch niemanden, den Vater hättebenachrichtigen können. Die städtischen Behörden arbeiteten nichtmehr und der Staatsapparat befand sich in Auflösung. Sogar derPolizeikommandant und seine Familie waren geflohen. Mein Vaterwar ein gesetzestreuer Bürger. Es fiel ihm schwer, das Recht zu ver-letzen, umso mehr, als Gozler ihn auch in diesem Fall denunzierenkonnte. Die Polen konnten die Lage noch in den Griff bekommen.Wenn bekannt wurde, dass mein Vater seine Pflicht verletzt hatte,konnte er hingerichtet werden. Er konnte es nicht richtig machen.

Vater befahl Gozler, eine Bahre, Verbandszeug und Medikamen-te zu holen. Der Offizier hatte sein Schlüsselbein und vermutlichauch seinen Arm gebrochen. Zusammen mit Gozler stellte Vaterden Arm ruhig und bandagierte ihn. Dann gaben sie dem Verletz-ten ein Schmerzmittel und legten ihn vorsichtig auf die Bahre. DenFallschirm warfen sie in das brennende Flugzeug. Auf dem Fabrik-gelände gab es eine Abteilung, die Knochenleim herstellte. Dortbefanden sich Trockenkanäle und mein Vater beschloss, den Fliegerdarin zu verstecken.

Am selben Tag entschied sich Vater, die Stadt zu verlassen. Langemarschierte er mit anderen Flüchtlingen, bis er schließlich einen

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Platz in einem überfüllten Güterzug ergatterte. Am nächsten Tagschlug er sich nach Krakau durch. Auch hier waren die Menschenin Panik und flohen massenhaft nach Osten in die Gegend von Lem-berg.

Am Mittwoch, den 6. September 1939, nahmen die DeutschenKrakau ein. Mein Vater, der bei seinem Freund, dem Bildhauer Hen-ryk Hochman, wohnte, rannte vor das Haus. Die Straße war wie leergefegt. Auf dem Pflaster lagen Habseligkeiten, die die Flüchtlingezurückgelassen hatten. Das einzige sichtbare lebendige Wesen warein Hund, der eine Stoffpuppe zerfetzte. Es herrschte Ruhe wie voreinem Gewitter. Plötzlich ertönte aus einem Fenster ein Klavier.Jemand spielte mit großer Ergriffenheit den Trauermarsch von Cho-pin. Neben Vater stand Hochman und weinte.

»Es ist, als sei ein lieber Freund gestorben«, sagte mein Vater. »Unsere Vergangenheit ist gestorben und für viele auch die

Zukunft«, antwortete Hochman.An diesem Tag beschloss mein Vater, doch wieder nach Auschwitz

zurückzukehren. Die Deutschen waren noch nicht in die Stadt ein-marschiert. Die Pioniertruppe musste zuerst die Weichselbrückeinstand setzen, die das polnische Heer in die Luft gesprengt hatte.Einige Stunden später nahmen die deutschen Truppen Auschwitzein. Sie hatten genaue Pläne von der Stadt. Sogar Häuser, die für siewichtig sein konnten, waren markiert. In der Villa meines Großva-ters war während des Ersten Weltkriegs deutsches Militär unterge-bracht. Auch jetzt wurde mein Vater zu einem deutschen Offizier,Oberleutnant Kleinbühl, gerufen, der ihm eröffnete, die Villa sei vonseinem Militärstab beschlagnahmt. In reinstem Deutsch meldetemein Vater, dass sich auf dem Gelände seiner Firma ein verletzterdeutscher Flieger befinde. Er erhielt den Befehl, sofort mit einemSoldaten zur Fabrik zu fahren.

Dort dauerte es, bis der Flieger seinen Kopf aus der Öffnung desTrockenkanals steckte. Er hatte befürchtet, mein Vater werde ihn denPolen übergeben. Der Deutsche dankte meinem Vater mit Tränen inden Augen für seine Rettung. Nach kurzer Zeit kam ein Militärkran-kenwagen und brachte den Verwundeten ins Lazarett. Vater hielt dieAngelegenheit für beendet. Doch einige Stunden später brachte der-selbe Krankenwagen den Flieger in unsere Villa zurück. Er wollte,

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bis er wieder gesund war, lieber in einer Privatwohnung bleiben.Mehrere Offziere besuchten ihren Kameraden in unserem Haus. Siealle schauten meinen Vater an wie ein exotisches Tier.

Immer mehr Juden kehrten nach Auschwitz zurück. Sie erzähl-ten Schreckliches über antijüdische Ausschreitungen der Deutschenin der Umgebung. In den umliegenden Orten hatten sie die Syna-gogen niedergebrannt. Dann hieß es, in Wieliczka seien zweiund-dreißig Juden erschossen worden. Naiv und gutgläubig meldete sichVater bei Oberleutnant Kleinbühl und forderte Aufklärung durch diezuständigen Militärbehörden. Sichtlich erstaunt antwortete Klein-bühl, dass diese Exekution nicht von einer Abteilung der Wehrmachtvollstreckt worden sei und dass es sich um eine Vergeltungsmaß-nahme für die Tötung von Deutschen in Bromberg und Posengehandelt habe.

Damals wurde meinem Vater zum ersten Mal klar, dass das Lebender Juden für die Deutschen keinen Wert hatte. Juden wurden will-kürlich verhaftet. Die Deutschen rasierten ihnen Bärte und Schläfen-locken und hatten ihren Spaß daran. Männer und Frauen musstenZwangsarbeit leisten. Die Besatzer durchsuchten Wohnungen undbeschlagnahmten jüdisches Vermögen. Die Juden versuchten zuintervenieren, doch der Militärkommandant wollte nur mit dem Vor-sitzenden der Jüdischen Gemeinde sprechen. Niemand war bereit,dieses Amt zu übernehmen. Alle hatten Angst.

Man bat meinen Vater, das Amt anzutreten. Er weigerte sich,denn er hatte nie an Sitzungen der Jüdischen Gemeinde teilgenom-men und keinerlei praktische Erfahrung. Nach einigen Tagen kamwieder eine Delegation zu uns nach Hause und wiederholte dieBitte. Es bestand die Gefahr, dass die Deutschen selbst einen Vorsit-zenden ernannten, der kooperierte und Befehle sogar zum Schadender Juden ausführte. Deshalb habe mein Vater, der Enkel von IzaakAron Schönker und Sohn von Josef Schönker, nicht das Recht, dieGemeinde in so großer Gefahr im Stich zu lassen. Diese Worte gin-gen meinem Vater sehr zu Herzen. Sich weiter zu weigern hätte erals Verrat empfunden. Ihm war klar, dass er als Vorsitzender derJüdischen Gemeinde mit seinem Leben spielte. Daher nahm er dasAmt nur unter der Bedingung an, dass die Mitglieder der Delegati-on mit ihm zusammenarbeiteten. Sie müssten akzeptieren, dass er

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selbst unter Androhung des Todes nicht jeden Befehl ausführenwerde. Alle versprachen, sich niemals zum Werkzeug der Deutschenmachen zu lassen. Als ich mit meiner Mutter und meiner Schwes-ter nach Auschwitz zurückkam, war mein Vater bereits Vorsitzenderder Gemeinde.

Dass meine Mutter, meine Schwester und ich nach Auschwitzzurückkehren konnten, hatten wir dem deutschen Flieger zu verdan-ken. Ein Offizier aus seinem Bekanntenkreis fuhr nach Krakau undnahm meinen Vater mit. Der Flieger hatte häufig Besuch vom Stadt-kommandanten und irgendwie fand mein Vater Zugang zu diesemMann. Dadurch war das Leben der Juden in Auschwitz zunächstleichter als in anderen Städten. Für viele Menschen konnte Vatereine Befreiung von der Zwangsarbeit erwirken. Der Stadtkomman-dant versprach ihm sogar, die Durchsuchungen jüdischer Wohnun-gen, die Beschlagnahmungen und Verfolgungen einzustellen. EineZeit lang herrschte tatsächlich Ruhe.

Kurz darauf schlossen die Deutschen alle jüdischen Geschäfte inAuschwitz. Mein Vater beschwerte sich wieder beim Stadtkomman-danten. Aus Kattowitz, wo sich die Gestapo-Zentrale befand, war derBefehl gekommen, für alle jüdischen Geschäfte arische Verwaltereinzusetzen. Die Treuhänder sollten Deutsche oder Volksdeutschesein. Der Stadtkommandant war einverstanden, dass Vater inner-halb einiger Stunden eine Liste möglicher Verwalter erstellte. Da esin der Stadt keine Deutschen gab, durfte er Polen nennen. Vaterübergab seine Liste und die Geschäfte öffneten wieder. Jeder polni-sche Treuhänder – größtenteils Pensionisten – erhielt monatlich 300Złoty.

Eines Morgens weckte uns völlig aufgelöst die Oberin desAuschwitzer Seraphinenklosters. Nur mühsam gelang es Vater, dieverweinte und aufgewühlte Ordensschwester so weit zu beruhigen,dass er verstehen konnte, worum es ging: Bei einer Durchsuchunghatten die Deutschen in einem Erziehungsheim, das zum Klosterder Salesianerpriester gehörte, Gewehre gefunden. In der Vorkriegs-zeit musste in Polen laut Gesetz jedes Erziehungsheim militärischeÜbungen durchführen. Die Deutschen hatten zwar befohlen, alleWaffen abzugeben, doch diese Gewehre waren nicht funktionsfähigund niemand hatte daran gedacht, sie abzuliefern. Nun sollten zwölf

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Salesianerpriester erschossen werden. Die Schwester bat den Vorsit-zenden der Jüdischen Gemeinde flehentlich, für die Ordensbrüdereinzutreten.

Mein Vater begab sich sofort zur Villa meines Großvaters. Ober-leutnant Kleinbühl betrachtete verwundert diesen Juden, der soengagiert für christliche Priester kämpfte. Die Gewehre wurden her-beigeschafft. Tatsächlich fehlte an einem das Schloss, das zweitehatte keinen Lauf und das dritte keinen Abzug … Kleinbühl brach inGelächter aus. Dieses Kinderspielzeug konnte man wirklich nicht alsWaffen betrachten. Er ließ sich mit dem Gefängnis verbinden unddie verhafteten Priester ins Kloster zurückschicken. Zum Dank über-reichte mein Vater dem Philatelisten Kleinbühl noch am selben Tagdrei Alben mit Briefmarken, die jüdische Bürger gespendet hatten.Der Oberleutnant war merklich zufrieden.

Nach einigen ruhigen Tagen sperrte das Militär die Straßen unddurchsuchte die jüdischen Häuser der Stadt. Wieder hatte der Pro-test meines Vaters Erfolg: Die Deutschen willigten ein, armen Fami-lien ihre beschlagnahmten silbernen Sabbatleuchter zurückzuge-ben, die von Generation zu Generation weitervererbt wurden. DieRuhe hielt nur kurz, doch sie war für die jüdische Bevölkerung vonAuschwitz wie ein Geschenk.

Ich war den ganzen Tag zu Hause. Weil jüdische Kinder die Schu-le nicht besuchen durften, unterrichtete mich meine Mutter. Manch-mal kam meine ehemalige Lehrerin aus der ersten Klasse, FrauDyczkowska, abends zu uns, um mir heimlich Unterricht zu geben.Sie nahm niemals Geld dafür.

In unserer Nähe wohnte ein vierzehnjähriger polnischer Junge,Tadek, der schon vor dem Krieg etwas gegen mich hatte und mir ofthöhnisch den Weg verstellte. Wenn wir uns prügelten, trug ich stetseine blutige Nase oder ein blaues Auge davon. Er war einfach stär-ker als ich. Wenn ich ihn sah, wechselte ich mittlerweile freiwilligdie Straßenseite. Einmal kehrte ich in Gedanken versunken vomSpielen am Fluss Soła zurück, als ich sah, wie Tadek mit einem Steinauf die Speichen eines Fahrrads einschlug, das vor ihm auf der Stra-ße lag. Ich traute meinen Augen nicht. Wie konnte er so einenSchatz kaputt machen? Das Fahrrad war neu, sein Lack glänzte undam Rahmen hatte es ein rotes Täfelchen mit einem schwarzen

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Hakenkreuz in einem weißen Kreis. Ich stand wie angewurzelt.Plötzlich war ein Warnpfiff zu hören. Tadek warf den Stein weg, klet-terte wie eine Katze über die nächstgelegene Mauer und verschwandauf der anderen Seite. Nach einer Sekunde tauchte sein Kopf wiederüber der Mauer auf und er schrie: »Heniek, um Gottes willen, laufweg! Der Deutsche bringt dich um!«

Schon hörte ich hinter mir ein lautes: »Halt! Halt!« Ich lief davonund ein Deutscher hinter mir her. Ich blickte mich um. Er war etwazwanzig Meter entfernt und trug eine hellbraune Uniform und einerote Armbinde mit Hakenkreuz. In der Hand hielt er einen Revol-ver mit dem Lauf nach oben. Er schoss – anscheinend in die Luft,denn mir passierte nichts. In diesem Augenblick sah ich ein Fuhr-werk um die Kurve biegen. Instinktiv witterte ich meine Chance: DieStraße war schmal; das Fuhrwerk würde dem Deutschen den Wegversperren. Ein Schuss fiel. Dieses Mal galt er mir, aber er ging übermeinen Kopf hinweg und schlug in die Mauer vor mir ein. Ein Split-ter der Mauer traf mich an der Stirn und ich stürzte zu Boden. Ichspürte einen heftigen Schmerz und hörte über mir das laute Wie-hern des Pferdes, das erschrocken losgaloppierte. Es stieß den Deut-schen um. Mit blutigem Gesicht und schmerzendem Knie sprangich auf und rannte weg.

Die Stirnwunde war zum Glück nur oberflächlich. Es genügte, siemit Jod zu desinfizieren. Meine Eltern beschlossen, dass ich dasHaus einige Tage nicht verlassen sollte – zumindest solange icheinen Verband um den Kopf trug. Ich versteckte mich auf demDachboden. Wir befürchteten, dass mich jemand vom Fenster ausgesehen hatte und an die Deutschen verraten würde. Dass ichunschuldig war, konnte ich kaum beweisen. Doch die nächsten Tagevergingen, ohne dass etwas passierte. Später erfuhren wir, dass michviele gesehen hatten. Sie waren alle davon überzeugt, dass ich dasFahrrad zerstört hatte. Doch niemand verriet mich und ich wurdezum stillen Helden der Stadt. Tadek hörte auf, mich zu quälen.Wenn er mich sah, zwinkerte er mir in geheimem Einverständniszu und lächelte.

Einige Zeit verstrich. Zu Weihnachten gingen die Kinder wiejedes Jahr von Haus zu Haus und sangen Weihnachtslieder. Einmalwar ich auf der Straße, als eine Gruppe Acht- bis Zwölfjähriger

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unterwegs war. Plötzlich begann ein Junge hinter meinem Rückenzu singen: »Jude, Jude, der Tod geht hinter dir.«

Ich bekam Angst. Da stieß mich jemand in die Seite. Es warTadek. Meine Angst wurde noch größer, aber zu meiner Verwunde-rung sagte er: »Hör nicht auf ihn. Er ist ein Idiot.« Dann verjagte erdie Jungen.

Ich konnte mich nicht zurückhalten: »Aber du warst doch genau-so.«

Tadek fasste mich am Arm und entschuldigte sich: »Ich war auchein Idiot.« Dann beugte er sich zu mir herunter und küsste mich aufdie Wange.

Eines Morgens ließ der Stadtkommandant Vater durch einen Botenzu sich rufen. Mein Vater versuchte, seine Unruhe zu verbergen.Wer wusste schon, was für ein neuer Befehl aus Kattowitz gekom-men war? Der Kommandant nahm im Sessel hinter seinem Schreib-tisch Platz: »Es gibt keinen Grund zur Sorge; ich habe gute Nach-richten. In Auschwitz soll ein Auswanderungsbüro nach Palästinaeröffnet werden. Damit beauftrage ich Sie. Die Auswanderung istfreiwillig. Die deutschen Behörden sind daran interessiert, dass sicheine größtmögliche Zahl Ausreisewilliger meldet. Wenn die erstenorganisatorischen Schwierigkeiten überwunden sind, wird jeder, dermöchte, ausreisen können.«

Er befahl Vater, in der ganzen Stadt Plakate kleben zu lassen undzur Registrierung aller Juden aufzurufen, die nach Palästina auswan-dern wollten. Noch am selben Tag eröffnete mein Vater dieses Aus-wanderungsbüro im Restaurant seines besten Freundes, SzmulSchnitzer. Das Restaurant lag mitten in der Stadt im Haberfeld-Hausbei der Brücke über die Soła. Zum Leiter des Büros ernannte meinVater Josef Manheimer. Nachdem ein früheres Auswanderungsbü-ro in Krakau nach kurzer Zeit wieder schließen musste, schöpftendie Juden von Auschwitz nun neue Hoffnung.

Inzwischen hatten sich Fluchthelfer der jüdischen Fürsorgeorga-nisation HIAS3 bei meinem Vater gemeldet. Sie kamen aus einemLager in der Slowakei und sollten die Flucht junger Juden über dieDonau in die Hafenstädte Warna, Konstanza und Sulina am Schwar-zen Meer organisieren. Von dort sollten die Flüchtlinge auf gemie-

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teten Schiffen unbemerkt von den Engländern nach Palästina fah-ren. Die Boten baten meinen Vater, ihnen zu helfen. So begann zurgleichen Zeit, zu der die Massenauswanderung geplant wurde, derillegale Transfer junger Menschen nach Palästina. Leider sperrtendie Engländer bald die Ausfahrten aus Warna, Konstanza und Suli-na. Kein Schiff konnte die Häfen mehr ohne Kontrolle verlassen.

Im November 1939 fuhr mein Vater mit Josef Manheimer in dieKreisstadt Bielitz. Er sollte dort einen Offizier namens von Rüdigertreffen. Zum ersten Mal kam Vater mit der Gestapo in Kontakt, dennAuschwitz stand unter der Verwaltung der Militärbehörden. Deraltersschwache Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Bielitz,Roter, war ebenfalls vorgeladen. Er warnte meinen Vater vor vonRüdiger und beschrieb ihn als brutal und rücksichtslos. Roter erzähl-te, dass aus Bielitz Transporte mit Juden in verschlossenen Güter-zügen abgingen, in denen man sonst Vieh transportierte. In Prze-myśl an der sowjetischen Grenze entlud man die Waggons und dieMenschen versuchten, durch den Fluss auf die sowjetische Seite zuschwimmen. Leider wollte sie dort niemand haben und die Sowjetsschossen auf sie. Noch am selben Tag sollte ein großer Transport mitden Bewohnern von zwei Altersheimen und den verbliebenen jüdi-schen Intellektuellen abgehen. Vater und Manheimer waren erschüt-tert.

Die Gestapo befand sich auf dem Gelände einer ehemaligen jüdi-schen Textilfabrik, unweit des Bahnhofs. Von Rüdiger war ein mage-rer junger Mann mit einem blassen, scharf geschnittenen Gesichtund stechenden blauen Augen. Mein Vater händigte ihm einen Briefdes Kommandanten von Auschwitz aus. Von Rüdiger nahm hinterseinem Schreibtisch Platz und begann zu lesen. Vater und Manhei-mer warteten. Plötzlich fragte von Rüdiger meinen Vater ruhig, ober einen Wunsch habe. Mein Vater bat darum, zwei unschuldig ver-haftete Juden aus Auschwitz freizulassen. Rüdiger griff zum Telefonund gab die Anweisung, diese beiden Häftlinge zu entlassen. Dannbat mein Vater darum, die Alten aus den Heimen in Bielitz nachAuschwitz zu bringen und die Judentransporte nach Osten abzubre-chen, solange die Russen nicht bereit waren, sie aufzunehmen. VonRüdiger war einverstanden, aber unter der Bedingung, dass meinVater in Auschwitz auch die Juden aus Bielitz, Kattowitz und

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Teschen aufnahm. Vater willigte sofort ein, Manheimer verpflichte-te sich, sie unverzüglich im Auswanderungsbüro zu registrieren.Dann händigte er von Rüdiger einen Bericht über den Stand derAuswanderungspläne aus.

Von Rüdiger erklärte, es sei seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dasses in Schlesien keine Juden mehr gebe. Dann befahl er meinemVater, zusammen mit den Vertretern anderer Jüdischer Gemeindenin Schlesien nach Berlin zu fahren, um dort weitere Anweisungenzu erhalten. Rüdiger forderte von meinem Vater so schnell wie mög-lich eine Liste der jüdischen Vertreter, die an dieser Reise teilneh-men würden, damit er die notwendigen Reisedokumente vorberei-ten konnte. Die Reisegruppe sollte aus Vertretern der JüdischenGemeinden von Auschwitz, Bielitz, Kattowitz und Teschen bestehen.

Direkt nach Vaters Rückkehr nach Auschwitz trafen die erstenJuden aus Bielitz ein und mieteten Wohnungen. Am nächsten Tagkamen die Alten aus den Heimen an. Die Jüdische Gemeinde rich-tete in aller Eile in der Talmud-Tora-Schule ein neues Altersheim ein.Im sogenannten Schönker-Haus begannen Bauarbeiten, um dasGebäude in ein Krankenhaus umzuwandeln. Das gab vielen Judendie Möglichkeit, sich der Zwangsarbeit für die Deutschen zu entzie-hen.

Die Nachricht von der bevorstehenden Reise der jüdischen Abord-nung nach Berlin verbreitete sich schnell. Aus Auschwitz fuhrenHofman, Manheimer und mein Vater. Hofman war der Leiter desKrakauer Auswanderungsbüros, bis es geschlossen wurde. MeinVater stattete ihn mit Papieren aus, aus denen hervorging, dass erMitglied der Jüdischen Gemeinde in Auschwitz war. Die Männerreisten nachts, in verdunkelten Wagen, und passierten unterwegsverschiedene Kontrollpunkte.

In Berlin wurde die Delegation vom Leiter des dortigen Auswan-derungsbüros, Dr. Pik, und vom Vorsitzenden der Vereinigten Jüdi-schen Gemeinden in Deutschland, Professor Leo Baeck4, empfan-gen. Den Abend verbrachten sie bei einer Feier des Kulturbundes,der Geld für die Jüdische Winterhilfe sammelte. Verwundertbemerkten die Männer aus Polen, dass die geladenen Gäste im Smo-king und die Damen in langen, eleganten Kleidern kamen, wennauch ohne Schmuck.

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