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Herbert Rosendorfer Deutsche Geschichte

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Herbert Rosendorfer

Deutsche Geschichte

Friedrich der Große, Maria Theresiaund das Ende des Alten Reiches

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Mit 3 Übersichtskarten

Nymphenburger

Ein Versuch

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Manfredi de Polzerfreundschaftlich und dankbar

gewidmet

Ein ausführliches Register befindet sicham Ende des Buches.

© 2010 nymphenburger in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten.Abbildung Seite 33 aus Wolfgang Hildesheimer,

Mitteilungen an Max, Frankfurt 1992, S. 39.Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.

Schutzumschlag: Wolfgang HeinzelSchutzumschlagmotiv: Felix Weinold

Karten: Kartografie und Grafik, E. Radehose, SchlierseeSatz: Ina Hesse

Gesetzt aus 11/13,5 Stempel GaramondDruck und Binden: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in GermanyISBN 978-3-485-01310-9

www.nymphenburger-verlag.de

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»Es ist irgendwo gesagt: daß dieWeltgeschichte von Zeit zu Zeit

umgeschrieben werden müsse, undwann war wohl eine Epoche, diedies so notwendig machte, als die

gegenwärtige!«

GOETHE AN SARTORIUS AM 4.2.1811

»Das Wachsende, gut oder nicht, tritt an die Stelle

des Fallenden, um über kurz oder lang selber ein Fallendes zu sein.

Das ist ewiges Gesetz.«

THEODOR FONTANE

»Der Rabe Ralf ruft schaurig: ›Kra!Das End’ ist da! Das End’ ist da!‹«

CHRISTIAN MORGENSTERN

»So stürzt durch das SchicksalAlles zum Schlimmeren fort …«

(VERGIL, GEORGICA I, 199,übersetzt von Friedrich Schlegel)

Damna damnis continuantur.

(TACITUS, AGRICOLA 41,3)

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Inhalt

I. Teil

Erstes Kapitel 15

Gott verschwindet von der Bildfläche. Ist er nur un-sichtbar oder ist er tot? Die Frage quirlt das ganze

Geistesleben durcheinander, aber die Engel schickendoch eine unsterbliche Melodie in den Kopf eines

Genies, und dann mündet alles ins Allgaier-Gambit.

Zweites Kapitel 54

Die Sonne geht auf, weil man endlich im Lexikon nach-schlagen kann, unter anderem, um zu erfahren, was dieEnzyklopädisten, die Freimaurer, die Dichter und die,

die vorgeben, den Sinn der Welt zu kennen, alles trieben.

II. Teil

Erstes Kapitel 91

Ein junger Spund, der lieber alles andere geworden wäre als König und Feldherr, zeigt allen anderen

»was ne Harke ist«.

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Zweites Kapitel 111

Es war keine »Vacatur« da, und ein König versucht kon-trapunktisch, den alten Bach hereinzulegen, und wäh-renddessen verbluten Tausende für ein Vaterland, das

es da eigentlich noch gar nicht gab.

Drittes Kapitel 136

Um einen philosophischen Menschenverächter, der vielleicht trotzdem ein wirklich GROSSER war.

Viertes Kapitel 167

Eine Witwe weint ihrem verlorenen Spielzeug nach undbricht daher einen Krieg vom Zaun, hat aber alles gut gemeint. Und vom Sonnenfels-Waberl und der

Sittenkommission.

Fünftes Kapitel 191

Von Doppeladlern, Conventionsthalern, Universitätenund was sich da sonst alles getan hat, vom Olympier aufdem Donnerbalken und warum der Papst besser gegen

CO2 als gegen Kondome predigen sollte.

Sechstes Kapitel 222

Habsburg riß sich gern das herrenlos herumliegendeBayern unter den Nagel, aber der Alte Fritz weiß das

zu verhindern.

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Siebtes Kapitel 232

Ein Kaiser, der sein Volk liebt, sein Volk aber nicht ihn.Ein König, den sein Volk liebt, er aber seine Windhunde

und die Fugen von Johann Sebastian – und was an Turbulenzen daraus wurde.

III. Teil

Erstes Kapitel 265

Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann, nach derChaostheorie, einen Staudamm zum Einsturz bringen.

Die Schneeschmelze in Frankreich läßt die alte Zeit zusammenbrechen.

Zweites Kapitel 272

Wieder einmal weiß man nicht, was gewesen wäre, wenn oder wenn nicht, etwa wenn ein Kaiser, der einheimlicher Revoluzzer war, nicht so früh gestorben

wäre.

Drittes Kapitel 280

Im Nachhinein war es jedem und allen klar: Es kam,wie es kommen mußte. Die Revolution beginnt,

ihre Kinder und ihre Väter zu fressen.

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Viertes Kapitel 287

Ein Olympier zieht ins Feld. Das hilft auch nichts mehr.Ein Heer von zerlumpten »Ohnehosen« lehrt dem or-denssterngeschmückten Feldherrn das kalte Grausen.

Fünftes Kapitel 309

Ein König verliert seinen Kopf, wobei es fraglich ist, ob er vorher einen hatte. Ein kleiner Leutnant aus einerfernen Insel hebt etwa gleichzeitig den seinen über den

Tellerrand. Er wird sehr bald alles aufessen, was aufdem Teller liegt.

Sechstes Kapitel 322

Die Hohenzollern in Preußen bringen keinen alten Fritzmehr hervor, koppeln sich aber erfolgreich vom Reichab, welchem Beispiel mancher kleinerer Potentat folgt.

Siebtes Kapitel 334

Ein Heros im Reich der Musik zerreißt wütend das Titelblatt einer Symphonie, und ein Heros der Weltge-schichte jagt die alten Hasen auf dem Kontinent durch

Sonne und Mond.

Achtes Kapitel 344

Alles neu macht die neue Zeit. Es gibt auf einmal Meter und Zentimeter und sogar einen neuen, höchstunpraktischen Kalender. Und es setzt sich die Ansicht

durch, daß alles, was neu, auch besser ist.

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Neuntes Kapitel 355

Napoleon rüttelt am morschen Gerüst des alten Reiches,bricht einige Stützen heraus, zimmert damit einen

»Rheinbund« zusammen und verursacht so das finale Wanken des »Heiligen Römischen«.

Zehntes und letztes Kapitel 361

Ein tausendjähriges Reich geht zugrunde, versickert im Strom der Ereignisse. Ein neuer Kaiser hat vergessen,

seine Hose anzuziehen.

Personenregister 369

Sachregister 376

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I. Teil

Europa im Zeitalter des Absolutismus (um 1740)

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Erstes Kapitel

Gott verschwindet von der Bildfläche. Ist er nur un-sichtbar oder ist er tot? Die Frage quirlt das ganzeGeistesleben durcheinander, aber die Engel schickendoch eine unsterbliche Melodie in den Kopf einesGenies, und dann mündet alles ins Allgaier-Gambit.

Irgendwann zwischen April 1767 und Herbst 1769begab sich der Literat, Kritiker, Dichter und als Ver-

fasser der Komödie »Minna von Barnhelm« bekanntgewordene Gotthold Ephraim Lessing, der damals fürkurze Zeit in Hamburg lebte, wegen eines Augenlei-dens zu einem Arzt namens Johann Albert Hinrich Rei-marus. Lessing blieb nicht nur Patient, er wurde Freunddes Hauses Reimarus. Des Arztes Schwester Elise wur-de und blieb einer der wichtigsten Freunde (!) Lessings.Den Vater der Geschwister, den Theologen, Philoso-phen und Lehrer der orientalischen Sprachen in Ham-burg, Hermann Samuel Reimarus, lernte Lessing wohlgerade nicht mehr kennen, der starb 74jährig 1768. Je-doch entweder der Sohn oder die Tochter übergab Les-sing ein Konvolut von Blättern, ein Manuskript, das deralte Reimarus hinterlassen hatte. Lessing las es und wardavon nicht nur fasziniert, sondern förmlich überwäl-tigt. Es muß so gewesen sein, daß Lessing hier etwas vorsich hatte, was seine eigenen theologischen und philo-sophischen Gedanken auf das vollkommenste aus-drückte. Was Reimarus da geschrieben hatte, war Les-sing aus der Seele gesprochen.1769, Lessing war eben 40 Jahre alt, nahm er den, wie er

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hoffte, ruhigen, gesicherten Posten eines herzoglich-braunschweigischen Bibliothekars in Wolfenbüttel an.(Die noch heute, zum Teil im damaligen Zustand erhal-tene Bibliothek ist eine Wallfahrtsstätte für jeden Lite-raturfreund.) Das Reimarus-Manuskript nahm er mit.Nach längerem Zögern und entgegen dem Rat seinerFreunde Moses Mendelssohn und Christoph FriedrichNicolai entschloß sich Lessing zur – vorerst teilweisen– Herausgabe des Werkes, und zwar behauptete Les-sing, er habe das Manuskript in der Wolfenbüttler Bi-bliothek gefunden, der Verfasser sei unbekannt. Der In-halt der Schrift war Lessing zu wichtig, als daß sieungelesen im Archiv verstaube. 1774 und wieder 1778veröffentlichte Lessing in seiner bibliothekseigenenSchriftenreihe (die nicht der Zensur unterlag) größere,zusammenhängende Teile der Reimarus-Schrift unterdem Titel »Aus den Papieren des Ungenannten« und»Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch einFragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten«. Les-sing kommentierte die Fragmente unter der Überschrift»Gegensätze des Herausgebers«, wo er zum Teil – viel-leicht aus Vorsicht und zum Schutz – auf Distanz zu des»Ungenannten« Theorien ging.Schon die Veröffentlichung des ersten Fragmentsschlug ein wie eine Bombe. Von katholischer Seite kamkeine Reaktion, dort hielt man sich an die dumpfe Ma-xime »Nicht einmal ignorieren«. Aber von orthodoxerlutherischer Seite hagelte es Proteste. Der reaktionäreHamburger Hauptpastor Goeze jaulte auf, was Lessingzu einer Schrift »Anti-Goeze« veranlaßte, der Herzogvon Braunschweig zitierte Lessing zu sich, maßregelte

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ihn usw. Letzten Endes allerdings blieb Lessing unbe-helligt. Die Autorschaft Reimarus’ wurde erst 1821 of-fenbar, die vollständigen Schriften erst 1972 herausge-geben.Reimarus räumte in einem nicht anders als erfrischendzu nennenden Rundumschlag, ohne die Bedeutung, denWert und die Würde der Lehre Jesu anzutasten, mit al-lem auf, was sich im Lauf der Jahrhunderte an dieserLehre angekrustet hatte: die »Wunder« Jesu, seine Ver-göttlichung, die Auferstehung, die Dreifaltigkeit, dieGeburt durch eine Jungfrau und dergleichen, was derVernunft widerspricht. Es ist sogar ein gewisser mar-kionitischer Zug zu bemerken, indem Reimarus dieVerbindlichkeit des Alten Testaments für das Christen-tum relativierte. (Markion war ein beachtlicher Theolo-ge der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert. Er leugneteeben den Wert des Alten Testaments und gilt als Häre-tiker.)Die Weltvorstellung der abendländischen Kulturen warüber tausend Jahre lang ein geschlossenes System, indem nur in den von der Kirche, nach Luther in von denKirchen erlaubten Bahnen gedacht werden durfte. Dis-kutiert wurden nur Probleme innerhalb des Systems,etwa: wie viele Engel auf der Spitze einer Nadel sitzenkönnen oder ob mittels Klistiers eine Nottaufe im Mut-terleib vorgenommen werden darf oder ähnliche Spitz-findigkeiten. Das System selber wurde nicht in Fragegestellt. Es bedurfte erheblicher Anstrengung, dieSchwelle nach außen zu überwinden. Von England gingder Deismus aus, dessen Anhänger an einen körper-losen, immateriellen Gott glaubten, die anthropomor-

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phen Gottesvorstellungen der Amtskirchen (»der daoben mit dem langen Bart«) verwarfen und sich erlaub-ten, frei zu denken: die Namen Lord Cherbury, Thomas Browne, vor allem John Locke (»The Reasona-bleness of Christianity«, 1695) sind mit dieser Geistes-richtung verbunden, die dann von großer Auswirkungauf die französischen Enzyklopädisten und Freidenkerdes 18. Jahrhunderts war: Montesquieu, Diderot, Vol-taire, Rousseau, mit Verzögerung von einem halbenJahrhundert auch auf das Geistesleben in Deutschland.Obwohl Lessing die Reimarus-Fragmente, diesesGrundbuch des deutschen Deismus, nicht geschriebenhat, nur herausgegeben, hat er das Verdienst, der Auf-klärung in Deutschland Bahn gebrochen zu haben. (DieFeinheiten, daß sich von den Deisten die Theisten ab-gespalten haben, sollen hier nicht weiter ausgebreitetwerden.) Aber abgesehen davon ist Lessing der eigent-liche Anbeginn der deutschen Literatur. Im Gegensatzzu anderen Literaturen reicht die Lesbarkeit der deut-schen Literatur nicht sehr weit zurück. Der Engländerliest Chaucer († 1400) mit wenig Schwierigkeiten imOriginal, von Shakespeare († 1626) ganz zu schweigen,der Italiener liest Dante († 1321), der Spanier Cervantes(† 1616), der Franzose seine Klassiker des 17. Jahrhun-derts, auch wenn er dabei vielleicht gähnt. Die deutscheLiteratur vor 1750, selbst eine sprachliche Potenz wieGryphius, ist dagegen nur schwer, kaum ohne Kom-mentar und nur mit Kenntnis der barocken Sprache zulesen. (Eine Ausnahme macht vielleicht bis zu einem gewissen Grad Grimmelshausen.) Aber ab 1750 ging es,salopp gesagt, los, als ob ein Damm gebrochen wäre.

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Das halbe Jahrhundert, dessen Darstellung dieses Buchgilt, brachte die erste Blüte der deutschen Literatur mitsich, und sie hörte (und hört hoffentlich bis heute) nichtauf zu blühen.Lessing (1729–1781) schob diese Entwicklung nicht nurdurch seine theoretischen Schriften (»HamburgischeDramaturgie«, 1767 ff.), sondern auch praktisch durchseine von ihm – mit Recht – als mustergültig gedachtenTheaterstücke an, allen voran die immer noch spring-lebendige »Minna von Barnhelm« (1767) und »Nathander Weise« (1779), sozusagen ein Kompendium derdeutschen Aufklärung in Versform.Zum Umkreis und Freundeskreis Lessings zählte derschon genannte Friedrich Nicolai (1733–1811), Buch-händler und Verleger in Berlin, der weniger durch seineoft satirischen Werke als durch sein publizistisches Wir-ken bedeutend war und als der wichtigste Repräsentantder deutschen Aufklärung galt. Mit Nicolai und Lessingbefreundet war der ebenfalls erwähnte Philosoph Mo-ses Mendelssohn (1729–1786), ein Sohn ganz armer Juden, der es durch Fleiß und eiserne Disziplin nichtnur zu überragender Bildung, sondern auch zu Anse-hen und sogar Reichtum gebracht hat. Er war ein auf-geklärter Geist, der aber seine jüdisch-religiösen Wur-zeln nicht verleugnete. Sein Lebenslauf ist das schönsteZeugnis, das der toleranten, freien Ära im PreußenFriedrichs des Großen ausgestellt werden kann.Oft in einem Atemzug werden Johann Gottfried Her-der (1744–1803) und Christoph Martin Wieland (1733–1813) genannt, weil beide zeitweilig im Strahlenkranzdes Goetheschen Weimar lebten, Herder als General-

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superintendent (also etwa evangelischer Bischof); vorallem dessen Volksliedsammlungen und -übertragun-gen waren von Einfluß. Wieland war gewissermaßenSchüler dessen, der damals als Übervater der deutschenLiteratur galt: Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803). Sein an Miltons »Paradise Lost« angelehntes ge-waltiges Versepos »Der Messias« war eine Sensation. Eserschien quasi in Fortsetzungen, und die Literatur-enthusiasten warteten vor den Druckereien, daß end-lich der nächste Bogen noch druckfrisch den Druckeraus den Händen gerissen werden konnte. Schon dienächste Generation verstand diese Begeisterung nichtmehr, und Christian Dietrich Grabbe (1802–1836), derlängst in die nächste Literaturperiode zu zählen ist, läßtin seiner Komödie »Scherz, Satire, Ironie und tiefereBedeutung« den Teufel als Schlafmittel einige Verse ausdem »Messias« lesen, worauf er tatsächlich, noch einpaarmal das Versmaß murmelnd, einschläft. Klopstocksgigantische Dramen, zum Beispiel »Die Hermann-schlacht«, in dem in der ersten Szene nicht weniger alszwölf harfespielende Barden auftreten, sind nur nochals unfreiwillig komisch zu genießen.Völlig lebendig geblieben dagegen sind die Sprüche,Aphorismen, Gedankensplitter des Georg ChristophLichtenberg (1742–1799), die er, ohne Absicht, sie jeherauszugeben, in seinen »Sudelbüchern« gesammelthat. Mit beißendem Spott beäugte und kommentierte eralle menschlichen Untugenden. »Er las versehentlichimmer Agamemnon statt Angenommen, so gebildetwar er.« Lichtenberg war eigentlich Physiker undAstronom. Ein epochemachendes Werk war seine

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»Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupfer-stiche«, und sein Spott galt vor allem dem übertriebe-nen Genialitätskult des später so genannten »Sturmesund Dranges«, zu dem Friedrich Maximilian Klinger(1752–1831, Verfasser eines »Faust«-Dramas vor Goe-the), Konrad Michael Reinhold Lenz (1750–1792),Friedrich »Maler« Müller (1750–1825), Heinrich Leo-pold Wagner (1747–1783) und viele andere gehören. Sieschrieben damals Gedichte und erfolgreiche Dramen, inmißverstehender Begeisterung für Shakespeare voll vonSchicksal, dräuendem Unheil, edlen Jungfrauen undgrausigen Intriganten. Die Bezeichnung »Sturm undDrang« stammt vom Titel eines Dramas von dem obenerwähnten F. M. Klinger, welcher Titel allerdings nichtvon ihm, sondern von einem Theaterdirektor ist, ur-sprünglich hieß das Stück – auch schön – »Wirrwarr«.Wild heißt bezeichnenderweise eine Hauptperson, unddie schreit beim Auftritt: »Heida! Nun einmal in Tu-mult und Lärmen, daß die Sinnen herumfahren wieDachfahnen beim Sturm.«Es ist nicht zu leugnen, daß auch Schillers »Räuber«und Goethes »Götz von Berlichingen« im kraftgenia-lischen Fahrwasser dieser Bewegung segelten, welchesFahrwasser dann in die Romantik mündete, die vonGoethe von seinem Olymp herab verachtet wurde, abernicht mehr in die vorliegende Betrachtung gehört.Die Kehrseite des »Sturmes und Dranges« und wohlunteilbar zugehörig ist die »Empfindsamkeit«, und esist schwer zu entscheiden, ob der mit heutigem Mode-wort zu bezeichnende »best-seller« der zweiten Hälftedes 18. Jahrhunderts, Goethes »Werther«, zum einen

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oder zum andern zu zählen ist, wahrscheinlich gleicher-maßen zu beiden.»Die Leiden des jungen Werthers« (so der später aller-dings von Goethe selber in »Werther« korrigierte Ori-ginaltitel) erschien erstmals 1774 im Verlag Weygand inLeipzig. Goethe war 25 Jahre alt und lebte nach seinerturbulenten Studienzeit in Straßburg und Leipzig wie-der zu Hause in Frankfurt. Er verwob in dem schmalen,in heutigen Ausgaben knapp über 100 Seiten umfassen-den Roman (eher eine längere Erzählung) eigene Her-zensturbulenzen mit dem unseligen, durch Selbstmordendenden Geschick des jungen Legationssekretärs Je-rusalem, den er – flüchtig – in seiner Zeit als Praktikantam Reichskammergericht in Wetzlar kennengelernthatte. Das Werk traf offensichtlich dermaßen sowohlden empfindsamen als auch den seelisch-dämonischenZeitgeschmack, so als habe die Welt nur auf diesen zün-denden Funken gewartet, daß Goethe mit einem Schlagberühmt war. Es ist unwahrscheinlich, daß der Erbprinz Karl Augustvon Sachsen-Weimar ohne das Aufsehen, das dieser Ro-man erweckt hat, schon so früh auf Goethe aufmerksamgeworden wäre. Karl August, inzwischen regierenderHerzog, hat den erst 26 Jahre alten Dichter an seinenHof berufen, ihn später zum Geheimrat und Ministerernannt und adeln lassen. Goethe hat diese Ämter nichtals Sinekuren innegehabt, er, der ja Jurist war, hat sie tat-sächlich ausgeübt, und zwar gewissenhaft, und er hatnicht selten seine dichterischen Arbeiten hinter dieAmtspflichten zurückgestellt, sogar bis ins hohe Alter. Der Roman Goethes hatte noch andere Folgen zur Zeit

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seines Erscheinens. Selbst, so grausig dies ist, der Selbst-mord wurde Mode, die männliche Jugend kleidete sichin Werther-Fräcke in Blau und Gelb, die literarischeNachahmung blühte, auch die Parodie. Schon 1775schrieb der oben erwähnte Friedrich Nicolai eine Satire»Die Freuden des jungen Werthers«. Goethe war »notamused«, auch von seinem eigenen »Werther« nichtmehr, und schrieb:

»Vor Werthers LeidenMehr noch vor seinen FreudenBewahr’ uns, lieber Herre Gott.«

Goethe war auf dem Weg ganz woandershin. Gut dashalbe Jahrhundert, das in diesem Buch erzählerisch be-handelt wird, umfaßt das Wesentliche an Goethes gewal-tigem Werk und damit an Klassizität der deutschen Lite-ratur, wozu freilich nicht minder das Werk Schillerszählt, bei dem sogar dessen Lebensdaten (1759–1805) fastmit dem hier dargestellten Zeitraum übereinstimmen.Dem – ich schrecke vor dem Wort nicht zurück – Kos-mos Goethe hier auf kurzem Raum gerecht zu werdenist unmöglich. Schon allein seine Lebensspanne ist be-achtlich. Als Kind erlebte er eine der letzten Kaiserkrö-nungen mit mittelalterlichem Zeremoniell, als er starb,fuhr zwischen Stockton und Darlington in England dieerste Eisenbahn. Er ging den Weg vom Bürgerschreckund empfindsamen Idylliker zum abgeklärten Olym-pier in einer Zeit, die er nicht mehr verstand, wurdezum Denkmal seiner selbst. (Ein Vorgang, der sich gutein Jahrhundert später in der Musikgeschichte bei Ri-chard Strauss wiederholt.) In Egon Friedells köstlichemSketch »Goethe« wird der für kurze Zeit als Geist

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zurückgekehrte Geheimrat gefragt, was er für seinHauptwerk halte, und »Goethe« antwortet wie selbst-verständlich: »Die Farwelehr’«. Er hat wirklich sehrviel von seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten gehal-ten. Geblieben davon sind die Entdeckung des Zwi-schenkieferknochens und aus der »Farbenlehre« allen-falls die Gedichte. Aber das alles, auch seine mehr alsnur talentierten Zeichnungen, seine Gespräche, seineBriefe, nicht zuletzt seine juristische Tätigkeit, die ersehr ernst nahm, zeugen in der Tat von einer genialenWeltumspannung, die uns noch dazu das unbegreiflicheSprachkunstwerk der »Iphigenie« und den allumfas-senden Zitatenschatz »Faust« beschert hat. Der Einflußdieses Stromes an Geistesbewegung, den Goethe be-wirkte, ist in der Literaturgeschichte, und nicht nur derdeutschen, bis heute bemerkbar, und sei es durch Pro-vozieren von Gegensätzlichem. Die – zumindest zeit-weilige – Weltgeltung der deutschen Literatur verdanktdiese Goethe. Der »Werther« ist im China des begin-nenden 21. Jahrhunderts das meistgelesene fremdeWerk.Wer in Weimar das großbürgerlich-olympische Hausdes Geheimden Raths v. Goethe auf dem Frauenplanbesucht und danach das bescheidene, rührend kleineHeim der Familie Schiller, wundert sich über diesenUnterschied. Schillers Bett steht noch da, einfacherkann ein Bett gar nicht sein, nur sehr lang ist es. Schillerwar zwei Meter groß. (Goethe war eher klein, die Grö-ßenverhältnisse auf dem Goethe-Schiller-Denkmal vordem Nationaltheater stimmen nicht.) Schiller, in ewigenunverschuldeten Geldverlegenheiten, rang seine Werke,

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es ist nicht anders zu sagen, seinem stets maroden Kör-per ab, verschliß sich, erfuhr das, was viel später FrankWedekind als Definition des Glücks betrachtete: »Sei-nen Anlagen gemäß verbraucht zu werden.« Allerdingsso schnell hätte es, meint der Nachgeborene, bei Schil-ler nicht zu sein brauchen. Den »Demetrius«, der sowunderbar schöne Stellen aufweist, hätte er schon fer-tig schreiben dürfen. Schiller ist nicht nur eine der größ-ten, er ist auch eine der liebenswürdigsten Figuren derLiteraturgeschichte.Das Schillerarchiv in Marbach, dem Geburtsort Schil-lers, verwahrt neben auffallenderen Zimelien einen un-scheinbaren Zettel, auf dem nichts anderes steht als, vonSchillers Hand, die Titel der Dramen, die er zu schrei-ben beabsichtigte: »Maria Stuart«, »Jungfrau von Or-léans«, »Braut von Messina«, »Wilhelm Tell« – nachein-ander durchgestrichen, wenn er sie fertig diktiert hatte,ganz einfach abgehakt. Er hatte wenig Zeit und wußtees. Die vier letzten Dramen schleuderte er förmlich aussich heraus im Lauf nur der Jahre 1800 bis 1804. Da-neben vernachlässigte er seine Verpflichtung als Hoch-schullehrer nicht. Wenn auch das zitierende »SchonGoethe sagte …« seine Berechtigung hat, ist doch Schiller der Dichter, dem – selbstverständlich ungewollt– wohl die meisten Zitate gelangen, von »Durch die-se hohle Gasse …« bis »Vor Tische las man’s an-ders …« –, in welcher Disziplin er sogar Wilhelm Buschauf den, schätze ich, zweiten Platz verwies. Wer die Briefe Mozarts, selbst die Goethes im origina-len Wortlaut liest, wundert sich über die eigenwilligeRechtschreibung, die krause Interpunktion, die kunter-

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bunte Groß- und Kleinschreibung – gar nicht zu redenvon den Schreibweisen barocker oder noch früherer Literatur, etwa der Luther-Bibel. Erst im Zeitalter derAufklärung hatte man das Bedürfnis, der Deutlichkeitwegen allgemein verbindliche Regeln zu finden. Das geschah keineswegs von Staats wegen wie bei der um-strittenen Rechtschreibreform unserer Zeit, sondernaufgrund privater Initiative. Johann Christoph Ade-lung (1732–1806), evangelischer Theologe, Sprachfor-scher und Schullehrer, war der erste, der eine deutscheSprachlehre herausgab: das von 1774 an erscheinende»Grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeut-schen Mundart«, dem er noch mehrere ähnliche Werke,auch eine Stilkunde folgen ließ. (Der Ausdruck »Mund-art« für das Hochdeutsche berührt seltsam, das ganzeWerk aber war höchst verdienstvoll.) Der »Adelung«galt noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als Richt-schnur, wurde dem Unterricht in den Schulen zugrun-de gelegt. Goethe, der in Orthographie und Interpunk-tion schwach war, gab seinem Verleger Cotta dieAnweisung, seine Manuskripte entsprechend AdelungsRegeln zu korrigieren.

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Wie schon festgestellt, war Goethe nichts so zuwiderwie die Romantik. Was Romantik eigentlich ist, weißniemand, und ob nicht etwa Goethes Gedicht an denMond der genuinste Ausdruck der Romantik ist, bleibedahingestellt. Das Mondlicht, die Mühle am Bach, derBrunnen am Dorfplatz, die Burgruine, der ferne Klang

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des Waldhorns und der Seufzer der Liebenden: »Alles,was Sehnsucht weckt, das ist romantisch.« (Ich kenneleider den Autor dieses trefflichen Wortes nicht. Weißihn ein Leser, möge er es mir bitte mitteilen.)Für Goethe allerdings war Romantik nur die Unord-nung. Wenn auch diese Unordnung erst im ersten Drit-tel des 19. Jahrhunderts und also außerhalb dessen, washier behandelt werden soll, die kulturelle Welt durch-schüttelte, darf nicht übersehen werden, daß die Wur-zeln der Romantik tiefer in die Zeit hinunterragen, alsman so obenhin meint. Die Brüder Schlegel, dann derErzromantiker und damit Zielscheibe von GoethesZorn Ludwig Tieck, Novalis, Kleist, Brentano, Arnimsind alle im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gebo-ren, ihre ersten Werke erschienen vor 1800, das Leit-buch der Romantik, Tiecks »Franz Sternbalds Wande-rungen«, kam 1792 heraus. Ihr kulturgeschichtlicherFlügelschlag entfaltete sich freilich erst eine Generationspäter. Eine Ausnahme ist allerdings E.T.A. Hoffmann,mit dessen Namen sich romantische Vorstellung vor allem verknüpft. Er gehörte zwar auch zu jener Gene-ration, seine literarischen Veröffentlichungen und da-mit seine Wirksamkeit setzten jedoch erst nach 1810ein. Ein weiterer Sonderfall ist der sich Jean Paul nen-nende literarische und auch andere Sonderling JohannPaul Friedrich Richter (1763–1825), dessen krauser Hu-mor infolge von zeitbedingten sprachlichen Überkru-stungen nicht mehr ohne weiteres genießbar ist, seiner-zeit aber hoch geschätzt wurde und auch tiefereGedanken verbirgt, als es aufs erste Lesen den Anscheinhat.

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Längst sind in diesem kursorischen Rundblick nichtalle erwähnt, die damals ihre Namen in die Marmorta-fel des literarischen Ruhmes einritzen wollten, etwa dersperrige Johann Gottfried Seume (1763–1810), der um1800 tatsächlich eine Fußreise aus Sachsen nach Sizilienunternahm und diese in seinem »Spaziergang nach Sy-rakus« beschrieb. Beim Rückmarsch machte er übri-gens rasch noch einen Umweg über Paris. Zu Unrechtnur als Dichter der Ballade »Leonore« (»Leonore fuhrums Morgenrot / empor aus wirren Träumen. / Bist un-treu Wilhelm oder tot? / Wie lange willst du säumen?«)ist Gottfried August Bürger (1747–1794) im Gedächt-nis geblieben. Zwei Namen beherrschten das Theater in der Zeit, vonder hier die Rede ist, nämlich Iffland und Kotzebue.August Wilhelm Iffland (1759–1814), der »FranzMoor« der Uraufführung der »Räuber« 1782, genoßden Ruhm als überragender Charakterdarsteller undBühnenheros, auch als Theaterdirektor und Regisseur,und seine eigenen, heute vergessenen Stücke waren dieKassenmagneten ihrer Zeit (»Der Verbrecher aus Ehr-sucht«, »Die Advokaten«, Die Reise nach der Stadt«).August von Kotzebue (1769–1819), im Hauptberuf Jurist und Diplomat, war Verfasser zahlloser, zum Teilsicher seichter, aber stets gutgebauter Stücke, die seiner-zeit an Erfolg etwa Goethes Dramen zum Ärger desOlympiers weit in den Schatten stellten. Als Theater-direktor und -praktiker allerdings ließ der OlympierKotzebues Stücke dennoch in Weimar aufführen. Kot-zebues Andenken, auch sein literarischer Ruhm wur-den bis in neuere Zeit geschmälert, weil er von einem

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geisteskranken Deutschnationalen, der ihn für einenrussischen Spion hielt, ermordet wurde. Da dieser Gei-steskranke namens Sand im 19. Jahrhundert zum Na-tionalhelden stilisiert wurde, mußte Kotzebue folglichzum Bösewicht, zum Spion und Verräter gemacht wer-den. In Wirklichkeit hatte er nur als russischer Konsulpflichtgemäß politische Berichte verfaßt. In seinenStücken, etwa in »Die deutschen Kleinstädter« oder»Die Erben«, finden sich Witz und Geist genug, um dasUrteil über ihn zu revidieren.

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Das liebste Kind des deutschen Geistes ist die Philoso-phie. Ob der große Kredit, der der Philosophie einge-räumt wird, berechtigt ist, mag dahingestellt bleiben.Man kann der Ansicht sein, daß sich die Philosophenvon den Vorsokratikern angefangen bis zu den Struktu-ralisten redlich bemüht haben, den Sinn des Lebens zufinden und sogar zu erklären, auch daß jeder – häufigunter bissigem Verwerfen seiner Vorgänger – mühsamvon vorn angefangen hat, die Welt zu verstehen, unddiese mit weiteren dickleibigen oder schmal-konzisenWerken beglückt hat, man kann aber auch der Meinungsein, daß eine Wissenschaft, die sich nunmehr fast 3000Jahre lang abgeplagt hat, den Sinn des Lebens zu su-chen, und ihn nicht gefunden hat, nichts taugt. Nun gut,vielleicht ist das nicht Schuld der Philosophen, viel-leicht liegt es daran, daß es den Sinn des Lebens nichtgibt. Aber wenigstens diese Erkenntnis hätte man viel-leicht finden können. Zu meinen und zu glauben, den

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Sinn des Lebens gefunden zu haben, war den Philoso-phen immer gegeben, und noch jeder war von der Rich-tigkeit seiner Meinung, nicht selten bärbeißig, über-zeugt.Mit uhrwerkartig exaktem Tageslauf lebte der – wennman den französisch schreibenden Weltmann Leibniznicht rechnet – Ur- und Übervater der deutschen Phi-losophie, Immanuel Kant (1724–1804), in Königsberg,aus dem er nie herauskam (sich nie herauswagte), sozu-sagen ohne äußere Biographie und strickte in mühevol-ler Kleinarbeit sein philosophisches System, das er 1781in der »Kritik der reinen Vernunft«, 1788 in der »Kritikder praktischen Vernunft« und 1790 in der »Kritik derUrteilskraft« niederlegte. Das nicht genug zu lobendealte Meyersche Lexikon schreibt so vorsichtig wie re-spektvoll: »Während er selber darauf verzichtete, dieResultate seines Denkens in ansprechender und allge-mein verständlicher Form darzulegen, halfen andereSchriftsteller (…) die Kantschen Ideen in weite Kreiseverbreiten.« Das heißt, die Kantschen Schriften sindschlichtweg unverständlich. Das liegt vor allem daran,daß Kant jeden Begriff anders benutzt als allgemein üb-lich, und auch das nicht immer einheitlich. Es gehtschon mit dem Titel los. »Kritik« (Kant schreibt sie mitC) bedeutet nicht Kritik im (auch damals) landläufigenSinn, sondern ungefähr: »Endgültige Lösung der Dis-kussion über …« Was er unter »Vernunft« versteht, istnicht ganz klar, vielleicht »das Vermögen der Erfah-rung«, jedenfalls nicht Vernunft. Karl (oder Carl) Leon-hard Reinhold (1757–1823), ein Wiener, der wegen sei-ner freimütigen Ansichten aus dem katholischen

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