Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

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Leseprobe Thomas Karlauf Helmut Schmidt Die späten Jahre »Sie legen das Buch nicht mehr aus der Hand. Es liest sich wie ein Roman.« Nils Minkmar, DER SPIEGEL Bestellen Sie mit einem Klick für 18,00 € Seiten: 560 Erscheinungstermin: 25. Juni 2018 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

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Leseprobe

Thomas Karlauf

Helmut Schmidt Die spaumlten Jahre

raquoSie legen das Buch nicht mehr aus der

Hand Es liest sich wie ein Romanlaquo Nils Minkmar DER SPIEGEL

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1800 euro

Seiten 560

Erscheinungstermin 25 Juni 2018

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Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Kein anderer Politiker der Bundesrepublik hat eine solche fast kultische

Verehrung genossen wie Helmut Schmidt Thomas Karlauf entfaltet in der

groszligen Biographie seiner spaumlten Jahre ein intimes Stuumlck deutscher

Zeitgeschichte Fast alle Biographien Schmidts enden mit dem Jahr 1982

dem Jahr seines Ausscheidens aus dem Kanzleramt Von seinem Leben in

den dreiunddreiszligig Jahren danach drang nur wenig nach auszligen Wie aber

wurde dieser Mann der 1982 noch als durchschnittlicher Kanzler galt zu

einem Idol der Deutschen

Autor

Thomas Karlauf Thomas Karlauf geboren 1955 in Frankfurt am Main

ging nach dem Abitur nach Amsterdam und arbeitete

zehn Jahre fuumlr die George-Zeitschrift Castrum

Peregrini Von 1984 bis 1996 war er Lektor bei den

Verlagen Siedler und Rowohlt und fuumlhrt seither eine

Agentur fuumlr Autoren in Berlin Bei Pantheon erschien

zuletzt seine vielgelobte Biographie raquoStefan George

Die Entdeckung des Charismalaquo

Thomas Karlauf

Helmut SchmidtDI E SPAumlT E N JAH R E

Pantheon

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Die Originalausgabe erschien 2016 im Siedler-Verlag Muumlnchen Die Archivreisen wurden unterstuumltzt von der ING-DiBa

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung

da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Verlagsgruppe Random House FSCreg N001967

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Erste AuflagePantheon-Ausgabe Juni 2018

copy 2016 by Siedler Verlag Muumlnchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen nach einer Vorlage von Rothfos amp Gabler Hamburg

Satz Ditta Ahmadi BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH Leck

Printed in Germany ISBN 978-3-570-55370-1

wwwpantheon-verlagde

Dieses Buch ist auch als E-Book erhaumlltlich

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Inhalt

Vorwort 7 Teil I

Jahre der Zuruumlckhaltung (1982ndash1990)

1 Inszenierung eines Verrats 15 2 Die langen Schatten der SPD 34 3 Zuruumlck in Hamburg 67 4 Einmal um die Welt 107 5 Schwierige Verwandte 149 6 Keine Memoiren 183

Teil IIJahre der Einmischung (1991ndash2003)

7 Weil das Land sich aumlndern muss 207 8 Entdeckung einer Weltmacht 250 9 Die schwere Hypothek 280 10 Die rot-gruumlnen Jahre 320

Teil IIIWege des Ruhms (2003ndash2015)

11 Das Gedaumlchtnis der Nation 367 12 Deutungshoheit 400 13 Lauter Abschiede 433 14 Die letzten Monate 460

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Anhang

Danksagung 485 Anmerkungen 488 Quellen- und Literaturverzeichnis 539 Sachregister 543 Namenregister 547 Bildnachweis 557

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Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespraumlch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema das ihn seit vielen Jahren beschaumlftigte warum eigentlich kein Historiker sich so richtig fuumlr das interessiere was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bun-deskanzlers 1982 alles gemacht habe Das sei doch eine Menge und manches davon halte er fuumlr nicht ganz unwichtig Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982 und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen raquoAls haumltte ich danach kein Leben mehrlaquo klagte er ein ums andere Mal

Ich wuumlrde mich erkundigen welchen Historiker der juumlnge-ren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen koumlnnte sagte ich und fuhr am Abend zuruumlck nach Berlin Man braucht zwei Stunden Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin um Helmut Schmidt fuumlr einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen weiszlig ich nicht aber an diese Fahrt er-innere ich mich genau Als ich zu Hause ankam stand mein Entschluss fest das Buch das Schmidt sich wuumlnschte selber zu schreiben

28 Jahre hatte ich das Privileg mit ihm zusammenarbeiten zu duumlrfen Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Maumlchte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien habe ich fast alle seine Buch-veroumlffentlichungen betreut Mit seinen Interessen seinen Vorlieben seinen Abneigungen war ich einigermaszligen vertraut und wusste in etwa einzuschaumltzen worauf es ihm ankam Kenntnisse die sich an-dere erst muumlhsam haumltten erarbeiten muumlssen brachte ich also mit

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8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

(ndash)

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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191 Inszenierung e ine s Verrat s

politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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432 Die langen Schat ten der SPD

die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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452 Die langen Schat ten der SPD

Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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472 Die langen Schat ten der SPD

D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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48 Jahre der Zuruumlckhaltung

lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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492 Die langen Schat ten der SPD

die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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512 Die langen Schat ten der SPD

Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 2: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

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Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Kein anderer Politiker der Bundesrepublik hat eine solche fast kultische

Verehrung genossen wie Helmut Schmidt Thomas Karlauf entfaltet in der

groszligen Biographie seiner spaumlten Jahre ein intimes Stuumlck deutscher

Zeitgeschichte Fast alle Biographien Schmidts enden mit dem Jahr 1982

dem Jahr seines Ausscheidens aus dem Kanzleramt Von seinem Leben in

den dreiunddreiszligig Jahren danach drang nur wenig nach auszligen Wie aber

wurde dieser Mann der 1982 noch als durchschnittlicher Kanzler galt zu

einem Idol der Deutschen

Autor

Thomas Karlauf Thomas Karlauf geboren 1955 in Frankfurt am Main

ging nach dem Abitur nach Amsterdam und arbeitete

zehn Jahre fuumlr die George-Zeitschrift Castrum

Peregrini Von 1984 bis 1996 war er Lektor bei den

Verlagen Siedler und Rowohlt und fuumlhrt seither eine

Agentur fuumlr Autoren in Berlin Bei Pantheon erschien

zuletzt seine vielgelobte Biographie raquoStefan George

Die Entdeckung des Charismalaquo

Thomas Karlauf

Helmut SchmidtDI E SPAumlT E N JAH R E

Pantheon

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Die Originalausgabe erschien 2016 im Siedler-Verlag Muumlnchen Die Archivreisen wurden unterstuumltzt von der ING-DiBa

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da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

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Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Erste AuflagePantheon-Ausgabe Juni 2018

copy 2016 by Siedler Verlag Muumlnchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen nach einer Vorlage von Rothfos amp Gabler Hamburg

Satz Ditta Ahmadi BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH Leck

Printed in Germany ISBN 978-3-570-55370-1

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Inhalt

Vorwort 7 Teil I

Jahre der Zuruumlckhaltung (1982ndash1990)

1 Inszenierung eines Verrats 15 2 Die langen Schatten der SPD 34 3 Zuruumlck in Hamburg 67 4 Einmal um die Welt 107 5 Schwierige Verwandte 149 6 Keine Memoiren 183

Teil IIJahre der Einmischung (1991ndash2003)

7 Weil das Land sich aumlndern muss 207 8 Entdeckung einer Weltmacht 250 9 Die schwere Hypothek 280 10 Die rot-gruumlnen Jahre 320

Teil IIIWege des Ruhms (2003ndash2015)

11 Das Gedaumlchtnis der Nation 367 12 Deutungshoheit 400 13 Lauter Abschiede 433 14 Die letzten Monate 460

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Anhang

Danksagung 485 Anmerkungen 488 Quellen- und Literaturverzeichnis 539 Sachregister 543 Namenregister 547 Bildnachweis 557

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Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespraumlch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema das ihn seit vielen Jahren beschaumlftigte warum eigentlich kein Historiker sich so richtig fuumlr das interessiere was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bun-deskanzlers 1982 alles gemacht habe Das sei doch eine Menge und manches davon halte er fuumlr nicht ganz unwichtig Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982 und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen raquoAls haumltte ich danach kein Leben mehrlaquo klagte er ein ums andere Mal

Ich wuumlrde mich erkundigen welchen Historiker der juumlnge-ren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen koumlnnte sagte ich und fuhr am Abend zuruumlck nach Berlin Man braucht zwei Stunden Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin um Helmut Schmidt fuumlr einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen weiszlig ich nicht aber an diese Fahrt er-innere ich mich genau Als ich zu Hause ankam stand mein Entschluss fest das Buch das Schmidt sich wuumlnschte selber zu schreiben

28 Jahre hatte ich das Privileg mit ihm zusammenarbeiten zu duumlrfen Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Maumlchte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien habe ich fast alle seine Buch-veroumlffentlichungen betreut Mit seinen Interessen seinen Vorlieben seinen Abneigungen war ich einigermaszligen vertraut und wusste in etwa einzuschaumltzen worauf es ihm ankam Kenntnisse die sich an-dere erst muumlhsam haumltten erarbeiten muumlssen brachte ich also mit

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8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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191 Inszenierung e ine s Verrat s

politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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211 Inszenierung e ine s Verrat s

einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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231 Inszenierung e ine s Verrat s

sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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24 Jahre der Zuruumlckhaltung

der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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512 Die langen Schat ten der SPD

Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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532 Die langen Schat ten der SPD

schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Thomas Karlauf

Helmut SchmidtDI E SPAumlT E N JAH R E

Pantheon

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Die Originalausgabe erschien 2016 im Siedler-Verlag Muumlnchen Die Archivreisen wurden unterstuumltzt von der ING-DiBa

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da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Verlagsgruppe Random House FSCreg N001967

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Erste AuflagePantheon-Ausgabe Juni 2018

copy 2016 by Siedler Verlag Muumlnchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen nach einer Vorlage von Rothfos amp Gabler Hamburg

Satz Ditta Ahmadi BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH Leck

Printed in Germany ISBN 978-3-570-55370-1

wwwpantheon-verlagde

Dieses Buch ist auch als E-Book erhaumlltlich

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Inhalt

Vorwort 7 Teil I

Jahre der Zuruumlckhaltung (1982ndash1990)

1 Inszenierung eines Verrats 15 2 Die langen Schatten der SPD 34 3 Zuruumlck in Hamburg 67 4 Einmal um die Welt 107 5 Schwierige Verwandte 149 6 Keine Memoiren 183

Teil IIJahre der Einmischung (1991ndash2003)

7 Weil das Land sich aumlndern muss 207 8 Entdeckung einer Weltmacht 250 9 Die schwere Hypothek 280 10 Die rot-gruumlnen Jahre 320

Teil IIIWege des Ruhms (2003ndash2015)

11 Das Gedaumlchtnis der Nation 367 12 Deutungshoheit 400 13 Lauter Abschiede 433 14 Die letzten Monate 460

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Anhang

Danksagung 485 Anmerkungen 488 Quellen- und Literaturverzeichnis 539 Sachregister 543 Namenregister 547 Bildnachweis 557

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Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespraumlch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema das ihn seit vielen Jahren beschaumlftigte warum eigentlich kein Historiker sich so richtig fuumlr das interessiere was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bun-deskanzlers 1982 alles gemacht habe Das sei doch eine Menge und manches davon halte er fuumlr nicht ganz unwichtig Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982 und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen raquoAls haumltte ich danach kein Leben mehrlaquo klagte er ein ums andere Mal

Ich wuumlrde mich erkundigen welchen Historiker der juumlnge-ren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen koumlnnte sagte ich und fuhr am Abend zuruumlck nach Berlin Man braucht zwei Stunden Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin um Helmut Schmidt fuumlr einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen weiszlig ich nicht aber an diese Fahrt er-innere ich mich genau Als ich zu Hause ankam stand mein Entschluss fest das Buch das Schmidt sich wuumlnschte selber zu schreiben

28 Jahre hatte ich das Privileg mit ihm zusammenarbeiten zu duumlrfen Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Maumlchte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien habe ich fast alle seine Buch-veroumlffentlichungen betreut Mit seinen Interessen seinen Vorlieben seinen Abneigungen war ich einigermaszligen vertraut und wusste in etwa einzuschaumltzen worauf es ihm ankam Kenntnisse die sich an-dere erst muumlhsam haumltten erarbeiten muumlssen brachte ich also mit

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8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 4: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

Die Originalausgabe erschien 2016 im Siedler-Verlag Muumlnchen Die Archivreisen wurden unterstuumltzt von der ING-DiBa

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Verlagsgruppe Random House FSCreg N001967

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Erste AuflagePantheon-Ausgabe Juni 2018

copy 2016 by Siedler Verlag Muumlnchenin der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen nach einer Vorlage von Rothfos amp Gabler Hamburg

Satz Ditta Ahmadi BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH Leck

Printed in Germany ISBN 978-3-570-55370-1

wwwpantheon-verlagde

Dieses Buch ist auch als E-Book erhaumlltlich

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Inhalt

Vorwort 7 Teil I

Jahre der Zuruumlckhaltung (1982ndash1990)

1 Inszenierung eines Verrats 15 2 Die langen Schatten der SPD 34 3 Zuruumlck in Hamburg 67 4 Einmal um die Welt 107 5 Schwierige Verwandte 149 6 Keine Memoiren 183

Teil IIJahre der Einmischung (1991ndash2003)

7 Weil das Land sich aumlndern muss 207 8 Entdeckung einer Weltmacht 250 9 Die schwere Hypothek 280 10 Die rot-gruumlnen Jahre 320

Teil IIIWege des Ruhms (2003ndash2015)

11 Das Gedaumlchtnis der Nation 367 12 Deutungshoheit 400 13 Lauter Abschiede 433 14 Die letzten Monate 460

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Anhang

Danksagung 485 Anmerkungen 488 Quellen- und Literaturverzeichnis 539 Sachregister 543 Namenregister 547 Bildnachweis 557

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Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespraumlch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema das ihn seit vielen Jahren beschaumlftigte warum eigentlich kein Historiker sich so richtig fuumlr das interessiere was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bun-deskanzlers 1982 alles gemacht habe Das sei doch eine Menge und manches davon halte er fuumlr nicht ganz unwichtig Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982 und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen raquoAls haumltte ich danach kein Leben mehrlaquo klagte er ein ums andere Mal

Ich wuumlrde mich erkundigen welchen Historiker der juumlnge-ren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen koumlnnte sagte ich und fuhr am Abend zuruumlck nach Berlin Man braucht zwei Stunden Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin um Helmut Schmidt fuumlr einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen weiszlig ich nicht aber an diese Fahrt er-innere ich mich genau Als ich zu Hause ankam stand mein Entschluss fest das Buch das Schmidt sich wuumlnschte selber zu schreiben

28 Jahre hatte ich das Privileg mit ihm zusammenarbeiten zu duumlrfen Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Maumlchte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien habe ich fast alle seine Buch-veroumlffentlichungen betreut Mit seinen Interessen seinen Vorlieben seinen Abneigungen war ich einigermaszligen vertraut und wusste in etwa einzuschaumltzen worauf es ihm ankam Kenntnisse die sich an-dere erst muumlhsam haumltten erarbeiten muumlssen brachte ich also mit

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8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

(ndash)

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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48 Jahre der Zuruumlckhaltung

lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 5: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

Inhalt

Vorwort 7 Teil I

Jahre der Zuruumlckhaltung (1982ndash1990)

1 Inszenierung eines Verrats 15 2 Die langen Schatten der SPD 34 3 Zuruumlck in Hamburg 67 4 Einmal um die Welt 107 5 Schwierige Verwandte 149 6 Keine Memoiren 183

Teil IIJahre der Einmischung (1991ndash2003)

7 Weil das Land sich aumlndern muss 207 8 Entdeckung einer Weltmacht 250 9 Die schwere Hypothek 280 10 Die rot-gruumlnen Jahre 320

Teil IIIWege des Ruhms (2003ndash2015)

11 Das Gedaumlchtnis der Nation 367 12 Deutungshoheit 400 13 Lauter Abschiede 433 14 Die letzten Monate 460

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Anhang

Danksagung 485 Anmerkungen 488 Quellen- und Literaturverzeichnis 539 Sachregister 543 Namenregister 547 Bildnachweis 557

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Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespraumlch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema das ihn seit vielen Jahren beschaumlftigte warum eigentlich kein Historiker sich so richtig fuumlr das interessiere was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bun-deskanzlers 1982 alles gemacht habe Das sei doch eine Menge und manches davon halte er fuumlr nicht ganz unwichtig Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982 und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen raquoAls haumltte ich danach kein Leben mehrlaquo klagte er ein ums andere Mal

Ich wuumlrde mich erkundigen welchen Historiker der juumlnge-ren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen koumlnnte sagte ich und fuhr am Abend zuruumlck nach Berlin Man braucht zwei Stunden Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin um Helmut Schmidt fuumlr einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen weiszlig ich nicht aber an diese Fahrt er-innere ich mich genau Als ich zu Hause ankam stand mein Entschluss fest das Buch das Schmidt sich wuumlnschte selber zu schreiben

28 Jahre hatte ich das Privileg mit ihm zusammenarbeiten zu duumlrfen Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Maumlchte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien habe ich fast alle seine Buch-veroumlffentlichungen betreut Mit seinen Interessen seinen Vorlieben seinen Abneigungen war ich einigermaszligen vertraut und wusste in etwa einzuschaumltzen worauf es ihm ankam Kenntnisse die sich an-dere erst muumlhsam haumltten erarbeiten muumlssen brachte ich also mit

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8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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191 Inszenierung e ine s Verrat s

politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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211 Inszenierung e ine s Verrat s

einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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24 Jahre der Zuruumlckhaltung

der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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251 Inszenierung e ine s Verrat s

Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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271 Inszenierung e ine s Verrat s

dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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532 Die langen Schat ten der SPD

schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 6: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

Anhang

Danksagung 485 Anmerkungen 488 Quellen- und Literaturverzeichnis 539 Sachregister 543 Namenregister 547 Bildnachweis 557

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Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespraumlch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema das ihn seit vielen Jahren beschaumlftigte warum eigentlich kein Historiker sich so richtig fuumlr das interessiere was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bun-deskanzlers 1982 alles gemacht habe Das sei doch eine Menge und manches davon halte er fuumlr nicht ganz unwichtig Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982 und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen raquoAls haumltte ich danach kein Leben mehrlaquo klagte er ein ums andere Mal

Ich wuumlrde mich erkundigen welchen Historiker der juumlnge-ren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen koumlnnte sagte ich und fuhr am Abend zuruumlck nach Berlin Man braucht zwei Stunden Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin um Helmut Schmidt fuumlr einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen weiszlig ich nicht aber an diese Fahrt er-innere ich mich genau Als ich zu Hause ankam stand mein Entschluss fest das Buch das Schmidt sich wuumlnschte selber zu schreiben

28 Jahre hatte ich das Privileg mit ihm zusammenarbeiten zu duumlrfen Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Maumlchte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien habe ich fast alle seine Buch-veroumlffentlichungen betreut Mit seinen Interessen seinen Vorlieben seinen Abneigungen war ich einigermaszligen vertraut und wusste in etwa einzuschaumltzen worauf es ihm ankam Kenntnisse die sich an-dere erst muumlhsam haumltten erarbeiten muumlssen brachte ich also mit

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8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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191 Inszenierung e ine s Verrat s

politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 7: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

Vorwort

Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespraumlch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema das ihn seit vielen Jahren beschaumlftigte warum eigentlich kein Historiker sich so richtig fuumlr das interessiere was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bun-deskanzlers 1982 alles gemacht habe Das sei doch eine Menge und manches davon halte er fuumlr nicht ganz unwichtig Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982 und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen raquoAls haumltte ich danach kein Leben mehrlaquo klagte er ein ums andere Mal

Ich wuumlrde mich erkundigen welchen Historiker der juumlnge-ren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen koumlnnte sagte ich und fuhr am Abend zuruumlck nach Berlin Man braucht zwei Stunden Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin um Helmut Schmidt fuumlr einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen weiszlig ich nicht aber an diese Fahrt er-innere ich mich genau Als ich zu Hause ankam stand mein Entschluss fest das Buch das Schmidt sich wuumlnschte selber zu schreiben

28 Jahre hatte ich das Privileg mit ihm zusammenarbeiten zu duumlrfen Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Maumlchte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien habe ich fast alle seine Buch-veroumlffentlichungen betreut Mit seinen Interessen seinen Vorlieben seinen Abneigungen war ich einigermaszligen vertraut und wusste in etwa einzuschaumltzen worauf es ihm ankam Kenntnisse die sich an-dere erst muumlhsam haumltten erarbeiten muumlssen brachte ich also mit

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8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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24 Jahre der Zuruumlckhaltung

der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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271 Inszenierung e ine s Verrat s

dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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532 Die langen Schat ten der SPD

schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 8: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

8 Vorwort

Die noumltige Distanz die eine kritische Biographie verlangt wuumlrde sich mit der Zeit schon einstellen hoffte ich

Vier Wochen spaumlter trug ich Schmidt meine Kuumlhnheit vor Es sei mir ja wohl klar auf wie viel Arbeit ich mich da einlieszlige meinte Schmidt ob ich mir wirklich zumuten wolle Jahre im Archiv zu sitzen raquoAls Freund rate ich Ihnen ablaquo Schmidts Privatarchiv das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist kannte ich gut bei der Vorbereitung vieler seiner Buumlcher hatte ich dort recherchiert Ich machte mir keine Illusionen was den Arbeitsaufwand anging war aber davon uumlberzeugt dass es sich lohnen wuumlrde

Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags Schmidts raquoHausver-laglaquo schien mir die passende Adresse Der Bundeskanzler a D hatte dort seine wichtigsten Buumlcher publiziert und den Verlagsgruumlnder Wolf Jobst Siedler immer als raquoseinenlaquo Verleger bezeichnet ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt Mein Angebot wurde angenommen Als ich am 11 November 2014 wieder in Hamburg war kam Schmidt gleich zur Sache und fragte ob ich mir das Ganze noch einmal uumlberlegt haumltte Ich wuumlrde es mir zu-trauen antwortete ich Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen raquoDann ist das hiermit also verabredetlaquo sagte er

Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letz-tem Buch Dann nahmen unsere Gespraumlche unmerklich einen an-deren Charakter an Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter sondern als Biograph der keine Behauptung unge-pruumlft uumlbernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbe-sondere gegenuumlber allen Versuchen nachtraumlglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten hat der Caesar-Biograph Chris tian Meier einmal gesagt und um wie viel mehr galt das fuumlr einen noch lebenden

Alle drei bis vier Wochen fuhr ich fuumlr einige Tage nach Langen-horn um mich durch die Akten zu fressen und saszlig jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen Viele meiner sehr

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9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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432 Die langen Schat ten der SPD

die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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472 Die langen Schat ten der SPD

D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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48 Jahre der Zuruumlckhaltung

lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 9: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

9Vorwort

detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten weil ihm die Zu-sammenhaumlnge nicht mehr praumlsent waren anderes schien ihn nicht zu interessieren Ich sei auf einer falschen Spur sagte er dann die Do-kumente die ich gefunden haumltte seien voumlllig unerheblich Ich vertei-digte mich erlaumluterte warum sie in meinen Augen wichtig seien ndash und merkte zu spaumlt dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich houmlren wollte ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte

Waumlhrend Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte war es mein Ehrgeiz die Stereotypen aufzubrechen mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte Vielleicht wuumlrde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken koumlnnen Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten lieszlig von seinen uumlblichen Argumentationsmustern abzuweichen uumlberkam ihn schnell das Gefuumlhl zu viel von sich preiszugeben Dann brach er ab und griff zu dem Satz den er fuumlr solche Faumllle immer parat hatte raquoDas ist mir alles viel zu privatlaquo

Buumlcher zu veroumlffentlichen war fuumlr Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Auszliger Dienst eines der erfolgreichsten politi-schen Buumlcher in Deutschland vorgelegt Seither war Jahr fuumlr Jahr entweder ein Gespraumlchsband oder ein Sammelwerk erschienen und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung Kaum war im Fruumlhjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen fragte er was man denn als Naumlchstes in Angriff nehmen koumlnnte Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr So wurde die Biographie der spaumlten Jahre die er mir uumlbertragen hatte in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt Wann das Buch denn erscheinen soll wollte er wissen Zeitnah zum Tod ndash so stehe es im Verlagsvertrag sagte ich ndash spaumltestens jedoch zum 100 Geburtstag Da grinste er schelmisch raquoEs koumlnnte sein dass ich hundert werdelaquo

Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus die sich spaumlter moumlglicherweise in irgendeinem Zu-sammenhang als nuumltzlich erweisen konnten Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven ndash umfassend in den Nachlaumlssen Bucerius

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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532 Die langen Schat ten der SPD

schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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10 Vorwort

und Doumlnhoff ndash und arbeitete mich durch die Literatur die wissen-schaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert Sobald ich das Quellenmaterial fuumlr ein geplantes Kapitel einiger-maszligen vollstaumlndig erschlossen hatte begann ich zu schreiben Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr irgendwann im Ma-terial zu ertrinken und konnte zum anderen die Fragestellung fuumlr die jeweils naumlchsten Kapitel fortwaumlhrend praumlzisieren und aktualisieren Die Gespraumlche mit Schmidt verstand ich als ein nuumltzliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses Machte ich ihn darauf aufmerksam dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich was sich aus den Quellen ergab ermahnte er mich es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu uumlbertreiben schlieszlig-lich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen

Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen saumlmt-lichen Archivalien gewaumlhrt ich durfte sehen was ich sehen wollte konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen Das Vertrauen das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte wollte ich rechtfertigen ndash ohne dabei meine Unabhaumlngigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen raquoMachen Sie ihn bloszlig nicht zu einem Heiligenlaquo hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitima-tionsproblem Immer oumlfter stand ich vor der Frage Wie kritisch durfte ich eigentlich sein Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gruumlnd-lichkeit und ein hohes Maszlig an Objektivitaumlt und er vertrug die Wahrheit Dennoch wurde mir irgendwann klar dass die Veroumlffent-lichung meines Buches sein Verhaumlltnis zu mir zweifellos beschaumldigen und ich nichts dagegen wuumlrde unternehmen koumlnnen Die Vorstel-lung den Mann den ich verehrte zu verletzen belastete mich

Als Helmut Schmidt am 10 November 2015 starb ndash fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung ndash wusste ich dass die Verantwortung fuumlr das Buch von jetzt an ausschlieszliglich bei mir lag Wer keine Ruumlcksicht zu nehmen braucht hat auch keine Ausrede mehr Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben wuumlrde mir aber auch keine

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

(ndash)

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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191 Inszenierung e ine s Verrat s

politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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211 Inszenierung e ine s Verrat s

einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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24 Jahre der Zuruumlckhaltung

der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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512 Die langen Schat ten der SPD

Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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11Vorwort

Gedanken daruumlber gemacht welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben koumlnnte Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saszlig wurde mir klar dass ich von nun an auf mich allein gestellt war Dabei machte ich eine merkwuumlrdige Beobachtung Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach ruumlbergehen und ihn noch einmal befragen konnte las ich gleichsam fuumlr ihn mit so jedenfalls schien es mir und diese Vorstellung wirkte auf mich be-freiend Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann ging mir manches leichter von der Hand

Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Ak-ten uumlber all die Jahre stets sorgfaumlltig gefuumlhrt Dabei wurden vier Uumlberlieferungsreihen unterschieden private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr) eigene Arbeiten (Aufsaumltze Reden Interviews) Reiseordner sowie die Ordner Pressecho Ab 1983 ka-men neue Ordnerreihen hinzu insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit deren Herausgeber Schmidt war Korrespondenzen diverser Stiftungen sowie die Ord-ner und Behaumllter mit den Vorarbeiten und Manuskripten seiner Buumlcher Am Ende meiner Arbeit hatte ich rund fuumlnfhundert Akten-ordner systematisch durchforstet das sind vierzig laufende Meter die Haumllfte davon private Korrespondenz der Jahre 1982 bis 2015

Ich konzentrierte mich auf das Naheliegende und fragte erst einmal was hat Helmut Schmidt in den letzten 33 Jahren seines Le-bens eigentlich gemacht womit hat er sich beschaumlftigt Er ver waltete sein politisches Erbe pflegte die alten Freundschaften uumlbernahm neue Verpflichtungen Vor allem aber wurde er mit zu nehmendem Alter zu einem der beliebtesten und populaumlrsten Deutschen Hier setzte meine zweite Frage an Wie kam dieser spaumlte Ruhm zustande Je laumlnger die Kanzlerjahre zuruumlcklagen desto mehr wuchs Schmidt die Rolle des politischen Vorbilds zu Je gleichguumlltiger vielen Deut-schen die aktuelle Politik zu werden schien desto mehr bediente er ihre heimliche Sehnsucht nach Fuumlhrung Dieses Paradox inter-

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12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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191 Inszenierung e ine s Verrat s

politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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432 Die langen Schat ten der SPD

die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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452 Die langen Schat ten der SPD

Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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48 Jahre der Zuruumlckhaltung

lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 12: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

12 Vorwort

essierte mich Es lief auf die Frage hinaus wie es Helmut Schmidt gelang von der Mehrheit seiner Landsleute am Ende so gesehen zu werden wie er gesehen werden wollte

Das vorliegende Buch ist nicht strikt chronologisch aufgebaut Vielmehr sind die Kapitel nach thematischen Schwerpunkten ge-ordnet die Vor- und Ruumlckgriffe noumltig machen Die Fragen die Schmidt in einer bestimmten Phase am meisten beschaumlftigten und fuumlr ihn Prioritaumlt hatten bestimmen den Rhythmus des Ganzen Entscheidend bei der Auswahl und Ordnung des Materials war aber auch die Relevanz eines Themas So nehmen etwa Schmidts Aus-landskontakte (insbesondere in die USA) oder das Europathema in der Darstellung sehr viel weniger Raum ein als es ihrer durchgaumlngi-gen Bedeutung fuumlr Schmidt entspricht Die Zeit ist uumlber vieles hin-weggegangen Andere Probleme ndash etwa die Frage der Zuwanderung oder die Forderung nach einem EU-Beitritt der Tuumlrkei das Prinzip der Nichteinmischung oder das Verhaumlltnis zu Russland ndash sind so aktuell dass es auch politisch lohnend erscheint sich mit Schmidts Argumenten noch einmal auseinanderzusetzen

Das erklaumlrte Ziel dieser Arbeit war es die Biographie Helmut Schmidts um die 33 Jahre seit seinem Ausscheiden aus dem Amt zu vervollstaumlndigen Es sollte eine zuverlaumlssige auch wissenschaftlichen Anforderungen genuumlgende Grundlage geschaffen werden fuumlr die weitere Beschaumlftigung mit dem Mann ohne Amt Noch ist es zu fruumlh ein verlaumlssliches Urteil daruumlber zu treffen welche Bedeutung diesen letzten Jahren die immerhin ein Drittel seines Lebens um-fassen einmal zukommen wird Bei einer kuumlnftigen Bewertung der historischen Leistung des fuumlnften deutschen Bundeskanzlers duumlrften sie allein deshalb eine gewisse Rolle spielen weil es keinen anderen Kanzler gegeben hat der nach dem Ausscheiden aus der aktiven Politik eine neue Karriere raquoauszliger Dienstlaquo aufbauen konnte Auszliger

Dienst nannte Schmidt nicht ohne Ironie sein politisches Ver-maumlchtnis Einen anderen als ihn konnten sich die meisten Deut-schen in dieser Rolle gar nicht vorstellen Warum das so war und warum es vorerst wohl auch keinen in dieser Rolle mehr geben wird ndash davon erzaumlhlt dieses Buch

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Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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171 Inszenierung e ine s Verrat s

aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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311 Inszenierung e ine s Verrat s

Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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432 Die langen Schat ten der SPD

die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 13: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

Teil IJahre der Zuruumlckhaltung

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 14: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

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Inszenierung eines Verrats

Der 1 Oktober 1982 war ein Freitag ein schwarzer Freitag ndash nicht nur fuumlr die deutsche Sozialdemokratie Millionen fuumlr die an diesem Tag die Glaubwuumlrdigkeit der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel stand verfolgten an den Bildschirmen die Debatte im Deutschen Bundestag die am spaumlten Vormittag mit einer Erklaumlrung des Bundeskanzlers begann Der Bundestag moumlge beschlieszligen so der einzige Tagesordnungspunkt dem ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von CDUCSU und FDP zugrunde lag Helmut Schmidt als Kanzler der sozialliberalen Koalition das Misstrauen auszu-sprechen und den Abgeordneten Dr Helmut Kohl zu seinem Nach-folger zu waumlhlen

In Bonn galt es seit Wochen als ein offenes Geheimnis dass der FDP-Vorsitzende Auszligenminister Hans-Dietrich Genscher beab-sichtigte den Partner zu wechseln Aber wie wollte er seine Partei davon uumlberzeugen dass das Wendemanoumlver richtig war und vor allem Wie wollte er verhindern hinterher als derjenige dazustehen der dem Kanzler das Messer in den Ruumlcken gestoszligen hatte An einem raquoKoumlnigsmordlaquo werde er sich nicht beteiligen sagte FDP- Innenminister Gerhart Baum am 2 September im Stern und diese Haltung teilten viele Liberale nicht nur am linken Fluumlgel Zwei Wochen spaumlter warnte Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bun-destag vor raquoMachenschaftenlaquo die geeignet seien das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland zu beschaumldigen1 Das mit Bedacht ge-waumlhlte Wort von den raquoMachenschaftenlaquo das unausgesprochen auch den raquoVerratlaquo implizierte entfaltete die beabsichtigte Wirkung Von diesem Tag an notierte Regierungssprecher Klaus Boumllling kuumlhl saszlig Genscher raquoin einem Glaskaumlfiglaquo2

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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311 Inszenierung e ine s Verrat s

Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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16 Jahre der Zuruumlckhaltung

Den September uumlber spielten die Partei- und Fraktionsfuumlhrun-gen der vier im Bundestag vertretenen Parteien verschiedene Szena-rien durch die nur einem Zweck dienten dem Waumlhler die Rolle der eigenen Partei bei dem anstehenden Wechsel plausibel zu machen und sich eine moumlglichst guumlnstige Ausgangsposition fuumlr Neuwahlen zu sichern Das geringste Risiko lag bei der CDU Deren Vorsitzender konnte es zwar kaum erwarten die amtierende Koalition abzuloumlsen aber Druck ausuumlben konnte er nicht schon gar nicht auf die FDP die er brauchte um endlich auf die Regierungsbank zu kommen Unabhaumlngig davon wie belastbar ihre Beziehung gewesen sein mag und wie eng sie sich in den entscheidenden Septembertagen abge-stimmt haben Sehr viel mehr als die Bereitschaft bedingungslos mit der FDP zu koalieren und die Zusage dass Genscher das Auswaumlrtige Amt behalten duumlrfe konnte Kohl dem Duzfreund nicht anbieten raquoIm Uumlbrigen musst du wissen dass du nicht ohne Netz turnstlaquo ndash mit dieser kecken Aufmunterung hatte er sich von Genscher in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet3 Viel war das nicht

Genscher wollte den Sprung nur dann wagen wenn er absolut sicher sein konnte die Mehrheit der FDP-Fraktion auf seiner Seite zu haben Dort aber grummelte es vernehmlich Die Partei hatte bei den Bundestagswahlen im Oktober 1980 dank einer klaren Koali-tionsaussage ndash raquower FDP waumlhlt garantiert dass Schmidt Bundes-kanzler bleibtlaquo4 ndash deutliche Zugewinne erzielt und war mit 53 (statt bisher 39) Listenabgeordneten im Parlament vertreten Der flie-gende Wechsel mitten in der Legislaturperiode ndash davon war ein Groszligteil der Liberalen uumlberzeugt ndash werde die Glaubwuumlrdigkeit ihrer Partei nachhaltig erschuumlttern und sich verheerend auf das Abschnei-den der FDP bei moumlglichen vorgezogenen Neuwahlen auswirken Es war nicht unrealistisch anzunehmen dass die FDP den Wieder-einzug ins Parlament verpasste Die Frage wann Genscher springen wuumlrde hing deshalb entscheidend davon ab dass zwischen dem Bruch der Koalition und einem Wahltermin moumlglichst viel Zeit ver-ging Der Waumlhler hat ein kurzes Gedaumlchtnis

Bevor sich Genscher mit Kohl auf einen Termin fuumlr Neuwahlen verstaumlndigen konnte musste die amtierende Regierung erst einmal

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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311 Inszenierung e ine s Verrat s

Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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432 Die langen Schat ten der SPD

die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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aus dem Amt gehievt werden Helmut Schmidt machte keine An-stalten aufzugeben Genschers Kalkuumll ihn hinzuhalten und so all-maumlhlich raquoweichklopfenlaquo5 zu koumlnnen zeugte von geringer Men-schenkenntnis und bewirkte beim Kanzler das genaue Gegenteil Entweder lieszligen sich die sachlichen Differenzen mit den Liberalen uumlberbruumlcken so Schmidts Haltung noch zu Beginn der zweiten Septemberwoche oder aber er werde dafuumlr sorgen dass sie vor dem Wahlvolk ndash und vor der deutschen Geschichte ndash die alleinige Ver-antwortung fuumlr den Koalitionsbruch trugen Nicht er der Kanzler sollte am Ende nackt dastehen sondern diejenigen die ihn aus dem Amt vertrieben hatten Am 15 September rang sich Schmidt end-guumlltig zu der Erkenntnis durch dass die Koalition nicht mehr zu retten war und nahm das Heft des Handelns in die Hand

Uumlber Monate hatten Genscher und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff den Kanzler mit gezielten Nadelstichen zu reizen gesucht von Schmidt wiederholt zur Rede gestellt beteuerte Gen-scher ein ums andere Mal an der Koalition festhalten zu wollen Nachdem der Bundeskanzler seinen Wirtschaftsminister bereits An-fang Mai schriftlich hatte ermahnen muumlssen sich mit oumlffentlicher Kritik am Koalitionspartner zuruumlckzuhalten ndash arbeitsmarktpoliti-sche Uumlberlegungen der SPD waren von Lambsdorff in einem Inter-view als raquoGruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeugelaquo bezeichnet worden6 ndash legte dieser zu Beginn der neuen Sitzungsperiode nach Unter Hinweis auf rapide sich verschlechternde Wirtschaftsdaten und anwachsende Staatsschulden wiederholte Lambsdorff wiede-rum oumlffentlich seine Forderung nach notwendigen Umschichtun-gen im Haushalt weg von der konsumptiven hin zu einer in-vestiven Ausgabenpolitik Vorschlaumlge aus den Reihen der SPD zur Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maszlignahmen eine befristete Ergaumlnzungsabgabe auf houmlhere Einkommen einzufuumlhren konterka-rierte der Wirtschaftsminister mit dem Ruf nach Steuererleichterun-gen fuumlr Unternehmer und harten Einschnitten in die sozialen Netze

Am 30 August erinnerte Schmidt den Minister erneut an die Kabinettsdisziplin und legte ihm nahe seine Vorschlaumlge wie sich die Konjunktur ohne weitere Kreditaufnahme des Staates ankurbeln

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lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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311 Inszenierung e ine s Verrat s

Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 17: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

18 Jahre der Zuruumlckhaltung

lasse doch einmal zu Papier zu bringen Das von Lambsdorff zehn Tage spaumlter vorgelegte raquoKonzept fuumlr eine Politik zur Uumlberwindung der Wachstumsschwaumlche und zur Bekaumlmpfung der Arbeitslosigkeitlaquo gilt seither als Scheidungsdokument der sozialliberalen Koalition Als solches war es jedenfalls angelegt hatte Lambsdorff seine wich-tigsten Thesen doch breit streuen und in der Zeit vom 10 Septem-ber unter der Uumlberschrift raquoManifest der Sezessionlaquo veroumlffentlichen lassen bevor das 34-seitige Memorandum am Abend im Bundes-kanzleramt eintraf

In der Parteispitze der Liberalen hielt man die durch Lambsdorff forcierte Zuspitzung fuumlr einen taktischen Fehler Genscher und der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Mischnick der in diesen Wochen unermuumldlich fuumlr eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den So-zialdemokraten warb hatten ihn vergeblich zuruumlckzuhalten versucht Am 26 September standen Landtagswahlen in Hessen an und Gen-scher wollte mit allen Mitteln verhindern dass es vor diesem Datum zum Bruch kam auch die Wahlen in Bayern am 10 Oktober wollte er unbedingt noch hinter sich bringen Die Zuverlaumlssigkeit der FDP in Bonn durfte nicht zum beherrschenden Wahlkampfthema wer-den wenn die Partei nicht Gefahr laufen wollte in beiden Laumlnder-parlamenten an der Fuumlnfprozenthuumlrde zu scheitern

Waumlhrend Mischnick die Bedeutung des Lambsdorff-Memoran-dums herunterzuspielen suchte ndash es handele sich um einen Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium der am Kabinettstisch zu diskutie-ren sei nicht um ein FDP-Positionspapier ndash lieszlig Finanzminister Manfred Lahnstein in seinem Ressort den Wunschkatalog des Gra-fen analysieren Das Papier spiegele raquodie klassische buumlrgerliche Na-tionaloumlkonomie zur Bewahrung der gesellschaftlichen Privilegienlaquo fasste Lahnstein zwei Tage spaumlter zusammen raquoDas Wort Solidaritaumlt kommt nicht ein einziges Mal vorlaquo7

Schmidt war nicht gewillt sich mit dem widerspenstigen Minis-ter auf ein Klein-Klein einzulassen Wenn es die FDP-Spitze schon auf den Bruch anlegte durfte man ihr aus Sicht des Kanzlers keines-falls die Chance einraumlumen zu behaupten die Gegensaumltze zu den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- Finanz- und Beschaumlftigungs-

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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311 Inszenierung e ine s Verrat s

Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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412 Die langen Schat ten der SPD

waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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432 Die langen Schat ten der SPD

die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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452 Die langen Schat ten der SPD

Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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472 Die langen Schat ten der SPD

D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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48 Jahre der Zuruumlckhaltung

lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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492 Die langen Schat ten der SPD

die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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532 Die langen Schat ten der SPD

schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 18: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

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politik seien unuumlberwindlich geworden Schmidt stand das Schick-sal des letzten sozialdemokratischen Reichskanzlers der Weimarer Republik Hermann Muumlller vor Augen der im Maumlrz 1930 zuruumlck-getreten war weil die SPD einer vom Koalitionspartner Deutsche Volkspartei geforderten Erhoumlhung der Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt nicht zustimmen wollte Das Scheitern der Regierung Muumlller der letzten demokratisch legitimierten Regie-rung des Deutschen Reiches wurde seither der SPD angelastet der nach Ansicht mancher Historiker dadurch auch eine Mitschuld am Untergang von Weimar zukam Tatsaumlchlich hatte die Deutsche Volkspartei zielstrebig darauf hingearbeitet die Sozialdemokraten von der Regierungsbank zu entfernen und es verstanden ihnen am Ende auch noch den Schwarzen Peter zuzuschieben

Am 9 September gab Schmidt im Deutschen Bundestag eine Erklaumlrung zur Lage der Nation ab Die Debatte zog sich bis in den spaumlten Nachmittag anschlieszligend fuhr Schmidt in die Parlamen-tarische Gesellschaft um ein Buch vorzustellen an dessen Entste-hung Ende der vierziger Jahre er regen Anteil genommen hatte Die

deutsche Sozialpolitik und der Bruch der groszligen Koalition im Maumlrz

1930 Mit der Autorin Helga Timm war er seither befreundet und so uumlbernahm Schmidt gern die Praumlsentation der Neuausgabe ihrer 1952 erstmals erschienenen Dissertation Einige Gaumlste an diesem Abend seien sicherlich gekommen sagte Schmidt zu Beginn seiner kleinen Rede raquoum aus meinen Ausfuumlhrungen Fingerzeige fuumlr die naumlchsten Tage Wochen Monate oder Jahre zu erhaltenlaquo Er muumlsse diese Gaumlste enttaumluschen Geschichte wiederhole sich nun einmal nicht Sehr wohl interessiere ihn hingegen die Frage die auch die Autorin am Ende ihrer Einleitung aufwerfe wie sich die politischen und sozialen Folgen der gegenwaumlrtigen Weltwirtschaftskrise meis-tern lieszligen8

Im Anschluss an die Veranstaltung saszlig Schmidt mit Helga Timm dem Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher und dem SPD-Abgeordneten Norbert Gansel zusammen Im vertrauten Kreis sprach man jetzt sehr wohl uumlber die Parallelen zum Jahr 1930 und Schmidt machte klar dass er alles unternehmen werde damit den

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Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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Page 19: Helmut Schmidt Die späten Jahre - Penguin Random House ...

20 Jahre der Zuruumlckhaltung

Sozialdemokraten nicht noch einmal die Schuld fuumlr den Bruch einer Koalition zugewiesen werde9 Auch im raquoKleeblattlaquo ndash der Runde seiner engsten Berater bestehend aus Kanzleramtschef Gerhard Konow Staatsminister Hans-Juumlrgen Wischnewski und Regierungs-sprecher Klaus Boumllling ndash kam Schmidt in diesen Tagen zweimal auf den Sturz Hermann Muumlllers zu sprechen Ruumlcktritt eines sozial-demokratischen Kanzlers aus nichtigem Anlass Das duumlrfe sich auf keinen Fall wiederholen10

Dass Schmidt das Jahr 1930 zum Vergleich heranzog machte deutlich wie fest und sicher er in der Tradition der deutschen So-zialdemokratie stand In Karl Dietrich Brachers Meisterwerk Die

Aufloumlsung der Weimarer Republik ndash das Schmidt noch im Jahr seines Erscheinens 1955 verschlungen hatte und das bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlieszlig ndash war die eigentliche Ursache fuumlr das Ende der Regierung Muumlller nachzulesen Sie stuumlrzte heiszligt es dort wegen raquodes problematischen Funktionsverhaumlltnisses zwischen hellip Taktik und Strategie der Parteipolitik auf der einen der Regierungspolitik auf der anderen Seitelaquo11 Das Gleiche drohte jetzt wieder dass durch das Lavieren der raquoWackelparteilaquo (Schmidt) die Regierungsarbeit gaumlnz-lich zum Erliegen gebracht wurde Das Ende von Weimar beschaumlf-tigte Schmidt bis ins hohe Alter die Regierung Muumlller bilanzierte er 2010 im Gespraumlch mit dem Historiker Fritz Stern habe sich raquoin die Buumlsche geschlagen Ich wuumlrde das Ganze nicht als Schuld ansehen wollen sondern als Tragoumldielaquo12

Sich in die Buumlsche zu schlagen kam gar nicht infrage Schmidt musste einen Weg finden um Lambsdorffs Versuche ihn uumlber Haushaltsdetails stolpern zu lassen zu unterlaufen und gleichzeitig einen Keil zwischen Union und Wende-Liberale zu treiben Die Loumlsung war ein Angebot auf Neuwahlen Damit wuumlrde der schwe-lende Konflikt mit dem Koalitionspartner aus den Niederungen der Parteipolitik gewissermaszligen auf eine houmlhere Ebene gehoben die des Waumlhlers als Souveraumln Am Wochenende vom 45 September hatte Schmidt zu Hause in Hamburg-Langenhorn seine Rede zur Lage der Nation am 9 September uumlberarbeitet und dabei im letzten Drittel einen laumlngeren Passus eingefuumlgt in dem er den Oppositions fuumlhrer zu

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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24 Jahre der Zuruumlckhaltung

der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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26 Jahre der Zuruumlckhaltung

Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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50 Jahre der Zuruumlckhaltung

dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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512 Die langen Schat ten der SPD

Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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52 Jahre der Zuruumlckhaltung

Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Artikel 67 GG mit a nschlieszligenden Neuwahlen aufforderte

Am Freitag zuvor hatte Helmut Kohl in einem Interview in der Westfaumllischen Rundschau einen mit Blick auf die FDP schweren tak-tischen Fehler begangen Die CDU sei bereit hatte Kohl gesagt eine geschaumlftsfuumlhrende Minderheitsregierung Schmidt zu tolerieren falls es zu einer verbindlichen Absprache uumlber vorgezogene Wahlen kaumlme Moumlglicherweise war es die Ungeduld die Kohl zu dieser nicht zu Ende gedachten Aumluszligerung verleitete moumlglicherweise stand er allzu stark unter dem Eindruck seiner letzten Wanderung mit Franz Josef Strauszlig Neuwahlen so hatte ihm dieser am 31 August in den Bergen uumlber Kufstein erklaumlrt muumlssten so schnell wie moumlglich abge-halten werden Die Union werde umso besser abschneiden je leben-diger dem Waumlhler das Debakel der sozialliberalen Koalition noch vor Augen stehe Die Freien Demokraten hoffte Strauszlig bei dieser Gelegenheit gleich ganz loszuwerden waren sie in seinen Augen doch mitverantwortlich fuumlr seine Niederlage gegen Helmut Schmidt bei der Bundestagswahl 1980 als sie ja nicht nur fuumlr Schmidt son-dern auch gegen Strauszlig angetreten waren Fuumlr Genscher wurde es jetzt eng

Wie stark Schmidt die Reihen von CDUCSU und Wende- Liberalen mit seinem Vorstoszlig fuumlr Neuwahlen durcheinanderbrachte laumlsst sich im Protokoll der Bundestagssitzung vom 9 September nachlesen Nachdem er bereits laumlnger als eine Stunde gesprochen hatte ging Schmidt die Opposition direkt an raquoAuf der einen Seite ist es Ihre Taktik uumlberall zu vermeiden zu sagen was Sie wirklich wollen auf der anderen Seite ndash ndash (Zuruf von der CDUCSU Neu-wahlen) ndash Ja Sie wollen ran das habe ich verstanden Aber was Sie dann machen wollen wissen Sie nicht (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP ndash Dr Kohl [CDUCSU] Sie wollen doch Neuwahlen)laquo13 In den Reihen der Opposition herrschte of-fensichtlich vollkommene Verwirrung daruumlber ob man Neuwahlen wollen oder nicht wollen sollte

raquoDer Bundeskanzler weiszlig dass man reisende Leute nicht auf-halten solllaquo beendete Schmidt diesen Teil seiner Rede unmissver-

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22 Jahre der Zuruumlckhaltung

staumlndlich an die Adresse der Freien Demokraten um Genscher und Lambsdorff gerichtet Aber so der Kanzler am Ende feierlich und fest raquowenn eine geschichtliche Epoche in der Entwicklung unseres Staats abgebrochen werden soll dann bitte mit offenem Visier und mit einem klaren Willensentscheid derjenigen die das wollen mit einer Begruumlndung die vor der Geschichte unseres Staats Bestand hat und nicht mit nebensaumlchlichen kunstvollen Argumentenlaquo14 Waumlhrend die Abgeordneten der SPD stehend und lang anhaltend applaudierten ging der Parteivorsitzende Willy Brandt zur Regie-rungsbank um Schmidt die Hand zu druumlcken Dem Kanzler das konnte man in diesem Moment bis in die Reihen der Opposition hinein spuumlren war ein Befreiungsschlag gelungen Er hatte nicht nur die FDP in die Ecke manoumlvriert er hatte auch genau den Ton getroffen den seine eigene Partei nach Wochen der Verunsicherung und Laumlhmung dringend benoumltigte

Die Aufforderung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum war nur der Form halber an den Oppositionsfuumlhrer Kohl gerichtet ndash der darauf erwartungsgemaumlszlig nicht einging ndash in Wirklichkeit galt sie dem Vizekanzler Aber Genscher war noch nicht so weit Links-liberale um Gerhart Baum Burkhard Hirsch und Guumlnter Verheu-gen aber auch starke Frauen wie die Staatsministerin im Auswaumlr-tigen Amt Hildegard Hamm-Bruumlcher Ingrid Matthaumlus-Maier und Liselotte Funcke die mangelnden Anstand beklagten stellten sich quer und machten gehoumlrig Druck Das Risiko dass zu viele Ab-geordnete der FDP sich in geheimer Abstimmung seinem Wende-manoumlver verweigern wuumlrden war fuumlr Genscher nach wie vor unkal-kulierbar groszlig

Am 17 September acht Tage nach seiner Rede zur Lage der Nation ging Schmidt im Deutschen Bundestag in die Offensive Er wolle raquonicht laumlnger zusehen wie die Handlungsfaumlhigkeit und das Ansehen der Bundesregierung stetig beschaumldigt werdenlaquo es werde ihm wohl raquoniemand verdenken dass ich auch mich selbst nicht de-montieren lassen moumlchtelaquo Er erinnerte Helmut Kohl an sein Inter-view und machte daran anknuumlpfend einen neuen Vorschlag zur unverzuumlglichen Herbeifuumlhrung von Neuwahlen Neuwahlen lieszligen

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sich nach der Verfassung nicht nur uumlber den Artikel 67 das kon-struktive Misstrauensvotum sondern auch uumlber Artikel 68 die Ver-trauensfrage in die Wege leiten Das allerdings war kompliziert setzte verbindliche Vereinbarungen zwischen den Fraktionen vor-aus und galt unter Staatsrechtlern als umstritten Die Vertrauens-frage nach vorheriger Absprache unter den Parteivorsitzenden mit dem Ziel der Ablehnung zu stellen bedeute raquodie voumlllige Verkeh-rung des Art 68 GGlaquo mahnte der spaumltere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Boumlckenfoumlrde den Kanzler raquoGreift dies Platz so erhaumllt der Art 68 GG ndash verfassungswidrig ndash die Funktion der jeweils regie-renden Koalition bzw Mehrheit die Festlegung des Wahltermins nach eigenem Geschmack zu ermoumlglichenlaquo15

Schmidt verwies darauf dass bereits Willy Brandt nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen ihn 1972 dieses Verfahren gewaumlhlt hatte raquoum den Waumlhler als den eigentlichen Souveraumln ent-scheiden zu lassenlaquo16 Diese Position vertrat Schmidt auch im Bun-destag Dort hatte er in der Woche zuvor auf die Zwischenrufe aus den Reihen der CDU reagiert und den entscheidenden Punkt her-vorgehoben Ein Neuanfang beduumlrfe nicht nur der Legalitaumlt des Grundgesetzes sondern mehr noch der raquogeschichtlichen Legitimi-taumltlaquo die nur durch Neuwahlen hergestellt werden koumlnne Die SPD so fuumlhrte er am 17 September aus befinde sich zwar raquogegenwaumlrtig in einem handfesten politischen Tieflaquo und werde bei Wahlen raquowahr-scheinlich Federn lassen muumlssenlaquo Aber raquouns Sozialdemokraten sind Ansehen und Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vor-teile zugunsten der eigenen Parteilaquo Verlaumlsslichkeit auch raquoVerlaumlss-lichkeit fuumlr unsere Partner im Buumlndnis und unsere Nachbarn in West und Ost hellip haumlngt in erster Linie von der Glaubwuumlrdigkeit unseres demokratisch-parlamentarischen Systems ablaquo

Die Zustimmung die Schmidt nach dieser Rede quer durch die Republik und uumlber alle Parteigrenzen hinweg entgegenschlug war uumlberwaumlltigend Rainer Barzel der zwei Wochen spaumlter im Namen der Unionsparteien den Antrag zum konstruktiven Misstrauens-votum begruumlnden musste begluumlckwuumlnschte ihn noch an der Regie-rungsbank wenig spaumlter telefonisch auch Bundespraumlsident Carstens

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der sich allerdings skeptisch zeigte dass Schmidt mit seinem Appell fuumlr Neuwahlen durchdringen werde17 raquoEin groszliger Tag fuumlrs Parla-mentlaquo gratulierte Marion Doumlnhoff raquoKein wehmuumltiger Abschied eines von den eigenen Bataillonen desavouierten Chefs sondern die Demonstration eines Fuumlhrungsstils den alle miteinander noch schmerzlich entbehren werdenlaquo18 Rudolf Augstein der im Spiegel vom 6 September die Parole ausgegeben hatte raquoKanzler halte durchlaquo munitionierte Schmidt noch am Vorabend der Rede tele-fonisch raquoSie machen absolut einen Fehler wenn Sie den Grafen tun lassen was er willlaquo19 Selbst einige derjenigen die in der Antiatom-kraft- und Friedensbewegung in vorderster Linie gegen Schmidt kaumlmpften bekundeten ihm ihre Anerkennung raquoDank fuumlr und Gluumlckwunsch zu Ihrer Rede Annemarie und Heinrich Boumllllaquo20

Helmut Schmidt strahlte an diesem Tag innere Ruhe und eine groszlige Gelassenheit aus Selbst Helmut Kohl den er am Vorabend kurzfristig zu einer Unterredung ins Kanzleramt gebeten hatte raumlumte ein dass Schmidt raquounerwartet freundlichlaquo gewesen sei raquoaufgeschlossen und zuvorkommend wie nie zuvorlaquo21 Was Schmidt mit diesem etwa einstuumlndigen Gespraumlch bezweckte laumlsst sich nur anhand dessen rekonstruieren was Kohl am naumlchsten Tag vor der CDUCSU-Fraktion daruumlber berichtet hat Nachdem noch einmal die beiden moumlglichen Wege zu Neuwahlen diskutiert worden seien habe der Kanzler ein duumlsteres Krisenszenario entwickelt Man be-finde sich in einer schwierigen weltpolitischen Lage die moumlglicher-weise auf eine Weltwirtschaftskrise hinauslaufe umso dringender benoumltige das Land eine entschlossene handlungsfaumlhige Regierung Schmidt wollte seinem praumlsumtiven Nachfolger damit zweifellos das Ausmaszlig der Verantwortung vor Augen fuumlhren das auf ihn zu-kaumlme ihm Respekt vor den Aufgaben des Amtes einfloumlszligen viel-leicht auch ein bisschen Angst einjagen Den selbstbewussten Pfaumll-zer konnte das nicht anfechten Schmidt habe ihm zu verstehen geben wollen so interpretierte er das Gespraumlch in seinen Erinne-rungen mit der ihm eigenen Selbstsicherheit dass es an der Zeit sei raquobewaumlhrten Kraumlften die Bewaumlltigung der groszligen Probleme zu uumlber-lassenlaquo22

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Nachdem er Kohl verabschiedet hatte setzte sich Schmidt gegen 2030 Uhr mit Konow Wischnewski und Boumllling zusammen um letzte Hand an die Rede zu legen Als der Text kurz vor 300 Uhr am Morgen endlich stand sagte Schmidt raquoJetzt bin ich richtig lustiglaquo23 Lustig sei vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck meinte Boumll-ling und hatte natuumlrlich recht Wenn der Chef Gefuumlhle ausdruumlcken wollte griff er bisweilen zu recht merkwuumlrdigen Wendungen Dass Schmidt in diesem emotionalen Moment in dem eine solche Last von ihm abfiel seine Stimmung als lustig bezeichnete unterstrich dass er endguumlltig abgeschlossen hatte

Einen geloumlsten geradezu heiteren und ungewoumlhnlich liebens-wuumlrdigen Kanzler erlebte am naumlchsten Morgen auch Graf Lambs-dorff Der Termin um 915 Uhr im Kanzleramt der bereits seit laumln-gerem vereinbart war passte eigentlich nicht mehr in Schmidts Konzept Dennoch hielt er daran fest und brachte gleich zu Beginn des Gespraumlches raquodie persoumlnliche Wertschaumltzung zum Ausdruck hellip die er immer gegenuumlber Graf Lambsdorff gehabt habe und die er auch heute noch habelaquo In seiner fuumlr 1130 Uhr anberaumten Rede vor dem Bundestag werde er die FDP nicht schonen aber insbeson-dere deren Vorsitzenden heftig angehen Dann nahm sich Schmidt einzelne Punkte des Lambsdorff-Papiers vor raquoNachdem die Wuumlrfel gefallen seienlaquo meinte der Minister habe es wohl raquokeinen Zweck daruumlber lange zu streitenlaquo Das Gespraumlch das in angenehmer Atmo-sphaumlre stattfand dauerte etwa 45 Minuten24 raquoIch bin noch Minis-terlaquo beschied Lambsdorff die wartenden Journalisten demonstrativ frohgemut als er nach einer Dreiviertelstunde das Bundeskanzleramt verlieszlig25

Schmidt fuhr ins Bundeshaus wo fuumlr 1015 Uhr eine Sondersit-zung der Fraktion einberufen war Fuumlr 1030 Uhr hatte er Genscher und Mischnick in sein Abgeordnetenbuumlro bestellt um sie daruumlber zu informieren dass er sich zur Beendigung der Koalition entschlossen habe Er uumlberreichte Genscher den Redetext Der schaute gar nicht erst hinein sondern erklaumlrte dem Bundeskanzler den sofortigen Ruumlcktritt der FDP-Minister um so ihrem Rauswurf aus dem Kabi-nett zuvorzukommen Das Ganze dauerte wohl nur zehn Minuten

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Fuumlr Schmidt war es eine Geste der Fairness gewesen den FDP-Vor-sitzenden vorab zu unterrichten jetzt fuumlhlte er sich ein weiteres Mal von ihm duumlpiert und noch Jahrzehnte spaumlter aumlrgerte ihn diese Dummheit (in diesem Zusammenhang wies er auch gern darauf hin dass Genscher nach der Verfassung wenn uumlberhaupt nur seinen eigenen Ruumlcktritt haumltte erklaumlren koumlnnen) Genscher hatte blitzschnell die Chance erfasst mit der Ruumlcktrittserklaumlrung das selbstaumlndige Handeln der FDP zu demonstrieren Allerdings uumlbersah er dabei ei-nen fuumlr die FDP houmlchst unschoumlnen Nebeneffekt Denn die Tatsache dass der Auszligenminister und kurz darauf in der Fraktion auch die drei anderen FDP-Minister ihren Ruumlcktritt erklaumlrten ndash und sie eben nicht entlassen worden waren ndash gab der These vom Verrat der FDP gewal-tigen Schub Betrachtet man das Drehbuch der naumlchs ten Wochen hatte Genscher an diesem Morgen einen Riesenfehler begangen26

Fraktion und Vorstand der Freien Demokraten autorisierten Genscher noch am selben Tag Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen Aber weil Kohl mit Ruumlcksicht auf den FDP-Vorsitzenden auch jetzt einer Festlegung auf Neuwahlen aus dem Weg ging setzte sich in der Bevoumllkerung immer staumlrker der Verdacht durch dass tatsaumlchlich wie die SPD nicht muumlde wurde zu betonen ein raquokalter Machtwechsellaquo (Willy Brandt) vollzogen werden sollte

Unter diesen Vorzeichen ging der Hessen-Wahlkampf in die letzte Woche Wenige Tage nach den fuumlr die FDP katastrophalen Buumlrgerschaftswahlen in Hamburg am 6 Juni hatte die hessische FDP eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU fuumlr Wiesbaden ge-troffen Auf Bundesebene war daraufhin eine Art Stillhalteabkom-men zwischen SPD und FDP geschlossen worden weil beide verhin-dern wollten dass der Wahlkampf in Hessen zu einem Plebiszit uumlber die Bonner Koalition wurde Daran fuumlhlte sich die SPD jetzt nicht mehr gebunden im Gegenteil die Sozialdemokraten taten alles um die Entscheidung in Wiesbaden zu einer Entscheidung uumlber raquoihrenlaquo Kanzler umzufunktionieren

Schmidt selbst ruumlhrte kraumlftig mit Die Hessen muumlssten den raquoSchwarzenlaquo und ihren falschen Freunden von der FDP einmal zeigen raquowas rsquone Harke istlaquo rief er auf der Abschlusskundgebung auf

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dem Frankfurter Roumlmerberg am 24 September raquoAm Kabinettstisch sitzen und abends mit Kohl kungeln Das ist die Genscher-FDP wie sie leibt und lebtlaquo27 Da schwang zweifellos viel Verbitterung mit Wenn die Fuumlhrung der FDP den Wechsel wollte sollte sie auch den Preis dafuumlr zahlen Einer wie er raumlumte das Feld nicht kampflos Das schuldete er sich selbst aber auch seiner Partei Und es zahlte sich aus Am 26 September 1982 erlebte die FDP in Hessen die bis dahin groumlszligte Niederlage ihrer Geschichte Mit 31 Prozent der Stimmen wurde sie mehr als halbiert

Angesichts des unerwartet guten Abschneidens der Gruumlnen die mit 8 Prozent ndash wie zuvor schon in Hamburg ndash jetzt auch in den Wiesbadener Landtag einzogen lieszlig Willy Brandt am Wahlabend in der raquoBonner Rundelaquo seinen Blick in die Zukunft schweifen und wiederholte sein Wort von einer denkbaren Mehrheit raquodiesseits der Unionlaquo was Helmut Kohl zu der Bemerkung verleitete Brandt wolle raquoeine andere Republiklaquo Uumlber das Ende der Regierung Schmidt machte sich jedoch bei aller Euphorie uumlber den Sieg Holger Boumlrners keiner in der SPD mehr Illusionen Es ging nur noch um die Modalitaumlten

Am Sonntag vor der Hessen-Wahl hatte Schmidt uumlber Hans-Juumlrgen Wischnewski einen direkten Kontakt zu Franz Josef Strauszlig hergestellt schien ihm doch raquoder Gedanke nicht ohne Reiz zu sein gemeinsam mit dem Bayern die Herren Kohl und Genscher doch noch zu schnellen Neuwahlen zu noumltigenlaquo28 Nach dem fuumlr die CDU enttaumluschenden Ergebnis in Hessen ndash Alfred Dregger hatte dort auf eine Alleinregierung spekuliert ndash begrub Strauszlig jedoch endguumlltig alle Hoffnungen Neuwahlen vor Jahresende wuumlrden der Union im Bund die absolute Mehrheit sichern ndash und ihm selbst den Posten des Auszligenministers und Vizekanzlers Parteifreunden die nach der Hessen-Wahl darauf setzten dass er doch noch einmal die Initiative fuumlr eine Fortsetzung der Koalition ergreifen werde erteilte Schmidt eine klare Absage Der Zug war abgefahren und er selbst wollte raquonicht als Geschaftlhuber von der Buumlhne gehenlaquo29

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28 Jahre der Zuruumlckhaltung

Am spaumlten Nachmittag des 30 September nahm der Bundeskanzler im Palais Schaumburg Abschied vom Diplomatischen Korps An-schlieszligend fuhr er zum Muumlnsterplatz wo die SPD ihm zu Ehren einen Fackelzug veranstaltete hinterher saszlig er noch einige Zeit mit Teilnehmern der Kundgebung zusammen Am naumlchsten Morgen stand im Deutschen Bundestag die Drucksache 92004 das von CDUCSU und FDP eingebrachte konstruktive Misstrauensvotum auf der Tagesordnung Schmidt hatte sich entschieden vorher eine Erklaumlrung abzugeben Die sozialliberale Koalition habe durch die Waumlhlerinnen und Waumlhler im Oktober 1980 raquoeinen Auftrag fuumlr vier weitere Jahre bekommenlaquo so eroumlffnete er seine Rede Seit August letzten Jahres sei jedoch der Vorsitzende der FDP raquovon der gemeinsa-men Verantwortung rsaquofuumlr Freiheit und sozialen Fortschrittlsaquo hellip zielstre-big und schrittweiselaquo abgeruumlckt eine Erklaumlrung sei er bis zum heuti-gen Tage schuldig geblieben Am letzten Sonntag haumltten die hessischen Waumlhler hierzu ihre Meinung kundgetan und jedermann wisse raquoDie katastrophale Niederlage der FDP in Hessen war die Ant-wort der Waumlhler auf das Verhalten der FDP-Fuumlhrung hier in Bonnlaquo

Von einer uumlberwaumlltigenden Mehrheit der Buumlrgerinnen und Buumlr-ger werde die Art wie hier heute der Wechsel herbeigefuumlhrt werden solle als raquoVertrauensbruchlaquo empfunden Und dann in Richtung Helmut Kohl raquoIhre Handlungsweise ist zwar legal aber sie hat keine innere keine moralische Rechtfertigunglaquo Es sei von Neu-wahlen im naumlchsten Maumlrz die Rede fuhr Schmidt fort in den Koali tionsvereinbarungen habe er dazu kein einziges Wort finden koumlnnen er setze daher raquoZweifel in die Aufrichtigkeit dieser Ankuumln-digunglaquo Schmidt forderte seinen Nachredner Rainer Barzel auf raquoheute Morgen fuumlr die CDUCSU dem Bundestag gegenuumlber und damit dem ganzen Volk gegenuumlber ohne Wenn und Aberlaquo zu erklauml-ren dass am 6 Maumlrz gewaumlhlt werde Dann zog er in zwoumllf Punkten eine Bilanz seiner Regierungstaumltigkeit

Er nannte die Politik der guten Nachbarschaft das raquoLebensinter-esselaquo der Deutschen sprach von der Europaumlischen Gemeinschaft und dem Nordatlantischen Buumlndnis als den tragenden Pfeilern deutscher Auszligen- und Sicherheitspolitik mahnte an dass die

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291 Inszenierung e ine s Verrat s

Aussoumlhnung mit den Nachbarn im Osten weiterhin vertieft und die Ostvertraumlge raquonicht nur eingehalten sondern hellip auch praktisch an-gewendet werdenlaquo muumlssten und bezeichnete raquodie Erhaltung der Einheit der Nationlaquo als den innersten Kern seiner Deutschland-politik Er kam auf die Rolle der Bundeswehr und die Qualitaumlt der Streitkraumlfte zu sprechen und leitete von dort uumlber zu den Genfer Abruumlstungsverhandlungen an deren Gelingen Deutschland als Stationierungsland ein raquovitales Interesselaquo habe

Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Schmidt den weltweit wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen Seine Regie-rung habe raquozwischen zwei extremen oumlkonomischen Theorien hellip einen mittleren Kurs gewaumlhlt Wir haben weder eine inflationisti-sche Ausweitung des Staatskredits noch eine deflationistische Schrumpfungspolitik betriebenlaquo Damit seien die Deutschen gut gefahren sehr viel besser als viele der europaumlischen Nachbarn Schmidt vergaszlig nicht darauf hinzuweisen dass verantwortungsvolle Politik gehalten sei raquoeinen vertretbaren Ausgleich zwischen oumlkono-mischen und Umweltschutzinteressen zustande zu bringenlaquo Zum Schluss appellierte er an das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ndash raquoWir Sozialdemokraten warnen vor einer Umverteilung von unten nach obenlaquo ndash und bekannte sich zu der offenen Gesellschaft die sich ihrer Feinde nur erwehren koumlnne wenn sie an den Grund-werten der Freiheit und Wuumlrde unbeirrbar festhalte

Der Zwoumllf-Punkte-Katalog war nicht nur eine Art politisches Testament Schmidt versuchte die eigene Partei uumlber das Ende der Regierung hinaus auf Eckpunkte festzulegen die parteiintern zum Teil heftig umstritten waren Wenn die SPD Geschlossenheit zeigte und die Genossen am linken Fluumlgel jetzt nicht anfingen das Rad neu zu erfinden hatte die Partei eine reelle Chance die naumlchsten Wahlen ndash wann auch immer sie stattfinden wuumlrden ndash einigermaszligen unbeschadet zu uumlberstehen Die Rede diente mithin auch der Ein-stimmung auf den Wahlkampf und die Schluumlsselworte lauteten Kontinuitaumlt und Berechenbarkeit raquoJedermann darf und jedermann muss mit unserer Stetigkeit rechnenlaquo lautete der letzte Satz und er war ebenso an die Nachfolgeregierung gerichtet wie an die eigenen

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30 Jahre der Zuruumlckhaltung

Leute raquoLanganhaltender lebhafter Beifall bei der SPDlaquo notiert das Bundestagsprotokoll raquoDie Abgeordneten der SPD erheben sich ndash Beifall bei Abgeordneten der FDPlaquo30

Nach der Begruumlndung des Misstrauensantrags durch den Abge-ordneten Barzel der dem Kanzler vorhielt was alles er in seiner Rede verschwiegen habe und Reden von Wehner Geiszligler Misch-nick und Brandt gaben die FDP-Abgeordneten Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Bruumlcher persoumlnliche Erklaumlrungen ab in denen sie sich von ihrer Parteifuumlhrung distanzierten raquoIch finde dass beide dies nicht verdient haben Helmut Schmidt ohne Waumlhlervotum gestuumlrzt zu werden und Sie Helmut Kohl ohne Waumlhlervotum zur Kanzlerschaft zu gelangenlaquo sagte Frau Hamm-Bruumlcher Ein solches Vorgehen beschaumldige raquodie moralisch-sittliche Integritaumlt von Macht-wechselnlaquo31 Wie sie dazu komme den Grundgesetzartikel 67 als unmoralisch zu diskreditieren empoumlrte sich CDU-Generalsekretaumlr Heiner Geiszligler und nannte Hamm-Bruumlchers Einlassung raquoeinen An-schlag auf unsere Verfassunglaquo32 Da war sie ploumltzlich wieder jene unheilvolle von gegenseitigen Verdaumlchtigungen vergiftete Luft die schon einmal zehn Jahre zuvor beim gescheiterten Misstrauens-votum gegen Willy Brandt das Hohe Haus verpestet und dem Ansehen des Parlaments auf Jahre geschadet hatte

In dem nach Geiszliglers Intervention ausbrechenden allgemeinen Tumult bat Helmut Schmidt noch einmal um das Wort Wer die Berufung einer Abgeordneten auf ihr Gewissen einen Anschlag auf die Verfassung nenne bekunde ein solches Maszlig an raquoIlliberalitaumlt und Intoleranzlaquo dass sich die FDP schon fragen muumlsse ob sie mit Leuten dieser Gesinnung wirklich eine Verbindung eingehen wolle Es war Helmut Kohl der mit staatsmaumlnnischer Besonnenheit jetzt zu be-schwichtigen suchte raquoLassen Sie uns doch nicht in der ganzen Lei-denschaft der Stunde das zerstoumlren was diese Republik in dreiszligig Jahren auf unserer Verfassung aufgebaut hatlaquo33

Der Antrag Helmut Schmidt abzuwaumlhlen und Helmut Kohl zu seinem Nachfolger zu bestimmen war eingebracht worden nach-dem eine geheime Probeabstimmung der FDP-Fraktion am 28 Sep-tember eine klare Mehrheit fuumlr die Wende-Liberalen erbracht hatte

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311 Inszenierung e ine s Verrat s

Von den 54 Abgeordneten (einschlieszliglich des Berliner Abgeordne-ten) stimmten 34 fuumlr 18 gegen Genschers Manoumlver bei zwei Enthal-tungen In der anschlieszligend in der Unionsfraktion durchgefuumlhrten Probeabstimmung wurde der Antrag zu Artikel 67 GG einstimmig angenommen Kohl blieb dennoch nervoumls beim raquokleinen Zaumlhl-appelllaquo am Vorabend der Entscheidung fehlten 27 Abgeordnete und noch kurz vor Eroumlffnung des Plenums am Morgen des 1 Okto-ber mussten sich Mitarbeiter der Fraktion auf die Suche nach Nach-zuumlglern machen Um 1512 Uhr verkuumlndete der Bundestagspraumlsident das Abstimmungsergebnis 256 Ja-Stimmen 235 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen Mit sieben Stimmen mehr als fuumlr die absolute Mehrheit erforderlich war Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanz-ler gewaumlhlt

Waumlhrend die Abgeordneten der Union sich erheben und lang-anhaltenden Beifall spenden ndash das Protokoll verzeichnet auch Bei-fall bei der FDP ndash geht Helmut Schmidt gemessenen Schrittes von der Regierungsbank zu den Reihen der Opposition um Kohl zu gratulieren Wer genau hinschaut traut seinen Augen nicht Kohl macht reflexartig ein wenig unkontrolliert kurz einen Diener Eine spaumlte uumlberfaumlllige Bezeugung des Respekts vor dem Aumllteren Wer uumlber die Stunde hinaus in geschichtlichen Zusammenhaumlngen denkt sieht dass in diesem Moment ein Generationenwechsel besiegelt und ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufge-schlagen wird

Schmidt nimmt noch einmal auf der Regierungsbank Platz be-gibt sich dann kurz in die Fraktion wo ihm Herbert Wehner zum Abschied einen Strauszlig roter Rosen uumlberreicht und erhaumllt kurz vor vier Uhr in der Villa Hammerschmidt seine Entlassungsurkunde Bei der Ausstellung der Urkunde solle das Bundespraumlsidialamt bitte nicht vergessen hatte Schmidt ein paar Tage zuvor ausrichten lassen raquodass auch der Dank des Vaterlandes draufstehtlaquo34 Protokollarisches war ihm immer wichtig

Nach einer kurzen Ansprache vor der Fuumlhrung der Bundes-wehr ndash die Verabschiedung von der Truppe lag ihm besonders am Herzen ndash faumlhrt Schmidt zuruumlck ins Kanzleramt Sein Arbeitszimmer

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32 Jahre der Zuruumlckhaltung

ist bereits leer geraumlumt Fuumlr 1800 Uhr steht noch ein Interview mit ARD und ZDF im Terminkalender Um 2100 Uhr wird ihn die Bundesluftwaffe ein letztes Mal nach Hamburg zuruumlckfliegen Da ist reichlich Zeit fuumlr Nachbetrachtungen in vertrautem Kreis raquoAlles in allem haben wir es nicht so schlecht gemachtlaquo35 Schmidts Bilanz an diesem letzten Abend faumlllt gewohnt nuumlchtern aus unpathetisch

War das zu wenig Er hatte seine Pflicht getan nach Maszliggabe dessen was ihm zu tun moumlglich war Wie man seine Amtszeit ein-ordne und bewerte so bekundete er in den folgenden Wochen und Monaten mehrfach das wuumlrden spaumlter einmal die Historiker klaumlren Und er selbst so muss man hinzufuumlgen wuumlrde 33 Jahre lang tatkraumlf-tig an der Auslegung mitwirken Vielleicht haumltte er auf die politi-schen Verschiebungen die sich spaumltestens im Fruumlhjahr 1982 erkenn-bar abzeichneten und schlieszliglich seinen Sturz herbeifuumlhrten fruumlher reagieren und die Machtfrage stellen muumlssen statt dem Koalitions-partner hinterherzulaufen und staumlndig Disziplin anzumahnen Erst als ihm Mitte September klar wurde dass die Fuumlhrung der FDP gezielt darauf hinarbeitete ihn zu demontieren um so ihre Ambi-tionen auf einen Machtwechsel zu kaschieren handelte er Schmidt denke jetzt nur noch an sein Bild in der Geschichte spottete Kohl damals War das so falsch Von den Wende-Liberalen wollte er sich dieses Bild jedenfalls nicht zerkratzen lassen

Das letzte Foto des Kanzlers das sich mit seinem Abgang ver-bindet zeigt ihn am Montag im Garten der Villa Hammerschmidt An diesem 4 Oktober nach der Uumlbergabe der Geschaumlfte an seinen Nachfolger hatte sich Schmidt vom Personal des Kanzleramts ver-abschiedet der Personalrat hatte ihm einen groszligen Blumenstrauszlig in Klarsichtfolie uumlberreicht was Kohl sichtlich missfiel Dann ging Schmidt durch den Garten zum Bungalow in dem er bis Dezember wohnen blieb Auf dem Foto das ihn von hinten zeigt wirkt er noch ein wenig kleiner als er war die rechte Schulter haumlngend ein bisschen gebeugt Der Eindruck eines muumlden voumlllig abgearbeite-ten Mannes wird verstaumlrkt durch den Huumlnen der links neben ihm geht Kriminalhauptkommissar Ernst-Otto Heuer Er traumlgt in seiner Rechten laumlssig nach unten den Blumenstrauszlig Die Koumlrpersprache

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331 Inszenierung e ine s Verrat s

von Schmidts langjaumlhrigem Leibwaumlchter an die Fotografen die hin-ter der groszligen Scheibe des Kanzleramts ihre Fotos schieszligen ist auch von hinten eindeutig Den lasst ihr jetzt mal in Ruhe

Mit seiner Rede am 17 September hatte sich Schmidt die Deu-tungshoheit uumlber das Ende der sozialliberalen Koalition verschafft Sein Sturz am 1 Oktober wurde so moralisch gesehen zu einem persoumlnlichen Triumph Weil ihm zugleich die Tragoumldie der Sozial-demokratischen Partei im Fruumlhjahr 1930 vor Augen stand hatte er dafuumlr gesorgt dass die SPD den Wendemanoumlvern des Koalitions-partners diesmal standhielt So konnte auch die SPD erhobenen Hauptes die Buumlhne verlassen als Partei des Staates die vergeblich versucht hatte den Staat vor den Intrigen der anderen Parteien zu schuumltzen Aber wie lange wuumlrde diese Schlussszene Bestand haben In den naumlchsten Wochen und Monaten wuumlrde die neue Regierung alles tun um die Scharte auszuwetzen und ihre Version in Umlauf zu bringen die da lautete Der Kanzler ist an seiner eigenen Partei gescheitert die ihm die Gefolgschaft verweigerte Um sein Erbe zu sichern musste Schmidt jetzt vor allem verhindern dass die Sozialdemokraten dieser Version Auftrieb gaben Da kam einiges auf ihn zu

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Die langen Schatten der SPD

Es sollte fast drei Jahrzehnte dauern bis Helmut Schmidt mit seiner Partei einigermaszligen ausgesoumlhnt war Denn natuumlrlich ndash das war weder dem Koalitionspartner noch der Opposition verborgen geblieben ndash hatten ihm die Genossen vom linken Fluumlgel immer wieder Knuumlppel zwischen die Beine geworfen Erst auf der letzten Etappe seiner Kanzlerschaft als ihnen der Machtverlust unmittelbar drohend vor Augen stand nahm der innerparteiliche Laumlrmpegel deutlich ab Umso heftiger entlud sich der Streit uumlber den richtigen Weg nach dem Regierungswechsel Jetzt wo die SPD nach dreizehn Jahren wie-der auf den Oppositionsbaumlnken saszlig und nicht mehr den Zumutun-gen des Machbaren ausgesetzt war lieszlig sich endlich auch wieder uumlber Programmatisches reden Die Partei verzichte lieber auf Teilhabe an der Regierung als dass sie raquoVerletzungen der eigenen hohen politi-schen Anspruumlchelaquo zulasse bemerkte Egon Bahr einmal raquoDas Pro-gramm gehoumlrt zur Seele der Parteilaquo1 Diese Seele hatte in den acht Jahren der Regierung Schmidt schweren Schaden genommen

Niemand wusste das besser als der Parteivorsitzende Willy Brandt der waumlhrend der Regierung Schmidt selbst manche Kraumln-kung erfahren hatte Spekulationen Schmidt habe zusammen mit Herbert Wehner im Fruumlhjahr 1974 aktiv auf seinen Sturz hinge-arbeitet maszlig Brandt selbst kein Gewicht bei auch spaumlter nicht als er Wehner gemeinsame Sache mit Ostberlin unterstellte Die Ambi-tionen des ehrgeizigen Hamburgers waren ihm allerdings nicht ver-borgen geblieben Schon im Herbst 1965 als Brandt nach der verlo-renen Bundestagswahl erklaumlrte nicht ein drittes Mal als Kandidat antreten zu wollen hatte sich Schmidt unter allerlei Verrenkungen erkundigt wie es denn jetzt weitergehe Einerseits stoumlre ihn raquoder

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352 Die langen Schat ten der SPD

mancherorts mir erteilte Vorschusslorbeer erheblichlaquo andererseits waumlre es fuumlr ihn hilfreich zu wissen auf wen die Rolle des Kanzler-kandidaten raquoim Laufe der naumlchsten Jahre nun tatsaumlchlich fallen wirdlaquo2 Brandt dankte fuumlr die raquofreundschaftliche Gesinnunglaquo gab dem strebsamen Hamburger Innensenator der mit seinem Wechsel zuruumlck in die Bundestagsfraktion seinen Anspruch auch nach auszligen geltend machte aber gleich auch eine kleine Warnung mit auf den Weg raquoFuumlr Dich wird es sehr darauf ankommen dass Du Dich nicht uumlbernimmst und vor wichtigen Entscheidungen den Rat guter Freunde houmlrst hellip Uumlber die Schlachtordnung fuumlr 1969 sollten wir nicht zu fruumlh entscheidenlaquo3 Weil die FDP 1966 vorzeitig die Koali-tion verlieszlig kam dann alles ganz anders

Im Laufe der Jahre musste Schmidt wiederholt den Ruumlckzug antreten und in langen Briefen an Brandt darlegen dass das was von Dritten oder in der Presse kolportiert wurde erstens so von ihm nicht gesagt worden und zweitens auch anders gemeint gewesen sei Anfang Maumlrz 1974 zog sich Schmidt wieder einmal den Unmut Brandts zu als er in zwei Fernsehauftritten nach dem desastroumlsen Ergebnis der Hamburger Buumlrgerschaftswahl uumlber mangelnde Ge-schlossenheit klagte die erheblichen Stimmverluste seien nicht zu-letzt darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Partei sich zu viel mit sich selbst beschaumlftige und an ihrem linken Rand immer mehr ausfranse In einer internen Auswertung der beiden Fernsehauftritte durch sein Buumlro konnte Schmidt wenige Tage spaumlter nachlesen dass die Zu-schauer mehrheitlich der Meinung gewesen seien der Bundes-finanzminister wuumlrde raquoals Bundeskanzler eine bessere Figur abgeben als Willy Brandtlaquo Lediglich sein Pfeifenrauchen waumlhrend der Sen-dungen habe ihm raquowieder zahlreiche massive Proteste beim Publi-kum eingebrachtlaquo4

Auch wenn Schmidt vor einer direkten Herausforderung Brandts zuruumlckscheute sah er sich doch spaumltestens seit der zweiten Kabi-nettsbildung 1972 als derjenige der gemeinsam mit dem Fraktions-vorsitzenden Wehner zustaumlndig war fuumlr die Effizienz der Regierungs-arbeit Aus seiner Sicht lieszlig Brandt die Dinge allzu sehr schlei -fen und darunter litt vor allem er der Finanzminister der die durch

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36 Jahre der Zuruumlckhaltung

Brandts Ankuumlndigungen allseits geweckten Begehrlichkeiten abzu-schmettern hatte Sein letztes alarmierendes Papier uumlber notwendige Maszlignahmen der Bundesregierung zur Eindaumlmmung der weltweiten Waumlhrungs- und Wirtschaftskrise verschickte er am 3 Mai 1974 Zwei Tage spaumlter traf sich in Bad Muumlnstereifel die SPD-Fuumlhrungs-riege zu jener Wochenendklausur auf der Brandt seinen Ruumlck-tritt erklaumlrte der Fall Guillaume war so der Brandt-Biograph Peter Merse burger raquobestenfalls der Anlass nicht aber die Ursachelaquo5

Das raquoPapier zu unserer aktuellen oumlkonomischen Problematiklaquo hieszlig es in Schmidts Begleitbrief sei raquogut lesbar (weil ich es selbst geschrieben habe)laquo aber schon fuumlr einen groumlszligeren Verteiler wie etwa den Parteivorstand ungeeignet weil raquoteilweise der Inhalt zu sensitivlaquo sei man muumlsse erst raquodurch Streichungen eine jugendfreie Volksausgabe daraus machenlaquo6 Fuumlr Schmidt war es inzwischen offenbar selbstverstaumlndlich ndash und der burschikose Stil unterstrich diesen Anspruch ndash dass die Zahlenkolonnen des Haushaltsbuches den Regierungskurs bestimmen mussten Aber Schmidt versuchte nicht nur steuer- und finanzpolitische Fragen in seinem Sinne zu beeinflussen Auch bei Themen die nicht unmittelbar sein eigenes Ressort betrafen machte er gehoumlrig Druck Allein am Wochenende von Bad Muumlnstereifel uumlberschuumlttete er Brandt mit vier weiteren Vor-gaumlngen die aus seiner Sicht dringend einer Entscheidung bedurften Schmidt nahm den Brandtrsquoschen Fuumlhrungsstil tatsaumlchlich so wahr Uumlberall brannte es nur mit der Entschlusskraft des Kanzlers war es nicht weit her raquoMein Freund Willy Brandt scheint auf vielen Fel-dern Fuumlhrung eher fuumlr etwas Unanstaumlndiges jedenfalls etwas Unde-mokratisches zu halten Die Folge aber ist allgemeine Wirrnislaquo7 Fuumlhren durch Fragen ndash dieses Prinzip blieb Schmidt fremd

Mit Schmidts Wahl zum Bundeskanzler am 16 Mai 1974 waren die Zustaumlndigkeiten geklaumlrt ndash jedenfalls aus Sicht des neuen Regie-rungschefs Er Schmidt besorgte jetzt das muumlhsame Geschaumlft und sein wichtigster Ansprechpartner war der Fraktionsvorsitzende der fuumlr Feinabstimmung mit dem Koalitionspartner sorgte und eine stoumlrungsfreie Abwicklung im Parlament garantierte Willy Brandt wurde nur dann einbezogen wenn durch Regierungsentscheidungen

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372 Die langen Schat ten der SPD

unmittelbar Interessen der Partei beruumlhrt wurden sobald deren An-gelegenheiten im Mittelpunkt standen etwa bei der Vorbereitung von Parteitagen oder Wahlkaumlmpfen lag die Fuumlhrung selbstverstaumlnd-lich bei ihm Diese Arbeitsteilung sorgte nach Schmidts Verstaumlndnis fuumlr eine sachdienliche Kooperation und mehr war aus seiner Sicht nicht noumltig Es war der Grundirrtum seiner Kanzlerschaft

Brandts Geburtstagsbrief Ende Dezember duumlrfte Schmidt ge-freut haben Der Parteivorsitzende gratulierte ihm nicht nur zu der erfolgreichen Arbeit der ersten Monate im Amt sondern sicherte ihm auch seine volle Unterstuumltzung zu raquoDu kannst davon ausgehen dass ich Dir im Rahmen meiner Moumlglichkeiten den Ruumlcken freihal-ten werde Im Uumlbrigen ist es eine gegenseitige Ergaumlnzung unserer Arbeit womit wir der Partei am besten helfen koumlnnenlaquo8 Hier aller-dings duumlrfte Schmidt hellhoumlrig geworden sein denn natuumlrlich ging es nicht darum der Partei zu helfen sondern den Staat zu regieren

Brandt war erst einmal froh nach dem Auszug aus dem Kanzler-amt verstaumlrkt eigene Projekte verfolgen zu koumlnnen Er arbeitete in-tensiv fuumlr die Sozialistische Internationale die ihn 1976 zu ihrem Praumlsidenten waumlhlte und unter deren Dach er den schwierigen Aufbau der sozialistischen Parteien in Portugal und Spanien foumlrderte Und er uumlbernahm den Vorsitz der unter UN-Patronat stehenden Nord-Suumld-Kommission die strukturelle Probleme der Entwicklungslaumlnder erst-mals unter globalen Gesichtspunkten buumlndelte und analysierte Das Ansehen das er sich damit auf der internationalen Buumlhne verschaffte half ihm uumlber Zweifel hinweg ob die Entscheidung von Bad Muumlns-tereifel richtig gewesen war Schon vier Monate nach seinem Ruumlck-tritt veroumlffentlichte Brandt sein erstes Buch Uumlber den Tag hinaus eine Art Agenda innenpolitischer Themen von denen er glaubte dass sie zu kurz gekommen waren versehen mit ersten Erklaumlrungs-versuchen zum vorzeitigen Ende seiner Kanzlerschaft

Schmidt wiederum war dankbar dass Brandt im Mai 1974 nicht auch noch den Parteivorsitz hinwarf Er wusste er wuumlrde mit seiner neuen Aufgabe alle Haumlnde voll zu tun haben und verspuumlrte schon daher wenig Neigung auch noch die Pflichten eines SPD-Vorsit zenden zu schultern Zudem wuumlrde Brandt Vorbehalte der

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38 Jahre der Zuruumlckhaltung

Linken gegen den neuen Kanzler zweifellos erst einmal neutralisie-ren raquoDu kannst die Partei zusammenhalten ich kann es nichtlaquo hatte Schmidt in Bad Muumlnstereifel gesagt9 Spaumlter wird er nicht muumlde werden zu betonen es sei ein politischer Fehler gewesen damals nicht auch den Parteivorsitz uumlbernommen zu haben Aber haumltte das Amt uumlberhaupt zu ihm gepasst waumlre es gut gegangen raquoDass Schmidt wie es die Legende inzwischen will die SPD leichter auf seinen Kurs gebracht haumltte waumlre er auch Parteivorsitzender ge-wesen ist nicht sehr wahrscheinlichlaquo schrieb Werner Perger 25 Jahre spaumlter raquoVielmehr hatte ihm der integrierende Sowohl-als-auch-Fuumlh-rungsstil Brandts waumlhrend der Kanzlerschaft den Ruumlcken weitge-hend freigehaltenlaquo10 Als Schmidt 2005 in Vorbereitung seines Buches Auszliger Dienst eine Liste eigener Fehler zusammenstellte zu denen fuumlr ihn auch der Verzicht auf den Parteivorsitz zaumlhlte be-schied ihn Hans Apel kuumlhl raquoHaumlttest Du nicht gekonntlaquo11

Falls Schmidt geglaubt haben sollte die Partei aumlhnlich fuumlhren zu koumlnnen wie seinerzeit die Fraktion waumlre er einem schweren Irrtum erlegen Geschickt zu moderieren und tragfaumlhige Kompromisse her-beizufuumlhren ist das eine Schmidt hatte diese Faumlhigkeit vor allem als Fraktionsvorsitzender in den Jahren der Groszligen Koalition vielfach unter Beweis gestellt Eine Programmpartei die in staumlndiger Unruhe ist weil sie aufgrund ihres Anspruchs die gesellschaftliche Entwick-lung voranzutreiben alles Erreichte und jeden Status quo gleich wieder infrage stellt erwartet von ihrer Fuumlhrung jedoch mehr als die Kunst des Interessenausgleichs Die SPD verlangte von ihrem Vor-sitzenden nicht dass er sie gut verwaltete sondern dass er sie per-manent in Bewegung hielt und ihr dadurch jene innere Dynamik verlieh die sie um ihres politischen Selbsterhalts willen brauchte

Die Partei war der Ort der politischen Willensbildung Aber die Partei musste auch akzeptieren dass Machtbeteiligung nur um den Preis der Anpassung an die politischen Realitaumlten zu haben war und ihre Interessen im Zweifelsfall den Interessen der Regierung unter-ordnen Bis zu diesem Punkt stimmten Schmidt und Brandt im We-sentlichen uumlberein Schmidt den Ruumlcken freizuhalten war fuumlr Brandt nicht nur eine Frage der Loyalitaumlt zum Kanzler ndash als die er sie spaumlter

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392 Die langen Schat ten der SPD

mitunter darstellte ndash sondern auch eine Frage des Machterhalts der SPD Auf der anderen Seite wusste der Parteivorsitzende dass Schmidts Pragmatismus vielen Sozialdemokraten insbesondere am linken Fluumlgel schwer auf der Seele lastete In deren Augen er-hob Schmidt raquodie Beschraumlnkung auf das Machbare zur politischen Maxime den Pragmatismus zum politischen Prinziplaquo12 So ging nach Meinung mancher Genossen viel sozialdemokratische Substanz verloren

Im Juli 1974 zwei Monate nach dem Kanzlerwechsel bat Schmidt den Parteivorsitzenden zum ersten Mal er moumlge dem Ein-druck entgegenwirken dass es raquoeine Kluft zwischen der Bundes-regierung und Teilen der SPD gibtlaquo13 Solche Bitten haumluften sich Klagen uumlber mangelnde Unterstuumltzung schlossen sich an Im Okto-ber 1975 nahm Brandt grundsaumltzlich Stellung raquoEs ist praktisch un-moumlglich die Partei im Einzelnen in das einzubeziehen was Sache der Regierung ist Mehr als loyales Mittragen kann man nicht erwar-ten hellip Nur vom Verstaumlndnis fuumlr die schweren Sorgen dieser Monate kann die Partei allein nicht leben Sie muss auch wenn nicht immer Richtiges dabei herauskommt immer auch uumlber den Tag hinaus den-ken Und sie muss gerade in schwierigen Zeiten deutlich zu machen verstehen aus welchen Grundwerten sie schoumlpftlaquo14 In einem langen Grundsatzbrief uumlber raquodas Dreieck Regierung ndash Fraktion ndash Parteilaquo schloss er ein halbes Jahr spaumlter noch einen persoumlnlichen Rat an Schmidt an raquoDu solltest der Partei manchmal noch staumlrker den Ein-druck vermitteln dass Du um sie wirbst und Dich mit dem identifi-zierst was sie in ihrer groszligen Mehrheit darstelltlaquo15

Solange Brandt davon uumlberzeugt war dass die Teilhabe an der Regierung den Sozialdemokraten wichtiger sein musste als die Rein-haltung ihrer Grundsaumltze auf den Baumlnken der Opposition lieszligen sich die Interessen von Partei und Regierung einigermaszligen im Gleichgewicht halten Aber je oumlfter der Kanzler mit Entscheidungen vorpreschte die ausschlieszliglich in den Gremien der Regierung be-sprochen und mit der Fraktion abgestimmt worden waren desto schwieriger wurde es fuumlr den Vorsitzenden dafuumlr zu sorgen dass die Partei hinterherkam Auch persoumlnlich fuumlhlte sich Brandt immer

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40 Jahre der Zuruumlckhaltung

haumlufiger uumlbergangen sein Rat war offenbar nicht mehr erwuumlnscht Briefe von Schmidt die uumlber eine mehr als protokollarische In-formationspflicht hinausgingen wurden seltener Auf eigene An-regungen die Brandt etwa aus seiner Arbeit bei der Nord-Suumld-Kom-mission zog reagierte der Kanzler freundlich hinhaltend Offenbar lebte man in unterschiedlichen Welten

Politik war fuumlr Willy Brandt immer auch eine Frage des Stils gewesen Zwei Wochen vor der Bundestagswahl im Oktober 1980 machte er sich in einem langen Brief an Egon Bahr Luft Es werde nach der Wahl raquozu einer Frage der Parteihygiene ob ein Beamter oder ein Referent mehr zu sagen hat als der Vorsitzendelaquo Wenn sich an dem Verhaumlltnis zwischen Regierung und Partei nichts Grundsaumltz-liches aumlndere werde daruumlber raquogegebenenfallslaquo die Partei entschei-den16 Die Kraumlnkung war unuumlberhoumlrbar Weil Brandt seine Ankuumln-digung wahrmachte und die Interessen der Partei von jetzt an sehr viel staumlrker in den Mittelpunkt ruumlckte ndash notfalls um den Preis des Machtverlustes ndash legte sich uumlber die letzten beiden Jahre der Regie-rung Schmidt ein immer laumlnger werdender Schatten

Helmut Schmidt hatte sich wenig um die Partei gekuumlmmert Er hielt Kontakt zum Seeheimer Kreis und zu den so genannten Ka-nalarbeitern die ihm den Dreck wegschafften zu Maumlnnern wie Egon Franke Herbert Ehrenberg oder Hermann Rappe und baute im Uumlbrigen auf die Unterstuumltzung der Gewerkschaften Aus dem was er dort houmlrte machte er sich sein Bild der Partei

Auf der Suche nach neuen Waumlhlerschichten hatte sich die SPD Anfang der siebziger Jahre weit nach links geoumlffnet und befeuert durch die Brandt-Wahlen 1972 groszlige Teile der akademischen Ju-gend mobilisieren koumlnnen Die Integration dieser Kraumlfte war aus Schmidts Sicht jedoch nicht gelungen im Gegenteil Langwierige muumlhsame Auseinandersetzungen mit den jungen Intellektuellen fuumlhrten dazu dass die Partei an ihrem linken Rand weiter aufge-weicht und anfaumlllig wurde fuumlr alle moumlglichen raquoSpinnerlaquo Spinner

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waren in den Augen Schmidts Leute die keine Ahnung hatten von dem was sie selbst die Macht des Faktischen nannten Sozialroman-tiker die in den Seminaren der Geistes- und Sozialwissenschaften rekrutiert wurden und mit Theorien zur Umverteilung der Produk-tionsmittel die Stammwaumlhler verschreckten

Das Draumlngen der kritischen Jugend hatte Schmidt anfangs durchaus begruumlszligt Ihm gefalle die raquounbefangene und unpathetische Art in der sie politische Probleme betrachtet und beurteiltlaquo sagte er in einer Rede in Hamburg am 29 Mai 1967 ndash vier Tage vor den schweren Ausschreitungen waumlhrend des Schah-Besuchs in Berlin Diese Generation sei frei raquovon allen moumlglichen historisch bedingten Schuldkomplexenlaquo ihre Kritik raquoAusdruck fuumlr das wachsende de-mokratische Bewusstsein in unserem Volklaquo Seine Partei rief er dazu auf raquoden jungen Kraumlften Raum und Einfluss [zu] geben hellip Sie muumlssen sich bei uns zu Hause fuumlhlen koumlnnen und das heiszligt Wir muumlssen ihnen hellip auch tatsaumlchlich zuhoumlren wollen Diskussion ist das Lebenselixier einer demokratischen Parteilaquo Allerdings muumlsse man den Jungen auch deutlich machen dass die SPD raquonicht ge-gruumlndet wurde um Opposition an sich zu betreibenlaquo Man duumlrfe die Gesellschaft nicht bloszlig kritisieren man muumlsse sie auch ver-aumlndern wollen17

Am 6 Juni vier Tage nach den toumldlichen Schuumlssen auf Benno Ohnesorg nannte Schmidt vor der Bundestagsfraktion den Einsatz der Berliner Polizei unverhaumlltnismaumlszligig und sprach von einer raquofal-schen Reaktion des Staateslaquo gerade in Universitaumltsstaumldten wuumlnsche er sich mehr raquoEinfuumlhlungsvermoumlgenlaquo ndash raquoManche Obrigkeiten in Deutschlandlaquo haumltten leider raquoimmer noch nicht gelernt Minder-heiten ihre Meinung artikulieren zu lassenlaquo fuumlhrte er wenig spaumlter in einem Interview aus raquoViele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst wenn sie glauben fuumlr die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen sie glauben naumlmlich auch dass ihre Vaumlter nicht genug dafuumlr getan habenlaquo Schmidt zeigte nicht nur viel Verstaumlndnis fuumlr das Auf-begehren der Studenten gegen den raquokonzentrierten Geist der eta-blierten Universitaumltsautoritaumltenlaquo Er schien sich ein Stuumlck weit so-gar mit dem generellen Unbehagen zu identifizieren in dem so

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42 Jahre der Zuruumlckhaltung

Schmidt am 14 Juni vor dem Bundestag die raquoVerzweiflung uumlber die Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbuumlrgerslaquo zum Aus-druck kam18

Mehr Offenheit mehr Sympathie fuumlr die Sache der Studenten duumlrfte unter Bonner Spitzenpolitikern im Sommer 1967 schwerlich zu finden gewesen sein Schmidt beteiligte sich an zahlreichen Dis-kussionsrunden zum Thema Hochschulreform und suchte immer wieder das Gespraumlch mit Studenten Dabei machte er jedoch zwei bittere Erfahrungen Zum einen musste er feststellen dass nicht die Kraft des Arguments sondern die Macht der Gesinnung den Aus-schlag gab Die intellektuelle Uumlberheblichkeit und Arroganz vieler Studenten setzten ihm dabei ebenso zu wie ihre latente Gewaltbe-reitschaft Zum anderen wurde ihm klar dass es bei den Univer-sitaumltsreformen zu keinem Schulterschluss mit den 68ern kommen wuumlrde Zwar richtete sich ihr Kampf gegen die gleichen Verkrustun-gen des reaktionaumlren Universitaumltsbetriebs die auch er als Student nach dem Krieg schon angeprangert hatte Aber zwischen ihm und der neuen Protestgeneration lagen jene zwoumllf Jahre Nationalsozialis-mus die aus Sicht der 68er jeden diskreditierten der im Verdacht stand mitgemacht zu haben

Schmidt stellte einen unmittelbaren Zusammenhang her zwi-schen der Tatsache dass die Studentengeneration historisch unbe-lastet und frei von persoumlnlicher Schuld war und ihrem moralischen Rigorismus Dies wollte er so nicht akzeptieren Auf dem Nuumlrnber-ger Parteitag im Maumlrz 1968 fasste er seine Erfahrungen aus den mo-natelangen Auseinandersetzungen zusammen Die gleiche Toleranz die er den 25-Jaumlhrigen entgegenbringe erwarte er von diesen gegen-uumlber seiner Generation Leider sehe er uumlberall nur raquogroszlige Un-duldsamkeitlaquo Sie sei darauf zuruumlckzufuumlhren dass die Jugend raquokein Verstaumlndnis haben kann fuumlr die tragischen Verstrickungen in die waumlhrend des Nationalsozialismus Millionen von Deutschen geraten sind Es war eben so dass von den 13 Millionen Menschen die Mit-glieder der nationalsozialistischen Organisationen geworden sind viele hineingezwungen oder hineinverstrickt worden sind Vielleicht kann man das heute schwer begreifen Es muss wohl schwer sein fuumlr

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die Jugend die niemals Diktatur und Zwang wirklich erlebt hat obwohl sie so viel davon spricht hellip Keiner unter den heutigen De-monstranten hat bisher jemals vor der Entscheidung gestanden zwischen seiner Gewissensmeinung und dem Volksgerichtshof waumlh-len zu muumlssen Keiner von ihnen hat ndash ungleich Millionen der mitt-leren und aumllteren Generation ndash je mitten in einem Kriege dessen Hintergrund fuumlr viele nur sehr unscharf erkennbar war im Gewis-sen entscheiden muumlssen ob er seine Pflicht als Soldat erfuumlllen muumlsse oder ob er mitten im Kriege die Pflicht habe zu desertieren Aber Fragen dieser Art sind es doch mit denen die mittlere und die aumlltere Generation belastet gewesen ist Viele von uns tragen heute noch an solchen Lastenlaquo19

Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Deutschen Bundestag schnitt hier erstmals oumlffentlich ein Thema an mit dem er sich bis zuletzt schwertat Er habe niemals gelernt so hat Schmidt das mo-ralische Dilemma seiner Generation im Jahr seines Todes auf den Punkt gebracht raquozwischen dem Prinzip der Pflichterfuumlllung und der Pflicht selbst zu unterscheidenlaquo20 Weil die Erziehung im Dritten Reich keinen Unterschied zulieszlig zwischen individueller Pflicht und der Verpflichtung durch die Gemeinschaft wurde die Pflichterfuumll-lung als solche zur Pflicht In der raquoVolksgemeinschaftlaquo brauchte der Einzelne nicht daruumlber nachzudenken worin die Pflicht eigentlich bestand und ob sie moralisch gerechtfertigt war Dafuumlr dass seine Generation diesen Zwiespalt gar nicht habe erkennen koumlnnen ver-langte Schmidt ein Mindestmaszlig an Verstaumlndnis von den Nachge-borenen Die aber verweigerten den Vaumltern vielfach nicht nur jede Toleranz sie machten sie auch mitverantwortlich dafuumlr dass die Barbarei zwoumllf Jahre lang funktioniert hatte

Mit Beginn der sozialliberalen Koalition verhaumlrtete sich Schmidts Haltung gegenuumlber den 68ern weiter Die zunehmende Dogma-tisierung der SPD von links irritierte Arbeiter und kleine Ange-stellte die sich ungern dafuumlr beschimpfen lieszligen dass sie die gesell-schaftlichen Bedingungen ihres bescheidenen Wohlstands nicht hinreichend reflektierten Dialektisch geuumlbte Kader die spielend den historischen Materialismus deklinierten zerredeten in den

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44 Jahre der Zuruumlckhaltung

Gremien der Partei jeden muumlhsam erzielten Kompromiss Die Mar-xisten koumlnnten ihre Glaubenskriege gern untereinander austra-gen oder auch drauszligen auf der Straszlige ndash in der Sozialdemokra-tischen Partei haumltten solche Leute nichts zu suchen Schmidt hat den gesamten Komplex spaumlter unter dem Stichwort raquoMassenpsy-choselaquo zusammengefasst und war zu keinen Differenzierungen mehr bereit21

Die Unversoumlhnlichkeit gegenuumlber allem was sich fuumlr ihn unter raquo68laquo rubrizieren lieszlig gehoumlrt zu den seltenen Irrationalitaumlten im Le-ben Schmidts Sie haumlngt mit seiner Abneigung gegen jede Form von Intellektualismus zusammen mit seiner Ablehnung von Ideologien und nicht zuletzt damit dass ihm die jungen Linken die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft vergaumlllten Autoritaumlt fuumlr Schmidt eine der wesentlichen Voraussetzungen von Fuumlhrung wurde von ihnen gleichgesetzt mit Diktatur und Faschismus Diese Kluft war unuumlber-bruumlckbar Es scheint jedoch schon fruumlh auch zu persoumlnlichen Ver-letzungen gekommen zu sein Zweifellos hat Schmidt der bei oumlf-fentlichen Diskussionen 196768 manche Demuumltigung ertrug die Zuruumlckweisung durch die Studentenbewegung insgesamt als kraumln-kend empfunden Diese Leute seien schlicht elitaumlr und arrogant klagte er wiederholt und deutete an dass es eben auch Klassen-schranken gab zwischen den privilegierten Studenten aus den Rei-hen des Buumlrgertums und ihm dem Jungen aus Barmbek

Am 15 Juli 1982 kurz vor dem Ende der sozialliberalen Koali-tion eskalierte der Konflikt An diesem Tag meldeten sich drei pro-minente Linke zu Wort die den Regierungschef massiv angingen Johano Strasser beklagte im Vorwaumlrts den raquoKurs der Selbstverleug-nunglaquo der SPD und forderte einen Koalitionswechsel zur raquoDurch-setzung einer neuen Reformpolitiklaquo22 Guumlnter Gaus rief im Stern mehr oder weniger unverhuumlllt zum Sturz Schmidts auf Das Amts-verstaumlndnis des Kanzlers beruhe auf fragwuumlrdigen Tugenden laumlsterte in der gleichen Ausgabe des Stern der saarlaumlndische SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine Fuumlr ihn seien das raquoSekundaumlrtugendenlaquo Was er darunter verstehe raquoGanz praumlzis gesagt Damit kann man auch ein KZ betreibenlaquo23

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Am Abend vor der Veroumlffentlichung rief Lafontaine Helmut Schmidt an um ihm zu erklaumlren dass er mit dem was in der mor-gigen Ausgabe des Stern zitiert werde den Bundeskanzler nicht per-soumlnlich habe treffen wollen Schmidt der den sechsseitigen Artikel waumlhrend des Telefonats auf den Tisch bekam und ihn nur uumlberflie-gen konnte riet Lafontaine die ihm in den Mund gelegten Zitate durch einen Leserbrief an den Stern aus der Welt zu schaffen raquoDu hast geantwortet dass Du dies nicht koumlnntest denn tatsaumlchlich seien die Zitate so gefallen wie im rsaquoSternlsaquo abgedruckt allerdings habest Du den rsaquoSternlsaquo-Reporter gebeten Dich nicht woumlrtlich zu zitierenlaquo So gab Schmidt das Gespraumlch am naumlchsten Tag in einem Brief an Lafontaine wieder Inzwischen habe er den Artikel in Gaumlnze gelesen fuhr Schmidt fort raquoIch habe eine derartige Beleidigung in uumlber 36 Jahren der Zugehoumlrigkeit zu meiner Partei bisher weder innerhalb der Partei noch von einem politischen Gegner erlebt Dies Letztere wollte ich Dich im Nachgang zu Deinem gestrigen Telefon-anruf noch wissen lassen Willy Brandt erhaumllt Durchdruck dieses Briefeslaquo24

Brandt kam jetzt ins Schlingern Rechtzeitig zum Wochenende lieszlig er in einer Pressemitteilung verbreiten raquodass sehr missverstaumlnd-liche um nicht zu sagen verleumderisch wirkende Veroumlffentlichun-gen rasch richtiggestellt wordenlaquo seien Er begruumlszlige dies denn er werde nicht zulassen raquodass irgendjemand und erst recht jemand aus den eigenen Reihen den Ruf und das Ansehen des Bundeskanzlers gefaumlhrdetlaquo25 Das war weniger als lauwarm denn Lafontaine hatte gar nichts richtiggestellt Mit Spiegelfechtereien um die Autorisie-rung von Zitaten und deren zulaumlssige Interpretation lieszlig sich der unselige KZ-Vergleich jedenfalls nicht zuruumlckholen Die Stimmen derer die einen Parteiausschluss Lafontaines forderten mehrten sich Zugleich blieb aber auch niemandem verborgen dass Brandt sich schuumltzend vor das SPD-Nachwuchstalent stellte Am Montag telefonierten Brandt und Schmidt in anderer Sache auf Nachfrage erklaumlrte Brandt dass Lafontaine uumlber die Wirkung des Stern- Berichts raquoentsetztlaquo sei ndash zu einer weiterreichenden Erklaumlrung war er offenbar nicht zu bewegen gewesen Darauf Schmidt raquoIch muss mir

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46 Jahre der Zuruumlckhaltung

uumlberlegen ob ich noch zum PV [Parteivorstand] komme wenn er die Sache nicht aus der Welt schafftlaquo26

Schmidt legte sich unverzuumlglich ein eigenes Dossier zum raquoGe-samtvorgang Lafontainelaquo an Das fruumlheste Dokument in die-sem Dossier ist das Protokoll einer gemeinsamen Sitzung der SPD- Fuumlhrungsgremien am 7 November 1980 bei der das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen mit der FDP diskutiert wurde Oskar Lafontaine trat an diesem Tag als Fuumlrsprecher der Entwicklungshilfe auf Fuumlr ihn gebe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Ausgaben fuumlr Entwicklungshilfe und den Ruumlstungsausgaben Wenn seine Informationen stimmten so Lafontaine sei im Haus-halt eine Kuumlrzung der Finanzmittel fuumlr die Entwicklungshilfe bei gleichzeitiger Aufstockung des Verteidigungsbudgets vorgesehen Dies sei nicht hinnehmbar Er stelle deshalb den Antrag die Mittel des Bundesministeriums fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit das zustaumlndig war fuumlr die Entwicklungshilfe neu zu verhandeln Nach Interventionen von Hans Koschnick Herbert Wehner und Schmidt selbst zog Lafontaine seinen Antrag zuruumlck bestand aber darauf dass beide Punkte noch diskutiert werden muumlssten raquoIm Uumlbrigen koumlnne der Parteirat nicht um Einvernehmen oder Zustimmung ge-beten werden wenn er nicht in der Lage sei auch zu bestimmten Fragen ein abweichendes Votum abzugeben Es sei denn man ma-che dem Gremium gleich klar dass es informiert wird aber keine politischen Entscheidungen zu treffen hatlaquo27

Die skurrile Diskussion uumlber die Verrechnung von Haushalts-mitteln fuumlr Entwicklungshilfe und Verteidigung ist bezeichnend fuumlr die Endphase der Regierung Schmidt Sie verlaumluft exakt auf der Soll-bruchstelle zwischen Partei und Regierung Der Sprecher der partei-internen Opposition ndash in diesem Fall Lafontaine ndash gab zwar nach weil er wie es im Protokoll hieszlig den Kanzler nicht in Schwierig-keiten bringen wollte Aber gleichzeitig fuumlhlte er sich stark genug auf Klaumlrung zu draumlngen und das Recht der Partei auf eigene von der Regierungspolitik unabhaumlngige Entscheidungen zu betonen Zwei-einhalb Monate spaumlter legten zwei Dutzend Linke einen Antrag vor in dem Kuumlrzungen des Verteidigungshaushalts um eine Milliarde

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D-Mark zugunsten der Entwicklungshilfe verlangt wurden Ihr Wortfuumlhrer wurde wenig spaumlter aus der SPD ausgeschlossen und gruumlndete ein Jahr spaumlter eine eigene Partei28

Im Sommer 1981 formierte sich bundesweit Widerstand gegen die Nachruumlstung Die innerparteiliche Opposition wurde angefuumlhrt von einem Mann der seit langem in der Entwicklungspolitik engagiert war und schon fruumlh dafuumlr geworben hatte Mittel aus dem Verteidi-gungsetat direkt in die damals noch so genannte Dritte Welt flieszligen zu lassen Erhard Eppler Eppler war aus anderem Holz als Lafon-taine ein Uumlberzeugungstaumlter tief verwurzelt im wuumlrttembergischen Protestantismus introvertiert aber weithin wirksam im Milieu der alternativen Bewegungen Kein fuumlhrender Sozialdemokrat hat den Zeitgeist um 1980 besser erfasst als der raquodenkende Gaumlrtner aus Dornstettenlaquo29 der das neu aufkommende oumlkologische Bewusstsein perfekt mit der Endzeitstimmung weiter Kreise zu verknuumlpfen ver-stand Wer Wachstum mit Fortschritt gleichsetze ndash so lieszlige sich Epplers Haltung zu Schmidt Anfang der achtziger Jahre pointie-ren ndash verwechsle eben auch Verhandlungen uumlber die Anzahl von Sprengkoumlpfen mit echten Friedensgespraumlchen

Als Helmut Schmidt in den neunziger Jahren einen persoumln-lichen Erinnerungsband vorbereitete in dem er wichtige Begegnun-gen seines Lebens schildern wollte sammelte er auch Material zu Erhard Eppler das Konvolut beschriftete er eigenhaumlndig raquoBegeg-nungen Kapitel Gegnerlaquo Ein solches Kapitel findet sich in dem 1996 erschienenen Band Weggefaumlhrten nicht Entweder bekam Schmidt nicht genuumlgend raquoGegnerlaquo zusammen die eine kritische Auseinandersetzung aus seiner Sicht lohnten oder aber er folgte am Ende dem bewaumlhrten Grundsatz Gegner durch Nichtachtung zu strafen An einigen wenigen Stellen in Weggefaumlhrten taucht Epplers Name dennoch auf Anfang 1982 sei ihm raquoimmer klarerlaquo geworden schreibt Schmidt raquodass Lambsdorff und Eppler die Regierung be-seitigen wolltenlaquo Ausgerechnet Lambsdorff und Eppler ndash womoumlg-

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lich in einem gemeinsamen Komplott Gegen Ende des Bandes kommt Schmidt noch einmal auf raquodie zerstoumlrerische Wirkung Erhard Epplerslaquo zu sprechen raquoder mich in der Tat gern beseitigt sehen wollte und sich einbildete nach vier Jahren CDUCSU-Regie-rung kaumlme die SPD wieder dran die sich in der Zwischenzeit nach seinen ideologischen Vorstellungen wandeln solltelaquo30 Was irritierte Schmidt so an diesem Mann

Das letzte Dokument das Schmidt im Eppler-Konvolut abhef-tete war dessen FAZ-Fragebogen Prominente beantworteten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung uumlber viele Jahre mehr oder weniger originell Fragen nach ihrer Lieblingsgestalt in der Geschichte nach ihrem groumlszligtem Fehler oder ihrem Traum vom Gluumlck Auf die Frage raquoWer oder was haumltten Sie sein moumlgenlaquo gab Eppler im August 1994 treuherzig zur Antwort raquoManchmal Bundeskanzlerlaquo Schmidt hat Frage und Antwort mit gruumlnem Stift dick eingekreist In der Tat war Eppler davon uumlberzeugt und gab dies auch Parteikollegen zu verste-hen dass Brandt 1974 ihn und nicht Schmidt als Nachfolger haumltte vorschlagen sollen Das Verhaumlltnis Schmidt ndash Eppler sei raquoallenfalls psychologisch angemessen zu deutenlaquo urteilt Hartmut Soell raquoSchmidt ist so etwas wie der aumlltere (im Krieg gefallene) Bruder Epplers von dem sich der Juumlngere irgendwann emanzipieren musstelaquo31 Dieser raquoBruderkrieglaquo (Schmidt war acht Jahre aumllter) spie-gelte zugleich einen Grundkonflikt innerhalb der SPD wider der die Partei in jeweils anderen Konstellationen bis zum heutigen Tag in Atem haumllt

Beide Eppler und Schmidt waren politische Ziehsoumlhne Fritz Erlers Im Oktober 1968 setzte Schmidt ihn gegen den Widerstand der raquoKanalarbeiterlaquo als Minister fuumlr wirtschaftliche Zusammenarbeit durch32 Unter Brandt blieb Eppler zustaumlndig fuumlr Entwicklungsfra-gen Sechs Wochen nach Uumlbernahme der Regierung durch Schmidt 1974 trat er dann aufgrund von Differenzen uumlber den Etat fuumlr die Entwicklungshilfe unter groszligem Aplomb zuruumlck Als Schmidt es nach den Bundestagswahlen 1976 ablehnte mit Eppler und anderen kritischen Mitgliedern des Parteivorstands uumlber die Regierungs politik der naumlchsten vier Jahre zu diskutieren vollzog Eppler auch innerlich

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die Trennung Sie gingen raquomit so verschiedenen Denk ansaumltzenlaquo an die Probleme heran raquodass wir notwendig nicht nur zu verschiedenen sondern oft auch zu genau gegensaumltzlichen Ergeb nissen kommenlaquo Er Eppler muumlsse nun ertragen dass der Kanzler raquooft so handelt und redet dass ich mich damit nicht identifizieren kann hellip Und Du musst ertragen dass Du von mir Widerspruch bekommst hellip Fuumlr Deine Regierungsarbeit wuumlnsche ich Dir den Erfolg an den ich von Tag zu Tag weniger glauben kannlaquo33

Der Gegensatz von raquoVerantwortungsethiklaquo und raquoGesinnungs-ethiklaquo hat sich auf der politischen Buumlhne der Bundesrepublik selten so klar an zwei Protagonisten festmachen lassen wie an Helmut Schmidt und Erhard Eppler Wer verantwortungsethisch handelt heiszligt es bei Max Weber weiszlig dass er fuumlr die Folgen seines Tuns selbst aufzukommen hat dieser Maxime folgte Schmidt Hingegen handelt der Gesinnungsethiker aus der Sicht Webers nach dem Grundsatz Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim seine primaumlre Aufgabe ist es dafuumlr zu sorgen dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlischt Eppler wollte seine politische Arbeit ungern auf Gesinnung und Moral reduzieren lassen ihn schmerzte die darin zum Ausdruck kommende Abwertung und deshalb nannte er sich lieber einen Wertkonservativen Ein Wert-konservativer orientiere sich ndash im Gegensatz zu einem System-konservativen wie dem Bundeskanzler ndash nicht an Konventionen sondern an Inhalten

Von Schmidt vielfach gedemuumltigt so Eppler 1996 in seinen Er-innerungen sei er zu einem Moralisten wider Willen geworden der leider fast immer recht behalten habe Acht lange Jahre bis zum Ende der Regierung Schmidt habe er sich mit dem Gedanken getroumlstet raquodass es Zeiten gibt in denen man nichts bewegen kann auszliger den Faumlusten die auf einem herumtrommelnlaquo In besonders schrecklicher Erinnerung blieben ihm zwei mehrstuumlndige Gespraumlche mit Schmidt in der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre bei denen die unuumlberwindliche raquogeistige Barrierelaquo zwischen ihnen deutlich gewor-den sei hinterher habe er sich raquoso ausgelaugt so hilfloslaquo gefuumlhlt wie selten raquoIm Uumlbrigen tat er mir manchmal sogar etwas leidlaquo Alles was

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dem Kanzler zur Loumlsung der aktuellen Krise eingefallen sei habe naumlmlich nur zu ihrer Verschaumlrfung beigetragen Konjunkturein-bruumlche seien nun einmal ein Indikator dafuumlr dass im System etwas schieflaufe wenn Energie immer teurer werde muumlsse man eben an-fangen oumlkologisch zu wirtschaften Eppler war der festen Uumlberzeu-gung dass sein Bild der Wirklichkeit raquodas modernerelaquo war und raquoin einigen Jahren einer Mehrheit einleuchten wuumlrdelaquo Leider habe sich Schmidt nicht helfen lassen wollen Es sei erschuumltternd gewesen zu beobachten wie er raquoder Intelligenteste von uns allen mit dem Be-wusstsein der sechziger Jahre die achtziger Jahre meistern wolltelaquo34

Als ein Mann von gestern hingestellt zu werden haumltte Helmut Schmidt zweifellos kaltgelassen waumlre Eppler nicht zum Hoffnungs-traumlger der Antiatomkraft- und Friedensbewegung geworden Bereits 1976 hatte Eppler sein Bundestagsmandat niedergelegt um sich ganz auf die Parteiarbeit in Baden-Wuumlrttemberg zu konzentrieren Fuumlr die krachenden Niederlagen die er dort einfuhr machte er Hel-mut Schmidt verantwortlich Nach der Wahl 1980 bei der die Gruuml-nen erstmals ins Stuttgarter Parlament einzogen habe er raquoKoumlrbe von Briefen [bekommen] in denen sich die Leute entschuldigt haben und sagten wir wollten ja nicht dich bestrafen sondern den in Bonn also haben wir gruumln gewaumlhltlaquo Haumltte man die Gruumlnen bei dieser Wahl unter 5 Prozent halten koumlnnen so Eppler noch 2016 in einem Spiegel-Interview waumlre es moumlglicherweise sogar gelungen eine alternative Partei links der SPD auf Dauer zu verhindern35

Anfang September 1981 wurde bekannt dass Erhard Eppler auf der fuumlr den 10 Oktober im Bonner Hofgarten geplanten Groszligkund-gebung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen als Redner auftreten werde Jetzt war fuumlr Schmidt der Zeitpunkt gekommen bei Brandt zu intervenieren Eppler betreibe in der Nachruumlstungsdebatte raquoeine einseitige Emotionalisierung hellip eine allgemeine Stimmungs-mache gegen die Amerikanerlaquo die von der Fuumlhrung der Partei nicht laumlnger hingenommen werden duumlrfe raquoIch schreibe Dir diesen Brief mit der dringlichen Bitte Erhard Eppler zu ersuchen sich von der Veranstaltung fernzuhalten und zu verhindern dass sein Name mit ihr in Verbindung gebracht wirdlaquo36

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Schmidt entwarf ein Schreckensszenario Gruppen von De-monstranten die aus der gesamten Bundesrepublik raquonach Bonn gekarrt werdenlaquo koumlnnten die Kundgebung unter ihre Gewalt brin-gen und raquodie Emotionalisierung ausnutzendlaquo zu einem raquoSturm auf die Hardthoumlhelaquo aufrufen den Sitz des Bundesverteidigungs-ministeriums raquoEs ist ausgeschlossen fuumlr diesen Tag etwa den Pos-ten welche das Gelaumlnde der Hardthoumlhe sichern die Waffen oder die Munition zu nehmen damit Blutvergieszligen vermieden werde Es ist ebenso ausgeschlossen den heute schon bekannten Absichten ge-genuumlber auf Widerstand zu verzichtenlaquo Wenn das Wachbataillon der Bundeswehr am 10 Oktober tatsaumlchlich gezwungen waumlre auf gewaltbereite Demonstranten zu schieszligen wuumlrde auch im Partei-praumlsidium raquodie Lage voumlllig unhaltbar werdenlaquo Deutlicher konnte die Warnung nicht ausfallen37

Die SPD muumlsse darauf achten antwortete Brandt sich raquonicht zu isolieren von dem was viele vor allem junge Menschen in unserem Lande umtreibtlaquo38 Deshalb unterstuumltzte er in der Praumlsidiumssitzung am 28 September Epplers Redeauftritt in Bonn Das Praumlsidium waumlre gut beraten gewesen kritisierte Horst Ehmke spaumlter Eppler wenigstens aufzufordern auch die Position der SPD darzulegen die von der seinen ja erheblich abwich raquoEppler sah sich offenbar mehr in der Rolle eines Vorkaumlmpfers der Friedensbewegung als in der eines SPD-Praumlsidiumsmitgliedslaquo39 Wenige Ereignisse haben das An-sehen der Regierung Schmidt so beschaumldigt wie die Kundgebung im Bonner Hofgarten zu der sich 250 000 bis 300 000 Menschen ver-sammelten Die SPD ndash so legte es der Auftritt ihres Praumlsidiumsmit-glieds Erhard Eppler nahe ndash ging in der Frage des NATO-Doppel-beschlusses offenbar auf Distanz zum Kanzler

Die SPD hatte sich auf dem Gebiet der Buumlndnis- und Sicher-heitspolitik immer schon schwergetan raquoEs fehlt eben doch sehr an Kenntnissen im Einzelnen und an solider Untermauerunglaquo klagte Brandt bereits 1960 und bat den in militaumlrpolitischen Fragen versier-ten Schmidt um Unterstuumltzung40 Schmidt arbeitete damals an sei-nem ersten Buch Verteidigung oder Vergeltung in dem er sich kritisch mit der NATO-Doktrin der massiven Vergeltung auseinandersetzte

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Im Februar 1961 schickte er die Druckfahnen an Brandts Wahl-buumlro wo sie raquofuumlr Dich ausgeschlachtet werden koumlnnenlaquo In einem ausfuumlhrlichen Schreiben an den SPD-Kanzlerkandidaten fasste Schmidt seine Thesen zusammen raquoWir koumlnnen keine Strategie akzeptieren die im Kriegsfall darauf hinauslaumluft ein voumlllig verwuumls-tetes Mitteleuropa nach einer letzten Schlacht wieder befreit zu sehenlaquo Im Uumlbrigen sei eine solche Strategie nur glaubwuumlrdig wenn man der oumlstlichen Seite Plaumlne fuumlr einen nuklearen Erstschlag unter-stelle Im Falle einer Aggression unterhalb dieser Schwelle wuumlrde sich die NATO aber wohl kaum zum Einsatz nuklearer Waffen ent-schlieszligen Ein solcher Fall sei jedoch der wahrscheinliche Deshalb haumltten die Deutschen ein raquospezifisches Interesse bei der strate-gischen Konzeption der NATOlaquo und sollten sich innerhalb der A llianz fuumlr die Strategie der raquoFlexible Responselaquo einsetzen Nur ein massiver Ausbau der konventionell ausgeruumlsteten Einheiten ermoumlg-liche im Ernstfall ndash auf einer unteren Stufe der Eskalation ndash eine Ver teidigung Europas ohne dass es zum Einsatz nuklearer Waffen kommen muumlsse41

An diesem sicherheitspolitischen Konzept hielt Schmidt unbe-irrbar fest Einerseits sollte der Westen auf eine potentielle Bedro-hung flexibel reagieren koumlnnen andererseits musste die Gefahr dass Deutschland zum atomaren Schlachtfeld wurde auf ein Minimum reduziert werden Man muss diese Ausgangsposition kennen will man Schmidts Haltung in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss verstehen Nicht umsonst hat er noch im hohen Alter Verteidigung oder Vergeltung als sein mit Abstand wichtigstes Buch bezeichnet

In der zweiten Haumllfte der siebziger Jahre begann die Sowjet-union mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen In einer viel beachteten Rede vor dem Internationalen Institut fuumlr Strate-gische Studien (IISS) am 28 Oktober 1977 in London forderte Schmidt dass diese Raketen vom Typ SS 20 in die SALT-Verhand-lungen uumlber strategische Nuklearwaffen einbezogen werden muumlss-ten weil sonst ein Ungleichgewicht in Europa und insbesondere eine Isolierung der Bundesrepublik drohten Unterstuumltzt vom briti-

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532 Die langen Schat ten der SPD

schen Premierminister James Callaghan und seinem Freund dem franzoumlsischen Staatspraumlsidenten Valeacutery Giscard drsquoEstaing uumlber-zeugte er im Januar 1979 auf der Karibikinsel Guadeloupe US-Prauml-sident Jimmy Carter davon dass man den Russen Verhandlungen uumlber die so genannten Grauzonenwaffen anbieten ihnen aber gleichzeitig mit der Aufstellung eigener Mittelstreckenraketen dro-hen muumlsse Dies war die Geburtsstunde des Doppelbeschlusses den die Auszligen- und Verteidigungsminister der vierzehn NATO-Staaten im Dezember desselben Jahres in Bruumlssel verkuumlndeten Sollte inner-halb von vier Jahren mit den Russen keine Einigung uumlber die takti-schen Nuklearwaffen zustande kommen wuumlrde der Westen seiner-seits mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen beginnen

Kritik kam nicht nur aus den Reihen der Friedensbewegung Schmidts Sorge dass Deutschland durch die eurostrategischen Waf-fen der Russen politisch erpressbar werde sei berechtigt gewesen urteilte etwa der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Horst Ehmke raquoMit seinem Versuch die beiden Supermaumlchte nicht nur zu Ver-handlungen uumlber ihre nuklearen Mittelstreckenwaffen sondern in diesen Verhandlungen auch noch zu dem von uns gewuumlnschten Er-gebnis zu bringen uumlbernahm er sich aberlaquo42 Auch Egon Bahr der von sich sagen konnte Schmidt zaumlhle ihn raquozu den dreieinhalb Leu-ten in Bonn die etwas von Strategie verstuumlndenlaquo nannte die Ein-mischung in das Geschaumlft der Supermaumlchte einen Fehler43 Man habe den USA damit einen Vorwand geliefert wieder Raketen-systeme in Europa zu stationieren (die nach der Kubakrise abge-zogen worden waren) und dies sei fuumlr die Russen unannehmbar gewesen Bahr nannte Guadeloupe deshalb einen Pyrrhus-Sieg

Aus der Sicht Schmidts war der NATO-Doppelbeschluss die stringente Fortfuumlhrung des Konzepts der raquoFlexible Responselaquo Die Russen mussten begreifen dass sich das nordatlantische Buumlndnis nicht dadurch spalten lieszlig dass sie mit den Amerikanern einen Ver-trag zur Begrenzung strategischer Waffen schlossen und gleichzeitig an ihrer Westgrenze neue Raketen mit drei Sprengkoumlpfen statio-nierten die westdeutsche Groszligstaumldte innerhalb von Minuten auslouml-schen konnten In der Friedensbewegung hielt man solche Szenarien

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54 Jahre der Zuruumlckhaltung

fuumlr bloszlige Panikmache Die Russen verfolgten keinerlei aggressive Absichten die Kriegstreiber seien die Amerikaner In der Tat deutete manches darauf hin dass es der NATO 1979 in erster Linie um die Modernisierung ihrer Waffensysteme ging und dass mit den Ruumls-tungskontrollverhandlungen lediglich die vier Jahre uumlberbruumlckt werden sollten die man von der Aufnahme der Produktion bis zur endguumlltigen Stationierung der Pershing und Cruise Missiles veran-schlagte

Die SPD stand vor einer Zerreiszligprobe Ihre Zustimmung zum Doppelbeschluss gab sie auf einem Parteitag Anfang Dezember 1979 unter der Bedingung dass es keinen Automatismus geben duumlrfe Uumlber die Stationierung koumlnne erst im Lichte konkreter Verhand-lungsergebnisse im Herbst 1983 endguumlltig entschieden werden Schmidt musste diesen Kompromiss akzeptieren obwohl ihm klar war dass er damit sowohl in Moskau als auch in Washington an Glaubwuumlrdigkeit verlor ndash schlieszliglich war die Initiative von ihm aus-gegangen und jetzt folgte ihm nicht einmal seine eigene Partei Die wiederum uumlberschaumltzte ihre eigene Rolle maszliglos wenn sie ernsthaft glaubte Druck auf die USA ausuumlben zu koumlnnen indem sie drohte hinterher wenn sich herausstellen sollte dass sich die Amerikaner bei den Verhandlungen nicht genuumlgend angestrengt haumltten die Stationierung zu verweigern

Man braucht hier weder auf die durch den sowjetischen Ein-marsch in Afghanistan ausgeloumlste neue Nervositaumlt im Verhaumlltnis der beiden Supermaumlchte noch auf den zaumlhen Verlauf der Genfer Abruumls-tungsgespraumlche noch gar auf das SDI-Programm im Besonderen einzugehen Es genuumlgt festzustellen dass alle Sozialdemokraten die sich mit der Problematik einigermaszligen auskannten hinterher zum gleichen Ergebnis kamen Schmidt haumltte den zweiten Teil des Dop-pelbeschlusses die Stationierung neuer amerikanischer Raketen bei der SPD 1983 nicht durchbekommen Als die Koalition im Herbst 1982 zerbrach duumlrften die meisten Genossen tatsaumlchlich tief durch-geatmet haben raquoDie Entwicklung enthob die Partei einer Entschei-dung an der die Regierung zerbrochen waumlre wenn es sie noch gege-ben haumlttelaquo so Egon Bahr44 Und Horst Ehmke sekundierte Die SPD

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