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    HILDEGARD VON BINGEN

    WELT UND MENSCH

    DAS BUCH DE OFERATIONE DEI

    AUS DEM GENER KODEX BERSEZ UND ERLUER

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    PDF ERSELL VONANDRE RADEMACHER

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    INHALT

    VORWOR EINFHRUNG 7

    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIF IM GESAMPLAN DER VISIONEN 7

    ABFASSUNG UND SCHICKSAL DER KOSMOSSCHRIF 8ZUR ENSEHUNG DER VISIONEN 10

    DER UMRISS DER KOSMOS VISIONEN 13HILDEGARDS KOSMOSSCHRIF 17

    DIE ZEHN VISIONEN

    VOM WIRKEN GOES IN WEL UND MENSCH 18

    VORSPRUCH I.DIE WEL DES MENSCHEN

    DIE ERSE SCHAU VOM URSPRUNG DES LEBENS

    DIE ZWEIE SCHAU VOM BAU DER WEL

    DIE DRIE SCHAU VON DER NAUR DES MENSCHEN 63

    DIE VIERE SCHAU VON DER GLIEDERUNG DES LEIBES 82

    DER JAHRESKREIS 156

    GOES WOR IN DER WEL 172

    II. DAS REICH DES JENSEIS 188

    DIE FNFE SCHAUDIE SEN DER LUERUNG 189

    DIE SCHPFUNG 207

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    III. DIE GESCHICHE DES HEILES 251

    DIE SECHSE SCHAU VOM SINN DER GESCHICHE 252

    DIE SIEBENE SCHAU VORBEREIUNG AUF CHRISUS 257

    DIE ACHE SCHAU VOM WIRKEN DER LIEBE 273

    DIE NEUNE SCHAU VOLLENDUNG DES KOSMOS 281

    DIE ZEHNE SCHAUDAS ENDE DER ZEIEN 298

    EPILOGUS 338

    ERLUERUNGEN ZUM WELBILD HILDEGARDS 340

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    DIE BILDER

    nach Seite

    01 DIE SEHERIN MI IHREN MIARBEIERN 1602 DER URLEBENDIGE 3103 DER URLEBENDIGE Ausschnitt aus 2 3304 DER KOSMOSMENSCH 5105 DIE WELKRFE 6806 DER LEBENSKREIS 8507 DIE JENSEISRUME 19608 DIE JENSEISRUME Ausschnitt aus 7 214

    09 DIE SAD GOES 24810 DAS OR ZUM HEIL 26511 DER BRUNNEN DES LEBENS 27512 DER BRUNNEN DES LEBENS Ausschnitt aus 11 27713 DIE VOLLENDUNG DER WEL 29514 DIE ALLMACH Ausschnitt aus 13 29715 DIE ENDZEIALER 30716 DIE LIEBE Ausschnitt aus 15 325

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    VORWORT

    VORWORT

    Nach jahrhundertelangem Schweigen ist die Stimme Hildegards von Bingen, der Seherinvom Rupertsberg, wieder laut und in ihrem Fragen vernehmlich geworden. Mit zunehmen-dem Ernst haben sich in den letzten Jahrzehnten Philosophen und Naturwissenschatler,Historiker und Teologen, rzte und Knstler mit diesem unvergleichlichen Weltbild und

    dieser einzigartigen Menschenkunde des hohen Mittelalters auseinandergesetzt.

    ber diese rein achwissenschatliche Anerkennung hinaus konnten die deutschen ber-setzungen einer Hildegard-Gesamtausgabe die theologischen und naturkundlichen Schri-ten der heiligen Hildegard auch weiteren Kreisen zugnglich machen. Neben der HeilkundeCausae et curae und der Naturkunde Physica hat vor allem ihre Glaubenskunde SciviasBeachtung geunden. An diese bersetzung reiht sich nunmehr ihre Weltenkunde Liber di-

    vinorum operum an, Hildegards Kosmosschrit, die als ihr monumentalstes und reistesWerk gilt.

    Gleichwohl bedar die bersetzung einer solchen mittelalterlichen Kosmologie und Anthro-pologie, die hier erstmalig nach den ltesten Quellen vorgelegt werden kann, einer Begrn-dung. Die Welt des 20. Jahrhunderts ist nicht mehr die Welt des 12. Jahrhunderts. Die Er-schtterung des hohen Mittelalters vor den Visionen dieser prophetissa teutonica ist nichtohne weiteres bertragbar au unsere vielschichtige und widerspruchsvolle Gesellschat. Zueiner solchen bertragung bedar es einer behutsamen Vermittlung, einer wirklichen ber-Setzung, damit wir nicht nach dem treenden Bild des Hildegard-Biographen Wibert vonGembloux dem Esel gleichen, der Wein trgt, ohne davon zu kosten.

    Es dar dem Leser nicht verschwiegen werden, da ihm keine leichte Kost vorgesetzt wird.Das bildhate Denken des rhmittelalterlichen Symbolismus ist bereits in der spterenScholastik von einem rationellen Denken zugedeckt und im Zuge einer zunehmenden S-kularisierung und Auklrung vollends verschttet worden. Hinzu kommt die einache undunscheinbare Sprache Hildegards, die in krassem Gegensatz zum hohen Anspruch der Visio-nen steht, ein atbestand, an dem die Humanisten jeder Epoche rgernis genommen haben.Hildegards Stil sei so schlecht schreibt Langius 1716 , da es schon an Blasphemie

    grenze, diese Sprache dem Heiligen Geiste zuzuschreiben.

    Nun hat Hildegard nicht wie Cicero, sondern in der Sprache ihrer Zeit gesprochen, aus demGlaubensgut und der Wissenschat ihrer Zeit. Wir mssen an die Geduld des modernen Le-sers appellieren. Gerade dieser Leser vonheute aber sollte die ganze Landschat des Kosmosund des Krpers erahren und sich nicht mit einer Bltenlese begngen. Auch er sollte dasmonumentale Bauwerk selber entdecken, das unter viel Schutt und Putz herausgelst wer-den mu, ehe es aus seinem Lichtkern heraus zu erstrahlen beginnt. Hierzu sollen unsereErluterungen r das Werk Hildegards einige Leitlinien geben, whrend au eine endgltige

    Ausdeutung dieses Welt- und Menschenbildes noch verzichtet wurde.

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    Nicht allein die bersetzung, sondern auch die Bearbeitung des extes bedar einer persn-lichen Stellungnahme, diesmal aus der Sicht der Seherin Hildegard heraus. Hat Hildegarddoch in ihrem Nachwort mit prophetischer Selbstbewutheit geordert, da niemand sicherkhnen dre, aus dieser Schrit die so sehr als Ganzes gedacht war und als Prophetie

    charakterisiert wurde irgend etwas wegzunehmen oder hinzuzugen. Gestattet sei le-diglich die excribatio literarum et dictionum: da man einzelne Worte und Stze aussiebe.Dies allerdings erschien uns bei der stellenweise ermdenden Weitschweigkeit des Stilsund bei den uerlosen Wiederholungen im Gedankengang gerade dieser Sptschrit notwen-dig und gerechtertigt.

    Im brigen haben wir uns um eine wortgetreue bersetzung bemht. Um einer klaren Glie-derung willen wurden die drei eile und ihre zehn Einzelvisionen mit einem erklrendenitel versehen. Die berschriten zu den Kapiteln wurden gestrat und versuchen zu deuten

    und berzuleiten. Einer solchen berleitung und Zusammenassung dienen auch die Le-genden zu den Bildtaeln, die hier erstmalig im ganzen gezeigt werden knnen. Hinweise zu

    weiterer Interpretation bringen die Literaturangaben.

    Besonderen Dank schuldet der Verasser den Chorrauen der Benedikti-nerinnen-Abtei St.Hildegard zu Eibingen, insbesondere Frau Adelgundis Fhrktter r ihre selbstlose Mitar-beit bei den bersetzungen. Herzlich gedankt sei auch Proessor Fritz Reusch r seine An-regungen bei der Anlage der bertragung und r sein sorgltiges Sachregister. Dem Verlagzu danken sind die Mhen um die Beschaung des extes aus dem Genter Kodex und um die

    Reproduktion der Bildtaeln aus dem Kodex zu Lucca.

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    EINFHRUNG

    EINFHRUNG

    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIF IM GESAMPLAN DER VISIONEN

    Wie man die theologischen Summen der Hochscholastik neben die gotischen Kathedralengestellt hat, so knnte man Hildegards Kosmosschrit mit einer romanischen Basilika ver-gleichen: ein monumentales Bauwerk mit estgegten Quadern und durchsichtigen Kon-turen nach einem klaren Plan. Die Kreuzesorm durchbricht nach ihren vier Enden das tra-gende Kreisrund und net einem weiten, lichten Raum den erhabenen Gegenstand dieses

    Weltbildes. Es ist immer die ganze Welt, die unter den Zeichen von Kreis und Kreuz in denolgenden Bildern erscheint, und in diese Welt hineingeboren erscheint der Mensch.

    Mit der Natur der ganzen Welt und im Schicksal seiner Heilsgeschichte steht der Mensch

    au, um sich vor aller Welt als verantwortlich zu erweisen und so seinen Schper zu ver-herrlichen. Tema dieser Schrit ist diese Schpungsordnung Gottes, die operatio Deicc,die als Welt den Menschen meint und seinen Weg zum Heile begleitet. Insoern stehen auchdie vorliegenden Visionen in der Gesamtschau der heiligen Hildegard. Hatte die Seherin inihrer ersten Schau, die sie im Jahre 1141 erlebte, die Oenbarung des christlichen Glaubensund das innere Leben der Kirche verkndet, worau der itel Wisse die Wege hinweist, soschilderte sie im Buch der Lebensverdienste 11571163 den inneren Kamp des glubigenMenschen und darin seine weltweite Verantwortlichkeit. Die Wege des Menschen aber mitseiner sittlichen Entscheidung hren unmittelbar in die Tematik der letzten groen Visi-

    on: in den Uber divinorum operum 11631173.

    Dieses Buch von der Welt und vom Menschen ist auch insoern mit einem Bauwerk zu ver-gleichen, als sich darin die verschiedenen Bauphasen noch erkennen lassen: als Baukern dieerschtternde Vision von der Menschwerdung des Wortes Gottes, die Hildegard nach demProlog des Johannes-Evangeliums ausdeutet. Da das Wort im Anang war und dieses WortFleisch geworden ist, das wird im Herzstck dieser Weltenschau au die einzelnen Gliederunseres Organismus ausgelegt, in denen der Logos Mensch geworden ist. Eng damit verbun-

    den sind die beiden anderen groen Rume dieser Weltensicht: das gttliche Sechstagewerknach der Genesis und die letzten Dinge nach der Geheimen Oenbarung. Das Wort Gottesverbindet das Weltwerk aus innigste mit der Heilsgeschichte. Es sind deswegen auch diebeiden Herzworte als Leitlinien auzuassen, die sich durch die gesamte Schrit zieh-hen:verbum und opus. Gottes Wort ist am Werk in der Welt. Der Aufbau dieser Welt unsere

    Natur um uns und in uns greit au geheimnisvolle Weise in den Ablau dieser Welt ein, inunsere Geschichte. Beide Bereiche erlebt der Mensch in seiner Existenz als seine Wirklich-keit, und r beide ist er verantwortlich.

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    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIFT

    ABFASSUNG UND SCHICKSAL DER KOSMOSSCHRIF

    Unserer bersetzung liegt eine der ehrwrdigsten Handschriten der Genter Universittsbi-bliothek, der Kodex 241, zugrunde. Sorgltige Untersuchungen datieren die Entstehung au

    die Jahre 11701173 Schrader-Fhrktter [1956]. Oensichtlich ist das Manuskript in derSchreibstube au dem Rupertsberg noch unter den Augen Hildegards angeertigt wor-den und damit wohl die lteste und wertvollste Hildegard-Handschrit. Es handelt sich umeinen Kodex in Kleinolio aus Pergament, 255 X 160 mm gro, au 396 Bltter geschrieben.Die Handschrit zeigt, da zwei Kopisten am Werk gewesen sind, die sich durch nur unwe-sentliche stilistische Varianten unterscheiden. Zahlreiche Korrekturen und Erluterungenim ext oder am Rande weisen darau hin, da es sich um ein erstes Konzept oder DiktatHildegards wenn auch nicht sicher um ein Autograph

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    EINFHRUNG

    Der historisch wenig kritische Abt rithemius von Sponheim hrt Hildegard von Bingen inseinem Catalogus viromm illustrium und erwhnt in seinem Werk De scriptoribus ecclesi-asticis auch die Kosmosschrit der Seherin vom Rupertsberg, unterstreicht aber ebenallsnur die politischen und religisen Vorhersagen einer groen nahenden Spaltung der Kirche

    und einer voranschreitenden Skularisierung der Christenheit bei Zerall des RmischenImperiums. Als eine Kronzeugin dieser endenzen konnte dann Hildegard ganz im Sinneder Reormation ausgelegt werden, so bei Andreas Oslander, einem Prediger zu Nrnbergund Freunde Martin Luthers.

    Als Ganzes ist die Kosmosschrit zum erstenmal wieder dem gelehrten Erzbischo von Luc-ca, Johannes Dominicus Mansi 16921769, zu Gesicht gekommen. Mansi spricht mit gro-er Bewunderung von diesem Riesenwerk und meint, bei richtigem Lesen und der rechten

    Vertieung in dieses Buch msse letztlich jede Mhsal und jede noch so schwere Last von

    einem Menschen weggenommen werden: so gro und erhebend sei der Ertrag dieser s-en Frucht. In den Miscellanea des Stephanus Baluzius hat Mansi den ext seines Kodexzu Lucca herausgegeben Lucca 1761, eine erste Edition, deren sich auch Migne in seinerPatrologia Latina tom. 197, 7391038 bedient hat. Auch diese Ausgabe haben wir aushr-lich herangezogen; ehlerhate Auschlsselungen und Varianten sind in den Anmerkungendes Anhangs augehrt worden, wobei au die Korrektur von oensichtlichen Druckehlern

    verzichtet wurde.

    Auch den Obersetzungen dieser Kosmosschrit ist ein nicht weniger eigenartiges Geschick

    zuteil geworden. Neben einer einhrenden Bltenlese bringt Schmelzeis 1879 zusammen-hngende exte vor allem aus der 10. Schau, den Schilderungen der zukntigen Zeiten S.402419. Eine genauere Inhaltsangabe mit allerdings einer nur uerlichen Charakteristikgibt May 1911, S. 321333, whrend sich Bhler in seiner Auswahl wiederum mit einernicht immer kritisch getroenen Anthologie begngt 1922, S. 254300. In einen weitge-spannten Rahmen und mit beachtenswerten Quellenstudien hat Liebeschtz in seiner Habi-litationsschrit Das allegorische Weltbild der heiligen Hildegard von Bingen 1930 gestellt;

    wir werden im einzelnen darau zurckkommen mssen.

    Eine geschlossene Einhrung in Sinn und Aubau des Liber divinorum operum hat in vorbildlicher Krze und mit bewundernswerter Einhlungs-gbe Adelgundis Fhrktter1953 gegeben. Der Abschlu der 4. Vision, die sogenannten Monatsbilder, sowie die In-terpretation des Johannes-Prologs sind von Schipperges in einem Auswahlbndchen Gottist am Werk 1958 bersetzt worden. Eine tiegehende Wrdigung gibt in ihrer Hildegard-Biographie schlielich Monika zu Eitz 1963, S. 167174. Sie nennt die Kosmosschrit dasreiste Werk der Seherin, in dem Scivias und der Liber vitae merito-rum zu ihrer letzteniee gewachsen seien. In dieser letzten Vision weite sich das Mysterium der Liebe bis zu

    den Grenzen des Weltalls und bis ans Ende der Zeit.

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    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIFT

    ZUR ENSEHUNG DER VISIONEN

    Ein so grndlicher Kenner der mittelalterlichen Bildwelt wie Alois Demp 1929 hat dasWeltbild der prophetissa teutonica noch ber das Weltendrama Dantes gestellt. Das tiee-

    re mythische Bild der Zeit in ihrer urcht-baren und erhabenen Gre und herben Wahrha-tigkeit habe uns Hildegard von Bingen gegeben: hier mehr noch als bei Dante sei inpersnlicher Eigenart au einmal das Ganze gesagt.

    Dieses Ganze au einmal in persnlicher Eigenart zu geben war Hildegard nur mglich, weilsie in ihrer Weltschau die Inkarnation als das Fundament aller Schpung und auch als cau-sa exemplaris r alle Weltstruktur und alle menschliche Organisation augenommen hat.Zu dem erschtternden Erlebnis dieser zentralen Vision hat Hildegard sich an mehrerenStellen geuert, vor allem in ihren Prologen und in Briestellen, wo sie auch zum Visions-

    modus eine Erklrung abgegeben hat.

    Au dieses Erlebnis wird aushrlich in der Vita Hildegardis II, 35 eingegangen. In dieserzeitgenssischen Hildegard-Biographie ist vom Menschen als dem Werk Gottes in aller Weltdie Rede; Hildegard berut sich dabei au das Johannes-Evangelium und hrt aus: Die er-

    whnte Schau lehrte mich die Worte und den Inhalt dieses Evangeliums, das vom Anang desWerkes Gottes handelt, und gab mir das Verstndnis hierzu. Und ich sah, da diese Ausle-gung der Beginn einer anderen Schrit sein mte, die noch nicht oenbar geworden war. Inihr sollten viele Fragen der geheimnisvollen Schpungsordnung Gottes untersucht werden.

    Hildegard berichtet nicht ohne Erregung, wie sie von dieser Schau besonders auch krper-lich mitgenommen worden sei: Mein Innerstes ward vor diesem Gesicht erschttert, unddie Empndungen meines Krpers erloschen, da mein Erkennen in eine andere Weise alsob ich mich selber nicht mehr kennte umgewandelt ward. Und wie sante Regentropentruelte es aus Gottes Inspiration in mein Bewutsein, so wie der Heilige Geist den Evan-gelisten Johannes betaut hat, als er aus Jesu Brust die gewaltig-tiee Oenbarung sog: daim Anang das Wort war. Eine pathographische Untersuchung ber die Visionsweise derheiligen Hildegard liegt nicht vor; eine solche Studie mte vom wissenschatlichen Stand-

    punkt aus die zahlreichen Erklrungsversuche zum Visionsstil der Seherin vom Rupertsbergkritisch zusammenassen, dann aber auch aus der Phnomenologie her die Stimmen derZeitgenossen, die autobiographischen Zeugnisse wie auch analoge Visionsweisen ordnenund zu interpretieren versuchen. Ohne au diese noch unzureichende Situation in der Hilde-gard-Forschung einzugehen, mu doch au den prophetischen Habitus der Visionrin undMystikerin aumerksam gemacht werden. Hierbei wren vor allem die Mystikerin und dieSeherin zu charakterisieren und von der Prophetin Hildegard zu unterscheiden, die inerster Linie in vorliegender Schrit gesprochen hat.

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    EINFHRUNG

    Was die Mystikerin angeht, so dar Hildegards Mystik nicht verwechselt werden mit Gestal-ten aus der Christlichen Mystik von Grres, nicht mit einer spanischen Mystik, nicht mitden sptmittelalterlichen Formen der Devotio moderna, ja nicht einmal mit der zeitgens-sischen Mystik etwa einer Elisabeth von Schnau oder den Formen spterer Brautmystik.

    Der Begri der Mystik ist bei Hildegard weitaus strenger zu assen. Ihr mystisches Erlebenberuht einzig und allein au der persnlichen Erahrung einer Begegnung mit Gott, und zwarnicht mit Gott als subjektivem Gesprchspartner der Seele, sondern jenem Gott, der die gan-ze Welt und den ganzen Menschen geschaen hat. Folgerichtig vollzieht Hildegard in ihrerKosmosschrit die Hereinnahme der gesamten Welt in die innere Begegnung mit den ge-

    wordenen Gottessohn. Im Grunde begegnet die Mystikerin Hildegard nur Christus als demWorte Gottes, dem Logos des Kosmos. Diese Erahrung uert sich direkt und unvermitteltin ihrem Schrittum, weshalb Hildegard sich auch ausdrcklich von asketisch unterbautenStuen eines Einweihungspades oder einer ekstatischen Seelenverassung distanziert.

    Wie Hildegard aus ihrer mystischen Begegnung mit dem Schperwort die Einheit der ge-schaenen Welt erlebt, so kommt sie aus dem gleichen Erlebnis heraus auch als Visionrinzu einer Gesamtschau der Welt. Insoern dar die Vision Hildegards durchaus mit normal-

    psychologischen Mastben gemessen werden. Zu allen Zeiten und in jedem Kulturkreishat es diese Schau der Wirklichkeit gegeben, bei dem griechischen mantis ebenso wiebei einem arabischen kahin, von den Erahrungen der stlichen Mystik ganz zu schweigen.Selbst der Begri der Inspiration, den noch Friedrich Nietzsche im Ecce Homo gegebenhat, bietet berraschende hnlichkeiten mit dem Visionsmodus Hildegards. Ebenso erlau-

    ben die Untersuchungen von E. R. Jaensch und Karl Jaspers ein einhlendes Verstndnis rdie Bekenntnisse und Erlebnisse Hildegards, wie auch au die Visionen bei C. G. Jung 1963hingewiesen werden dar.

    Hildegards Visionen sind ihrem Inhalte nach als Privatoenbarungen schon von Papst Eu-gen III. 1147/48 anerkannt worden. Sie stehen als echte Vision in bereinstimmung mitder Oenbarung: da Gott die Welt als gut erschaen hat, da der Mensch der Versuchungerlag und die Welt in Verwirrung brachte, da Gott Mensch wurde, um die Welt zu erlsen.

    Mit dieser Oenbarung vermittelt Hildegard die Verkndigung Gottes, der sich ber die Weltund in der Geschichte als ein Gott der Gerechtigkeit und der Gte erweist. Aus diesem Visi-onsduktus heraus ist auch das letzte Motiv der vorliegenden Schrit zu verstehen. Hildegard

    will den Reichtum der natrlichen Welt in einen Zusammenhang mit dem Gnadenlebenbringen; sie will damit nicht nur ihrer Zeit einen Spiegel vorhalten, sondern jeden einzelnenansprechen und in seiner jeweiligen Situation vor eine Entscheidung Damit aber unterziehtsich die Seherin dem eigentlichen Amt des Propheten, der weniger vorauszusagen als viel-mehr zu knden hat, der mit seiner Kundgabe den Menschen vor die Alternative stellt unddarin eine verantwortliche Entscheidung ordert. In der at ist Hildegard, die Prophetin, die

    eigentliche rgerin und Autorin der Kosmosschrit.

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    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIFT

    Wir greien damit au einen alten Ehrentitel zurck, insoern bereits ihre Zeitgenossen dieprophe-tissa teutonica verehrt haben und sie mit der alttestamentarischen Gestalt derProphetin Debora vergleichen konnten. Hier haben wir ein drittes Mal zu unterscheiden unddiesen prophetischen Habitus nher zu dierenzieren.

    Die eigentliche Bedeutung des Begries propheta ist umstritten. Der hebrische Wortsinnmeint am ehesten einen, der gemacht wird. Auch im Griechischen ist der Prophet einer,der r einen anderen spricht, r Gott nmlich, wodurch er zum religisen Knder wird.Das besagt der Begri auch im arabischen Kulturkreis, wo der Inspirierte in erster Linie alsein Mann der Eingebung gesehen wird, als rger einer Botschat, die grer als der Bote ist.Der Prophet gehorcht einem Impuls Gottes, wenn er in der Herausstellung kritischer Situa-tionen die Gegenwart au ein Kommendes hin auslegt.

    In diesem Sinne dren wir Hildegard eine Prophetin nennen. Nicht zu Unrecht ist sie mitden groen Mahnern und Kndern des Alten Bundes verglichen worden, besonders mit

    Jeremias, dessen Empndsamkeit und Schchternheit so augenllig dem heimlichen Zit-tern Hildegards vor ihrem Autrag gleichen. Bei beiden siegt ber die Natur des einachenMenschen das Charisma der prophetischen at. Auch die Prophetin Hildegard greit in diekonkrete Krisis ihrer Gegenwart ein und hat insoern Anteil an der Zukunt. Indem sie zumGewissen redet, stellt sie den Menschen stndig und instndig vor die Entscheidung. Die-ser Alternative dient der ganze Reichtum an Weltbildern und die ganze Flle menschlicherBildungswelt. Und sie dar im Bewutsein ihrer Beruung zum Gewissen sprechen, weil sie

    Gedanken Gottes mitzuteilen hat und nicht allein ein proanes Bildungswissen.

    Die Prophetin Hildegard, die gerade in ihrer Kosmologie und Anthropologie vor der Mysti-kerin und Visionrin Hildegard herausgehoben werden soll, erklrt indes nicht nur den visi-onren Stil dieser Weltenkunde, sie vermittelt auch die mystische Vertieung in ein solchesumassendes Weltbild. Denn hier haben wir es wahrhatig mit der gesamten Wirklichkeitzu tun. Bei aller Vielalt an theologischen, philosophischen, astronomischen, physikalischen

    Aspekten, zumal an medizinischen oder psychologischen Einzelelementen, nden wir den-

    noch keine mittelalterliche Seelenlehre und keine scholastische Physik, keinen Beitrag zurPhysiologie und keine Naturphilosophie, nicht einmal ein dogmatisches System, obwohl ge-rade die Prophetin Hildegard sich in durchgehender bereinstimmung mit der Ontologiealtchristlicher berlieerung bendet.

    Ebensowenig kommen wir an diese Weltenschau mit modernen wissenschatlichen Metho-den heran: Existentialismus und ieenpsychologie lassen uns genauso im Stich wie ein mo-derner Symbolismus. Selbst die philosophische Methodik des hohen Mittelalters wrde unseher den Zugang zu dieser Welt versperren; man braucht nur ein paar Seiten aus Tomas

    von Aquin gegen einen Passus dieser Visionen zu halten, um die durchgreiende Verschie-denheit in Geist und Stimmung beider Weltansichten zu spren.

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    EINFHRUNG

    Am besten sollten wir nicht nach historischen oder philosophischen Kriterien suchen, son-dern dem ext selber Raum geben und Hildegard so hren, wie sie sich deutlich genug in jeder der olgenden zehn Visionen vernehmbar gemacht hat. Diese Einstellung allein

    verbrgt einen legitimen Eingang in die Welt der heiligen Hildegard.

    DER UMRISS DER KOSMOS VISIONEN

    Der Mensch ist als Geschp Gottes selber Schper einer Welt. Sein schperisches Wirkenlebt aus Christus, der in der Flle der Zeit Mensch ward, um Mensch und Welt zum Vollbildder Schpung zu gestalten. Dieses opus im engeren Sinne ist das Weltwerk, darin einge-schlossen aber als Sinn dieser ganzen operatio der Mensch. Das ist mit einem Wort

    der Inhalt der zehn groen Kosmosvisionen Hildegards:

    Ex operatione Dei homo opus operatum Dei est operans in operatione humana secundumsimilitudinem Dei.

    Gegenstand dieser Schaubilder ist die Einheit der Schpungsordnung, die die Welt der En-gel und die Welt der Natur einschliet, eine Welt in Panze, ier und Mensch, eine einzige

    Welt im Sinnesleben wie im Seelenleben und im Gnadenleben. Natur und Gnade, Krperund Geist, Leib und Seele, Welt und Kirche alles steht in einem Einklang und verherrlicht

    einmtig den Schper.

    Im ersten eil tritt uns die Welt des Menschen vor Augen. Die Seherin sucht in der erstenVision nach dem Ursprung des Lebens und ndet ihn in der Liebe, die alle Welt ins Lebengeruen hat. Whrend die zweite Schau im einzelnen die Strukturierung dieses gttlichen

    Weltwerkes beschreibt, beat sich die dritte Schau mit der Natur des Menschen, seiner phy-siologischen Organisation, die dann in der groen vierten Vision mit jedem einzelnen Kr-

    perglied durchgesprochen wird. Jeder eil steht in einem konkreten Bezug zum Ganzen und

    unterliegt einer sittlichen Verantwortung.

    Mitten in diesem vielgliedrigen Weltenbau steht der Mensch. In konzentrischen Kreisen ord-nen sich die kosmischen Sphren au die Zentralgestalt des Menschen zu, die sich weit indas Weltenrad ausspannt. Das Rad selber wird von den Hnden des dreialtigen Gottes ge-halten. Gott hat diese Welt mit den Winden verstrkt, mit den Sternen erleuchtet, mit derErde als dem Herzen des Firmaments geestigt, weil Gott selber aus der Materie der Erde dasGewand r Seine Menschwerdung nehmen wollte. Mit allen Weltstoen hat Gott den Men-schen durchstrmt; mit dem Geist der Vernunt hat Er ihn begabt, au da die ganze Welt

    dem Menschen zur Vergung stehe und er mit ihr schperisch wirken knne. Die Erde istein Sinnbild r alles planende und ttige Leben des Menschen.

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    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIFT

    Im zweiten eil, der nten Vision, wird diese weltweite sittliche Verantwortlichkeit bis indie jenseits der Erde gelegenen Sttten der Prung und Luterung verolgt. Auch dieserBereich ist wie die Erde in verschiedene Zonen augeteilt, die als Orte der Erprobung oder

    Verwerung gelten. Im Osten brennt ber dieser Jenseitstopographie die rote Kugel des gtt-

    lichen Straeiers, der die Gerechtigkeit Gottes darstellt. Kreis und Kreuz bilden die Urormauch r diese Welt.

    Die letzten n Visionsbilder, die den dritten eil ausmachen, beassen sich mit dem Ab-lau der Heilsgeschichte. Gott grndet das Heil des Menschen au die Mglichkeit seinergeschichtlichen Entscheidung. In geordneten Phasen wird die Menschheit ber die Patri-archen und Propheten au die Erscheinung des Logos vorbereitet. Mit Christus vollendetsich der Kosmos bis zum ag der groen Oenbarung. Die Prophetin bezieht sich in ihrerBeschreibung des teren au die Endzeitalter des Buches Scivias, wo am Ende der Zeiten

    den verdsterten Elementen dieser Welt ihre schwarze Haut abgezogen wird, so da sie au-leuchten in klarster Heiterkeit.

    Soweit in Umrissen die Struktur dieses Weltbildes, wobei die Welt als Schpung Gottesselbstverstndlich nur als Bruchstck, als unzulngliches Bild erscheinen kann. Gleichwohlliegt in der eindringlichen Geschlossenheit jedes dieser Schaubilder ein Hinweis au dasGanze, ein wirklicher Hinweis au das Universum und au den Sinn dieser Ganzheit. Mit der

    Welt sind alle Naturerscheinungen gemeint, aber auch das ganze Phnomen der Kultur; inbeiden erhrt Hildegard Numinosum und Faszinosum des gttlichen Waltens.

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    EINFHRUNG

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    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIFT

    1. DIE SEHERIN MI IHREN MIARBEIERN(Ausschnitt aus 2) (Siehe Text Seite 25 unten)

    Wie durch ein kleines Fenster ergiet sich aus dem Schaubild der ersten Vision der Feuer-strom der Inspiration au den Geist der Seherin. Die Miniatur zeigt Hildegard in ihrem Wir-

    kungskreis mit ihren beiden Mitarbeitern, dem Mnch Volmar und der Schwester Richardis,au die sich Hildegard in ihrem Vorspruch vertrauensvoll berut.

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    EINFHRUNG

    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIF

    in der Welt, der operatio Dei. Als numinos erlebt sie alle Dinge in der natrlichen Schp-ung: Feuer und Wasser, Wolken und Strme, die Sterne und Winde und Strme, den Mond

    und die Nacht, einen Quell und eine Wiese, wie auch die unheimlichen Gegenden einer un-bewohnbaren Erde. Faszinierend ist alle Kultur au dieser Erde: das Beackern und Einerntender Felder, das Bauen eines Hauses und das Formen eines Gees, das un des Schmiedesund das Schaen des Knstlers, das Geraten des irdischen uns und alle Bedrohung durchdas Miraten, die Schrecken der Schuld und der Sump der Snde und ag r ag undStunde um Stunde die unausbleibliche Entscheidung des Menschen bei all seinem un.

    Beide Bereiche werden als Einheit erlebt. Nicht als wollte Hildegard das Wirken und Sagenund Verwirken und Versagen des Menschen dmonisieren, als wollte sie Stern und Stein und

    Panze und ier beseelen: vielmehr dient alles und jedes nur der Ur er ahrung der einen ein-zigen Wirklichkeit. Aus einer solchen durchgeistigten Sinnenhatigkeit heraus erklrt sichder durchgehende Gleichklang zwischen dem Weiterleben und unserer krperlichen Veras-sung.

    Die Welt als Mensch dies ist das Tema der Kosmosschrit Weder eine autonome Naturnoch eine absolute Obernatur sind hier anzunehmen: hat doch der Mensch im Wesen sei-ner Existenz an beiden, Natur und Obernatur, innigsten Anteil. Und so ist es denn auch derMensch, um den das ganze Gesprch mit Gott und der Welt gehrt wird. Dieses anthropo-

    logische Anliegen durchzieht alle Aussagen ber Gott und die Engel, ber die Naturgeset-ze und die Sinnlichkeit, alle Geschichte und alle Zeitkritik, die Struktur der weltlichen undkirchlichen Gesellschat wie die Gemeinsamkeit in der Ehe, die Krankheiten und den odund das Geheimnis des Bsen in dieser Welt. Mit dieser anthropologischen Betrachtungs-

    weise hlt Hildegard eine gesunde Mitte des Weltverstndnisses; sie vermeidet das Auswach-sen in biolo-gistische Utopien ebenso wie spiritualistische Exzesse; sie kennt so wenig einechristliche Gnostik wie die idealistischen Verzerrungen der abendlndischen Christenheit.Die Welt das ist bei Hildegard von Bingen immer der Mensch! Insoern ist es wirklich die

    Welt des Menschen, die Hildegard von Bingen nunmehr in ihren Visionen Vom Wirken Got-tes zeigen will.

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    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIFT

    DIE ZEHN VISIONEN

    VOM WIRKEN GOTTES IN WELT UND MENSCH

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    EINFHRUNG

    VORSPRUCH

    Und es geschah im sechsten Jahre, nachdem ich mich bereits n Jahre lang mit wunderba-ren und wahren Visionen abgemht hatte. In diesen Visionen hatte eine wahre Schau desunvergnglichen Lichtes mir, einem vllig ungebildeten Menschen, die Mannigaltigkeit der

    verschiedenen Lebensweisen [im Liber vitae meritorum] gezeigt.

    Es war zu Beginn des ersten Jahres der vorliegenden Visionen, als sich dieses ereignete; undich stand in meinem nundsechzigsten Lebensjahr. Da hatte ich eine Schau, so tie geheim-nisvoll und berwltigend, da ich davon am ganzen Leibe erbebte und bei meiner krper-lichen Gebrechlichkeit zu erkranken begann. Sieben Jahre lang schrieb ich an dieser Vision

    und konnte kaum damit ertig werden.

    Es war im Jahre 1163 der Menschwerdung des Herrn, als die Unterdrckung des rmischenStuhls sich noch nicht gelegt hatte, unter Friedrich dem rmischen Kaiser. Da erscholl eineStimme vom Himmel und sprach zu mir:

    Armes Wesen, du ochter vielacher Mhsal, die du von so zahlreichen und schweren kr-perlichen Leiden gleichsam durchgekocht bist: Dich hat trotz allem die iee der Geheimnis-se Gottes durchstrmt! Ubermittie du zum Nutzen der Menschen mit esthaltender Schrit,

    was du mit inneren Augen siehst und mit den inneren Ohren deiner Seele vernimmst. DieMenschen sollen dadurch ihren Schper erkennen lernen und sich nicht lnger weigern,Ihn in Ehrurcht wrdig anzubeten. Deshalb schreibe dies au, nicht wie dein Herz es mch-te, sondern wie Mein Zeugnis es will, der Ich ohne Anang und Ende des Lebens bin. DieseSchau ist nicht von dir erunden, noch von einem anderen Menschen je ersonnen, sondernIch habe das alles vor Beginn der Welt estgesetzt. Und wie ich vor der Erschaung des Men-schen diesen schon im voraus kannte, so sah ich auch all das voraus, was ihm nottut.

    Ich armes und gebrechliches Wesen begann also mit zitternder Hand zu schreiben, unge-achtet ich von zahlreichen Krankheiten erschttert war. Ich vertraute dabei au das Zeugnisjenes Mannes [Volmar], den ich, wie schon in meinen rheren Visionen erwhnt, insgeheimgesucht und auch geunden hatte, und au jenes Mdchen [Richardis], das ich bereits in denrheren Visionen genannt habe. Whrend ich mich nun zum Schreiben anschickte, blickteich abermals au zu dem wahren und lebendigen Licht, was ich denn schreiben solle. Dennalles das, was ich schon in meinen ersten Visionen geschrieben hatte und spter noch zu

    wissen bekam, das sah ich unter himmlischen Mysterien, aber ganz wachen Leibes und beiSinnen.

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    HILDEGARDS KOSMOSSCHRIFT

    Ich schaute es mit dem inneren Auge meines Geistes, und ich vernahm es mit inneren Ohren.Niemals war ich dabei in einem schlahnlichen Zustand, nie in einer geistigen Entrckt-heit, wie ich schon bei meinen rheren Schauungen betont habe. Auch trug ich nichts vor,

    was ich zum Zeugnis der Wahrheit einer menschlichen Empndungswelt entnommen htte,vielmehr lediglich das, was ich aus den himmlischen Geheimnissen empng.

    Und wieder hrte ich die Stimme, wie sie vom Himmel aus midi belehrte. Und sie sprach:Schreib also au, was Ich dir sage!

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    EINFHRUNG

    I.

    DIE WEL DES MENSCHEN

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    DIE WELT DES MENSCHEN

    DIE ERSE SCHAUVOM URSPRUNG DES LEBENS

    1 Und ich schaute im Geheimnisse Gottes inmitten der sdlichen Lte ein wundersch-nes Bild. Es hatte die Gestalt eines Menschen. Sein Antlitz war von solcher Schnheit undKlarheit, da ich leichter in die Sonne htte blicken knnen als in dieses Gesicht. Ein weiterRei aus Gold umgab ringsum sein Haupt. In diesem Rei erschien oberhalb des Hauptes einzweites Gesicht, wie das eines lteren Mannes. Dessen Kinn und Bart rhrten an den Scheiteldes ersten Kopes. Vom Hals der Gestalt ging beiderseits ein Flgel aus. Die Flgel erhoben

    sich ber den erwhnten Rei und vereinigten sich oben. Am obersten eil der Krmmungdes rechten Flgels erschien der Kop eines Adlers. Dessen Augen waren wie Feuer, und es er-strahlte in ihnen wie in einem Spiegel der Engel Glanz. Au dem obersten eil der Krmmungdes linken Flgels war ein Menschenhaupt, das leuchtete wie der Sterne Funkeln. Beide Ge-sichter waren nach dem Osten gewandt. Von den Schultern dieser Gestalt ging ein Flgel biszu den Knien. Sie war gewandet in ein Kleid, das der Sonne gleich erglnzte. In ihren Hndentrug sie ein Lamm, das leuchtete wie ein lichtklarer ag. Mit ihren Fen zertrat die Gestaltein Ungetm von entsetzlichem Aussehen, gitig und schwarz, und eine Schlange. Diese hat-te sich in das rechte Ohr des Ungetms verbissen. Ihr Leib schlang sich quer um den Kop

    des Ungetms; ihr Schwanz reichte au der linken Seite bis an die Fe.

    DIE GESTALT SPRACH ALSO:

    2 Ich, die hchste und eurige Krat, habe jedweden Funken von Leben entzndet, undnichts dliches sprhe ich aus. Ich entscheide ber alle Wirklichkeit. Mit meinen hherenFlgeln umiege ich den Erdkreis: mit Weisheit habe ich das All recht geordnet. Ich, das

    eurige Leben gttlicher Wesenheit, znde hin ber die Schnheiten der Fluren, ich leuchtein den Gewssern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit jedem Luthauch, wie mitunsichtbarem Leben, das alles erhlt, erwecke ich alles zum Leben. Die Lut lebt im Grnenund Blhen. Die Wasser ieen, als ob sie lebten. Die Sonne lebt in ihrem Licht, und derMond wird nach seinem Schwinden wieder vom Licht der Sonne entzndet, damit er gleich-sam von neuem auebe. Auch die Sterne geben aus ihrem Licht, wie wenn sie lebten, klarenSchein. Die Sulen, die das ganze Erdenrund tragen, habe ich augerichtet und ebenso die

    Windkrte, die wiederum untergeordnete Flgel haben, sozusagen schwchere Winde, diedurch ihre sante Krat jenen mchtigen widerstehen, damit sie nicht gehrlich ausbrechen.

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    ERSTER TEIL

    So deckt auch der Krper die Seele und hlt sie zusammen, damit sie sich nicht verhauche.Denn wie der Seele Hauch den Leib strkt und estigt, damit er nicht dahinschwindet, sobeleben auch die krtigeren Winde die ihnen untergebenen Winde, damit sie ihren Dienstentsprechend versehen.

    Und so ruhe ich in aller Wirklichkeit verborgen als eurige Krat. Alles brennt so durch mich,wie der Atem den Menschen unablssig bewegt, gleich der windbewegten Flamme im Feuer.Dies alles lebt in seiner Wesenheit, und kein od ist darin. Denn ich bin das Leben. Ich binauch die Vernunt, die den Hauch des tnenden Wortes in sich trgt, durch das die ganzeSchpung gemacht ist. Allem hauchte ich Leben ein, so da nichts davon in seiner Art sterb-lich ist. Denn ich bin das Leben.

    Ich bin das ganz heile Leben vita integra: nicht aus Steinen geschlagen, nicht aus Zwei-

    gen erblht, nicht wurzelnd in eines Mannes Zeugungskrat. Vielmehr hat alles Leben seineWurzel in mir. Die Vernunt ist die Wurzel, das tnende Wort erblhet aus ihr.

    Da Gott Vernunt ist, wie knnte es geschehen, da Er nicht am Werke sei, Er, der doch jedesSeiner Werke aublhen lt durch den Menschen. Er schu ihn ja nach Seinem Bild und Sei-ner hnlichkeit und zeichnete jedes Seiner Geschpe nach estem Ma in diesen Menschen.

    Von Ewigkeit lag es im Ratschlsse Gottes, da Er Sein Werk den Menschen schaenwollte. Und da Er dieses Werk vollendete, bergab Er dem Menschen die ganze Schpung,damit er mit ihr wirken knne, und zwar in genau der gleichen Weise, wie auch Gott Sein

    Werk den Menschen gebildet hatte.

    Und so diene ich helend. Denn alles Leben erglht aus mir. Das ewig sich gleichbleibendeLeben bin ich, ohne Ursprung und ohne Ende. Eben dies Leben ist Gott, stetig sich regendund stndig am Werk, und doch zeigt sich dies eine Leben in dreiacher Krat. Denn die Ewig-keit wird der Vater genannt, das Wort der Sohn, der Hauch, der beide verbindet, derHeilige Geist. Und so hat es Gott auch im Menschen gezeichnet; in ihm sind der Krper, dieSeele und die Vernunt. Da ich ber die Schnheit der irdischen Gelde amme, das bedeu-

    tet: Die Erde ist der Sto, aus dem Gott den Menschen gebildet, und da ich leuchte in denGewssern, das deutet hin au die Seele, die den ganzen Leib durchdringt, so wie das Wasserdie ganze Erde durchstrmt. Da ich brenne in Sonne und Mond, weist hin au die Vernunt;sind doch die Sterne unzhlbare Worte der Vernunt. Und da ich mit dem Luthauch wiemit unsichtbarem Leben, das alles hlt, das All lebensvoll erwecke, das sinnbildet: DurchLut und Wind wird das, was im Wachstum reit, belebt und erhalten, und es weicht in nichts

    von dem ab, was in ihm ist.

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    DIE WELT DES MENSCHEN

    DER MENSCH ALS GOTTES BILD INMITTEN DER SCHPFUNG

    3 Und wiederum hrte ich die Stimme vom Himmel, die zu mir sprach: Gott, der allesgeschaen, bildete den Menschen nach Seinem Bilde und Seiner hnlichkeit und zeichnete

    in ihm sowohl die hheren als auch die niederen Geschpe. Er hat ihn so sehr geliebt, daEr ihn r den Platz bestimmte, aus dem der geallene Engel geschleudert ward, und ihm alleHerrlichkeit und Ehre zuordnete, die jener mit seiner Seligkeit verloren hatte. Dies zeigt dasGesicht, das du schaust.

    Denn was du im Geheimnisse Gottes inmitten der sdlichen Lte als wunderschne Gestalterblickst, gleich wie ein Mensch gebildet, sinnbildet die Liebe des himmlischen Vaters. DieLiebe ist es: in der Krat der unvergnglichen Gottheit, von auserlesener Schnheit, wun-derbar in ihren geheimnistieen Gaben! Sie erscheint in Gestalt eines Menschen, weil der

    Sohn Gottes, als Er sich mit dem Fleische bekleidete, den verlorenen Menschen im Dienstder Liebe erlste. Daher ist das Angesicht von solcher Schnheit und Klarheit, da du leich-ter in die Sonne als in dieses Antlitz schauen knntest. Denn der Liebe berma strahlt undunkelt in solch erhabenem Blitzesglanz ihrer Gaben, da es jegliche Einsicht menschlichen

    Verstehens, mit dem man doch sonst in der Seele die verschiedensten Dinge erkennen kann,so weit bertrit, da niemand es in seinem Sinnesvermgen zu assen vermag. Hier aber

    wird dies in einem Sinnbild gezeigt, damit man dadurch im Glauben erkenne, was man mitueren Augen sichtbarlich nicht zu erschauen vermag.

    IN DER LIEBE ERKENNT DER MENSCH DAS WALTEN DER GOTTHEIT

    4 Ein weiter Rei aus Gold umgibt ringsum das Haupt dieser Erscheinung, denn der ka-tholische Glaube, ber das ganze Erdenrund ausgegossen, erstand aus der ersten Morgenr-te lichtestem Glnze.

    Nur der Glaube erat in tiester Ehrurcht das alles Begreien bersteigende berma die-

    ser Liebe: da Gott durch die Menschwerdung Seines Sohnes den Menschen erlste und ihndurch die Eingieung des Heiligen Geistes estigte. So wird der Eine Gott in Seiner Dreial-tigkeit erkannt, Er, der ohne zeitlichen Anang in Ewigkeit Gott war in Seiner Gottheit. Indiesem Kreisbild oberhalb dieses Hauptes erblickst du noch einen anderen Kop wie den ei-nes lteren Mannes. Das bedeutet: die berwltigende Gte der Gottheit, die ohne Ursprungund Ende ist, eilt den Glubigen zu Hile. Kinn und Bart berhren den Scheitel des erstenGesichtes: im gesamten Planen und Vorherwissen Gottes war das der Gipel der hchstenLiebe, da der Sohn Gottes in Seiner Menschheit die verlorenen Menschen heimhrte indas himmlische Reich.

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    ERSTER TEIL

    VON DER EINHEIT DER LIEHE ZU GOTT UND ZUM NCHSTEN

    5 Zu beiden Seiten am Hals der Gestalt geht ein Flgel aus. Beide erheben sich ber denRei und vereinigen sich oben, weil die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nchsten, wenn sie

    durch die Gotteskrat der Liebe in der Einheit des Glaubens hervorgehen und in hchsterSehnsucht diesen Glauben umassen, nicht voneinander getrennt werden knnen, whrenddie Heilige Gottheit den unermelichen Glanz Ihrer Herrlichkeit den Menschen verhllt, so-lange sie im Schatten des odes weilen, da sie des himmlischen Gewandes, das sie mit Adam

    verloren, verlustig sind.

    VON DEN ENGELN ALS LICHTWESEN UND SPIEGELGESTALTEN

    6 Au dem obersten eil der Krmmung dieses rechten Flgels erblickst du den Kopeines Adlers mit eurigen Augen. In ihnen erscheint die Schar der Engel wie in einem Spie-gel: Wenn jemand au der Hhe triumphierender Unterwrgkeit sich Gott unterstellt undden Satan berwindet, ragt er empor und geniet die Seligkeit des gttlichen Schutzes. Und

    wenn er, entbrannt zum Heiligen Geiste, sein Herz erhebt und seinen Blick Gott zuwendet,dann erscheinen darin in heller Klarheit die seligen Geister und bringen Gott die Hingabeseines Herzens dar. Denn mit dem Adler sind die geistigen Menschen bezeichnet, die mitihres Herzens Hingabe hug in Betrachtung gleich den Engeln Gott anschauen. Deshalbhaben die seligen Geister, die Gott bestndig anschauen, Freude an den guten Werken des

    Gerechten; sie zeigen Ihm diese Werke mit ihrem eigenen Wesen. So verharren sie im LobeGottes und lassen niemals davon ab, da sie Seine Flle nie ausschpen knnen. Denn werknnte die unermelichen Wunderwerke, die Gott in der Krat Seiner Allmacht wirkt, jemalszhlen? Niemand! Dem Engel eignet ein Glanz wie in vielen Spiegelungen; in diesem Glnzeschauen die Engel; denn niemand wirkt und ist von solcher Macht wie Gott. Und keiner istIhm gleich. Denn Er unterliegt keiner Zeit.

    VON DER SCHPFUNG DER WELT IN GOTTES VORSEHUNG

    7 Alles, was Gott gewirkt hat, hatte Er vor dem Beginn der Zeit in Seiner Gegenwart. Inder reinen und heiligen Gottheit leuchteten alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge ohnezeitlichen Augenblick und ohne Zeitablau vor aller Ewigkeit, so wie sich Bume und ande-re kreatrliche Dinge in naheliegenden Gewssern widerspiegeln, ohne doch krperlich inihnen zu sein, wenngleich ihre Umrisse in diesem Spiegel erscheinen. Als Gott sprach: Es

    werde!, hllten sich die Dinge soort in ihre Gestalt, so wie Sein Vorherwissen sie vor derZeit krperlos geschaut hatte. Wie in einem Spiegel alles, was vor ihm liegt, erglnzt, so er-

    schienen in der Heiligen Gottheit all Ihre Werke zeitlos. Wie aber sollte Gott sein ohne dasVorauswissen Seines Werkes?

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    Ist doch jedes Seiner Werke, wenn es einmal mit seinem Krper umhllt ist, in der Funkti-on, die ihm anhatet, vollkommen; denn die Heilige Gottheit wute voraus, wie Sie ihm mit

    Wissen und Erkennen dienend beistehen werde. Wie der Strahl eines Lichtes die Gestalteines Geschpes erkennen lt, so schaut das reine Vorherwissen Gottes die Gestalten der

    Schpung, noch ehe sie in einen Krper gehllt waren, weil jedes Ding, das Gott schaenwollte, eben bevor dieses Ding verkrpert wurde, in Seinem Vorherwissen und nach Seinerhnlichkeit austrahlte, so wie auch der Mensch den Glanz der Sonne erblickt, bevor er dieSonne selbst schauen kann. Und wie der Sonnenglanz die Sonne anzeigt, so oenbaren dieEngel durch ihren Lobpreis Gott, und wie die Sonne nicht ohne ihr Licht sein kann, so istauch die Gottheit nicht ohne der Engel Lob. Das Vorherwissen Gottes ging also voraus, undSein Werk olgte nach. Wre dies Vorauswissen nicht vorhergegangen, so wre Sein Werknicht erschienen, so wie man auch vom Krper eines Menschen nichts erkennt, wenn mannicht sein Antlitz erblickt. Sieht man jedoch das Antlitz eines Menschen, so lobt man auch

    seine ganze Gestalt. Au diese Weise sind Sein Vorherwissen und Sein Werk im Menschen.

    VON DER ENTSCHEIDUNG UND DEM FALL DER ENGELWELT

    8 Es gab damals eine unzhlbar groe Schar von Engeln, die aus sich selbst etwas sein wollten. Denn als sie ihre groartige Herrlichkeit und glanzvolle Schnheit in unkelnderFlle austrahlen sahen, vergaen sie ihres Schpers. Sie hatten noch nicht angeangen,Gott zu loben, da glaubten sie schon bei sich selber, der Glanz ihrer Ehre sei so gro, da nie-

    mand ihnen widerstehen knnte. So wollten sie auch Gottes Glanz verdunkeln. Als sie dannaber sahen, da sie Seine wunderbaren Geheimnisse niemals erschpen knnten, wand-ten sie sich voller Abscheu von Ihm ab. Die Ihn htten rhmen sollen, sprachen in trgeri-scher Einbildung, sie wollten sich in ihrem Lichtglanz einen anderen Gott erwhlen. Deshalbstrzten sie in die Finsternis, zurckgeworen zu solcher Ohnmacht, da sie nur dann einemGeschp etwas tun knnen, wenn der Schper es ihnen verstattet. Gott hatte nmlich denersten aller Engel, Luzier, mit der ganzen Flle an Schnheit, die Er ber die Schpung ver-schenkt hatte, so geziert, da von daher auch seine ganze Heeresschar erglnzte. Nun aber

    ward er, der sich zum Widerspruch verkehrte, grlicher als alle Grlichkeiten. Denn in Ih-rer Zorngewalt schleuderte die Heilige Gottheit ihn an jenen Ort, der da ist ohne jedes Licht.

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    Auch in seinen irdischen Belangen erziehen sie ihn zum Nutzen seiner leiblichen Bedrnis-se, allerdings au eine andere Weise. Und dennoch wei er sich gerade hier so schwach undhinllig und sterblich, obwohl er von so vielen Gnadengaben gestrkt wird.

    VOM MENSCHEN GEHT DER BLICK WIEDER AUF

    DIE BERMENSCHLICHE GESTALT AM EINGANG DIESER VISION

    12 Die Gestalt trgt ein Gewand, strahlend wie der Sonne Glanz. Das ist ein Hinweis auden Gottessohn, der in Seiner Liebe sich mit dem Menschenleib ohne Makel der Snde, derschnen Sonne gleich, bekleidet hat. Wie die Sonne erhaben ber alle Geschpe in solcherHhe erstrahlt, da kein Mensch sie antasten kann, so vermag auch niemand die Mensch-

    werdung des Sohnes Gottes in ihrem Wesen zu begreien, es sei denn, durch den Glauben,

    In ihren Hnden trgt die Gestalt ein Lamm: helleuchtend wie der ag. Hat doch die Liebein den Werken des Gottessohnes die alles berstrahlende Milde des wahren Glaubens geo-enbart, als sie aus Zllnern und Sndern Blutzeugen, Bekenner und Ber erwhlte, als sieGottlose zu Gerechten bekehrte und aus einem Saulus den Paulus machte, au da sie alleau der Winde Fittiche in die Harmonie der Himmel hineingen. So hat die Liebe ihr Werk

    vollkommen gemacht, allmhlich, doch deutlich und bestimmt, damit keine schwache Stellebleibe, vielmehr jegliche Flle darin sei. Solches schat der Mensch nicht; denn wenn die-ser mit seinen bescheidenen Mglichkeiten einmal am Wirken ist, kann er es kaum aushal-ten, da er zu Ende komme, damit sein Werk von anderen gesehen werde. Das bedenke der

    Mensch bei sich: Auch das aus dem Ei schlpende Vglein, das noch keine Flgel hat, beeiltsich nicht zu iegen; erst wenn ihm Flgel gewachsen sind, iegt es, da es sieht: Das Fliegenist ihm angemessen.

    DIE LIEBE VERNICHTET ALLES BSE UND MACHT FREI VON ALLER ANGST

    13 Die Gestalt zertritt mit ihren Fen ein schauerliches Ungetm von gitig schwarzer

    Farbe mitsamt einer Schlange. Denn die wahre Liebe zertritt durch die Fuspur des Gottes-sohnes alles Unrecht mit seinen Verdrehungen in den zahlreichen Lastern der Zwietracht,so schrecklich in seiner Unnatur, so gitig in seiner Verhrung, so schwarz in seiner Verlo-renheit, und vernichtet damit die alte Schlange, die den Glubigen auauert. Am Kreuzemachte Gottes Sohn sie zunichte. Da sie sich mit dem Mund am rechten Ohr des Ungetmsestgebissen hat und den brigen Leib quer ber seinen Kop krmmt, whrend sie mit demSchwanz an der linken Seite bis zu den Fen herunterhngt, weist au den Satan hin, dermitunter seinen Betrug als Wohltun verschleiert, sich an der Zwietracht estbeit und nachdiesem Beginnen mit Leichtigkeit das ganze Geschlecht der Laster hinzugt, am Ende aber

    oenkundig zeigt, da die Verkehrtheit vollendeter Zwietracht dahintersteckt.

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    ERSTER TEIL

    Denn die Schlange ist in ihrer List schlauer als das andere Gewrm und zerstrt mit die-ser Schlue, soviel sie kann, indem sie sich immer aus Schlechteste einstellt. Das sollen die

    verschiedenen Farbtne an ihr bedeuten So machte es Satan. Als er seine Schnheit er-kannte, wollte er seinem Schper gleich sein. Dasselbe stert er auch dem Menschen ins

    Ohr, gleichsam durch den Kop der Schlange, und er wird bis zum Jngsten ag nicht davonablassen, was durch ihren Schwanz dargestellt wird.

    Die Liebe aber west im Kreisen der Ewigkeit, ohne Zeit, wie die Glut im Feuer. Gott sah inSeiner Ewigkeit alle Geschpe voraus, die Er in der Flle der Liebe so schu, da der Menschunter ihnen keiner Erquickung und keines Dienstes ermangelte, denn Er verband sie demMenschen gleich wie die Flamme dem Feuer. Den ersten Engel aber erschu Gott mitsamtder schmucken Flle, wie schon l cd rieben. Als dieser sich betrachtete, empand er Ha auseinen Herrn und weilte selber herrschen. Gott aber schleuderte ihn in den Sump des Ab-

    grundes. Von nun an stert jener Aurhrer dem Menschen seinen bsen Rat ein. Und derMensch stimmt ihm zu.

    VON DER LICHTEN HERRLICHKEIT DES MENSCHEN UND DER VERFHRUNG DES WEIBES

    14 Als Gott den Menschen schu, gewandete Er ihn mit einem himmlischen Kleid, so daer in groer Herrlichkeit leuchtete. Der Satan aber sah das Weib und erkannte in ihm dieMutter, die in ihrem Scho bereits eine groe mgliche Welt trug. Mit der gleichen Nieder-

    tracht, mit der er von Gott abgeallen war, erreichte er es, da er Ihn in diesem Seinem Werkberwand, und zwar so, da er dieses Werk Gottes, womit der Mensch gemeint ist opus Deiquod homo est, mit sich in Gemeinschat brachte. Da sprte das Weib, da es mit dem Ge-nu des Apels eine andere geworden war, gab den Apel seinem Manne, und so verloren siebeide das himmlische Gewand.

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    2. DER URLEBENDIGE (SEIE 29 )

    Die jugendliche Gestalt der Liebe, berragt von der vterlichen Gte, trgt in ihren Armenein Lamm, das Sinnbild der Milde. Die Liebe des ewigen Vaters hat durch das WOR, dengttlichen Sohn, die ganze Schpung ins Dasein geruen und als Engel, als Kosmos, als Men-schenwelt geordnet. Nach dem Sndenall der Stammeltern wurde die Menschheit durchden menschgewordenen Gottessohn erlst. Die Liebe des Urlebendigen zertritt deshalbdas Bse, dargestellt durch ein Ungetm, mit ihren Fen. Ursprung und Ziel des natrli-chen und geistlichen Lebens sind in diesem Bilde vor gezeichnet.

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    3. DER URLEBENDIGE (AUSSCHNI)

    Visio I, 1: .. Sein Antlitz war von solcher Schnheit und Klarheit, da ich leichter in die Son-ne htte blicken knnen als in dieses Gesicht. Ein weiter Rei aus Gold umgab ringsum seinHaupt. In diesem Rei erschien oberhalb des Hauptes ein zweites Gesicht, wie das eines lte-ren Mannes . .

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    VOM VERLUST DES PARADIESES UND DER SCHICKSALHAFTEN

    TREUE ZWISCHEN MANN UND FRAU

    15 Da Gott aber alsbald sprach: Adam, wo bist du?, damit deutete Er voraus, Er bliebe

    eingedenk, da Er den Menschen nach Seinem Bilde und Seiner hnlichkeit geschaen hatteund ihn wieder an sich ziehen wollte. Als Er ihn in die Verbannung schickte, bedeckte Er seineNacktheit durch Sein gelliges Entgegenkommen: Statt seines leuchtenden Kleides erhielter ein Schaell, und das Paradies verwandelte Er in das Exil. Gott hat ja das Weib dem Man-ne mit dem Eidesschwur der reue verbunden, und zwar so, da diese reue in ihnen nie-mals gebrochen werden sollte, da sie vielmehr in eins miteinander bereinstimmten, ganz

    wie Leib und Seele, die Gott zu einer Einheit verband. Wer immer daher diesen reuebundzerstrt und ohne Besserung darin verharrt, wird nach Babylon vertrieben, in ein Land voll

    Wirrnis und Drre, das da ohne die Schnheit lebensgrner cker ohne den Segen Gottes

    brachliegen wird. Die Rache Gottes wird ber ihn fallen bis an das letzte Geschlecht derBlutsverwandtschat, das aus dem hitzigen Blut eines solchen Menschen hervorging, weileine solche Snde noch den letzten Menschen berhrt.

    VON DER FRUCHTBARKEIT DES GEISTLICHEN MENSCHEN

    16 Wie Adam der Erzeuger des gesamten Menschengeschlechtes ist, so geht durch denSohn Gottes, der in jungrulicher Natur Fleisch geworden, das geistige Volk hervor. Frucht-

    bar wird es werden, wie Gott es dem Abraham durch den Engel verheien, sein Same werdezahlreich sein wie die Sterne am Himmel. Denn so steht es in der Schrit: Zum Himmelschaue und zhle die Sterne, wenn du dies kannst. Und Er sprach zu ihm: Also wird deinSame sein. Da glaubte Abraham Gott, und dies erachtete Er ihm als Verdienst Gen 15, 56.Das ist so zu verstehen: Du, der du Gott mit gutem Willen anbetest und verehrst, schau andie Geheimnisse Gottes und pre den Lohn der Verdienste jener, die vor Gott ag und Nachterglnzen soweit dies einem Menschen mglich ist, der von der Last seines Leibes be-schwert ist. Denn solange ein Mensch Geschmack hat an eischlichen Dingen, wird er, was

    des Geistes ist, nie voll erassen knnen. Mit wahrem Zeichen aber wird zu dem gesprochen,der sich mht, Gott in rechter Inbrunst des Herzens zu verehren. Au diese Weise wird derSame deines Herzens vervielacht und in helles Licht gesetzt, weil du au gutes Ackerlandgest hast, das durchtrnkt ist von der Gnade des Heiligen Geistes. Vor dem hchsten Gott

    wird diese Saat in seliger ugendkrat augehen und erstrahlen, gleich wie am Himmel derSterne Schar erglnzet. Wer deshalb glubig der gttlichen Verheiung vertraut, indem ersich au der Hhe des wahren Glaubens an Gott halt, Irdisches verachtet und nach Himm-lischem trachtet, wird als Gerechter unter die Kinder Gottes gezhlt. Die Wahrheit hat ergeliebt, und kein Falsch and sich in seinem Herzen.

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    ERSTER TEIL

    VOM URSPRUNG UND VOM ZIEL DES GEISTLICHEN LEBENS

    17 Denn Gott wute, da Abrahams Gesinnung rei war vom rug der Schlange, da seinun niemandem Schaden zugte. Deshalb erwhlte Gott aus seinem Geschlecht die schlum-

    mernde Erde, die gar nichts von jenem Geschmack an sich trug, mit dem die alte Schlangedas erste Weib betrogen hatte. Jene Erde aber, vorgezeichnet durch Aarons Stab, war dieJungrau Maria. In ihrer groen Demut war sie das verschlossene Brautgemach des Knigs.Denn als sie die Botschat vom Trone erhielt, der Knig wolle in ihrem verborgenen Sche

    wohnen, schaute sie au die Erde, aus der sie gemacht ward, und nannte sich Gottes Magd.Solches tat die betrogene Frau nicht, die gerade das zu haben wnschte, was sie nicht be-sitzen sollte. Der Gehorsam Abrahams, durch den Gott seinen Glauben erprobte, indem Erihm einen Widder zeigte, der sich im Dorngestrpp verhangen, war ein Vorzeichen r denGehorsam der seligen Jungrau. Auch sie glaubte dem Wort des Gottesboten und wnschte,

    da ihr nach seinem Worte geschehe. Darum bekleidete sich in ihr Gottes Sohn, vorgebildetdurch den im Dornbusch hngenden Widder, mit dem Fleisch. Als Gott dem Abraham einGeschlecht versprach, so zahlreich wie die Sterne des Himmels, schaute Er in ihm jenes Ge-schlecht voraus, das der Vollzahl der himmlischen Gemeinschat zugezhlt werden sollte.

    Weil Abraham voller Vertrauen Gott in allem glaubte, wird er auch der Vater all derer ge-nannt, die das Himmelreich erben.

    Jeder Mensch, der Gott rchtet und liebt, ne daher voll Hingabe diesen Worten sein Herzund wisse, da sie zum Heil des Leibes und der Seele nicht aus Menschenmund verkndet

    sind, sondern durch Mich, der Ich bin.

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    DIE WELT DES MENSCHEN

    DIE ZWEIE SCHAU

    VOM BAU DER WEL

    1 Alsdann erschien mitten in der Brust der erwhnten Gestalt, die ich inmitten der sd-lichen Lut erschaut hatte, ein Rad von wunderbarem Aussehen. Es hatte Zeichen an sich, diees jenem Bilde hnlich machten, das ich vor achtundzwanzig Jahren, damals in der Gestalt

    von einem Ei, gesehen hatte, so wie es in der dritten Vision des Buches Scivias geschildertwurde. An seinem obersten eil erschien rings um die Eirundung ein Kreis von helleuchten-

    dem Feuer und unter diesem Kreis ein anderer von schwarzem Feuer. Der hellichte Kreis warzweimal so dick wie der schwarzeurige. Und diese beiden Kreise verbanden sich so, als bil-deten sie nur einen. Unter dem schwarzeurigen Kreis erschien ein anderer wie aus reinem

    ther, so dicht, wie die beiden anderen zusammen. Unter diesem therkreise sah man einenKreis wie von wasserhaltiger Lut, der in seinem Umang die gleiche Dichte wie der lichthelleFeuerkreis hatte. Unter diesem Kreis von wasserhaltiger Lut erschien ein anderer von star-ker weier Klarlut, der in seiner Hrte wie eine Sehne im menschlichen Krper aussah. Erhatte dieselbe Dichte wie der Kreis von schwarzem Feuer. Auch diese beiden Kreise verban-den sich so, da sie eins zu sein schienen. Unter dieser starken weien Klarlut zeigte sich

    schlielich noch eine andere dnne Lutschicht, die zuweilen hohe, lichte und dann wiedertiehngende, dunkle Wolken in die Hhe zu tragen und sich ber diesen ganzen Kreis hinauszudehnen schien. Alle diese sechs Kreise waren ohne einen weiteren Zwischenraum un-tereinander verbunden. Der oberste Kreis durchstrmte mit seinem Licht die brigen Sph-ren, der mit der wasserhaltigen Lut aber benetzte alle anderen mit seiner Feuchtigkeit.

    Von dem Anangspunkte der Ostseite des Rades erstreckte sich gegen Norden hin bis zumEnde der Westseite eine Linie, welche die Nordzone von den brigen Gebieten gleichsam

    abschnitt. Auerdem war mitten in der Sphre mit der dnnen Lut eine Kugel zu sehen, dierings von der starken, weien und leuchtenden Lut gleich weit enternt war. Die Queraus-dehnung der Kugel entsprach der iee des Raumes von dem obersten eil des ersten Kreisesbis zu den uersten Wolken, oder aber er erstreckte sich von der Enternung der Wolken biszur Hhe dieser Kugel.

    Inmitten dieses Riesenrades erschien die Gestalt eines Menschen. Sein Scheitel ragte nachoben, die Fusohlen reichten nach unten bis zur Sphre der starken weien und leuchten-den Lut. Rechts waren die Fingerspitzen der rechten Hand, links die der linken Hand nach

    beiden Seiten in Kreuzorm zu der Kreisrundung hin ausgestreckt. Genauso hielt die Gestaltdie Arme ausgebreitet.

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    ERSTER TEIL

    In Richtung dieser vier Seiten erschienen vier Kpe: der Kop eines Leoparden, eines Wol-es, eines Lwen und eines Bren. ber dem Scheitel der Gestalt, in der Sphre des reinen

    thers, sah ich am. Haupte des Leoparden, wie dieser aus seinem Munde einen Hauch aus-blies. Der Hauch krmmte sich an der rechten Mundseite etwas zurck, zog sich in die Lnge

    und nahm au diese Weise die Gestalt eines Krebskopes mit zwei Scheren an, gleichsam zweiFe bildend. Aus der linken Mundseite bildete dieser Hauch die Figur eines Hirschkopes.Aus dem Krebsmunde kam wiederum ein Hauch heraus, der bis zur Mitte des Raumes, derzwischen dem Leoparden- und dem Lwenkop war, vordrang. Der Hauch aus dem Hirsch-kope dehnte sich bis zur Mitte des Raumes, der zwischen dem Leopoarden und dem Brenblieb. Alle diese Aushauchungen waren von gleicher Lnge: der Hauch, der von der rechtenSeite des Leopardenkopes bis zum Haupte des Krebses reichte, der Hauch, der au der lin-ken Seite desselben Mundes bis zum Haupt des Hirschen ging, wie auch der Hauch aus demHirschkop, der sich bis zur Mitte des Raumes zwischen den Huptern von Leopard und

    Lwe erstreckte, schlielich auch der Hauch, der aus dem Munde des Hirschkopes bis zurMitte des Raumes zwischen den Huptern von Leopard und dem Bren kam.

    ALL DIESE KPFE HAUCHTEN IN DAS BESCHRIEBENE RAD UND AUF DIE GESTALT DES MENSCHEN ZU.

    In gleicher Weise werden auch die Aushauchungen der brigen iere besprochen. Nach demLeoparden kommen der Wol, der Lwe und der Br, nach dem Hirschen und dem Krebs dieSchlange und das Lamm, und auch alle diese hauchten konzentrisch au die im Mittelpunkt

    stehende Menschengestalt zu.

    Oberhalb des Hauptes dieser Menschengestalt waren die sieben Planeten nach oben gegen-einander abgezeichnet: drei im Kreise des leuchtenden Feuers, einer in der darunter liegen-den Sphre des schwarzen Feuers, drei nochmals darunter in dem Kreis des reinen thers ... Alle Planeten sandten ihre Strahlen in Richtung au die ierkpe wie auch au die Gestaltdes Menschen .. . Im Umlau des Kreises, der wie leuchtendes Feuer erschien, zeigten sichnunmehr sechzehn Hauptsterne: vier zwischen den Kpen des Leoparden und des Lwen,

    vier zwischen den Kpen des Lwen und des Woles, vier zwischen den Kpen des Wolesund des Bren und vier zwischen den Kpen des Bren und des Leoparden. Acht von ihnen,die als mittlere Sterne jeweilig einander beistanden, beanden sich zwischen den Kpen,und zwar so, da zwei zwischen zwei Kpen ihre Strahlen einander entgegengesetzt au dasBild der dnnen Lutschicht entsandten; die brigen acht aber, ihrerseits benachbart denanderen ierkpen, schickten ihren Strahl zu dem schwarzen Feuerkreis.

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    DIE WELT DES MENSCHEN

    Der Kreis des reinen thers wie auch der Kreis der starken weien und leuchtenden Lut waren ganz voll von Gestirnen, die ihre Strahlen au die ihnen entgegengesetzt liegendenWolken richteten. Von dort her sah man au der rechten Seite des geschilderten Bildes ge-wissermaen zwei Zungen, voneinander getrennt, sich gleichsam wie Bche au das besagte

    Rad und gegen das Menschenbild hin ergieen. Auch zur linken Hand bei den dort beschrie-benen Wolken gingen jeweils solche Zungen aus und wandten sich, als wollten sie kleine B-che aussprudeln, gegen das Rad und die Menschengestalt. Au solche Weise war die Gestaltmit diesen Zeichen verochten und von ihnen rings umgeben. Ich sah auch, da aus demHauche jener Gestalt, in deren Brust sich das Rad zeigte, ein Licht mit lauter Strahlen undheller als der klarste ag ausging. In diesen Strahlen wurden die Zeichen der Kreise und dieZeichen der brigen Figuren, die an diesem Rad zu unterscheiden waren, aber auch die ein-zelnen Zeichen der Gliederung der Menschengestalt jenes Bild, das mitten im Weltenradstand - in rechtem und genauestem Mastabe gemessen. Wie dies zu verstehen, das geht

    aus der vorhergegangenen, aber noch mehr aus olgender Erluterung hervor.

    DIE GOTTHEIT IST RUND UND REIF WIE EIN RAD

    2 Abermals hrte ich eine Stimme vom Himmel, die also zu mir sprach: Gott hat zumRuhme Seines Namens die Welt aus ihren Elementen zusammengesetzt. Er hat sie mit den

    Winden verstrkt, mit den Sternen verbunden und erleuchtet und mit den brigen Ge-schpten erllt. Au dieser Welt hat Er den Menschen mit allem umgeben und gestrkt und

    hat ihn mit gar groer Krat rundum durchstrmt, damit ihm die ganze Schpung in allenDingen beistnde. Die ganze Natur sollte dem Menschen zur Vergung stehen, au da ermit ihr wirke, weil ja der Mensch ohne sie weder leben noch bestehen kann. Das wird dir indieser Schau gezeigt.

    Denn in der Brust der erwhnten Erscheinung zeigt sich ein Rad, wunderbar anzuschauenmit allen seinen Zeichen und ast so wie jenes Bild, das du vor achtundzwanzig Jahren inder Eiorm erblicktest, so wie es dir in deinen rheren Visionen gezeigt wurde. Denn die

    Gestalt der Welt existiert unvergnglich im Wissen der wahren Liebe, die Gott ist: unauhr-lich kreisend, wunderbar r die menschliche Natur und so, da sie von keinem Alter auge-zehrt, aber auch nicht durch Neues vermehrt werden knnte, vielmehr so bleibt, wie Gott siegeschaen hat, dauerhat bis an das Ende der Zeit. Die Gottheit ist in Ihrem Vorherwissenund Ihrem Wirken, gleich wie ein Rad, ein Ganzes, in keiner Weise zu teilen, weil Sie weder

    Anang noch Ende hat und von niemandem begrien werden kann; denn Sie ist ohne Zeit.Und wie ein Kreis das, was in ihm verborgen ist, in sich schliet, so schliet auch die HeiligeGottheit unbegrenzt alles in sich und bertrit alles. Denn noch keiner konnte Sie in IhrerMacht zerteilen noch berwinden noch vollenden.

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    ERSTER TEIL

    VON DER GESTALT DER WELT

    3 Da aber die erwhnte Figur dir in deinen rheren Visionen in der Form von einemEi gezeigt wurde, das geschah deshalb, weil die Unterscheidung der Weltstoe am besten in

    diesem Gleichnis gezeigt werden kann. Denn whrend die vielschichtige Struktur des Eiesder Welt mit ihren Schichtungen, in der hier wie dort die verschiedenen Stoe unterschie-den sind, gleicht, wird mit diesem Rad lediglich der Umlau und die rechte Ausgemessenheitdieser Weltelemente verstanden. Denn keins von diesen beiden Bildern verkrpert die Welt-gestalt insgesamt, weil diese Welt ja rundum heil und rund und kreisend ist. Solch eine Kugelaber, rund und kreisend, gleicht noch am ehesten in allen Einzelheiten jener Weltgestalt.

    VON DEN BEIDEN FEUERKREISEN

    4 Der Kreis von lichthellem Feuer zuoberst der Rundung bedeutet, da das Feuer alserstes Element sich auch zuoberst bendet, weil es leicht ist. Es schliet alle brigen Ele-mente in sich ein und erleuchtet sie. Alle Geschpe durchdringt es und schenkt ihnen dieFreude seines Lichtes, wobei es Sinnbild ist r die Macht Gottes, der ber allem west, derallem Sein das Leben gibt. Unter diesem lichthellen Feuerkreis bendet sich ein anderer vonschwarzem Feuer. Dieser weist darau hin, da das zweite Feuer unter der Gewalt des erstensteht. Es ist ein Richtereuer, beinahe ein Hlleneuer, gemacht zur Bestraung der Bsen;nichts verschont es, worau es mit seinem gerechten Urteil llt. Es ist ein Zeichen dar,

    da jeder, der sich Gott widersetzt, in schwarzes Dunkel und vielaches Unheil strzt. Wennzur Sommerszeit die Sonne hochsteigt, bt dieses Feuer mit brandstitenden Blitzen GottesRache aus, und wenn im Winter die Sonne niedergeht, zeigt es Gericht und Strae an mit Eis,Klte und Hagel. Denn jede Snde wird nach ihrer Art mit Feuer, Klte oder anderen Heim-suchungen bestrat. Dieser lichte Feuerkreis ist zweimal so stark wie der nstere Feuerkreis,

    weil das schwarze Feuer so stark und hetig wirkt, da es den oberen Lichtkreis zerstreuenund verdunkeln wrde, wenn es nicht blo halb so dicht wre. Gleicherweise gehrlich istauch das Stragericht r die Menschensnden, so da ein Mensch nicht bestehen knnte,

    kme ihm nicht die Gnade und Milde Gottes entgegen. Jene beiden Kreise vereinigen sichwie zu einem einzigen Kreis, weil sie im Brand des Feuers glhen. Und so sind auch GottesMacht und Sein Gericht zu einer einzigen Gerechtigkeit verschmolzen und nicht voneinan-der zu trennen.

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    DIE WELT DES MENSCHEN

    Die genannte dnne Lutschicht sieht man sich durch den ganzen Umang des beschrie-benen Rades hin erstrecken, weil ja alles in der Schpung von dieser Lut Lebenskrat undHalt empngt. So geht auch unter der Schutzschicht der Diskretion die rechte Sehnsuchtglubiger Menschen, die mit allem akt des Rechten bedrtig sind, aus den hheren u-

    gendkrten und der Krtigung durch den Heiligen Geist hervor, da sie sich nicht von ihnenabwendet, sondern ihnen in aller Anhnglichkeit und Ehrurcht immerort verhatet bleibt.So schat sie es, da die este Gesinnung solcher Glubigen bald leuchtet im Vertrauen, balderzittert in Demut und Gott zuschreibt, was aus den heiligen Werken und den guten Beispie-len entspringt; da sie dies alles darin wieder zu sammeln versteht, wie ja auch ein Arbeiterdurch seine Arbeit selbst belohnt wird. Whrend sich nmlich bei den Menschen das guteGewissen in der Glut des Heiligen Geistes bei ihrer Rechtertigung zu himmlischen Dingenerhebt, zieht es ihre Gesinnung mit sich und macht sie darin rein, und wenn es sich dabeizu den Bedrnissen eines krperlichen Daseins herablt, dann entlt es ihren Sinn auch

    hierzu. Diese Menschen erscheinen dann zwar in den Sorgen des Alltags ot wie gestrt, tra-gen aber den au der rnen in sich; denn sie seuzen, weil sie dem Irdischen geradezu an-haten, obwohl sie sich ganz der gttlichen Allmacht anheimgegeben haben.

    VON DER INNEREN VERBUNDENHEIT DES WELTENBAUES

    9 Alle diese sechs Kreise sind ohne Zwischenraum miteinander verbunden. Htte diegttliche Ordnung sie nicht durch solches Verbundensein geestigt, mte das Firmament

    auseinanderbrechen und htte keinen Bestand. Dies ist ein Hinweis darau, da die voll-kommenen ugendkrte im glubigen Menschen durch die Eingieung des Heiligen Geistesmiteinander verbunden und derart geestigt sind, da sie in ihrem Kamp wider die Lasterdes euels jedes gute Werk einmtig vollbringen knnen.

    VON DER BEDEUTUNG DER EINZELNEN WELTSCHICHTEN

    10 Der oberste Kreis durchdringt mit seinem Feuer die brigen Zonen, der wrige aberbenetzt mit seiner Feuchte alle anderen Schichten, weil ja auch das oberste Element, dasFeuer, mit seiner Krat und Reinheit die brigen Grundstoe strkt, das wrige aber mitseiner Feuchte allen anderen Lebensrische spendet. So heiligt Gottes Allmacht in den Wun-derwerken Seiner Gnade die glubigen Menschen, die Werke der Glubigen indes preisen inder wahren Demut der Heiligkeit die Gte ihres Schpers.

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    ERSTER TEIL

    VOM GEHEIMNISVOLLEN BEZIRK IM NORDEN

    11 Vom Beginn der stlichen Region des Rades her erstreckt sich gleichsam bis zur Gren-ze der westlichen Zone eine Linie, die im Weltall gegen den Norden hin lut und diese nrd-

    liche Region gleichsam von den brigen Gebieten abschneidet. Vom ersten Augang desOstens, da, wo die Sonne sich zuerst erhebt, indes die age lnger werden, bis hin zum u-ersten Untergang des Westens, wo die Sonne nicht lnger scheint, biegt sich jene Linie hinund zurck, indem sie die nrdliche Region vermeidet. Denn ber diesen Gebieten strahltkeine Sonne, sie vernachlssigt diese vielmehr, seit der alte Verhrer dort seinen Wohnsitzerkor, weswegen Gott diese Zonen vom Erscheinen der Sonne reihielt. Au die gleiche Weisesetzt der glubige Mensch vom Ursprung seines guten Wirkens an, das mit Gotteskrat be-gonnen ward, bis hin zur guten Vollendung, die Aurichtigkeit seiner Gerechtigkeit in Wider-spruch zur Ungerechtigkeit. Er scheidet streng die diabolischen Kunstertigkeiten von den

    guten und heiligen Werken, weil er, willens, Gott treu anzuhangen, alles zu vermeiden strebt,was seine Seele verletzen knnte. Und so horcht er au das, was geschrieben steht.

    IM BUCHE DER OFFENBARUNG STEHT GESCHRIEBEN

    12 Dem Sieger will Ich das verborgene Brot geben; auch einen weien Stein will Ich ihmgeben und, au dem Stein geschrieben, einen neuen Namen, den niemand kennt als der, derihn empngt Ob 2, 17.

    Das will so verstanden sein: Wer den linken eil ieht, der hat einen machtvollen Kamp ge-gen die sich windende Schlange au sich genommen. rachtet diese doch immerort danach,ihn au das linke Gebiet zu sich zu ziehen. Hlt jener aber durch in diesem Streit, indem erden Satan ieht und nicht mit ihm bereinstimmt, so werde Ich ihm das lebendige Brotschenken, das vom Himmel herniederstieg, das verborgen war vor aller Niedrigkeit mnn-lichen Begehrens wie auch vor aller List der alten Schlange. Ich will ihm dar die Gemein-schat mit Dem schenken, Der da ist der Eckstein und Der in leuchtender Klarheit Gott und

    Mensch ist. In Ihm lebt der Name der Wiedergeburt, Christus, von dem wir ja Christen sind.Dies aber ist ein atbestand, den niemand vollkommen verstehen kann, solange er im hin-lligen und zeit- verhateten Leben weilt, es sei denn, da er das Leben der ewigen Seligkeiterringt als Lohn himmlischer Vergeltung.

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    ERSTER TEIL

    In der Liebe zum Guten und im Ha au das Bse wird ihm kein Zweiel darber kommen,da er im letzten Gericht rei werde, geschieden von all den Verlorenen, die sich vom Gutendem bsen Verkehr zuwandten. Die solches tun und niemanden verletzen, werden ohne denLrm eines sprden Gejammers als Gottes Kinder leben in der Einalt ihres rechten uns.

    Fern aller List einer Verhrung werden sie unangeochten sich der Wertschtzung derererreuen, die sich in einer schlechten und verkehrten Welt als taper und ruhmvoll erwiesen.In der Vollendung des Glaubens werden sie unter ihnen erstrahlen wie die Sterne, die in derOrdnung, die der Schper des Alls estgelegt hat, das Universum erleuchten. Durch ihre Leh-re, die Rcksicht nimmt au das Leben, hren sie mglichst viele zu Gott, wie auch GottesSohn ohne Snden einem jeden in der Welt geleuchtet hat. Gott setzte aber zwei Leuchtenins Firmament, Sonne und Mond, die Sinnbild sein sollten r das Wissen von Gut und Bseim Menschen. Denn wie das Weltall durch Sonne und Mond geestigt wird, so wird auch derMensch im Wissen von Gut und Bse hierhin und dorthin geleitet. Und wie Sonne und Mond

    ihren Lau vollenden, ohne ihren Umkreis zu mindern, so nimmt auch das gute Gewissenseinen Lau, ohne das Bse zu missen, vielmehr unterdrckt es das bse Gewissen, schilt esund vernichtet es, weil kein Nutzen in ihm ist. Es verucht dieses zur Hlle, wenn es seineBegehrlichkeit zu beriedigen trachtet. Und wie der Mond schwindet und wchst, so verach-tet auch das Bse das Gute und heit es, obwohl es das Gute doch kennt, tricht und nichtig,

    wie auch der euel Gott kennt, zu dem er sich gleichwohl in Widerspruch setzt.

    WAS DIE GESTALT DES MENSCHEN MITTEN IM HERZEN DER WELT BESAGEN WILL

    15 Da aber inmitten dieses Rades die Gestalt eines Menschen erscheint, dessen Scheitelsich nach oben, die Fe aber nach unten gegen den erwhnten Kreis der starken weienKlarlut erstrecken, whrend rechts die Fingerspitzen der rechten Hand, links die der linkengegen diese Lutschicht beiderseits gerichtet sind, als habe die Gestalt weit ihre Arme ausge-breitet, das soll olgendes besagen:

    Mitten im Weltenbau steht der Mensch. Denn er ist bedeutender als alle brigen Geschpe,

    die abhngig von jener Weltstruktur bleiben. An Statur ist er zwar klein, an Krat seiner Seelejedoch gewaltig. Sein Haupt nach auwrts gerichtet, die Fe au estem Grund, vermag ersowohl die oberen als auch die unteren Dinge in Bewegung zu versetzen. Was er mit seinem

    Werk in rechter oder linker Hand bewirkt, das durchdringt das All, weil er in der Krat seinesinneren Menschen die Mglichkeit hat, solches ins Werk zu setzen. Wie nmlich der Leibdes Menschen das Herz an Gre bertrit, so sind auch die Krte der Seele gewaltiger alsdie des Krpers, und wie das Herz des Menschen im Krper verborgen ruht, so ist auch derKrper von den, Krten der Seele umgeben, da diese sich ber den gesamten Erdkreis hinerstrecken. So hat der glubige Mensch sein Dasein im Wissen aus Gott und strebt in seinen

    geistlichen wie weltlichen Bedrnissen zu Gott.

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    DIE WELT DES MENSCHEN

    Geht es mit seinen Unternehmungen gut vorwrts oder glcken sie auch nicht: immer rich-tet sich sein rachten au Gott, da er Ihm in beidem seine Ehrurcht ununterbrochen zum

    Ausdruck bringt. Denn wie der Mensch mit den leiblichen Augen allenthalben die Geschpesieht, so schaut er im Glauben berall den Herrn. Gott ist es, den der Mensch in jedem Ge-

    schp erkennt. Wei er doch, da Er der Schper aller Welt ist.

    VOM ENTSCHEIDUNGSFELD DES MENSCHEN IN SEINER KOSMISCHEN EXISTENZ

    16 Gegen die vier Regionen hin erscheinen die vier Kpe, ein Leopard, ein Wol, ein Lweund ein Br, so, wie sich auch an den vier Seiten des Alls die vier Weltwinde benden. Diese

    vier Winde haben keineswegs die genannten Gestalten, sie gleichen nur in ihren Krten derNatur der angehrten iere.

    Der Mensch hat seine Existenz gewissermaen am Kreuzweg quadruvium der weltlichenSorgen. Er wird darin von unzhligen Versuchungen getrieben. Beim Leopardenkop erin-nert er sich an die Furcht des Herrn, beim Wol an die Hllenstraen, beim Lwen rchteter sich vor dem Gerichte Gottes, und unter dem Bren wird er bei den Heimsuchungen desKrpers von einer Unzahl anstrmender Bedrngnisse erschttert.

    17 Von den ierkpen gehen nunmehr in genau beschriebener Gesetzmigkeit die Aus-bauchungen aus, die durch das ganze Weltenrad ein geordnetes kosmisches Netz spinnen

    und ein dementsprechendes moralisches Bezugssystem schaen.

    WARUM DIESE TIERKPFE IM WELTENRAD AUF DEN MENSCHEN BEZUG NEHMEN

    18 Alle diese ierkpe entsenden ihren Flauch au das beschriebene Rad und au dieMenschengestalt zu. Sind diese Winde es doch, die mit ihrem Brausen das Weltall im Gleich-gewicht halten und die mit ihrem Wehen auch den Menschen zu seinem Heil bewahren.

    Denn das Universum knnte nicht bestehen noch der Mensch leben, wenn sie nicht durchdas Wehen dieser Winde lebendig gehalten wrden.

    Wenn der Mensch in seiner seelischen Spannkrat sich nach oben erhebt und eingedenk sei-ner bsen aten zu buertiger Gesinnung kommt, dann erhebt sich gleichsam ber demScheitel jenes Bildes im Zeichen des reinen thers der Bue gleich einem Leopardendie Furcht Gottes. Ihrem Munde entstrmt, indem sie das Herz des Menschen berhrt, dieGotteskrat der Zerknirschung; sie gibt ihm die Chance, bis zum Haupte des Krebses zu ge-langen, der das Vertrauen verkrpert. Vom Krebs gehen zwei Scheren wie zwei Fe aus,

    Honung und Zweiel. Und so gelangt sie im Widerspruch der Gesinnung, die Zerknirschungnoch steigernd, zum Kop des Hirsches, der den Glauben meint.

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    ERSTER TEIL

    Sobald nmlich der Mensch der Last seiner Snden eingedenk wird, naht sogleich die Reue,in der er nicht auhrt, Gott zu rchten, obwohl er die Gter der Welt gleichsam au deranderen Seite behlt, und dies so lange, bis er das Vertrauen, aus dem gleich zwei FenHonung und Zweiel entspringen, erreicht hat. Aus dem Vertrauen erhebt sich die Ho-

    nung, wiewohl sich ihr mitunter der Zweiel verbindet; denn im Vertrauen au Gott hot derMensch au Verzeihung seiner Snden, und indem er hot, kommt er weiter; im Gedenkenaber an ihre Mngel und Schwere zweielt er, ob sie ihm berhaupt vergeben werden knn-ten. Und so llt er gleichsam wieder zurck, obwohl er au Gott vertraut.

    Wird er in den Wechselllen des Lebens anderseits von krperlichen Leiden geplagt, so wen-det er sich an die Schtze des Glaubens, die au den Hrnern einer wahren rstung den un-glubigen Zweiel in ihm zunichte machen. Und so geht gleichsam aus dem Munde des Kreb-ses, das heit der Zuversicht, ein anderer Hauch aus, die Bestndigkeit nmlich, und diese

    schreitet voran zur Flle der Vollkommenheit. Sie steht dort mitten zwischen der FurchtGottes und Gottes Urteil. Wie einer nmlich im Gottvertrauen im guten Werk bestndig und

    vollkommen ist, reit er die Furcht des Herrn an sich, au da er sich nicht noch schwererverehle, und schaut so au das Urteil Gottes, um nicht seinen Snden weitere hinzuzugen.

    Aus dem Mund des Hirsches aber, das heit dem Glauben, kommt ein anderer Hauch, derals Heiligkeit zu verstehen ist, und erstreckt sich zur Flle der Vollkommenheit, die zwischender Furcht des Herrn und der krperlichen Drangsal liegt. Der glubige Mensch nmlich,mchtig in seiner Heiligkeit, dauert in jener Vollkommenheit an, so da er Gott wahrhat

    rchtet und dabei gleichzeitig nicht versumt, seinen Krper im Zaum zu haben.

    Und obwohl all diese Krte verschiedene Funktionen haben, erstreben sie doch die eineGlckseligkeit. Denn die eine ugendkrat geht zwangslug aus der anderen hervor undschat die rechte Lebensweise. Alle diese Hupter aber, das heit diese ugendkrte, exis-tieren im Wissen Gottes und sind ausgerichtet au das Wissen Gottes. Und so stehen sie demMenschen insgesamt bei, und zwar sowohl in den Lebensnotwendigkeiten seines Krpersals auch seines Geistes.

    Ist der Mensch von der Gottesurcht durchgeistigt, dann beginnt er auch von selbst seinenGott zu ehren. In Weisheit geht er durchs Leben und vollbringt gute und gerechte Werke. DieZuversicht, aus der heraus der Mensch seinem Gotte vertraut, berhrt ihn mit der Bestn-digkeit, so da er bestndig Gott die reue hlt und all sein Denken au Gott ausrichtet, undso wird der Geist der Glubigen aus der Krat der Bestndigkeit stark gemacht. Der Glaubeaber beurteilt mit der Heiligkeit auch das, was als unglubig zu verurteilen ist. Er breitet sichrasch aus, durchtrnkt schnell die Glubigen, indem er aus ihren Ohren allen Wirrwarr der

    verkehrten Vorstellungen wegnimmt und das schlprige Wnschen aus ihren Herzen reit.

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    DIE WELT DES MENSCHEN

    Wenn der Mensch indes die grne Lebenskrat dieser ugenden augibt und sich der Drreseiner Nachlssigkeit berlt, so da ihm der Lebenssat und die Grnkrat guter Werkeehlen, dann beginnen auch die Krte seiner Seele selbst zu schwinden und zu drren. Wirder gar von geilen rieben wie von einer berschwemmung durchtrnkt, dann schmilzt auch

    sein Geist au diesem schlprigen Grunde. Geht er aber den rechten Weg, dann trgt all seinun gedeihliche Frucht.

    UND SO HEISST ES IM HOHENLIEDE:

    19 Es hrte mich der Knig in Seine Gemcher. Wir rohlocken und reuen uns in Dir, eingedenk Dei-

    ner Flle, mehr noch als am Wein. Alle Aurechten lieben Dich (Cant 1).

    Dies will so verstanden sein: Ich, die Seele eines glubigen Menschen, bin au den Spurender Wahrheit dem Gottessohn geolgt, der durch Seine Menschheit den Menschen erlst hat.Es geleitete mich jener, der der Lenker des Alls ist, in die Flle Seiner Gter, wo ich alle St-tigung an ugenden nde und treulich von ugend zu ugend hinansteige. Daher jubeln

    wir alle, die durch das Blut dieses Gottessohnes erlst sind, mit Dir au, und wir reuen unsmit ganzer Seele in Dir, o Heilige Gottheit, durch die wir da sind. Wir ruen uns die Se deshimmlischen Lohnes ins Gedchtnis zurck, die uns alle Leiden und alle rbsal, die wir im

    Widerspruch mit der Wahrheit erdulden muten, vergessen lassen. Wie zunichte gewordenist all das, seit wir kosten, was Du uns im Auweis Deiner Gebote schon vorgesetzt hast. Und

    so lieben Dich alle, die in den Werken der Heiligkeit rechtens leben, in einer wahren und voll-kommenen Liebe; schenkst Du doch denen, die Dich lieben, alle Gter und verleihst ihnenschlielich das ewige Leben. Die Weisheit aber giet in die Gemcher, das heit, in des Men-schen Geist, die Gerechtigkeit wahren Glaubens, durch die allein Gott erkannt wird. Dortkeltert dieser Glaube alle Klte und Feuchte der Laster derart, da sie nicht weiterkeimenund wachsen knnen, whrend er alle ugendkrte so an sich pret, da edler Wein ins Glasgegossen und den Menschen zum ranke gereicht werden kann. Darum sollen rohlockenund sich reuen die Glubigen im wahren Glauben ewigen Lohnes; sie sollen die Wimpel gu-

    ter aten, die sie gewirkt haben, vorantragen ; drstend nach Gottes Gerechtigkeit sollen sienun das Heilige von Seinen Brsten saugen und nie genug daran haben, da sie sich immer-ort in der Betrachtung Gottes erquicken; berstrahlt doch das Heilige allen menschlichen

    Verstand. Wenn so der Mensch das Rechte ergreit, verlt er sich selbst, kostet die ugendund trinkt. Er wird davon gestrkt wie die Adern eines rinkenden voll Wein werden. Er wirdnie malos werden, wie ein runkener vom Wein auer sich gert und nicht mehr wei, waser tut. Au diese Weise lieben die Gerechten Gott, an dem kein berdru sein kann, sondernnur Beseligung in reiner Dauer.

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    ERSTER TEIL

    VON DEN KRFTEN DER WINDE IM WELTALL

    20 Da unter den Fen dieses Menschenbildes im Zeichen der wrigen Lut gleichsamdas Haupt eines Woles erscheint, der einen Hauch seinem Munde entsendet, das bedeutet,

    da unter der Macht dessen, der um der Menschen willen Mensch geworden ist, in der west-lichen Zone aus der wrigen Lut wie ein Wol der Westwind mit seinem Wehen hervorgeht.Er zeigt sich in der Gestalt eines Woles, der im Wald verborgen haust und der reiend wird,

    wenn er seine Nahrung sucht. Das bedeutet, da dieser Wind, wenn er aus seinem Versteckhervorbricht, das Grn der Kruter bald hervorbringt, bald aber auch pltzlich ausdrrt und

    verkmmern lt... In gleicher Weise werden auch die brigen Winde durchgesprochen; siealle sollen ihr Ma nicht berschreiten, es sei denn, da Gott dies in besonderen Katastro-

    phen-llen zult.

    VON DER SCHICKSALHAFTEN EINGEBUNDENHEIT DES MENSCHEN IN DIE

    WELTSTOFFE UND DEM KAUM SEINER SITTLICHEN FREIHEIT

    21 Diese Hupter entsenden ihren Hauch gegen das beschriebene Rad und au die Ge-stalt des Menschen zu, die mitten darin steht, und zwar so, da diese Winde die Welt undden Menschen und alles im Universum in ihren Krten und Funktionen halten.

    Wenn daher die Glubigen ihre hinlligen irdischen Wnsche mit beispielhater Gerechtig-

    keit gleichsam mit ihren Fen niedertreten, indem sie Gutes tun, dann gehen gewisserma-en aus der wrigen Lut aus diesen heiligen Werken die hllischen Straen nackt wie ein

    Wol hervor.

  • 8/8/2019 Hildegard Von Bingen-Welt und Mensch

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    DIE WELT DES MENSCHEN

  • 8/8/2019 Hildegard Von Bingen-Welt und Mensch

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    ERSTER TEIL

    4. DER KOSMOSMENSCH (SEIE 43)

    Der Urlebendige umat in seiner Liebe und Gte mit weitgespannten Armen den gesamtenKosmos und trgt so die groe wie die kleine Welt mit all ihren Elementen in seinem Herzen.Inmitten der Welt steht der Mensch au seiner Erde. Lutraum und Wassersphren, Plane-ten und Winde wie auch die Feuerkreise umgeben ihn und stehen ihm zur Vergung. DerMensch hlt das Weltnetz mit den Elementen in seiner Hand. In diesem Bild, das vom Kreisund vom Kreuz geormt wird, erscheint die Welt des Menschen in ihrer inneren Bezogenheitau ihre