HERBERT TICHY - Tyrolia-Verlag · 271. 7 Vorwort von Herwig Frisch für „Menschenwege –...

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HERBERT TICHY DAS LEBEN ALS REISE VEREIN MENSCHENWEGE – GÖTTERBERGE (HG.) BEGEGNUNGEN MIT DEM ABENTEURER, BERGSTEIGER UND REISESCHRIFTSTELLER TYROLIA

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HERBERT TICHYDAS LEBEN ALS REISE

VEREIN MENSCHENWEGE – GÖTTERBERGE (HG.)

BEGEGNUNGEN MIT DEM ABENTEURER, BERGSTEIGER UND REISESCHRIFTSTELLER

TYROLIA

Verein Menschenwege – Götterberge (Hg.)

Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien

Mit einem Vorwort von Herwig Frisch, einem Lebensbild von Ulrich Wörz und Beiträgen von Denis Bertholet, Kurt Diemberger, Susanne Feigl,

Wolfgang Friedl, Peter Habeler, Götz Hagmüller,Birgit Hamelau, Helmut Heuberger, Susanne Hochwälder,

Sepp Jöchler, Verena Kienast, Karl Lukan, Kurt Luger, Otto Maschke,Lutz Maurer, Wolfgang Nairz, Hannes Plaum, Josef Vouk

und Rolf Widerhofer

Begegnungen mit dem Abenteurer,Bergsteiger und Reiseschriftsteller

Das Leben als Reise

Herbert Tichy

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Inhalt

Vorwort von Herwig Frisch für „Menschenwege – Götterberge“, Verein zur Förderung des Andenkens an Herbert Tichy . . . . . . . 7

EIn lEbEnsbIld

„Eigentlich bin ich ja gegen das Unterwegs-Sein“ – Sein Leben als Reisender von Ulrich Wörz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

bEgEgnungEn und ErInnErungEn

Aus meinem Cho-Oyu-Tagebuch 1954 und Erinnertes von Helmut Heuberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Helmut Heuberger Ein Nachruf von Kurt Luger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

„Ich wollte unbedingt in den Himalaya gehen“ Denis Bertholet im Gespräch mit Verena Kienast . . . . . . . . . . . . . 148

Hindukusch – der Beginn einer Freundschaft von Otto Maschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Wahlverwandtschaft von Hannes Plaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

Wie ich Herbert Tichy kennenlernte oder „Ich möchte schon, dass Sie wiederkommen!“ von Susanne Hochwälder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Wie das große Himalayabuch von Herbert Tichy entstand von Karl Lukan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Gegenseitig sofort ins Herz geschlossen von Götz Hagmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

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Ein nachdenklicher Abenteurer und was ich dank ihm gelernt habe von Susanne Feigl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Guter Friede des Himmels von Rolf Widerhofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Herbert Tichy in der Ferne … von Birgit Hamelau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Gedankensplitter von Josef Vouk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

„Auch wenn du nicht mehr herunterkommst – schön soll’s sein“ von Kurt Diemberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

Er hat das Leben geliebt Sepp Jöchler im Gespräch mit Verena Kienast . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Begegnungen mit dem Wanderer zwischen den Welten von Wolfgang Nairz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Schnell und elegant auf hohe Berge steigen von Peter Habeler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Enttäuschungen und karge Bedingungen von Wolfgang Friedl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Was wir von Herbert Tichy gelernt haben – Wege, nach Weisheit zu suchen von Lutz Maurer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

Die Gnade der Götter des Himalaya erleben von Kurt Luger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

anhang

Briefe zur Cho-Oyu-Expedition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264Die Bücher von Herbert Tichy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266Lebensdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

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Vorwort

von Herwig Frisch für „Menschenwege – Götterberge“,Verein zur Förderung des Andenkens an Herbert Tichy

Gerade heute, wo man langsam erkennt, dass die allgegenwärtige Fort-schrittsformel „schneller und größer ist besser“ nur dazu führt, dass wir im-mer weniger Zeit haben und die persönliche Freiheit zunehmend einge-schränkt wird, ist es vielleicht kein Zufall, dass das ebenso abenteuerliche wie bescheidene Leben von Herbert Tichy und seine Lebenserfahrungen in Ost-asien für die Menschen wieder interessant sind. Tichy wäre heuer hundert Jahre alt geworden, aus diesem Anlass wird dieses Buch herausgegeben, das neben einem umfangreichen Lebensbild auch Geschichten und Anekdoten von Personen enthält, die Tichy persönlich kannten. Ich selbst lernte Tichy als Dreizehnjähriger kennen. Wir wohnten einige Häuser unterhalb von ihm in der Hockegasse, einer ruhi-gen Sackgasse am Rand von Wien, wenige Meter vom Wienerwald entfernt. Meine Aufgabe bestand darin, Herberts rohe Manuskripte, die er auf einer Reiseschreibmaschine verfasst und mit zahlreichen handschriftlichen Kor-rekturen, Strichen und Einfügungen versehen hatte, zu meiner Mutter zu bringen, die sie in eine für den Verlag annehmbare Form bringen sollte. Mei-ne Mutter musste das karge Einkommen nach dem Krieg, der auch den Vater genommen hatte, mit Maschinenschreiben aufbessern. Zu Weihnachten oder Herberts Geburtstag wurde dann auch ein Geschenkkorb mit Wein und Kuchen in die eine Richtung und Bücher mit einer Widmung oder Fotos in die andere Richtung transportiert. Herberts Wohnung in der Mansarde bestand zur Hauptsache aus einem gro-ßen Zimmer mit Dachschrägen und einer Fensternische mit einem Sofa, das spontan einen gemütlichen, anheimelnden Eindruck vermittelte. Bücherre-gale an den Wänden, Bücher in Stößen überall auf dem Boden auf alten Tep-pichen, dazwischen Tausende von Fotos, Dias und Filmen, der große Schreib-tisch mit der Reiseschreibmaschine und Manuskripten vor dem Fenster. Nach der Cho-Oyu-Besteigung befand sich dort dann in einer Bleistift-

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schachtel auch das mumiizierte Endglied des am Berg erfrorenen Fingers. Das Zimmer war der sichere Beweis dafür, dass das Chaos doch die wahr-scheinlichste Zustandsform darstellt.Im Vorzimmer waren Ausrüstungsgegenstände der letzten Reise oder Expe-dition, Zelte, Seile etc. Für meinen ersten „Eiskurs“ auf der Kürsingerhütte

Eine persönliche Widmung für den 14-jährigen Herwig Frisch zur Konirmation

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bekam ich ein gedrehtes 30-Meter-Seil und Steigeisen geliehen. Nach einer seiner philosophischen Betrachtungen, denen ich damals nicht ganz folgen konnte, standen wir wortlos am ofenen Fenster und schauten auf die kaum frequentierte Hockegasse. Da kam eine Frau mit einem Kinderwagen vorbei und Herbert meinte: „Ich beneide sie um ihr Glück und ihre Zufriedenheit.“ Damals habe ich das als ironische Bemerkung interpretiert, doch ist mir die-se kurze Begebenheit in Erinnerung, wie sich oft scheinbar unbedeutende Momente in unserem Speicher festsetzen. Möglicherweise war diese Bemer-kung Ausdruck des durchaus reellen Wunsches eines ewigen Abenteurers, der kein wirkliches Zuhause hat. Gelegentlich, bei schönem Wetter, fuhr durch unsere ruhige Gasse ein ofe-nes, weißes Skoda-Cabriolet, das an sich schon alle Blicke auf sich zog. Darin saß Herbert, braun gebrannt, die rechte Hand am Lenkrad, die linke mit der unvermeidlichen ilterlosen Zigarette der Marke „Austria III“ lässig über der Wagentür. Erst viel später habe ich begrifen, welch großartige Persönlich-keit ich da kennenlernen durfte, und manche seiner Lebenseinstellungen sind mir zu einem Vorbild geworden.

Das abenteuerliche und abwechslungsreiche Leben Herbert Tichys kann nicht in einer kurzen Beschreibung charakterisiert werden. Seine große Lie-be galt jedenfalls dem Himalaya und den Menschen, die dort leben, dort hatte er „... manchmal das große Glück der Wunschlosigkeit gespürt, jene große Stille, die jede Musik und alle Schönheit der Erde erschließt.“1954 gelang ihm mit einer Kleinstexpedition, einem damals im Himalaya ganz unüblichen Stil, mit drei Österreichern, 27 Trägern und dem großarti-gen Sirdar Pasang Dawa Lama die erste Besteigung des Cho Oyu, und damit die fünfte Besteigung eines Achttausenders überhaupt. Dies trägt ihn ein in das Buch der berühmten Höhenbergsteiger, obwohl sich Tichy selbst nicht als einen solchen sah. Ich erinnere mich an seinen Vortrag im Audi Max der Universität Wien über die Cho-Oyu-Besteigung. Er hatte nichts von dem lau-ten Spektakel und der Leistungsschau der heutigen, oft kommerziellen Be-steigungen von hohen Bergen. Mit seiner leisen, etwas belegten Stimme hat er das Publikum vom ersten Augenblick in eine atemlose Spannung versetzt, wenn er über die Höhen und Tiefen der Expedition, der Anreise, über die Menschen in ihrem Umfeld und den damals natürlich unbekannten Berg er-zählte, nicht zu vergessen von den anschließenden Feiern in den nepalesi-

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schen Dörfern. Tichy war demütig und dankbar, dass ihm der Cho Oyu – Gnade der Götter – gelungen ist: „Erlebnisse am Berg sind nicht in Kältegra-den, Höhenmetern oder Biwaknächten messbar. Das sind Nebensächlichkei-ten, die man bald vergessen kann.“Aber Tichy war eben nicht „nur“ Erstbesteiger eines Achttausenders, sein Leben als Journalist und Abenteurer hat ihn in viele, von der technischen Zi-vilisation unberührte Länder geführt, und darüber hat er in 25 Büchern be-richtet. Seine besondere Begabung war es, über die Erlebnisse, die fremden Kulturen und vor allem seine Begegnungen mit den Menschen in anschauli-cher und fesselnder Weise, aber immer mit der ihm eigenen Bescheidenheit, zu erzählen. Es war ihm ein Anliegen, von fremden Kulturen zu lernen und zwischen ihnen zu vermitteln. Ich denke, dass wir heute, in unserer lauten und schnellen Zeit, aus Tichys Büchern viele Denkanstöße dafür bekommen können, ob wir auf dem richtigen Weg sind. In seinem Buch „Zum heiligsten Berg der Welt“ beschreibt Tichy, wie er, als Pilger verkleidet, auf den Spuren des von ihm verehrten großen Forschers Sven Hedin zum Manasarowar-See und um den Kailash wandert. – Wie an-ders gestaltet sich heute diese Reise mit der chinesischen Tourismusindus-trie, die hier Vieles unwiederbringlich zerstört hat. Zu seinem Afghanistan-Buch fällt mir ein, dass Russen und Amerikaner dieses Buch hätten lesen sol-len, um zu erkennen, dass ein Krieg in diesem Land nie gewonnen werden kann.Diese Beispiele zeigen, dass Tichys Erfahrungen und Erkenntnisse mehr sind als die Beschreibung eines momentanen Zustandes, vielmehr besitzen sie eine Weisheit, die längeren Bestand hat. An diesen großartigen Menschen zu erinnern und sein Gedankengut wieder publik zu machen, ist das Ziel des Vereines „Menschenwege – Götterberge“. Es geht darum, abseits von per-sönlichen Eitelkeiten, Gemeinsamkeiten zu erkennen und zu plegen. Und bei alldem dem Humor einen festen Platz einzuräumen. Dafür steht Herbert Tichy, und das möchte der Verein „Menschenwege – Götterberge“ im An-denken an die Person Herbert Tichys weitertragen.

Mit ofenem Geist für das Andere fand Herbert Tichy bemerkenswerte Einblicke.

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EIn lEbEnsbIld

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„EIgEntlIch bIn Ich ja gEgEn das untErwEgs-sEIn“ – sEIn lEbEn als rEIsEndEr

von Ulrich Wörz

Prolog

Ich habe Herbert Tichy nie persönlich kennengelernt, und doch kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass er mir als ein ausgesprochen ofener und freundlicher Mensch begegnet ist.Als er am 26. September 1987 in Wien starb, war ich gerade einmal dreizehn Jahre alt. Ich hatte mit meinem Vater meine ersten „echten“ Berge erstiegen und voller Begeisterung eine Reihe von Büchern und Berichten einiger Aben-teurer, Entdecker und Bergsteiger verschlungen. Neben klassischen Polar-fahrern und Alpinisten wie Fridtjof Nansen, Robert F. Scott, Roald Amund-sen, Edmund Hillary, Paul Bauer oder Hermann Buhl war auch Herbert Tichy darunter, und ich erinnere mich, dass ich vor allem von seinem Gipfelgang mit erfrorenen Händen bei der Erstbesteigung des Cho Oyo beeindruckt war.Meine Bewunderung stieg allerdings noch beträchtlich, als ich eines Tages in der Rotunde des Innsbrucker Rundgemäldes vor dem originalen Motorrad stand, mit dem der damals zwanzigjährige Tichy 1933 zusammen mit dem Kufsteiner Max Reisch von Wien aus nach Indien gefahren war. Unter einem Berg von Kisten, Kanistern und Taschen war da ein Fahrzeug zu erahnen, das in meinen Augen eine nähere Verwandtschaft zu einem Fahrrad denn zu ei-nem Motorrad aufwies. Die Vorstellung schließlich, zu zweit auf diesem Ge-fährt nach dem unendlich fernen Indien aufzubrechen, löste in mir, vor allem nachdem ich dazu einige Bilder der Reise gesehen hatte, gleichermaßen Ehr-furcht wie Angst aus. Schließlich schüttelte an diesem denkwürdigen Tag noch ein völlig weißhaariger, freundlicher Max Reisch meine Hand und hin-terließ mir eine Widmung in seinem Buch „Indien – lockende Ferne“.

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Seitdem verband ich mit Herbert Tichy mehr als mit Scott, Amundsen oder Hillary und ich entdeckte ihn in den folgenden Jahren beim Lesen seiner Bü-cher auf verschiedenste Weise immer wieder neu. Ich begleitete den Wande-rer zwischen den Welten und lernte den routinierten Journalisten und Analy-tiker in ihm kennen. Er war für mich damals ein nicht moralisierender Kriti-ker unserer westlichen Denk- und Lebensweise, der mir neue Sichtweisen auf meinen kleinen Kosmos eröfnete, auf diese moderne, schnelle, westliche Welt, der er durch seine Schilderungen die landschaftliche und spirituelle Weite Asiens gegenüberstellte.Wenn auch mein damaliger Kosmos aus den im Vergleich zu Tibet und dem Himalaya an Weite eher armen Wäldern der Nordkette bei Innsbruck be-stand, so durchstreifte ich diese in den folgenden Jahren zusammen mit mei-nem besten Freund mit großer Begeisterung im Geiste Herbert Tichys, und wir wurden nicht müde, an für uns besonderen Plätzen „Tschorten“ aus dem Kalkschutt der Lawinengräben zu errichten und uns stundenlang über das abenteuerliche Tibet oder asiatische Lebensweisheiten zu unterhalten.Wir fühlten uns so beseelt von Herbert Tichy, dass mein Freund, der mir an Lebenserfahrung und Alter einiges voraushatte, eines Tages mit der Über-zeugtheit eines Erleuchteten kundtat, dass wir diesen unter allen Umständen in Wien besuchen müssten. Von Innsbruck aus war es ja nicht weit. Obgleich mich selbst bei dem Gedanken schon fast der Mut verlassen hätte, denn was, so dachte ich mir, könnte ein Mann vom Range Herbert Tichys schon dem Besuch zweier Tiroler Buben abgewinnen, hatten wir bald einen gemeinsa-men Brief verfasst, in dem wir uns als bergbegeisterte Tiroler vorstellten und unseren Wunsch nach einem Besuch vorbrachten. Tichys Antwort kam bald, und in gewisser Weise rührt sie mich noch heute.Er hatte ein Leben als Reisender verbracht, einen Achttausender erstbestie-gen, eine ganze Reihe berühmter Persönlichkeiten kennengelernt, aber ein Besuch von uns zwei Tiroler Buben würde ihn doch „sehr freuen“. Unter sei-nen Briefkopf hatte er mit der Schreibmaschine noch seine Telefonnummer hingeschrieben, doch wir getrauten uns erst nach einiger Zeit diese zu wäh-len und warteten mit klopfendem Herzen, ob sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung melden würde. Leider blieb es immer still. Wenige Wochen später erreichte uns über das Fernsehen und die Zeitungen die Nachricht, dass Herbert Tichy im Krankenhaus verstorben war. Wohl an den Folgen sei-ner „kleinen Operation“, wie er sich in seinem Schreiben ausgedrückt hatte.

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Unser Brief muss noch irgendwo auf seinem Schreibtisch gelegen haben, denn seine Schwester sandte an jeden von uns eine Todesanzeige, ganz klas-sisch, ganz schlicht mit schwarzem Rand und über seinem Namen ein zartes schwarzes Kreuz. Irgendwie passte das ganze Schriftstück nicht recht zu Her-bert Tichy und war zugleich doch ganz er. In der rechten oberen Ecke stand etwas rätselhaft „Seid töricht, denn des Bruders ist kein Ende!“ (Herbert Tichy).Meine Tränen rollten wohl eher aus Enttäuschung denn aus Schmerz, und dennoch hatte ich das Gefühl, etwas verloren zu haben. Als wäre symbolisch mit dem Tod Herbert Tichys etwas aus meiner Welt getreten. Als wäre erst mit ihm einiges von dem, was er gesehen, was er erlebt, was er in seinen Bü-chern so vielfältig und ausführlich beschrieben hat, endgültig gegangen, mag es auch in der Realität schon seit Jahren nicht mehr bestanden haben, mag es durch die geopolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der Welt bereits gravierenden Veränderungen unterworfen worden sein. Er sel-ber hätte vielleicht über so eine Denkweise gelacht, auch wenn er sich auf dieser Welt, oder besser gesagt zwischen diesen Welten, nicht immer zu Hau-se gefühlt haben mag.

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Es war für mich das Unbekannte, das noch zu entdecken blieb, und das Aben-teuer, das mir in meiner jugendlichen Begeisterung jeder Vorstoß in diesen Bereich des Unbekannten versprach. Es war der einfache Lebenszweck des Entdeckers und Abenteurers, das Prinzip, ganz im Augenblick zu leben, in der zufriedenen Bescheidenheit einer von unseren materiellen Bedürfnissen freien Welt, die erfüllt ist von spiritueller und mythologischer Bedeutsam-keit. Es war das für uns beschauliche Zeitgefühl des Wanderers; die eigentli-che Bedeutung von Weg-Gefährten: Durch seine besondere Art, ein nicht immer leichtes Leben zu leben, hatte Herbert Tichy so vieles für mich verkör-pert, und er hat es in Vorträgen, Artikeln und Büchern über seinen Tod hin-aus zugänglich gemacht. Sein Leben als Reisender und seine außergewöhnli-che Persönlichkeit zeichne ich im Folgenden anhand seiner eigenen Ausfüh-rungen nach.

EIn mutIgEr mEnsch

Stellt man sich die Frage, wo sich Herbert Tichy selbst am meisten zu Hause gefühlt haben mag, so scheint die Antwort klar: unter freiem Himmel! Oft beschreibt er in seinen Reiseschilderungen, wie sehr er eine Nacht unter frei-em Himmel, mag es auch kalt und windig gewesen sein, jedem Zimmer mit oder ohne Bett vorgezogen hat. „Draußen daheim“ ist heute ein Werbe-spruch eines Herstellers von Bergsportbekleidung, für Tichy war es nicht ein Lebensmotto, sondern vielmehr ein tiefes inneres Gefühl, von dem er voll und ganz getragen und erfüllt war.Schon auf der ersten von ihm ausführlicher beschriebenen Reise, die ihn auf der Donau bis ans Schwarze Meer und dann über den Landweg weiter in die westliche Türkei führte, verbrachte er eine ganze Woche auf dem Gipfel des 2500 Meter hohen Ulu Dag. Allein in einem fremden Land, unter fremden Menschen, vor deren Hinterlistigkeit und Gefährlichkeit er auf dem Weg zum Berg noch eindringlich gewarnt worden war. Sein damaliger Reisege-fährte, ein Mitschüler Tichys, befand sich unterdessen schon längst in der fürsorglichen Obhut seines wohlhabenden Onkels in Athen, wo schließlich auch Tichy eintraf. Allerdings sah er in dem großen Haus des Onkels eher eine gute Gelegenheit, sich nach der mageren Zeit in der Türkei wieder or-dentlich satt zu essen, denn schon damals waren seine inanziellen Mittel der Weite und Dauer seiner Reise nicht wirklich angemessen gewesen. Er hatte

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nicht nur die Mitfahrgelegenheiten auf den unendlich langsamen Eselskar-ren der Einheimischen wahrgenommen, sondern sich auch fast ausschließ-lich von dem ernährt, was ihm von den freundlichen Hirten angeboten wor-den war: Fladenbrot und Schafkäse.Diese erste Reise war eine prägende und einschneidende Erfahrung für den vielleicht gerade einmal achtzehnjährigen Tichy. Er hatte sich ganz auf sein Gefühl verlassen und mit der ihm sein Leben lang eigen bleibenden Selbstsi-cherheit und Leichtigkeit ein großes Abenteuer bestanden. Eine Leichtigkeit allerdings, die mitunter auch die Grenze zum Leichtsinn überschritt, wie be-reits die nächste große Reise wenig später zeigen sollte.Über seine Gedanken am Ulu Dag schrieb Tichy später: „Durch den Dunst der Ebene ahnte man das nahe Meer, aber ich blickte meist ostwärts, wo eine Berg-kette sich an die andere reiht. Tausende Kilometer könnte man hier wandern,

Herbert Tichys Studentenausweis der Universität Wien

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dann käme man nach Persien, nach Indien, dem Himalaya, nach Tibet. Kein Meer trennte mich mehr von diesen Zielen, ich brauchte nur loszugehen, ich stand sozusagen an der Türschwelle Asiens.“ 1

Den Virus hatte sich der Wiener durch die Lektüre verschiedener Reisebeschreibun-gen, vor allem durch die Bücher Sven He-dins über dessen Asien-Reisen schon als Jugendlicher eingefangen, aber vielleicht brach wirklich just in diesen Tagen auf dem Ulu Dag jenes Reiseieber, vor allem jenes Asien-Fieber aus, welches Herbert Tichy sein Leben lang bewegen sollte. Über den jugendlichen Drang in die Ferne sagte er später: „Vier von fünf meiner Kollegen in der Mittelschule wollten in die Welt hinaus. Ich hatte mir gerade Indien – ich weiß nicht war-um – in den Kopf gesetzt. Ich glaube, mich hat besonders ein Buch von Waldemar Bonsels beeindruckt, das heute nicht mehr sehr be-kannt ist. Es hieß ‚Indienfahrt‘, und darüber habe ich einen Aufsatz geschrieben. Ich konn-te immer relativ gut schreiben. Für den Auf-satz habe ich eine sehr gute Note bekommen, er wurde vorgelesen, und ich habe mir ge-

dacht: Wenn du schon Aufsätze darüber schreibst, musst du auch hin.“ 2

Vorerst kehrte er jedoch nach Wien zurück, bestand die Reifeprüfung am Vereinsrealgymnasium im achtzehnten Bezirk und nahm das Studium der „Naturgeschichte und Geologie“ auf. Auch bei dieser Wahl mag sein Idol Sven Hedin einen wichtigen Einluss ausgeübt haben. Eine entscheidende Rolle spielte jedoch auch die etwas naive Annahme, dass man als Geologe viel in der Welt herumkommen könnte. Anders als heute wurden die Geowissen-

1 Tichy: Auf fernen Gipfeln, S. 7 f.2 Kreuzer: Mensch wird Fisch – Mensch wird Yeti, S. 54

Fotografenporträt vonHerbert Tichy 1928

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schaften in enger Verbindung zu Abenteuer und Entdeckertum wahrgenom-men. Das Studium erweckte zwar durchaus Tichys Interesse und er liebte die Exkursionen ins Gelände, das wirklich große Ziel dieser Jahre blieb aber ein anderes: Er wollte nach Asien.

EIn wEItEr wEg wIrd gangbar

Wie sollte jedoch ein junger Student Anfang der 1930er-Jahre dorthin kom-men? Tichys Vorstellungskraft und Fantasie waren immerhin der Größe sei-nes Wunsches angemessen. In einem seiner Jugendbücher schrieb er später rückblickend: „Natürlich hatte ich mir inzwischen Landkarten gekauft und den Weg nach Indien genau studiert. Durch den Balkan nach Istanbul, dann weiter nach Bagdad und nach Norden in das uralte Persische Reich. Über Afghanistan oder Belutschistan würde ich Indien erreichen. Auf der Karte sah diese Route recht einfach aus, so einfach, dass ich mit dem Fahrrad fahren wollte.“ 3

Aus heutiger Sicht muss damals schon die Reise entlang des Balkans recht abenteuerlich gewesen sein, weiter dem Osten zu aber waren die auf Tichys Route liegenden Länder verkehrstechnisch weitgehend unerschlossene Ge-biete und als Reiseländer eher unbekannt. Die Türkei vollzog seit Abschaf-fung des Sultanats 1922 und Ausrufung der Republik unter Kemal Atatürk ei-nen rasanten Wandel zu einem laizistischen Staat westlicher Prägung, war aber gerade deshalb ein von Militär und Polizei kontrolliertes Land. Syrien stand unter französischem Einluss, der Irak in gleichem Ausmaß unter briti-schem, wenngleich hier bereits seit 1925 eine konstitutionelle Monarchie be-stand und die Engländer die Unabhängigkeit des Landes 1930 formell aner-kannt hatten. Persien, das erst ab 1935 seinen heutigen Namen Iran bekam, wurde von Risa Schah Pehlewi regiert, das Land war von Norden russischem Einluss ausgesetzt, von Südosten her versuchten die Briten ihrerseits Kont-rolle auszuüben, zumindest soweit dies von militärischem Interesse war. Af-ghanistan kämpfte mehrfach gegen die Engländer, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Die versuchten Radikalreformen, ähnlich jenen in der Türkei, scheiterten in Afghanistan allerdings am Widerstand der Bevölkerung, und so blieb das Land ein dem Westen gegenüber eher verschlossenes Königreich.Auch wenn sich somit der europäische Einluss quer durch Mittel- und Süd-

3 Tichy: Unterwegs, S. 10

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ostasien bis zu dem von den Briten geführten riesigen Gebiet Britisch-Indi-ens zog, so beschränkte sich dieser weitgehend auf größere Ortschaften, Mi-litärstützpunkte und die Städte.In Anbetracht seiner folgenden abenteuerlichen Reisen wäre Tichy trotz die-ser Ausgangslage schon damals auch ein Aufbruch mit dem Fahrrad zuzu-trauen gewesen, doch bevor es dazu kam, lernte er durch die Vermittlung des Journalisten und Weltreisenden Harald Lechenperg einen jungen Mann von ihm ebenbürtiger Besessenheit und Hartnäckigkeit kennen.Lechenperg selbst hatte kurz zuvor eine aufsehenerregende Autoreise von Delhi nach Wien unternommen, und als er im März 1933 Tichy beim Schifah-ren am Arlberg kennenlernte, schien er sogleich nicht nur einiges für den vor Reiseieber glühenden Studenten übrigzuhaben, sondern auch für dessen um zwei Jahre ältere Schwester Erna, die er später ehelichte. In den folgenden Jahren wurde Lechenperg ein enger Freund und zudem wichtiger Mentor und Unterstützer für Tichys Reisen, zunächst aber machte er diesen mit dem Tiroler Max Reisch bekannt.Reisch studierte seit 1931 in Wien Welthandel und hatte seine Leidenschaft für motorisierte Reisen von seinem Vater geerbt. Dieser hatte bereits im Jah-re 1905 auf einem Motorrad eine außergewöhnliche, rund 2000 Kilometer lange Fahrt bis ins südliche Italien unternommen. Genau in jenem Jahr übrigens, als Sven Hedin, das große Vorbild von Herbert Tichy und Max Reisch, mit seiner Kamelkarawane auf dem Weg nach Indien war und damit jenen Landweg neu „entdeckte“, den die beiden Studenten aus Wien, vorerst unabhängig voneinander, bewältigen wollten. Anders als Tichy war Reisch sicherlich ein ausgesprochener Fahrzeug-Fanatiker, dessen Leidenschaft-lichkeit auf die Verantwortlichen der Puch-Werke immerhin so starken Ein-druck machte, dass ihm für eine erste „Probefahrt“ über Frankreich, Spanien nach Marokko, Algerien und in die Sahara im Jahr 1932 eine geringe tech-nische und inanzielle Unterstützung gewährt wurde. Genug für den Neun-zehnjährigen, um die geplanten rund 9000 Kilometer erfolgreich hinter sich zu bringen.Reisch hatte dabei wichtige Erfahrungen über die Fahrtechnik im Gelände, das Motorrad und seine Ausstattung, vor allem aber auch über den „Umgang mit Behörden, den Eingeborenen, meinem Reisepartner und mit mir selbst“4

4 Reisch: Indien, S. 67