Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

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Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten” Einleitung und Koordination Pier Carlo Della Ferrera Beiträge Alessandro Melazzini, Giuseppe Curonici, Regina Bucher

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Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

Einleitung und KoordinationPier Carlo Della Ferrera

BeiträgeAlessandro Melazzini, Giuseppe Curonici, Regina Bucher

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Meine Geburt geschah in früher Abendstunde

an einem warmen Tag im Juli, und die Tempe-

ratur jener Stunde ist es, welche ich unbewußt

mein Leben lang geliebt und gesucht und,

wenn sie fehlte, schmerzlich entbehrt habe.

Ich war das Kind frommer Eltern, welche ich

zärtlich liebte und noch zärtlicher geliebt hät-

te, wenn man mich nicht schon frühzeitig mit

dem vierten Gebote bekannt gemacht hätte.1

Hermann Hesse wird am 2. Juli 1877 in Calw,einem Städtchen nahe Stuttgart, als zweitesKind von Johannes und Marie Gundert ge-boren. Der Vater, russischer Staatsbürger bal-tischer Abstammung, vormals schon pietisti-scher Missionar, ist für einen theologischenVerlag tätig; der Grossvater mütterlicherseits,über lange Zeit Missionar in Indien, zählt zuden namhaftesten Orientalisten seiner Zeit. Von 1881 bis 1886 hält sich Hesse mit denEltern in Basel auf, wo der Vater inzwischeneine Stelle als Redakteur bei einer Missions-zeitschrift angenommen hat. Mit der Familienach Calw zurückgekehrt, besucht er ab 1888die Lateinschule in Göppingen und besteht1891 das schwierige Staatsexamen, das ihmim Herbst den Eintritt ins elitäre evangelischeKlosterseminar Maulbronn ermöglicht.

Ich brauchte nur das “Du sollst” zu hören, so

wendete sich alles in mir um, und ich wurde

verstockt. Man kann sich denken, daß diese

Eigenheit von großem und nachteiligem

Einfluß auf meine Schuljahre geworden ist.

Jeder Versuch, einen brauchbaren Menschen

aus mir zu machen, endete mit Mißerfolg,

mehrmals mit Schande und Skandal, mit

Flucht oder mit Ausweisung.

Unfähig, sich an die strenge Klosterdisziplinzu gewöhnen, flieht der junge Hesse im März1892 aus dem Seminar; er wird auf den Fel-dern der Umgebung halberfroren aufgefundenund unverzüglich der Schule verwiesen. Esbeginnt eine Zeit der Unruhe, der quälendenSuche nach der eigenen Identität, der Kon-flikte mit der Familie und der Religion. Erversucht, das Studium wieder aufzunehmen,aber ohne Erfolg. Schliesslich beginnt er anSelbsmord zu denken und wird deshalb ineine Heilanstalt für Nervenkranke und Epi-leptiker eingewiesen.

Ich begann mit fünfzehn Jahren, als es mir in

der Schule mißglückt war, bewußt und ener-

gisch meine eigene Ausbildung, und es war

mein Glück und meine Wonne, daß im Hause

meines Vaters die gewaltige großväterliche

Bibliothek stand, ein ganzer Saal voll alter

Bücher, der unter andrem die ganze deutsche

Dichtung und Philosophie des achtzehnten

Jahrhunderts enthielt.

Nach dem ersten Versuch als Commis in einerBuchhandlung in Esslingen, wird Hesse imJuni 1894 Lehrling in einer Turmuhrenfa-brik. Trotz der ermüdenden Handarbeit ge-lingt es ihm, hartnäckig und mit Eifer auto-didaktisch zu studieren. Vor allem Dank derBibliothek des Grossvaters eignet er sich einesolide humanistische Bildung an, in deren

Mittelpunkt die Lekture religiöser sowie phi-losophischer Texte als auch Goethes stehen. 1895 nach Tübingen umgezogen, erhält ereine Anstellung bei der BuchhandlungHeckenhauer und belegt nebenher einenBuchhalterkurs. Die Schule als Institutionbleibt ihm verhasst, die Welt des Geistes indes fasziniert ihn täglich mehr: In dem von An-regungen erfüllten Klima der kleinen Univer-sitätstadt erweitert er seine philosophischen

Vorherige Seite:

Hans Sturzenegger

(1875-1943), Hesse,

in einer Lektüre

vertieft, Öl auf

Leinwand, 1912

Links:

Brief mit Aquarell

von Hermann Hesse

an den Sohn Heiner,

Dezember 1932

Rechts:

Hesse mit der

Familie 1889, im Alter

von 12 Jahren.Von

links nach rechts: der

Dichter, der Vater,

die Schwester Marulla,

die Mutter, die

Schwester Adele und

der Bruder Hans

1 Sämtliche Zitate Hesses aus: H. HESSE, Kurzgefasster Lebenslauf,

in “Neue Rundschau”, Fasz. 8, 1925, jetzt in Gesammelte Schriften,

Bd. 4, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1958, S. 469 ff.

Der Lebensroman Hermann Hesses

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Hermann Hesse

Kenntnisse, liest Nietzsche, und vor allem wendet er sich den deutschen Romantikern,unter ihnen Novalis und Brentano, zu. Dochwidmet er sich auch dem Sprachstudiumund der Kunstgeschichte. Ende 1898 veröf-fentlicht er bei Pierson in Dresden sein Erst-lingswerk, sechshundert Exemplare einer

Lyriksammlung mit dem bezeichnendenTitel Romantische Lieder. Im Jahr darauf, ver-sucht er sich an einer verwandten Gattung,der Kurzprosa, die in Leipzig unter dem TitelEine Stunde hinter Mitternacht bei EugenDiederichs herauskommt und den Beifall derKritik erhällt. Mit dem gelungenen Debüt inder Literatur sowie der erfolgreich abge-schlossenen Buchhändlerlehre neigt sichHesses erste schwere Lebenskrise mählichdem Ende zu.

Doch merkte ich freilich nach einer Weile, daß

im Geistigen ein Leben in der bloßen Gegen-

wart, im Neuen und Neuesten unerträglich

und unsinnig, daß die beständige Beziehung

zum Gewesenen, zur Geschichte, zum Alten

und Uralten ein geistiges Leben überhaupt

erst ermögliche. So war es mir denn, nach-

dem jenes erste Vergnügen erschöpft war, ein

Bedürfnis, aus der Überschwemmung mit

Novitäten zum Alten zurückzukehren, ich

vollzog das, indem ich aus dem Buchhandel

ins Antiquariat überging.

Von 1899 bis 1903 wohnt Hesse erneut inBasel; er arbeitet als Commis im Buchhandel,zunächst bei Reich, später im AntiquariatWattenwyl. Dank seiner Tätigkeit als Publi-

zist und Rezensent, erwirbt er sich einen ge-wissen Ruf, der es ihm gestattet, sich Zugangzur kulturellen Welt der Stadt zu verschaffen,wo er im Zuge der noch immer anhaltendenDebatte um den wenige Jahre zuvor verstor-benen Jakob Burckhardt erstmals mit dessenGedanken vom historischen Pessimismus inBerührung kommt. 1901 unternimmt er seine erste Reise nachItalien, wohin er 1903 zurückkehrt. Der Be-such Genuas, Venedigs und Ravennas, insbe-sondere jedoch der Toskana und Umbriens,erzeugen bei ihm einen Kult des Empfindensfür das Schöne, von moralischer Anteilnahmedurchsetzt, der ihn zur Niederschrift der bio-graphischen Studie Franz von Assisi inspi-riert, die 1904 erscheint. Noch im selben Jahr1901 veröffentlicht er seinen Erstlingsroman,Die hinterlassenen Schriften und Gedichte

von Hermann Lauscher, dessen erweiterteFassung von 1907 unter dem Titel Hermann

Lauscher bekannt wird. Nach dem Tode der

Illustration aus dem

Band Calwer historisches

Bilderbuch der Welt

(Calw, 1883; Stuttgart,

1987), der sich in der

Bibliothek des Gross-

vaters, Hermann

Gundert, befand und

auf den sich Hesse

in der Erzählung Kind-

heit des Zauberers

bezieht.

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Mutter, ihr widmet er den Lyrikband Ge-

dichte, erscheint zwischen 1903 und 1904 –fortsetzungsweise in der “Neuen Rundschau”,in Buchform beim angesehenen Fischer Ver-lag in Berlin – Peter Camenzind, ein Entwick-lungsroman mit autobiographischen Zügen,in dessen Mittelpunkt die um den Preis derLoslösung und des Bruchs von und mit derGemeinschaft errungene Selbstverwirklich-ung des Einzelnen steht. Es ist Hesses erstergrosser literarischer Erfolg, der ihn den Buch-händlerberuf aufgeben lässt.1904 heiratet er die höchstsensible Pianistinund Fotografin Maria Bernoulli, ein Nach-fahre der berühmten Basler Gelehrtenfami-lie, und zieht mit ihr nach Gaienhofen amBodensee; aus der Ehe gehen die KinderBruno (1905), Heiner (1909) und Martin (1911)hervor. Seiner Vorstellung von einem Litera-tendasein in zünftiger Abgeschiedenheit fol-gend, wohnt er in einem Bauernhaus, späterin einem von Wiesen und Obstgärten umge-benen Privatbesitzt mit Blick auf den Seeund die umliegenden Berge.Hier nun beginnt für Hesse eine arbeitsinten-sive Zeit: 1906 veröffentlicht er Unterm Rad,

eine literarisch verklärte Reminiszenz seinerals Schüler durchlittenen Traumata; zwischen1907 und 1912 die Prosabände Diesseits, Nach-

barn und Umwege sowie die LyriksammlungUnterwegs; 1910 den Roman Gertrud, der dasprekäre, problematische Gleichgewicht zwi-schen der künstlerischen Berufung einer-seits und dem konkreten Leben andererseitsthematisiert. Neben die rein literarische Tätig-keit tritt ferner sein Engagement als Journa-list: Er ist Mitarbeiter verschiedener Zeit-schriften (“Neue Rundschau”, “Simplicissi-mus”, “Die Propyläen”, “Die Rheinlande”)sowie Mitbegründer, zusammen mit LudwigThoma, der liberalen Revue “März”, Instru-ment der Opposition gegen das reaktionäreRegime Wilhelms des II. und den sich aus-breitenden kleinbürgerlichen Geschmack.Zwischenzeitlich begannen seine Kontaktezu Künstlern und Intellektuellen erstenRanges, darunter Thomas Mann und StefanZweig.Aber die Zeit des glücklichen und ruhigen,sesshaften Lebens neigt sich dem Ende ent-gegen, auch wegen der wachsenden Schwie-rigkeiten in seiner Ehe.Von Unrast ergriffen und dem geheimenWunsch nach fremden Erfahrungen, be-

schliesst er, in den Orient aufzubrechen, umden Ort kennenzulernen, wo seine Mutter ge-boren wurde, und von dem er so viel schongehört hatte: Zwischen September undDezember 1911 unternimmt er, in Beglei-tung des Malerfreundes Hans Sturzenegger,eine grosse Schiffsreise, die ihn über Ceylonzunächst nach Malaysia, dann nach Singapurund schliesslich nach Sumatra führt. Die Ein-drücke derselben vertraut er in Form vonAufzeichnungen, Gedichten und Erzählun-gen dem Sammelband Aus Indien. Aufzeich-

nungen von einer indischen Reise an, der1913 erscheint.In der Zwischenzeit, unmittelbar nach seinerRückkehr, hatte er auf Wunsch seiner FrauGaienhofen verlassen und war mit der Fami-lie an den Rand von Bern in das Haus einesanderen Malerfreundes, Albert Welti, über-gesiedelt. Doch nicht einmal die Schönheitund Anehmlichkeiten der schweizer Haupt-stadt können die Ehe mit Maria retten, die vonnun an zerbricht; das Thema dieser schick-salhaften Jahre fliesst in einen neuen Romanein, Roßhalde von 1914. Inzwischen ist eine uralte Vorsehung bestätigworden und verstärkt die tiefe moralische undallgemeine Krise, es ist der Krieg ausgebrochen.

Nein, ich konnte die Freude über die große

Zeit nicht teilen, und so kam es, daß ich unter

dem Kriege von Anfang an jämmerlich litt,

und jahrelang mich gegen ein scheinbar

von außen und aus heiterm Himmel her-

eingebrochenes Unglück verzweifelt wehrte,

während um mich her alle Welt so tat, als sei

sie voll froher Begeisterung über eben dies

Unglück.

Mit einer am 3. November 1914 in der “NeuenZürcher Zeitung” erschienenen Mahnschrift– O Freunde, nicht diese Töne – verurteilt

“Le petit cénacle”,

der Tübinger Freundes-

kreis, in einem Foto

von 1899; Hermann

Hesse steht in der Mitte,

zwischen O.E. Faber

und L. Finckh (links) und

C. Hammelehle und

O. Rupp (rechts)

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Hermann Hesse

Hesse das Massaker, indem er sich auf dieLehre Goethes beruft und wider jeden fanati-schen Nationalismus an die Vernunft appel-liert. Die deutsche Presse bezichtigt ihn desDefätismus, doch melden sich, von verschie-dener Seite, bald auch Stimmen der Zustim-mung. Unter denen, die ihre Solidarität mitder mutigen Haltung Hesses bekunden, be-findet sich der französische SchriftstellerRomain Rolland, der bekannteste Repräsen-tant der zeitgenossischen Friedensbewegung,mit dem Hesse sich in einer gegenseitigenund tiefen Zuneigung verbunden fühlt, undden er 1920 in Lugano treffen wird. VomWehrdienst, zu dem er sich freiwillig gemel-det hatte, als dienstuntauglich zurückgestellt,setzt er sich für die gesamte Dauer des Welt-krieges für die in Italien, Frankreich, Russlandund England internierten deutschen Kriegs-gefangenen ein, indem er für sie eine Inter-niertenzeitung herausgibt (1916) und einen

eigenen Verlag aufbaut. Die Arbeit als Publi-zist und Verleger stellt mit Abstand den wich-tigeren Part seines literarischen Engagementsdieser Jahre dar, zumal das wichtigste Werk,Knulp von 1915, sich darauf beschränkt, dreivor dem Kriege skizzierte Erählungen überdie unmögliche und tragische Flucht einesAussenseiters wiederaufzugreifen.

Die erste [große Wandlung meines Lebens]

war eingetreten in dem Augenblick, wo mir

der Entschluß bewußt wurde, ein Dichter zu

werden. Dies wiederholte sich jetzt, in den

Kriegsjahren, aufs neue. Wieder sah ich mich

im Konflikt mit einer Welt, mit der ich bis-

her in gutem Frieden gelebt hatte. Wieder

mißglückte mir alles, wieder war ich allein

und elend, wieder wurde alles, was ich sagte

und dachte, von den andern feindlich miß-

verstanden. Es mußte also in mir selbst aller-

lei Unordnung sein, wenn ich so mit dem

ganzen Weltlauf in Konflikt kam.

[…] Und so lernte ich mehr und mehr die

Händel der Welt ihren Gang gehen zu lassen,

und konnte mich mit meinem eigenen Anteil

an der Verwirrung und Schuld des Ganzen

beschäftigen.

Das gehörte zu dem veränderten Bilde mei-

nes Lebens, ebenso wie der Verlust meines

Hauses, meiner Familie und andrer Güter

und Behaglichkeiten.

Eine Zeit schwerer Prüfungen steht an: 1916stirbt der Vater, und der jüngste Sohn, Martin,erkrankt an einer lebensgefährlichen Menin-gitis; 1918 zeigt seine Frau erste Anzeicheneiner schweren Geisteskrankheit und wirdim Jahr darauf erneut in eine Heilanstaltinterniert; der Schriftsteller, der einen Ner-venzusammenbruch erleidet, nähert sichder Psychoanalyse und begibt sich bei einemSchüler Jungs, Dr. Joseph Bernhard Lang,mit dem ihn eine Freundschaft verbindet, inpsychotherapeutische Behandlung. Von ihmwird er angehalten, seine Traumerlebnisse zunotieren, darzustellen und sie zu versuchenzu deuten. Auf diesem Weg entstehen dieersten Malversuche des Dichters Hesse, der,anlässlich eines Aufenthalts in Sankt Moritz1917 mit einem Skizzenbuch beginnend, 1918einen Zyklus von zwölf Gedichten mit Aqua-rellen illustriert und im Dezember 1919 inDavos seine erste Einzelausstellung eröffnet.

Als auch für mich der Krieg endlich zu Ende

war, im Frühling 1919, zog ich mich in eine

entlegene Ecke der Schweiz zurück und

wurde Einsiedler.

Hesse trennt sich endgültig von der Familieund zieht, Mitte Mai 1919, nach Montagnola,in die Nähe von Lugano; hier bewohnt er fürdie kommenden zwölf Jahre jene Casa Camuzzi,

Heiratsurkunde

über Hermann Hesses

dritte Ehe, geschlos-

sen mit Ninon Dolbin

in Montagnola am

14. November 1931

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Hermann Hesse 1937

die seine Schriften und Acquarellen berühmtmachen werden. Infolge der Geldentwertungwirtschaftlich in Not geraten, überlebt er dankder Hilfe von Freunden. Obwohl er, auch psy-chologisch, in einer schmerzhafen Situationlebt, erlangt er die von Versagen bedrohte Krea-tivität wieder. Auf diese Zeit zurückzuführen sind der Ro-man Demian, in dem Hesse die traumatischenErlebnisse und die psychoanalytische Episodeseiner jüngsten Vergangenheit nachzeichnet,die Erzählung Klingsors letzter Sommer, diedas Verhältnis eines Malers zu einer sich derkünstlerischen Erfassung verweigerndenNatur schildert, die Novelle Klein und Wagner,die Märchen, sowie der zwischen Mystik undRatio ausbalancierte Roman Siddhartha, der1922 erscheint und Hesses bekanntestesWerk ist. Als menschlich-kulturelle Synthesezwischen Morgenland und Abendland lesbar,stellt die neue Arbeit eine Art Gleichnis überdie Absage an die sogenannte Wirklichkeit dar,die Bestätigung einer authentischen Indivi-dualität.1924 erhält Hesse die Schweizer Staatsbür-gerschaft, sowie die Scheidung von seinerersten Frau; in zweiter Ehe heiratet er dieOpernsängerin Ruth Wenger, doch ist dieVerbindung, aufgrund der Meinungsver-schiedenheiten, die sich alsbald zeigen, vonkurzer Dauer. Die neue Krise des Dichterserreicht ihren Höhepunkt 1927, als er sichauch von seiner zweiten Frau scheiden lässtund eines seiner gequältesten wiewohl be-zeichnendsten Werke, Der Steppenwolf,erscheint. Als beängstigender Mahnruf gegenden drohenden Krieg konzipiert, beschreibtder Roman, indem er die im Protagonistenangelegten Widersprüche aufdeckt, die Neu-rose einer Generation und das morbide Selbst-verständnis einer Epoche. In der Zwischen-zeit, nach Erscheinen des GedichtbandesKrisis, 1928, hat der Dichter die Niederschriftder neuen, gleichermassen anspruchsvollenErzählung Narziß und Goldmund begonnen,der vor dem Hintergrund eines imaginärenMittelalters spielenden Geschichte zweierFreunde, die die Pole eines unlösbaren Zwei-spalts zwischen asketischer Weltflucht einer-seits und freudiger Weltoffenheit anderer-seits darstellen. Sie erscheint 1930.Trotz der bevorstehenden Katastrophe desZweiten Weltkrieges scheinen Hesses schwie-rigsten Jahre nunmehr hinter ihm zu liegen,

nicht zuletzt aufgrund der erreichten Reife so-wie seiner glücklichen Ehe mit Ninon Dolbin,einer jungen Archäologiestudentin ausWien, die er 1931, seine dritte Ehe, heiratet.Mit ihr, der endgültigen Beziehung seinesLebens, übersiedelt er in die Casa Rossa vonMontagnola, die ihm der Freund Hans C.Bodmer zur Verfügung gestellt hat. Im Jahrdarauf fasst er seine religionsgeschichtlichenInteressen sowie die Mythisierung des Orientsin der kurzen aber schönen Erzählung Die

Morgenlandfahrt zusammen, Vorspiel für dasDas Glasperlenspiel, Hesses letztem literari-schem Grossprojekt. Zwischen 1934 und 1940teilweise in Forzsetzungen, in Buchform erst1943 in Zürich erschienen, stellt der unterdem Einfluss des politischen Zeitgeschehensverfasste Roman den Höhepunkt des Hesse-schen Œuvres dar. Die darin anvisierte Lö-sung, die Einrichtung einer von Künstlernund Weisen bevölkerten Heimat des Geistes,bestätigt, jenseits ihres extremen Utopismus,des Dichters Glauben an eine durch die Ge-meinschaft der Geistesschaffenden erneuerteZivilisation.Die Machtergreifung Hitlers bedeutet einefür Hesse schwierige Zeit hinsichtlich seinerBeziehungen zu den deutschen Verlegern.Das Regime stempelt ihn als “unliebsamen”Autor ab, nurch noch die beiden SammlungenNeue Gedichte und Gedenkblätter erscheinen.Als Reaktion darauf tritt Hesse aus der Preussi-schen Akademie der Künste aus und engagiertsich für die im Exil lebenden Schriftsteller,indem er, unter anderem, Thomas Mann undBertolt Brecht bei sich aufnimmt. Die Nachkriegszeit eröffnet Hesse mit Krieg

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Hermann Hesse

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

und Frieden, einer 1946 erschienenen Samm-lung politischer Essays, auf die respektive1951 und ‘55 die Bände Späte Prosa und Be-

schwörungen folgen. 1946 wird er mit demGoethe- und Literaturnobelpreis ausgezeich-net. Hesse erscheint weder in Frankfurt nochin Schweden, stattdessen zieht es in beidenFällen vor, zur Entgegennahme der Preiseseine Frau zu entsenden. 1955 erhält er denFriedenspreis des Deutschen Buchhandels.Hesse setzt das Schreiben, wenn auch in frag-mentarischem Stil, bis zuletzt fort. Er gibtdas Malen auf und wendet sich in der behag-lichen Stille Montagnolas der Gartenarbeitzu. Er sammelt seinen Briefwechsel undProsa, besorgt die Herausgabe seiner Werkeund druckt für Freunde und Bekannte kleineBroschüren oder einzelne Seiten als Gegen-leistung für die Glückwunschschreiben, dieihn aus aller Welt erreichen.

Weil nun die sogenannte Wirklichkeit für

mich keine sehr große Rolle spielt, weil Ver-

gangenes mich oft wie Gegenwart erfüllt und

Gegenwärtiges mir unendlich fern erscheint,

darum kann ich auch die Zukunft nicht so

scharf von der Vergangenheit trennen, wie

man es meistens tut. Ich lebe sehr viel in der

Zukunft, und so brauche ich denn auch meine

Biographie nicht mit dem heutigen Tage zu

enden, sondern kann sie ruhig weitergehen

lassen.

In Kürze will ich erzählen, wie mein Leben

vollends seinen Bogen beschreibt.

Im Alter von mehr als siebzig Jahren wurde

ich, nachdem eben erst zwei Universitäten

mich durch die Verleihung der Würde eines

Ehrendoktors ausgezeichnet hatten, wegen

Verführung eines jungen Mädchens durch

Zauberei vor die Gerichte gebracht. Im Ge-

fängnis bat ich um die Erlaubnis, mich mit

Malerei zu beschäftigen. Es wurde mir be-

willigt. Freunde brachten mir Farben und

Malzeug, und ich malte an die Wand meiner

Zelle eine kleine Landschaft.

Diese Landschaft enthielt fast alles, woran

ich im Leben Freude gehabt hatte, Flüsse

und Gebirge, Meer und Wolken, Bauern bei

der Ernte, und noch eine Menge schöner

Dinge, an denen ich mich vergnügte. In der

Mitte des Bildes aber fuhr eine ganz kleine

Eisenbahn. Sie fuhr auf einen Berg los und

stak mit dem Kopf schon im Berge drin wie

ein Wurm im Apfel, die Lokomotive war

schon in einen kleinen Tunnel eingefahren,

aus dessen dunkler Ründung flockiger Rauch

herauskam.

Vor diesem Bilde stand ich einst in meinem

Gefängnis, als die Wärter wieder mit ihren

langweiligen Vorladungen gelaufen kamen

und mich meiner glücklichen Arbeit ent-

reißen wollten. Da empfand ich eine Müdig-

keit und etwas wie Ekel gegen all den Be-

trieb und diese ganze brutale und geistlose

Wirklichkeit. Es schien mir jetzt an der Zeit,

der Qual ein Ende zu machen. Wenn es mir

nicht erlaubt war, ungestört meine unschul-

digen Künstlerspiele zu spielen, so mußte

ich mich eben jener ernsteren Künste bedie-

nen, welchen ich so manches Jahr meines

Lebens gewidmet hatte. Ohne Magie war

diese Welt nicht zu ertragen.

Ich erinnerte mich der chinesischen Vor-

schrift, stand eine Minute lang mit ange-

haltenem Atem und löste mich vom Wahn

der Wirklichkeit. Freundlich bat ich dann

die Wärter, sie möchten noch einen Augen-

blick Geduld haben, da ich in meinem Bilde

in den Eisenbahnzug steigen und etwas dort

nachsehen müsse. Sie lachten auf die ge-

wohnte Art, denn sie hielten mich für geistig

gestört.

Da machte ich mich klein und ging in mein

Bild hinein, stieg in die kleine Eisenbahn

und fuhr mit der kleinen Eisenbahn in den

schwarzen kleinen Tunnel hinein. Eine Weile

sah man noch den flockigen Rauch aus dem

runden Loche kommen, dann verzog sich

der Rauch und verflüchtigte sich und mit

ihm das ganze Bild und mit ihm ich.

Am 9. August 1962, in seinem Haus inMontagnola, stirbt Hesse an den Folgeneiner Gehirnblutung. Er wurde hier auf demFriedhof von Sant’Abbondio beigesetzt.

Hesse mit seiner

Frau Ninon vor der

Casa Rossa 1931

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Hermann Hesse,

Februar im Tessin (Details),

Aquarell, 1925

Hermann Hesse, der Morgenlandfahrer

von Alessandro Melazzini*

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Hermann Hesse

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Hermann Hesse mit

dem Freund Othmar

Schoeck unterwegs

nach Castiglione del

Lago während der

Italienreise im April

1911

In den ersten Jahren, die nach dem Tod desSchriftstellers folgten, hätten wohl nur weni-ge deutsche Verleger etwas auf die posthumeBerühmtheit Hermann Hesses (1877–1962)gegeben. Zwar hatte er zu Lebzeiten durch-aus beachtliche Erfolge erzielt, Höhepunktzweifellos der Nobelpreis von 1946, dochschien seine Berühmtheit nunmehr der Ver-gangenheit anzugehören: Seine Leserschaftwar klein, und der Absatz seiner Bücher sta-gnierte. Die Verleger jedoch täuschten sich, wie sichauch Timothy Leary täuschte, als er 1963 inAmerika jenen Essay veröffentlichte, von dembald darauf eine regelrechte Hesse-Renais-sance ausgehen sollte: allerdings eine solche,in welcher der schwäbische Dichter zumPropheten einer “psychedelischen Genera-tion” wurde, die sich den Eintritt ins Nirvananicht etwa mit Weisheit, sondern durch denKonsum von Halluzinogenen zu verschaffengedachte.1

Hätte Leary sich eingehender mit den Schrif-ten Hesses befasst, so hätte er dessen Romanegewiss nicht so voreilig als Beschreibungenvon LSD-Trips abgetan.2

Doch stellt ja andererseits gerade dieses Miss-verständnis die Voraussetzung dafür dar, dassTausende von enthusiastischen Jugendlichen,angezogen von der Exotik Siddharthas, sowieder Auslegung des Steppenwolfs als Hand-buch über “Sex, Drogen & Jazzmusik” dazubeitrugen, die Aufmerksamkeit der Leser aufHesse zurückzuführen und ihn in den Rangeines modernen Klassikers zu erheben: SeineWerke überwanden die geographisch-kultu-rellen Grenzen in denen sie entstanden warenund wurden zu einem grundlegenden Be-standteil der Weltliteratur.Und weltweit wird in diesem Jahr der 125.Geburtstag und der 40. Todestag Hesses ge-feiert, ein Doppeljubiläum, das bereits Anlasszu zahlreichen Veranstaltungen gegeben hat:So in Deutschland, Italien, in der Schweizund sogar in Indien.3

Dem Dichter, der einmal sagte, es gäbe “nichtsGehässigeres, nichts Stupideres als Grenzen”,4

hätte eine so global ausgerichtete Feier sicher-lich gefallen, wenn auch das Aufsehen, dasderartige Veranstaltungen mit sich bringen,ihn, den Schüchternen und Zurückhalten-den, sehr wahrscheinlich irritiert hätte. Der tief verwurzelte InternationalismusHesses, der Zeit seines Lebens jeden Begriff

von Nation ablehnte, dürfte wohl eher dasErgebnis einer frühen, spontanen Aneignungdes “christlichen und nahezu völlig un-nationalistischen Geistes” 5 des Elternhausessein, als eine bewusst getroffene Entschei-dung des Erwachsenenlebens.In der Tat ist der Vater russischer Staats-bürger baltischer Abstammung, die MutterDeutsche mit Vorfahren aus der Französi-schen Schweiz. Beide Elternteile sind streng-gläubige Pietisten: In der Vergangenheithaben sie in Indien als Missionare gedient,um sich später im schwäbischen Calw nieder-zulassen. Der Großvater mütterlicherseits,Hermann Gundert, ist ein namhafter Philo-loge und Orientalist, Besitzer einer gut aus-gestatteten Hausbibliothek, wo der Enkeldie erste geistige Nahrung zu sich nimmt undjenen Hauch von Orient einatmet, der ihnfür den Rest seines Lebens faszinieren wird.Die Jahre der Kindheit und der frühen Jugend,die “schöne und innige, doch nicht leichteJugendzeit”,6 werden im gesamten WerkHesses reflektiert, der in seinen Romanen,in mehr oder weniger verkappter Form, oft-mals biographische Erlebnisse schildert, diesich auf eben diese für seine künstlerischeSensibilität so ausschlaggebende Zeit bezie-hen: Jahre “tiefer, zärtlicher Empfindungenund instinktiver, schmerzlicher Leidenschaf-ten”,7 aus denen sich zeitlebens seine Me-lancholie nähren wird. An die unschuldigenKindheitsjahre, an die rastlose Suche nacheinem unmittelbaren und freien Kontakt zurNatur wird jene hohe “Vagabundendich-tung” 8 anknüpfen, die sich wie ein roter Fa-den durch das gesamte Hessesche Werk zieht.Vom vierten bis zum neunten Lebensjahrdes Sohnes wohnen die Eltern vorrübergeh-end in Basel, wo der “heimatlose” Hermann,der bis dato mit einem russischen Pass gereistist, das Schweizer Bürgerrecht ewirbt. Mitder Rückkehr der Familie nach Deutschlandwird er deutscher Staatsbürger, doch kehrt erin reiferen Jahren, anlässlich seines Umzugsins Tessiner Montagnola, zur schweizerischenzurück. Schon aus diesem bürokratischen Hinund-her können wir erkennen, dass Hesse viel ge-reist ist, und tatsächlich geht er in der erstenHälfte seines Lebens des öfteren auf Wander-schaft, um die ruhige Eintönigkeit seiner Tagezu unterbrechen und Nahrung für seine un-ruhige Seele in fernen Ländern zu suchen.

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Hermann Hesse

Hesse 1906 in Fiesole

Der Reisende Hermann Hesse vermeidet diebanalen touristischen Orte und bewunderteher die natürliche Magie des Widerscheinsin der Lagune, als den Prunk des PalazzoDucale, unterhält sich lieber mit einer ein-fachen Bauernfamilie, als sich in den Uffiziendie Zeit zu vertreiben; Aufzeichnungen vonden unterwegs gewonnenen Eindrücken sindnicht nur in Reisetagebüchern wie Aus Indien

(1913) oder Die Nürnberger Reise (1927)enthalten, sondern auch in zahlreichen Er-zählungen und Gedichten.Fast alle seine Reisen gehen in RichtungSüden; Volker Michels, der HerausgeberHesses, erinnert mit teutonischer Präzisiondaran, wie der Dichter während seines ge-samten Lebens weder auch nur einen einzi-gen Monat nördlich des 50. Breitengradeszugebracht habe, noch überhaupt jemals an

einem Ort gewesen ist, der nördlicher alsBremen gelegen wäre.9

Das beliebteste Reiseziel ist Italien, wo sichHesse an jener “freimütigen Natürlichkeitdes Lebens” berauscht, “über welcher adelndund verfeinernd die Tradition einer klassi-schen Kultur und Geschichte lag”,10 die ihnimmer wieder veranlasst, auf die Halbinselzurückzukehren.Ausgehend von den eigenen Wanderungensowie von denen, welche die literarischenProtagonisten unternehmen, kommt Hesseunter anderem dazu – man konzediere unsden kirchturmpolitischen Vermerk – die “ge-waltigen, hundertfach gefältelten und terras-sierten Weinhügel” 11 des Veltlins und dessenProdukte zu loben, so wie Peter Camenzind

(1904), der “Sohn der Berge”12 aus dem gleich-namigen Roman, dem Hesse den Durchbruch

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Titel- und Schutzblatt

der ersten italienischen

Ausgabe des Glasper-

lenspiel[s] (Mailand,

Mondadori, 1955) mit

eigenhändiger Wid-

mung Hermann Hesses

an seine Nachbarin

Celestina Daccò

(Montagnola, Museo

Hermann Hesse)

und die wirtschaftliche Unabhängigkeit ver-dankt, um seinen Seelenschmerz zu lindern,sich mit besorgniserregender Häufigkeitdem “herben und erregenden” 13 Geschmackdes Veltliner Rotweins hingibt, der – andersals L.S.D.! -– im Übrigen in der Lage ist, beider Vollendung der Magie, dem Schöpferi-schen und dem Dichten zu helfen.Keinesfalls sollte man nun denken, beiCamenzind handle es sich um einen einfachenTrinker, wenngleich sich dieser in manchverzweifeltem Augenblick zuweilen selbst sonennt. Das Buch schreibt sich, ganz im Ge-genteil, in die hohe Tradition des Bildungs-romans ein, zu dem Meisterwerke wieGoethes Wilhelm Meister, Novalis’ Heinrich

von Ofterdingen und Kellers Grüne[r]

Heinrich zählen und der traditionsgemäß denWerdegang eines jungen Mannes schildert,der seine Heimat verlässt, um in die Welt zuziehen, von Unrast getrieben wie vom Wünscherfüllt, seine künstlerischen Ambitionen zuerfüllen, um auf diesem Wege, sprich durchLebenserfahrung, sich eine Persönlichkeitzu bilden, stets bewegt und besessen vom“Streben”, der romantischen Sehnsucht, wel-che die Poesie des Einzelnen mit der “Prosader Welt” 14 in Einklang bringen möchte. Soverstanden ist das Thema der Reise im Hesse-schen Werk nicht nur im geographischenSinne, sondern auch und vor allem als Meta-pher eines ebenso notwendigen wie schmerz-lichen Gangs nach Innen zu deuten, der alleinzur geistigen Heimat, sprich zum Gleich-gewicht und zur stabilen Harmonie des Ein-zelnen führt.Der Hessesche Wanderer ist derjenige, der,wie Emil Sinclair im Demian (1919), das“Kainszeichen” 15 in sich trägt, das Zeichendes Suchenden und desjenigen, der an derKluft zwischen der eigenen Individualitätund der bürgerlichen Welt leidet, desjenigen,der voller Unruhe das eigene Unterbewusst-sein ausleuchtend, sich danach sehnt, jeneswirkliche, jenes authentische Leben zu er-reichen, das allein demjenigen Ruhe gebenkann, der schmerzlich die Tragik der mensch-lichen Hinfälligkeit spürt.In diesem Sinne unterwegs ist der Literatund Weltenbummler Hermann Lauscher

(1901), Protagonist eines noch recht unaus-gegoreneren, stellenweise einem manieristi-schen Ästhetizismus verpflichteten Romanes,der dessen ungeachtet bereits die typisch

Hessesche Thematik zur Sprache bringt.Unterwegs, oder besser auf der Flucht, istferner der unehrliche Angestellte Klein ausder Erzählung Klein und Wagner (1920), oderder gequälte Harry Haller aus dem Steppen-

wolf (1927), ebenso wie der die Menschen be-zaubernde Goldmund in Narziß und Gold-

mund (1930), der Gesinnungsbruder jenessympathischen Vagabunden Knulp (1915),der sich augenscheinlich genauso “frei, fröh-lich und zu nichts zu gebrauchen” 16 in derWeltgeschichte herumtreibt wie EichendorffsTaugenichts, im Grunde genommen abermelancholisch die Hinfälligkeit des Lebensverspürt. Unterwegs zu sich selbst sind auch jene Fi-guren des Hesseschen Universums, die der“vita activa” die “vita contemplativa” vorge-zogen haben. So etwa der Tondichter Kuhn inGertrud (1910) – dem von Hesse am wenig-sten geliebten Roman – oder der MalerVeraguth in Roßhalde (1914), beides Figu-ren, die mehr oder weniger resigniert denKontrast zwischen den eigenen künstleri-schen Ambitionen und der prosaischenWirklichkeit, in der sie leben, verspüren. ZweiRomane, die die Überlegungen zur Rolle desKünstlers und den Konflikten mit der Fa-milie wiedergeben. Hesse hatte während derJahre in Gaienhofen (1901–1912) aus dem Wünsch heraus, die Stadt zu fliehen – eine

Page 16: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XVI]

Hermann Hesse

Siddhartha-Inszenie-

rung am Mailänder

Piccolo Teatro während

der Spielsaison 1999-

2000 unter der Leitung

von Lamberto Puggelli,

mit Massimo Foschi in

der Rolle Siddharthas

und Claudia Carlone in

der Kamalas.

im damaligen Deutschland recht verbreiteteLebenshaltung, die sich bereits im Peter

Camenzind ankündigt – überlegt, zusammenmit seiner ersten Frau und den drei Kindernein sesshaftes und bäuerliches Leben führenzu können. Letztendlich aber musste er fest-stellen, dass ein derartiges Leben, das von einererdrückenden bürgerlichen Ruhe durchdrun-gen war, ihn abstoßen musste.Unterwegs ist auch Josef Knecht, der legen-däre Magister Ludi aus dem Glasperlenspiel

(1943), und zwar nicht so sehr wegen seinerExkursionen außerhalb und innerhalb derpädagogischen Provinz Kastaliens, des uto-pischen Kleinstaates mit den Konturen desKantons Tessin, in dem der Roman spielt,sondern vielmehr aufgrund der von ihm an-getretenen Reise ins Reich des Geistes, imZuge derer er beschließt, seinen letzten undhöchsten Akt als Knecht und Pädagoge nichtin den Palästen eines zwar edlen aber sterilenGeistesordens, sondern fernab derselben, imsogenannten Weltleben zu vollziehen. Mit dempanischen Eintauchen Knechts in die Gewäs-ser eines Gebirgssees, auf das – in offener An-spielung an Hegels Paradoxon vom Knecht,

der in Ausübung seines Dienstes zum Gebieterseines Herren wird – Knechts Selbstopferfolgt, gelangt der Bildungsprozess des jun-gen Tito Designori zur Vollendung.17

Doch unterwegs ist vor allem der Brahmanen-sohn Siddhartha (1922), der das heimatlicheDorf verlässt, um sich einer Gruppe bußfer-tiger Waldmönche anzuschließen, daraufhin

den erotischen Reizen der Kurtisane Kamalaverfällt und schließlich, ans Ende seinerTage angelangt, an der Seite des erleuchtetenVasudeva seine Ruhe findet. “Ich gehe nir-gendhin. Ich bin nur unterwegs. Ich pilgere”,18

antwortet Siddhartha dem Freund Govinda,der ihn fragt, wohin er unterwegs sei, ohnezu begreifen, dass das Ziel von Siddharthaslanger Suche “nichts [anderes war] als eineBereitschaft der Seele, eine Fähigkeit, einegeheime Kunst, jeden Augenblick, mitten imLeben, den Gedanken der Einheit denken, dieEinheit fühlen und einatmen zu können”.19

Der Vagabund, oder besser, der Suchende, wieHesse sich selbst definiert,20 ist derjenige, derin Anbetracht einer als befremdend empfun-denen Bürgerlichkeit es vorzieht, sich an denRand derselben zurückzuziehen und deneigenen Weg in Einsamkeit, außerhalb derReichweite jeglicher Autorität, fortzusetzen,fernab also auch von jenem im Roman Un-

term Rad (1906) vehement kritisierten Bil-dungssystem, das – zusammen mit den imselben Jahr veröffentlichten Verwirrungen

des Zöglings Törleß von Robert Musil – einenFrontalangriff auf den Drill und den erd-

rückenden Konformismus des Internatswe-sens darstellt. Der Jugendroman Hesses, derdie Erinnerungen an die eigene Schulzeit so-wie die des Bruders Hans verarbeitet, nimmtdie Begebenheiten im Schulalltag des Semi-naristen Hans Giebenrath und dessen FreundHermann Heilner (die H-Alliteration bei Per-sonennamen ist ein Spezifikum der Hesse-

Page 17: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XVII]

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Hermann Hesse, Blick

auf den Luganer

See, Aquarell, 1924

schen Dichtung) zum Anlass, die Schulbil-dung als solche unter Anklage zu stellen, istes doch, wie der Autor glaubt, alleiniges An-sinnen derselben, die Schüler willenlos, undden künftigen Bürger zu einem gefügigenWerkzeug der Macht zu machen. Etliche Jah-re später wird Hesse mit der Figur des “Ma-gister Ludi” Josef Knecht jenes Ideal eineserleuchteten Meisters schaffen, dem es wohlals Einzigem gelungen wäre, den kleinenHans aus der Verzweiflung, an der er zugrun-de geht, zu retten. Der Mythos des Wanderers erreicht seinenHöhepunkt in der Erzählung Die Morgen-

landfahrt (1932), der faszinierenden Ge-schichte von jener idealen “Seelengemein-schaft”, mit der bereits Friedrich Nietzschegeliebäugelt hatte und auf die Hesse zunächstim Demian, später in seiner Rede zum No-belpreis zurückkommt: Eine Akademie derfreien Geister aller Epochen und Breiten-grade, ein durch Räume und Zeiten reisender“Bund”, der – denken wir an Knecht – imDienste des Friedens und der zwischen-menschlichen Harmonie steht und dessenZiel, wie der Violinspieler und ProtagonistH.H. bemerkt, “nicht nur ein Land und etwasGeographisches, sondern die Heimat und

Jugend der Seele, das Überall und Nichts,das Einswerden aller Zeiten” 21 ist. Platon,Xenophon, Laotse und Novalis, alle Künstlerund Denker der Gegenwart, Vergangenheitund Zukunft, alle großen Dichter der Welt-literatur in Begleitung ihrer Helden bildenzusammen jenen Bund der Morgenlandfah-rer, zu dessen Angedenken - in einem subtilenSpiel zwischentextlicher Verweise – Hessein späten Jahren Das Glasperlenspiel, seingroßes Alterswerk, konzipieren wird: Der edleGeistesorden von Kastalien, von dem das Buchhandelt, hat hier inzwischen die Funktioneiner gegen die barbarische Wirklichkeit desDritten Reiches entgegengesetzten Utopieübernommen.22

Das Motiv der inneren Reise bereichert sichin den Schriften, die auf Hesses Krise währ-end des Ersten Weltkrieges folgen,23 um my-thologische und psychoanalytische Themen,zumal der Dichter, zur Überwindung derseelischen Not, sich den Theorien Carl GustavJungs über das kollektive Unbewusste nähertund über längere Zeit in psychoanalytischerBehandlung bleibt.Tatsächlich lebt eine ganze Reihe von HessesFiguren fortwährend an der Grenze zwischenBewusstem und Unbewusstem, zwischen den

Page 18: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XVIII]

Hermann Hesse

Eigenhändiger Brief

Thomas Manns an

Hermann Hesse vom

2.August 1916

beiden Welten, in denen Emil SinclairsJugend und Kleins tödlicher Kampf verläuft:ständig an der Grenze zum Wahnsinn. Mandenke in diesem Zusammenhang beispiels-weise an Klingsor (1920), der über die Praxisder surrealen Malerei die Etappen seinesTiefenlebens durchläuft, und vor allem an dieAufspaltung in eine schier grenzenlose “Viel-zahl von psychischen Nuklei” 24 des “verrück-ten” Harry Haller, der sich an den Aporieneiner unmöglichen Existenz aufreibt, indemer sich gleichzeitig innerhalb und außer-halb der bürgerlichen Gesellschaft bewegt,kultivierter Geistesmensch einerseits, wilderSteppenwolf andererseits.25

Mit dem Steppenwolf nimmt Hesse gegenü-ber seinen früheren Romanen, wie etwa Peter

Camenzind oder Gertrud, eine kritische Stel-lung ein, da er in diesen, trotz allem, jetzteinen Grad der Verfälschung zu entdeckenmeint. Ziehen sich nämlich Camenzind undKuhn aufgrund ihrer eingesehenen Lebens-untüchtigkeit ängstlich in eine vornehmeGelassenheit zurück, so macht Harry Hallerganz im Gegenteil den Sprung in den Ab-

grund, und schaut den Tiefen seiner Seeleins Gesicht. Doch ist diese “Auseinander-setzung mit dem Unbewußten”,26 der Blick

ins Chaos (1920), der die Hinfälligkeit einerjeden Ordnung und die Austauschbarkeit adlibitum von Teil und Gegenteil entdeckt,Träger eines kathartischen Effekts, der dieEinsicht vermittelt, dass die Gegensätze desLebens, die Spaltung in Geist und Natur, inGut und Böse, in Yin und Yang weiter nichtssind als Maya, ein die Einheitlichkeit desGanzen verdeckender Schleier. Nur wer den Blick in den Abgrund wagt,gelangt zu jener “Urmutter”, zu der sich alleFiguren Hesses, bewusst oder unbewusst,gleichermaßen hingezogen fühlen: EinemUrschoß, in dem die Identität des Einzelnenzu schmerzen aufhört und in einen allum-fassenden, unterschiedslosen Ursprung zu-rückkehrt.27

Das “Kainszeichen”, mit dem Emil Sinclairund sein Freund und alter ego Demian gleich-sam gebrandmarkt sind, ist letztendlich dasZeichen des Chaos (von griechisch �αos,Abgrund, gähnender Schlund), das Zeichenjener Auserwählten, die, in den Abgrund desmenschlichen Daseins blickend, dessen un-aussprechliche Harmonie geschaut haben.So erklärt sich die Bedeutung der vielenSymbole und wiederkehrenden Themata inder Prosa Hesses. Denken wir beispielsweisean die Metapher des Traumes, die mit demklaren Bewusstsein über die Grenzen dessprachlich Sagbaren einhergeht: So hochman das Vermögen der Sprache auch ein-schätzen mag, Sprache spielt dem Denkenpragmatisch definierte Signifikate zu, diesich auf dasselbe Denken stets zweischnei-dig auswirken, nämlich einerseits als dessenGrundvoraussetzung, andererseits als dessenLimit. Der Traum dagegen verleiht der“Freiheit, alles irgend Erdenkliche gleich-zeitig zu erleben, Außen und Innen spielendzu vertauschen, Zeit und Raum wie Kulissenzu verschieben”.28 Durch seinen Zauber, ver-wandelt sich die Wirklichkeit, verschwimmt,befreit sich von den Zwängen des dialogi-schen Denkens, verleiht ihr Mehrdeutigkeitund Magie, lässt es zu, dass ein Omega zurSchlange wird. So wie es dem jungen Gold-mund widerfährt, wenn er dem gelehrtenFreund Narziß zuliebe Griechisch lernt, der-selbe Freund jedoch erkennt, dass Unlustmit im Spiel ist und Goldmund einen ande-

Page 19: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XIX]

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Brunnen im

Innenhof des Klosters

Maulbronn, dessen

Seminar Hermann

Hesse zwischen 1891

und 1892 sieben

Monate lang besuchte.

ren Weg wird wählen müssen. Einen, zu dem er bestimmt ist, einen, der vom KlosterMaria-bronn (literarische Variante des Semi-nars Maulbronn, wo schon Giebenrath undHesse sich einst plagten), hinausführt, umsich in die Arme des Lebens, der Frauen undder Natur zu werfen.Man denke ferner an das Wasser oder dieMusik, die als vollendete Sinnbilder der Har-monie und des im Werden befassten Seinsunverzichtbare Komponenten der HesseschenProsa sind.In nahezu allen Romanen Hesses hören wirfrei und ungestüm das Wasser eines Flussesrauschen, oder sehen tief und dunkel denSpiegel eines unberührten Alpensees vor unsruhen. Häufig verfolgen wir mit unserenBlicken die zwischen Himmel und Erdedahinziehenden Wolken, dieses “ewige Sinn-bild alles Wanderns, alles Suchens, Verlan-

gens und Heimbegehrens”,29 wie Camenzindes in seinem schönen Loblied auf die Naturnennt, getrost darauf vertrauend, dass nie-mand in der Welt die Wolken so sehr liebtwie er. Als weiblich-mütterliches Element trägt dasWasser, ähnlich dem Urschoß der Mutter,30 ge-gensätzliche Bedeutungen in sich, so dass esuns nicht Wunder nimmt, wenn nicht nur derBeamte Klein oder der mutmaßliche Selbst-mörder Hans Giebenrath, sondern auch derlegendäre Josef Knecht, der in einem andern Leben bereits Regenmacher war, sich den Flu-ten anvertrauen, um darin ihren Tod zu finden.Derjenige, der wie der Fährmann Vasudevaaus Siddhartha es vermag, der Melodie desStroms 31 zu lauschen, ist derjenige, der hin-ter dem sich ewig verändernden Fließen derWellen das Sein geschaut hat und das Lächelndes Erleuchteten besitzt.

Page 20: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XX]

Hermann Hesse

Hermann Hesse,

Häuser in

Montagnola,

Gouache, 1920

Dasselbe Lächeln des Jazztrompeters Pablo,alias Mozart, der in Begleitung seiner sinn-lichen, geheimnisvollen Freundinnen Hermineund Maria den Steppenwolf genesen macht,indem er diesem, hinter dem Krächzen einesalten Radios, die Töne seiner unsterblichenMusik vernehmen lässt, jene “Sprache ohneWorte, welche das Unaussprechliche sagt, dasUngestaltbare darstellt”.32

Die Musik ist absolute Kunst, sie bezaubertund bewegt, Emil Sinclair ebenso wieHermann Lauscher und Josef Knecht, derim unvollendeten Projekt seines viertenLebens in der Musik das wiederfindet, wasdie pietistische Erziehung ihm einst vorent-halten hat.Die Musik, dieses “Universum eines jedenGeistesausdrucks, diese erhabendste SpracheGottes”,33 wie sie von Pater David MariaTuroldo genannt wird, stellt in der Auffas-sung Hesses und seiner Helden den voll-kommendsten menschenmöglichen Kontaktzur Harmonia Universalis dar. Könnte denndas erhabene Glasperlenspiel, die vornehmeFähigkeit disparate Sphären des Wahren, desGuten, des Schönen in einer einzigen Melo-die zu erfassen, anderen Ursprung, anderenNährboden haben als die Musik? Wo die Musikzum Katzengejammer, das Violinspiel zum

Gegeige verkommt, hat die Harmonie dieWelt verlassen; so, wie es im finsternenSeminar von Maulbronn in Unterm Rad

geschieht, wo ein unbegabter Schüler hart-näckig und stumpfsinnig sich bemüht, dasarme Instrument zu kratzen, und dabei nurden Eindrück eines Trottels hinterlässt.

Die schönste Beschreibung der HesseschenProsa, die mit einer musikalischen Kompo-sition verglichen wird, wird uns von Hesseselbst geschenkt, und zwar in der Psycho-

logia Balnearia (1925), einer ironisch-witzi-gen, von Thomas Mann 34 hochgeschätztenErzählung: “Wäre ich Musiker, so könnte ichohne Schwierigkeiten eine zweistimmige Me-lodie schreiben, eine Melodie, welche aus zweiLinien besteht, aus zwei Ton- und Noten-reihen, die einander entsprechen, einanderergänzen, einander bekämpfen, einanderbedingen, jedenfalls aber in jedem Augen-blick, auf jedem Punkt der Reihe in der in-nigsten, lebendigsten Wechselwirkung undgegenseitigen Beziehung stehen. Und jeder,der Noten zu lesen versteht, könnte meineDoppelmelodie ablesen, sähe und hörte zujedem Ton stets den Gegenton, den Bruder,den Feind, den Antipoden. Nun, und eben dies,diese Zweistimmigkeit und ewig schreitende

Page 21: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XXI]

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Antithese, diese Doppellinie möchte ich mitmeinem Material, mit Worten, zum Ausdruckbringen und arbeite mich wund daran, undes geht nicht”.35

Tatsächlich bilden sämtliche von Hesse er-fundenen Figurenpaare, angefangen bei Narzißund Goldmund, Veraguth und Burkhardt,Muoth und Kuhn, bis hin zu Siddharthaund Govinda, Sinclair und Demian, Knechtund Designori, eine solche zweistimmigeMelodie; sie wird im Versuch gespielt, denmythischen idealen Menschen darzustellen,einen, dem es endlich glückte, die beiden Poleder Existenz zu vereinen und in Harmoniezu leben zwischen Eros und Logos, zwischenapollinischem und dionysischem Geist, jen-seits jeglicher Zerrissenheit, in der göttlichenUreinheit des Ganzen.36

Doch ist das Schicksal dieser Wanderer, zu-mal die eine Note die andre übertönt, letztlicheinzigartig und für alle verschieden. HatNarziß den Weg der Einkehr gewählt, so geht Goldmund jenen der Kunst und der sinnli-chen Liebe. Streunt Harry Haller, der Wolf,herrenlos-anarchisch durch die Steppe, soverlässt der “Magister Ludi” Josef Knecht die

erhabene Provinz, um ihr gerade damit den höchsten Dienst zu erweisen und den Ordenvon Kastalien zu bewahren.Hesse wird nicht müde uns zu zeigen, wie der einzige Weg, der uns in die Heimat führt, derunseres Gewissens ist. Das ist der Grund, wes-halb Siddhartha, als er zu Buddha stößt, denGotama zwar zutiefst verehrt, dennoch, ganzim Gegensatz zum Freund Govinda, nichtsein Jünger wird, sondern im Bewusstsein,dass er dem Meister in der Ferne am nächstenist, davonzieht und seiner eigenen Wege geht.Hermann Hesses Lehre ist eine Lehre der Frei-heit und der Verantwortung, einfach und rühr-end, wie es alle großen Wahrheiten mensch-licher Weisheit sind: Bleib dir treu und gehedeinen Weg, denn “ein Vater kann seinemKind die Nase und die Augen und sogar denVerstand zum Erbe mitgeben, aber nicht dieSeele. Die ist in jedem Menschen neu”.37

* Doktor der Volkswirtschaft bei der Mai-

länder “Luigi Bocconi” Universität, und Phi-

losophie- u. Germanistikstudent bei der

Heidelberger Universität.

(e-mail: [email protected])

1 Vgl. G. DECKER, Hesse-ABC, Leipzig, Reclam, 2002, S. 187.2 Phänomene wie diese sind als “kreative Missverständnisse”

bekannt und sind die Wonne eines jeden Komparatisten.3 Vgl. www.hesse2002.de.4 H. HESSE, Wanderung, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1975, S. 9.5 B. ZELLER, Hermann Hesse, Hamburg, Rowohlt, 2001, S. 40.6 H. HESSE, Hermann Lauscher, Düsseldorf, Verlag der Rheinlande,

1908, S. 4.7 E. BANCHELLI, Vorwort zu H. HESSE, Hermann Lauscher, Milano,

SugarCo, 1991, S. 8.8 C. MAGRIS, Vorwort zu H. HESSE, Romanzi, Milano, Mondadori,

1977, S. XXV.9 Vgl. V. MICHELS (Hg.), Mit Hermann Hesse reisen. Betrachtun-

gen und Gedichte von Hermann Hesse, Frankfurt a. M., Insel, 1990,

S. 414.10 H. HESSE, Peter Camenzind, in Gesammelte Schriften, Bd.1,

Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1958, S. 291.11 H. HESSE, Engadiner Erlebnisse, in H. HESSE, Beschwörungen,

Berlin, Suhrkamp, 1955, S. 163.12 H. HESSE, Peter Camenzind, cit., S. 265.13 Ebd., S. 279.14 C. MAGRIS, Fra il Danubio e il mare, Milano, Garzanti, 2001, S. 15.15 H. HESSE, Demian, in Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt

a. M., Suhrkamp, 1958, S. 236.16 C. MAGRIS, Vorwort, cit., S. XXV.17 Vgl. H. HESSE, Brief an Rolf v. Hoerschelmann vom 22. Februar

1944, in Ausgewählte Briefe, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1974, S. 208.18 H. HESSE, Siddhartha, in Gesammelte Schriften, Bd. 3, cit., S. 686.19 Ebd., S. 716.20 Vgl. H. HESSE, Brief an Vasant Ghaneker vom April 1953, in

Ausgewählte Briefe, cit., S. 405.21 H. HESSE, Die Morgenlandfahrt, in Gesammelte Schriften, Bd. 6,

Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1958, S. 24.

22 Vgl. H. HESSE, Brief an Thomas Mann vom 23. Oktober 1946, in

Gesammelte Briefe, Bd. 3, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1982, S.

377-379.23 Zusätzlich zum Entsetzen über das vom Nationalismus

verheerte Europa kommen im "Annus Horribilis" 1916 schwere

Prüfungen auf Hesse zu: Der Vater stirbt, der Sohn ist schwer

krank, und seine Frau wird in eine Nervenheilanstalt interniert.24 C. MAGRIS, Vorwort, cit., S. XXXIII.25 Vgl. M.P. CRISANAZ PALIN, Vorwort zu H. HESSE, Demian, in Ro-

manzi, cit., S. 301.26 H. HESSE, Blick ins Chaos, Berlin, Seldwyla, 1920, S. 13.27 Vgl. B. BIANCHI, Einleitung zu H. HESSE, Sull’amore, Milano,

Mondadori, 1988, S. 6.28 H. HESSE, Die Morgenlandfahrt, cit., S. 24.29 H. HESSE, Peter Camenzind, cit., S. 230.30 Vgl. B. BIANCHI, op. cit., S. 6.31 Man beachte wie das Verb lauschen – verstanden freilich nicht

als ein sensorielles, sondern als ein seelisches Horchen – bereits im

Titel des ersten Romans Hesses vorkommt, des an anderer Stelle

zitierten Hermann Lauscher.32 H. HESSE, Der Steppenwolf, in Gesammelte Schriften, Bd. 4,

Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1958, S. 326.33 D.M. TUROLOD, in G. RAVASI, Il Canto della Rana, Casale Monferrato,

Piemme, 1990, S. 13.34 Vgl. TH. MANN, in H. HESSE – TH. MANN, Briefwechsel, Frankfurt

a. M., Suhrkamp, 1968, S. 78.35 H. HESSE, Kurgast (eh. Psychologia Balnearia), in Gesammelte

Schriften, Bd. 4, cit., S. 113.36 Vgl. H. HESSE, Der ideale Mensch, in Eigensinn macht Spaß,

Ebner Ulm, Insel, 2002, S. 105 ff.37 H. HESSE, Knulp, in Gesammelte Schriften, Bd. 3, cit., 1958, S. 57.

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Page 23: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Hermann Hesse,

See und Hügel (Details),

Aquarell, 1924

Hermann Hesse, die Schweiz, Italien und das Tessin

von Giuseppe Curonici*

Page 24: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XXIV]

Hermann Hesse

Hermann Hesse ist einer der meistübersetz-ten Schriftsteller der Welt, einer der meist-gelesenen Autoren seiner Zeit. Nach denüblichen oder limitierten Auflagen des De-büts fand er in der zweiten Hälfte des zwan-zigsten Jahrhunderts eine ungeheure Aner-kennung.Viele der von Hesse behandelten Themenkönnen problemlos in einem universellenSinn verstanden werden, und der Leser kannsich identifizieren. Eines davon ist wirklichfundamental: Die Suche und Ausbildungdes eigenen Selbst. Das zweite nicht minderrelevant: Die Neigung, alles Schlechte derWelt zu sehen, es gleichsam in sich zu spü-ren, verbunden mit dem Bedürfnis oderWillen, nicht in Panik zu geraten, den Ver-suchungen des Nihilismus nachzugeben,dem Verlust aller Werte. Das sind einige derGründe, warum sein Werk vor allem bei derJugend Anklang findet. Sein Portrait vomMenschen in der Krise, der Steppenwolf, stelltdie Wertkrise der westlichen Zivilisation inder ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhun-derts dar. Dennoch ist es ein Portrait fürjedermann, auch an anderen Orten und inanderen Zeiten. Ein weiterer Aspekt ist dieWeltaufgeschlossenheit. Hesse ist sicher eindeutscher Autor, doch findet sich in seinenTexten durchgehend der Verweis auf fremdeKulturen. Das Streben nach inneren Frieden,nach der Harmonie zwischen den Menschenund der Welt – das Streben, wohlgemerkt,nicht die naive Anmassung eines verbürgtenBesitzes – ist das Thema des Siddhartha, derMorgenlandfahrt, des Glasperlenspiel[s],Werke, denen eine Art undogmatische Re-ligiosität zugrunde liegt, in die christlicheSpiritualität, Liebe zur Natur sowie indischeund chinesische Traditionen mit einfliessen.Aus der Zeit des Nationalsozialismus istHesse unbescholten hervorgegangen: Erhatte den Frieden gepredigt und statt sichverbiegen zu lassen, ein Leben in Armut ak-zeptiert. Er war ein Symbol der deutschenKultur geworden, die sich verantwortlichfühlte, nach dem Debakel des Krieges aktivan der Erneuerung der europäischen Zivili-sation mitzuwirken. Eben dieses politisch-historische und ethische Motiv, war es, ab-gesehen von der dichterischen Leistung, dasihm 1946, zu Beginn des Wiederaufbaus, denNobelpreis einbrachte.

Hesses Beziehungen zu Italien und dem Tessinsind nicht nur geographische Anekdoten, siesind eine der wichtigsten Inspirationskräfte,die in der Seele des Autors wirksam sind. Umderen Bedeutung zu verstehen, ist es erfor-derlich, das Bild, das Hesse von Italien unddem Tessin hatte, im Kontext seines Lebens-werkes zu sehen und darüber hinaus Bezügeim Auge zu behalten, die, so sehr sie auchentfernt sein mögen (wie weit ist Indien ent-fernt?), stets dem einen, immergleichen, un-auslöschlichen Bedürfnis der Seele entsprin-gen: Der Suche nach der inneren Heimat. Wir müssen unser Augenmerk stets auf dieseIdee und auch Parallele zwischen Innerlich-keit und Internationalität richten. Sagen wirzunächst, was sie nicht ist. Sie ist nicht Nivel-lierung, nicht Kosmopolitismus, nicht kultu-reller Tourismus im Sinne einer allgemeinenAngewohnheit, von einem Ort zum nächstenund von einer Philosophie zur anderen zuwechseln, sei es aus oberflächlicher Neugierdeoder aus Unvermögen, an der eigenen Posi-tion festzuhalten. Er ist nicht irgendeiner,der die Glaubwürdigkeit oder die Wahrheitleugnen wird. Umgekehrt ist Hesses HaltungToleranz, oder besser gesagt, Brüderlichkeit.Er respektiert das Andersartige, ehrt die An-schauung und das Bewusstsein der Anderen,erkennt, dass das, was der einen Kultur fehlt,von der anderen gelernt, um nicht zu sagen,importiert werden kann. Ein europäischerAutor kommt in die italienische Schweiz, umin deutscher Sprache eine indische Geschichtezu schreiben: Siddhartha, entstanden 1922,und dennoch wie von heute. Ein seltsamesGefühl der Freude überkommt einen, wennman entdeckt, dass tausende von Kilometernund tausende von Jahren entfernt die gleichenZeichen auftauchen, in den Figuren vonBuddha und Franz von Assisi.

Hesses kulturelle GeographieVor uns steht ein Fragezeichen: Wie kommtes, dass Hesse derartige Perspektiven kultu-rellen Pluralismus in sich und in sein Werkaufgenommen hat? Wann und wo begannHesse, diese vielen Strömungen in sich zuvereinen und sich an ihnen zu orientieren? Die historische Antwort befindet sich in derBasler Missionsstrasse, Hausnummer 21. DieseStadt wurde für Hesse wichtig, weil sie ihm

Das Basler Ambiente und der internationale Horizont

Page 25: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XXV]

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Hesse mit seiner

ersten Ehefrau

Maria Bernoulli in

Gaienhofen am

Bodensee

die interkontinentale Kultur erschlossen unddie Gelegenheit zur Einreise in die Schweizgeboten hat. Die pietistischen Bewegungen, die sich imLaufe von Jahrhunderten in Deutschland undder Schweiz etabliert hatten, waren 1815 inBasel in einer Missiongessellschaft wieder be-lebt worden, die auch noch heute tätig ist:Die Evangelische Missionsgesellschaft, kurzauch Basler Mission genannt. Der berühmteIndologe Dr. Hermann Gundert, Leiter derMission in Indien, im Malabar, war der Gross-vater mütterlicherseits, von Hermann Hesse.Als grosser Mittler zwischen den Kulturenhatte er Teile der Bibel übersetzt und ein eng-glisch-malayisches Wörterbuch herausgege-ben. Nach Europa zurückgekehrt, wurde er1860 Leiter des Missionsverlags in Calw, dermit Basel in Verbindung stand. Zu einem spä-teren Zeitpunkt kehrte Gunderts TochterMarie aus Indien heim. In das Calwer Verlags-haus wurde auch der junge protestantischePastor Johannes Hesse entsandt, der ebenfallsin Indien missioniert hatte. Johannes wardeutschsprachig, jedoch russischer Staats-

bürger, weil er aus dem Estland stammte,einer deutschsprachigen, dem russischen Za-ren unterstellten Provinz des Baltikums.Johannes heiratete Marie Gundert; HermannHesse wurde 1877 in Calw geboren, und warrussischer Staatsbürger.1881 übersiedelt die Familie nach Basel, weilJohannes Hesse Lehrer an der Schule derBasler Mission wurde, und dort fünf Jahreblieb. 1883 nehmen die Hesses das SchweizerBürgerrecht an, kehren aber schon 1886 nachCalw zurück. Der junge Hermann Hesse, alsRusse zur Welt gekommen, dann Schweizergeworden, erwirbt 1890 wiederum die deut-sche, oder genauer gesagt, die württember-gische Staatsangehörigkeit, um die Zulassungzum Staatsexamen zu erhalten und später inTübingen Theologie studieren zu können.1891 tritt er ins Klosterseminar Maulbronnein, flieht nach sieben Monaten, inszenierteinen Selbstmordversuch, wird Praktikant beieiner Turmuhrenfabrik und schmiedet Plänefür eine neue Flucht, diesmal nach Brasilien.Jetzt wird klar, welche Bedeutung das BaslerAmbiente für Hesse gehabt hat: Eine mehr-

Page 26: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XXVI]

Hermann Hesse

deutige und tiefe Begegnung. Da waren derPietismus, der das Christentum vor allem alsinneres Erlebnis versteht; der spirituelle Ernstder Missionare; die Berührung mit Indien undgenerell ein ungemein grosszügiger Begriffvon interkultureller Begegnung und Toleranz;schliesslich der Eintritt in die Schweiz alsÜberleitung zum Umzug ins Tessin.In Basel veröffentlicht Hesse erste Gedichteund wird Buchhändler.1901 reist er nach Italien und taucht nachdrei Monaten wieder auf. 1903 ist er zumzweiten Mal in Italien, mit Maria Bernoulli,die er im Jahr darauf heiratet. Sie ziehen nachGaienhofen am Bodensee, wo drei Kindergeboren werden. 1911, mit dem MalerfreundHans Sturzenegger, macht er eine Bildungs-und Erkundungsreise nach Indien. 1912 über-siedelt er nach Bern, und von diesem Zeit-punkt an bis zuletzt lebt er in der Schweiz.1919 lässt er sich endgültig im Tessin nieder.

Wo liegt der Garten Eden?Aus irgendeinem aber zu respektierendenGrund liegt der Garten Eden sowohl in Indien,

als auch in der Seenlandschaft und in Italien.Es ist letztlich das Gleiche. 1927, zu HessesFünfzigsten, veröffentlicht der DichterfreundHugo Ball (er war der geistige Animateur desDadaismus) die erste kritische Hesse-Biogra-phie und vermerkt darin, Montagnola seiHonolulu. Dagegen haben wir nichts einzu-wenden, nur müssen wir im Nachhinein daseine oder andere klären. An der Wende vom neunzehnten zum zwan-zigsten Jahrhundert erschüttern epochale Ver-änderungen die Grundfeste der abendländi-schen Gesellschaft. Die Industrie verwandeltsich in eine industrialisierte Massengesell-schaft, die Lebensbedingungen der Menschenverändern sich dramatisch; wirtschaftlichesWachstum und soziale Konflikte nehmen zu,der Nationalismus bereitet den Boden für denWeltkrieg; der Kolonialismus eskaliert zumWeltphänomen und schafft die Vorausset-zungen für die gegenwärtige Globalisierung;das kulturelle und psychologische Unbehagenspitzt sich zu. Der Übergang von bäuerlichemund handwerklichem Leben, zur technolo-gischen Gesellschaft reizt zwischen Schwär-

Hermann Hesse,

Casa Camuzzi,

Aquarell, 1926

Page 27: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XXVII]

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Postkarte Hermann

Hesses an den Vater,

datiert Venedig

2. Mai 1901:

“Herzliche Grüße dir

und Allen! Ich wohne

bei Frl. Hüller,Venedig:

Fondamenta Fenice

2551. Mein Befinden

ist trotz einer Er-

kältung gut und ich bin

zufrieden. Briefe etc.

bitte hierher. Herzlich

Hermann”

(Marbach, Deutsches

Literaturarchiv)

merei und Leiden, Konformismus und Re-bellion zu einem radikal-neuen Lebensent-wurf. Für manche ist es die soziale Revolutionund für andere die Wiederentdeckung heid-nischen Tradition. Nicht wenige Intellektuelleund Künstler fühlen mit Inbrunst ein indi-viduelles Begehren, unberührte Orte wieder-zuentdecken, an denen man ein autenthi-sches Leben führen kann, vor allem, vereintmit den Kräften der Natur, welche stärker undtiefer als die Städte der Menschen erscheinen.Mit anderen Worten: Es gilt aufzubrechenund an anderer Stelle ein irdisches Paradieszu finden, eines, das Ähnlichkeiten mit derinneren Heimat aufweist, die weder sagbarnoch beschreibbar ist. Der englische Schrift-steller Stevenson segelt zu den Südseeinseln.Der Maler Gauguin reist in die Bretagne,nach Tahiti und zu den Marquesasinseln.Nietzsche steigt ins Engadin auf. GiovanniSegantini wechselt von der Mailänder Kunst-akademie zu den Sennhütten des Maloja. VanGogh verschlägt es in die Provence. Cézanneebenso. Andere zieht es in die Fischerdörferder Côte d’Azur, die der Tourismus noch nichtverändert hatte. Eine Gruppe von Philoso-phen und Künstlern besteigt den Hausbergvon Ascona, der zum Berg der Philosophen,zum Monte Verità wird; nach dem ErstenWeltkrieg schliessen sich Maler und Dichteran. Dies sind nur die bekanntesten Beispiele:an vielen anderen Orten Europas breitetsich die Bewegung aus.In jenen Jahren gehörte das Tessin, eine derärmsten Regionen der Schweiz, einer noch fastausschliesslich vorindustriellen Zivilisation an.Die Angleichung zu einer Terra utopica, zueinem Eden, war möglich. Für Hesse war esauch das Bedürfnis eines Heilsmittels, vor allemnach dem zunehmenden schmerzhaften Erleb-nisse, die wir noch ansprechen werden.Zusammenfassend liesse sich sagen: In denAugen Hesses ähneln sich Indien, Italienund das Tessin; auf der Ebene des Bildes, derrein utopischen Vorstellung, sind sie für ihnalle drei, gänzlich unterschiedslos, Sinnbildfür frühzeitliche Werte, religiöses Naturver-ständnis, Spontaneität des Seins, Harmoniezwischen Mensch und Natur. Aber um unszu vergewissern, müssen wir, in nuce, dieverschiedenen Elemente betrachten. Indien. Hesses Indienbild wird im Wesent-lichen durch das Elternhaus vorgeprägt; hierwird er mit Weltanschauungen vertraut ge-

macht, die dem europäischen Wertesystem,insbesondere dem materialistischen Ein-heitsdenken, radikal entgegengesetzt sind.Italien. Für das Italienbild ist eine andere Tra-dition relevant, nämlich die des deutschenKulturmenschen, der sich nach dem Land derKunst und der Antike sehnt, sowie der Drangnach Süden als Inbegriff von Natur und Kul-tur. Dies gilt auch und gerade für Hesse, ob-wohl ihm die klassische wie auch christlicheAntike nicht sonderlich viel bedeutet hatte(er ist nie in Rom gewesen!); grosses Interessedagegen zeigte er für das Land, die Leuteund die Kunst ab dem Spätmittelalter biszur Gegenwart.Tessin. Der Hügel von Montagnola am Luga-ner See stellt die Synthese zwischen einemimaginären Eden und einem konkreten, realenLand dar. Es bietet den doppelten Vorteil,gleichzeitig noch in Zentraleuropa und schonin einer bäuerlichen Natur zu liegen. Es ist derOrt, an dem Hesses Werk seinen Höhepunkterreicht, ausgereift und vollendet.

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Hermann Hesse

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Postkarte von Assisi

an Paul Schoeck,

Frühjahr 1911; Hesse

reiste in Begleitung

des Musikers Othmar

Schoeck und des

Komponisten Fritz

Brun.

“Dieses Kloster von

Assisi ist das Schönste,

was Du sehen kannst!

Überhaupt Assisi!

Nebenbei (?!) höre

und fühle ich hier die

Bestätigung des gan-

zen italienischen Lieder-

buches!

Herzlichst Dein

Othmar

Dem Othmar fehlt

vor lauter Chianti nur

noch der Heiligenschein.

Fritz Brun

Wir brauchen aber den

Chianti nötiger als den

Heiligenschein. Hesse”

Die Entdeckung Italiens – verstanden nichtnur als kulturelles, sondern auch und vorallem als existentielles Erlebnis – ist eineErfahrung, die Hesse zu Beginn des zwan-zigsten Jahrhunderts macht. Die ersteItalienreise dokumentiert vornehmlich dasTagebuch, doch sind vereinzelte Aufzeich-nungen auch noch in anderen biogra-phisch-deskriptiven Texten zu finden. Es istdas Verdienst Volker Michels’, sie im BandAus Italien (Frankfurt a. M., 1983) zusam-mengetragen zu haben, welcher dann unterdem Titel Dall’Italia, in der Übersetzungvon Eva Banchelli, auch in Italien erschei-nen konnte (Mailand, 1990). Hesse reist am25. März 1901 Montagabends aus Calw abund trifft Dienstagnacht um halb zwölf inMailand ein. Er sieht sich Pavia, Genua,Florenz, Pisa, Pistoia, Prato und Livorno an,fährt zu kleineren Orten, kehrt nach Florenzzurück und verbleibt hier bis zum 28. April.Dann begiebt er sich nach Ravenna, Paduaund Venedig, sieht die Lagune und den Lido.Am 17. Mai, von Venedig Abschied genom-men, hält er sich einen Tag in Mailand auf,um die Gemäldesammlung der Kunstakade-mie zu besichtigen. Samstag “abends halbelf Uhr setzte ich mich in den Gotthardzug”.Die Zollabfertigung in Chiasso irritiert ihn.Kurz vor Lugano schläft er ein. Sonntag,den 19. Mai, am Nachmittag, ist er wieder inCalw.Auf die Reise hatte er sich umfassend vorbe-reitet. Er hatte Italienisch gelernt und dieKunstgeschichte studiert.Das gesamte Tagebuch ist mit Werktitelnund Künstlernamen durchzogen, doch tretenArchitektur, Bildhauerei und Antike eindeu-tig hinter der Malerei zurück. Auf diesemGebiet ist das Interesse des jungen Dichtersbesonders akzentuiert, und sein Verständnisäusserst feinsinnig. Unermüdlich kommen-tiert er die Farbgestaltung der Gemälde, denWahrnehmungseffekt, den kulturellen Kode,der ihnen zugrunde liegt. Am 10. April notierter: “Gehe um halb 11 Uhr in den [Palazzo]Pitti, wo ich zunächst wieder lange vor TiziansKatharina sitze. Das Bild hat gar nichts Be-sonderes als die den Toskanern meist feh-lende völlige Einheit des Tones, in welcherLicht, Figuren, Landschaft etc. gleichberech-tigte Akkorde sind”. Seine Veranlagung, ma-lerisch zu empfinden, ist so hervorragend,

dass wir ihr auch dort begegnen, wo es nichtum Gemälde, sondern um reale Landschaf-ten geht. 23. April: “Vom Ponte delle Graziewunderbarer Anblick des Arno, der, obenklar dunkelgrün, durch die untern Brückenhindurch alle Farben des Abends spiegelte”.In der Toskana hatte eine Kulturrevolutionvon epochaler Bedeutung stattgefunden, derÜbergang vom Mittelalter zur Moderne. Mitdieser historischen Entwicklung, zumal mitihren Zusammenhängen befasst sich Hessewenig; zwar hat er im Vorfeld selbstverständ-lich Jakob Burckhardts berühmte Abhand-lung über die Renaissance gelesen, doch Hessekonzentriert sich von Mal zu Mal auf ein einzi-ges Gemälde. Nur einmal nimmt er zumhistorischen Wandel direkt Stellung, näm-lich am Schluss seiner Erzählenden Studievon 1904 über den Hl. Franziskus, wenn erauf Giotto zu sprechen kommt und in die-sem einen grossartigen Erneuerer erkennt:“Namentlich der weltberühmte Giotto, dererste grosse Malermeister der neueren Zei-ten, ist recht eigentlich durch seine Dank-barkeit und starke Liebe zu Franziskus unddurch dessen Geist zu solcher Tiefe getrie-ben worden”.Nach den grundlegenden Entdeckungsreisen von 1901 und 1903, die beide im Tagebuchfestgehalten sind, reist Hesse noch etlicheMale nach Italien, oft auch in Begleitung vonFreunden. Doch geht sein Interesse an mu-sealen und historischen Daten in späterenJahren spürbar zurück. Vielmehr interessie-ren ihn jetzt die Leute, das Volk, das Ambienteund die Lebensweise der Italiener, welche ihmunbeschwerter, weniger gekünstelt, vom gan-zen Lebensrhythmus her einfach spontanerund natürlicher als die Deutschen erscheinen.Den Italienische[n] Reisetag, einem Text von1913, beschliesst er mit einer Sentenz: “Überalle Verschiedenheit und reizvolle Gegensätz-lichkeit der Länder und Völker hinweg, wirdmir immer mehr und immer klarer der ein-heitliche Sinn alles Menschentums entge-gentreten”.

Italienische Sprache und italienische LiteraturAlles weist darauf hin, dass das Italienischeeigentlich nach dem Deutschen seine zweiteSprache war, die er wirklich gut beherrschte.Heute erinnert sich die Inhaberin der Buch-handlung Fuchs & Reposo in der Luganer

Die Italienreisen

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[XXX]

Hermann Hesse

Hesse beim Malen in

der Umgebung von

Montagnola in einem

Foto aus den späten

20er Jahren.

Nassastrasse daran, wie zur Zeit, als sie nochein Mädchen war, jener grosse, hagere undäusserst freundliche Herr in den Laden zukommen pflegte und entweder Deutsch oderein Italienisch mit deutschem Akzent zusprach. Auch in Montagnola gibt es nochden einen oder anderen, der sich daran erin-nert. Besuchte ihn ein Freund aus Deutsch-land, so übernahm Hesse die Rolle desFremdenführers. Im Grotto Cavicc oder imRestaurant Bellavista dolmetschte er dieGespräche zwischen Thomas Mann und derWirtin. Nebenbei sei bemerkt, dass Hessenicht erst während seines Aufenthalts in deritalienischen Schweiz italienisch lernte,sondern das Studium dieser Sprache schonwesentlich früher, noch vor seiner Reise von

1901, begonnen hatte. Natürlich sprach eres zu Anfang mit einem barbarischen Ak-zent. Das Tagebuch jener sehr intensivenMonate liefert uns verschiedene aufschluss-reiche Notizen.Mailand, Mittwoch, 27. März: “Abendessen inkleiner Trattoria (macheroni con sugo) [sehrbillig], wo die ganze Familie nebst Katze da-beisass und mein Italienisch belachte”. Denitalienischen Makkaroni fehlte lediglich einzweites “c”! Pavia, Donnerstag, den 28. März,Einkehr in einem Landgasthaus: “Behaglichnaive Leute, die mir sehr entgegenkamenund mein Italienisch belachten”. Bei seinerAnkunft in Florenz empfängt ihn ProfessorThurnheer. Ostern, 7. April: “Abends bietetmir Prof. Thurnheer freundlichst Literaturüber Florenz an”, doch hat Hesse bereits am

Freitag einen Klassiker der italienischen Re-naissance, die Vite Vasaris erstanden. In derdritten Woche, am Sonntag, den 28. April,ist er bei den Thurnheers zu Gast und ver-merkt: “Ich spreche mit ihnen immer italie-nisch”. Am 17. Mai, während der Heimfahrt,kommt er auf der Strecke Mailand-Venedigmit einem Engländer ins Gespräch: “Wirsprachen halb deutsch, halb italienisch.Dann kam eine Dame aus Venedig mit hüb-scher Tochter dazu, und wir schwatzten nunalle italienisch”.Die zweite grosse Italienreise unternimmtHesse 1903. Er reist in Begleitung von MariaBernoulli und ihrer Freundin, der MalerinGudrun, welche die beiden am MailänderBahnhof erwartet. In Florenz kommt er bei

den Thurnheers unter, die Damen logierenin der Umgebung. Dienstag, den 7. Aprilführt er seine Sprachkunststücke vor. Mitden Thurnheers schwätzt er ein gutesStündchen und schliesst: “Ich freute mich,dass mein eingerostetes Italienisch soordentlich wieder in Fluss kam”.Hesse liest die wichtigsten italienischenAutoren im Original, schreibt auf deutschArtikel über deren Werke und veröffentlichtüberarbeitete Übersetzungen. Seine Versio-nen von den Fioretti di San Francesco bei-spielsweise bezeichnet Eva Banchelli als“Übersetzung und Reduzierung” oder garals “freie Anpassung”. Der Grund, weshalbHesse Franz von Assisi bewundert, liegt aufder Hand: Er entspricht jenem Modellchristlicher Spiritualität, das er durch die

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“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Vermittlung seiner strenggläubigen Elternund des gottesfürchtigen Grossvaters seit sei-ner Kindheit verinnerlicht hat. Ein jungerMann aus reicher und angesehener Familie,nachdem er die Früchte des Lebens und derWelt gekostet hat, entscheidet sich für einLeben in Armut, wählt das vergeistigte Da-sein und wird Mönch. Wen stellt dieses bio-graphische Profil dar? Den Sohn des Bürgersvon Assisi, Franz? Oder den Sohn des Herrenvon Kapilavastu, Buddha? Oder ist es einabstraktes Modell der Bekehrung? 1904 ver-öffentlicht Hesse zwei biographische Schrif-ten, eine über Boccaccio, die andere überden Hl. Franziskus. Streng gesehen, han-delt es sich um zwei sehr unterschiedlicheFiguren, die nebeneinander gestellt bzw.gegeneinander abgesetzt werden. Im Romanvon 1930, Narziß und Goldmund, sind dieProtagonisten, der eine ein asketischerMönch, der andere ein sinnlicher Künstler.Derartige Gegensatzpaare kehren im Alters-werk Hesses häufig wieder. Die Polarität,der Widerspruch des menschlichen Lebens,ist eines seiner Lieblingsthemen.Hesse schrieb auch für Zeitungen und Zeit-schriften, meistens Erzählungen, Essays undBuchrezensionen. Dabei widmete er sich, inbeliebiger Abfolge, zahlreichen italienischenGeistesgrössen: Leonardo, Machiavelli, Pascoli(in Bezug auf welchen er am 5. Juni 1914

auf der “Münchner Zeitung” bemerkt: “Vieleseiner zarten Poemetti so voll seiner Ton-malerei, dass ein Übertragen fast unmöglicherscheint”).

Vielleicht glich das Tessin Hesses Vorstel-lung vom Garten Eden am ehesten. Endgül-tig liess sich der Schriftssteller im Tessin 1919nieder, lernte aber es schon mit dem begin-nenden Jahrhundert kennen. Die ersten undzugleich flüchtigsten Eindrücke gewann erdurch das Zugfenster, auf seinen Reisen nachItalien. 1905 unternahm er eine Wanderungzwischen dem Comer- und Luganer See, zueiner physiotherapeutischen Kur ging er zweiJahre später nach Ascona, auf den MonteVerità. Ab 1916, schliesslich, pflegte er imLocarner Land, zwischen Bergen und Seen,alleine oder mit Freunden, öfters ein paarFerientage zu verbringen. Die Jahre des Ersten Weltkriegs sowie die un-mittelbar darauffolgenden stellen im LebenHesses eine besonders schwere Zeit dar: Währ-end des Konflikts verausgabt er sich im Ein-satz zugunsten deutscher Kriegsgefangener.Die Presse attackiert ihn, weil er sich gegenden pangermanischen Militarismus aus-spricht. Ein Sohn erkrankt, der Vater stirbtunerwartet, und seine Frau wird wegen einesschweren Nervenleidens in einer Heilanstaltinterniert. Da er selbst im Gefahr ist, dasGleichgewicht zu verlieren, und diese Gefahrerkennt, begibt er sich bei Dr. Lang, einemSchüler Jungs, 1916 in psychoanalytischeBehandlung. Eine erste, unverhoffte Konse-quenz ist der Beginn einer neuen kreativenTätigkeit: Dr. Lang empfiehlt seinem Patien-ten, zu therapeutischen Zwecken, das Zeich-nen und das Malen anzufangen. Der Dichterfertigt Selbstportraits in Schwarz-Weiss undzahllose Landschaftsbilder als Aquarell. Inzehn oder fünfzehn Jahren dreitausend Aqua-relle. Fast alle stellen Tessiner Landschaftendar. Die “Arbeit” des Malens ist physisch undpsychisch zugleich, sie löst den Seelenschmerzin Bildern auf, und das behandelte Themawar in gewissem Sinne das Vitalste, Fried-vollste und Erhabendste: Himmel und Seen,irgend ein Dorf, Bäume und Wäld. Die Natur.Die Niederlage Deutschlands bedeutete fürHesse nicht nur eine psychisch-moralische,sondern auch eine finanzielle Katastrophe,da unter Einwirkung der Inflation seine ge-samten Ersparnisse zunichte wurden. Unterdem Druck dieses erneuten Schlages fürchtetHesse das Herannahen einer vielleicht irrever-siblen Krise: Er fand für seine drei Kindereine angemessene Unterkunft und beschliesst,

Hesse während der

Arbeit im Garten

der Casa Rossa um

1935

Im Tessin

Page 32: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XXXII]

Hermann Hesse

Bern zu verlassen, sich von allem loszusa-gen und ein neues Leben zu beginnen, mög-licherweise, wie er denkt, zwischen Ascona,Arcegno oder Ronco. Ein unglaublicher Zu-fall jedoch vereitelt dieses Vorhaben. SeineFrau, vorübergehend aus der psychiatrischenKlinik entlassen, hat ebenfalls Vorkehrun-gen getroffen, um ins Tessin zu kommen undbeabsichtigt ausgerechnet in Ascona ein Hauszu kaufen! In heller Aufregung ändert Hesseseine Pläne. Er muss nach Süden ausweichen,an die Küste oder an einen See, an den vonLugano. In Sorengo steigt er in einem Hotelab und wenige Tage später, in Montagnola,stösst er auf ein Anwesen, das ihn geradezufasziniert. Der Architekt Camuzzi, das halbeneunzehnte Jahrhundert in St. Petersburgtätig, hatte nach seiner Heimkehr das alteDorfgut erworben und es in einen eklekti-schen, barock-orientalischen Palazzo umge-baut. Eben in diesem Palazzo mietet sichHesse vier Zimmer ohne Heizung. Es gabeinen Kamin und einen Balkon. Er beginntzu arbeiten. Seine Produktivität in den erstenJahren war zunächst förmlich verrückt, dannallmählich gleichmässiger. 1931 hatte Hessenoch finanzielle Schwierigkeiten, erhielt aberdann grosse Hilfe des Mäzenen Hans C.Bodmer, der für ihn die Casa Rossa erbauenlässt, wo Hesse denn auch bis zuletzt lebenund arbeiten wird. In Montagnola entstehenHesses berühmteste Werke. Eines davon, dieErzählung Klingsors letzter Sommer, spieltin der Casa Camuzzi: Man erkennt den Garten,den Balkon, die umliegende Landschaft. DieNamen der Orte sind Anagramme real existie-render Namen: Muzzano wird zu Manuzzo,Laguno ist Lugano, Caruno meint Carona.Bemerkenswert ist, dass man all diese Ortevon Montagnola zu Fuss erreichen kann,und der Hin- und Rückweg an einem Tageleicht zu schaffen ist. Im Umkehrschlussbedeutet das, dass Hesse diese Orte körper-lich gefühlt hat. Er hat dem Tessin, seinerLandschaft und der Bevölkerung, den Festen,Kirchen und Dörfern in seinen Schriften zahl-lose Seiten gewidmet. Er war dem Land, dasihn aufgenommen hatte, zutiefst verbunden.

Aber was ist dann mit der Tafel? Am Eingangzur Casa Rossa, am Torpfosten des Gartens,erschien eines Tages ein nett formulierter,dennoch unmissverständlicher Hinweis: Bittekeine Besuche! Hesse ist zu diesem Zeit-

punkt der berühmteste Dichter der Welt. Erwar siebzig, achtzig Jahre alt, und es kommenJugendliche mit Schlafsack und Gitarre undUnbekannte aus der ganzen Welt. Was sollteer tun? Zahllose Besucher täglich in die guteStube bitten? Mit achtzig? Er schloss das Tor – aus schierer Notwehr. Den Dialog jedocherhielt er aufrecht. Er antwortete jedem, derihm schrieb. Fünfunddreissigtausend Briefebrachte er zeitlebens zu Papier. 1923 hatteer auf die deutsche Staatsbürgerschaft ver-zichtet, aus Liebe zum deutschen Volk unddessen Kultur, sowie zum Zeichen der Ver-achtung gegenüber jenen neuen schwarzenStrömungen, die dabei waren, sein Land innoch ärgeres Unglück zu stürzen, als das,was es schon einmal erdulden musste. Erwollte Schweizer werden, Tessiner, er, dermit so viel Eifer und Hingabe italienisch ge-lernt hatte. Die Gemeinde verlieh ihm dasEhrenbürgerrecht. Seine letzte Ruhestättefand er auf dem Friedhof von Gentilino.

* Kunst- und Literaturkritiker. Professor a.D.

des Kantonalen Gymnasiums in Lugano

und ehemaliger Leiter der Kantonalen

Bibliothek daselbst. Bagutta Opera Prima

2002 – Preisträger.

Page 33: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Hesses Schreibmaschine

(Montagnola, Museo Hermann Hesse)

Das Museum Hermann Hesse in Montagnola – Ein Ort der Begegnungen

von Regina Bucher*

Page 34: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

[XXXIV]

Hermann Hesse

Rechtzeitig zum 120. Geburtstag des Nobel-preisträgers wurde am 2. Juli 1997 ein Mu-seum in der zum Komplex der Casa Camuzzigehörenden Torre Camuzzi im Dorfkern vonMontagnola eingerichtet. Getragen von derFondazione Hermann Hesse hat sich dasMuseum zu einem Ort entwickelt, an demdie Gäste in einer anregenden AtmosphäreHermann Hesse nachspüren, den Reichtumseines schriftstellerischen Werkes in sich auf-nehmen und die Schönheit seiner Aquarellegeniessen können. Die Einrichtung des Mu-seums fördert die vorhandene Tendenz zuKontakt und gegenseitigem Austausch unterden Besuchern. Sitzplätze mit Lesemöglich-keiten am Eingang, im Garten und im Book-Shop, der Hesses Werke in vier Sprachen an-bietet, laden zum Verweilen und zur Kom-munikation ein.Das Museum bietet aufgrund eines umfassen-den Konzeptes den Besuchern neben einerpermanenten Ausstellung mit Manuskripten,Briefen, Buchausgaben, Aquarellen, Foto-grafien und persönlichen Objekten aus demLeben Hesses – unter anderem sind seineSchreibmaschine und sein Schreibtisch zusehen –, verschiedene andere Möglichkeiten,sich dem Künstler zu nähern. So werden jähr-lich drei Wechselausstellungen eingerichtet,die sich jeweils mit einem Aspekt aus demUmfeld Hesses auseinandersetzen und hierzuoft unveröffentlichte Werke und Texte demPublikum zugänglich machen. Im Jahre 2003sind Ausstellungen über den BildhauerHermann Hubacher, über die Teppichweberin

Maria Geroe-Tobler und über die EinwohnerMontagnolas und ihr Verhältnis zu HermannHesse im Programm.Hörstationen geben die Möglichkeit, vonHesse selbst gelesene Texte zu hören oderder Musik zu lauschen, die er gern hörte. Ineinem kleinen Kino werden Dokumentarfilmein italienischer, deutscher und englischerSprache angeboten, die sein Leben und Schaf-fen im Tessin nachzeichnen. Wöchentlichstattfindende Lesungen in italienischer unddeutscher Sprache mit anschliessender Dis-kussion tragen ebenso zur Lebendigkeit die-ses Ortes bei wie geführte Wanderungen inder faszinierenden Landschaft oder Vorträge,Rezitationen und Konzerte. Es ist ein Haupt-anliegen der Fondazione, Hesses Werk leben-dig zu halten, die Aktualität seines schrift-stellerischen Werkes bewusst zu machen undden grenzüberschreitenden Geist des Künstlerszu thematisieren.Inzwischen zählt das Museum mit jährlich20000 Besuchern zu einer wichtigen kultu-rellen Einrichtung im Tessin, welche von

einem internationalen Publikum frequentiertwird. Hermann Hesse ist weltweit der meist-gelesene Schriftsteller deutscher Sprache des20. Jahrhunderts und inzwischen in mehr als60 Sprachen übersetzt. Deshalb ist es nichtverwunderlich, dass die Fondazione HermannHesse Montagnola über die Grenzen des Tessinshinaus Hermann-Hesse-Projekte betreut, bei-spielsweise in Winterthur, Zürich, in Berlin,Mailand, Venedig und Brüssel.

* Direktorin der Fondazione Hermann

Hesse Montagnola

Oben:

Das Hermann Hesse-

Museum im Turm

der Casa Camuzzi in

Montagnola

Rechts:

Des Malers Lust:

Hesses Farben und

Palette (Montagnola,

Museo Hermann Hesse)

Page 35: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

“Jenseits der Bilder und Geschichten”

Das biographische Profil sowie die Auswahl der Zitate zu den the-

matischen Abbildungen, welche die Schlussbilanz begleiten, be-

sorgte Pier Carlo Della Ferrera. Die Bildrecherche besorgten Regina

Bucher und Pier Carlo Della Ferrera.

Danksagung

Unser Dank gebührt all jenen, die in verschiedener Weise durch

Informationen, Hinweise und Ratschläge zur Entstehung dieses

Projekts beigetragen haben. Wir danken insbesondere Herrn Dr.

Stefan Buck, Stephan Zimmermann und Jost Eickmeyer für die

Revision der deutschen Übersetzung, Herrn Professor Giuseppe

Curonici und Frau Dr. Regina Bucher, Leiterin der Fondazione

Hermann Hesse in Montagnola.

Infos zur Fondazione Hermann Hesse Montagnola unter:

www.hessemontagnola.ch / [email protected]

Tel. 0041 91 993 37 70 / Fax 0041 91 993 37 72

Copyright

© Calwer Verlag, Stuttgart, S. IV

© Diego und Luigi Ciminaghi, Mailand, S. XVI

© Fischer Verlag, Frankfurt am Main, S. XVIII

© Fondazione Hermann Hesse, Montagnola, S. XV, XXXIII, XXXIV

© Heiner Hesse, Arcegno, S. II, X und XI, XVII, XX, XXII und

XXIII, XXVI

© Sanjiro Minanikawa, Tokyo, S. XXXIV

© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. III, V, VII, VIII, XII,

XIV, XIX, XXV, XXVII, XXVIII, XXX, XXXI

Fotos von

Martin Hesse, S. VII, XXX, XXXI

S. Minanikawa, S. XXXIV unten

R. Pellegrini, S. XXXIV oben

Page 36: Hermann Hesse “Jenseits der Bilder und Geschichten”

Rückseitiges Deckblatt:

Siddhartha, 1922

PROJEKT UND KOORDINIERUNG

SDB, Chiasso

GESTALTUNG

Lucas Häfliger, Bellinzona