Hiller, Marion Harmonisch Entgegengesetzt Zur Darstellung Und Darstellbarkeit in Holderlins Poetik...

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Marion

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  • HERMAEAGERMANISTISCHE FORSCHUNGEN

    NEUE FOLGE

    HERAUSGEGEBEN VONJOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MLLER

    BAND 118

  • MARION HILLER

    Harmonisch entgegengesetzt

    Zur Darstellung und Darstellbarkeitin Hlderlins Poetik um 1800

    nMAX NIEMEYERVERLAG

    T*BINGEN 2008

  • Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung f0r Geisteswissen-schaften in Ingelheim am Rhein.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    DieDeutscheNationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschenNational-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 0ber http://www.d-nb.deabrufbar.

    ISBN 978-3-484-15118-5 ISSN 0440-7164

    ; Max Niemeyer Verlag, T0bingen 2008Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KGhttp://www.niemeyer.deDas Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch0tzt. Jede Verwertungauerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver-lages unzulGssig und strafbar. Das gilt insbesondere f0r VervielfGltigungen, *bersetzun-gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischenSystemen. Printed in Germany.Gedruckt auf alterungsbestGndigem Papier.Satz: Johanna Boy, BrennbergGesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

  • VVorwort

    Die vorliegende Arbeit entstand zwischen 2002 und 2005 und wurde von der Neuphilologischen Fakultt der Eberhard Karls Universitt Tbingen als Dis-sertation angenommen. Fr die Drucklegung wurde sie berarbeitet und an die neue Rechtschreibung angepasst.

    Besonderer Dank gilt meinem langjhrigen Lehrer Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Georg Kemper, der durch die Frderung an seinem Lehrstuhl, whrend des Stu-diums als Wissenschaftliche Hilfskraft, dann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, diese Arbeit ermglicht hat. Ihm danke ich insbesondere auch fr seine vorbild-lichen Fhrungsqualitten und seine Toleranz verschiedenen Anstzen gegenber.

    Ihm sowie den weiteren Betreuern und Gutachtern, Prof. Dr. Klaus-Detlef Mller, Prof. Dr. Bernhard Greiner und Prof. Dr. Georg Braungart, bin ich berdies zu Dank fr die genaue und intensive Lektre der Arbeit, die ausfhr-lichen, eindringlichen und wrdigenden Gutachten, die Anregungen und die Untersttzung whrend der Entstehungsphase sowie fr die weitergehende Fr-derung verp ichtet. Dem Zweitbetreuer, Prof. Dr. Klaus-Detlef Mller, sowie Prof. Dr. Joachim Heinzle danke ich auch fr die Aufnahme in die Reihe.

    Sebstian Ochoa bin ich zu Dank fr seine Hilfe bei der Einrichtung des Manuskripts verp ichtet, Prof. Dr. Wilfried Krschner fr Hinweise bezglich der neuen Rechtschreibung, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fr Geisteswissenschaften und ihrem Wissenschaftlichen Beirat, insbesondere der Vorsitzenden Dr. Ute Oelmann, fr den Druckkostenzuschuss und Frau Birgitta Zeller-Ebert sowie Margarete Trinks vom Max Niemeyer Verlag fr die umsichtige und kooperative Betreuung bei der Drucklegung.

    Eine wissenschaftliche Arbeit entsteht nicht in Isolation, und so danke ich darber hinaus fr Vortrge, Gesprche, Workshops, Seminare so unter-schiedlichen Wissenschaftlern wie Prof. Dr. Lawrence Ryan (Amherst/Tbin-gen), PD Dr. Violetta Waibel (Wien), PD Dr. Manfred Koch (Gieen/Tbin-gen), Prof. Dr. Gnter Figal (Freiburg/Br.), Prof. Dr. Rainer Ngele (New Haven), Prof. Dr. Johann Kreuzer (Oldenburg), Prof. Dr. Gerhard Kurz (Gie-en), Prof. Dr. Ulrich Gaier (Konstanz), PD Dr. Annette Hornbacher (Mn-chen) sowie Valrie Lawitschka (Tbingen) fr alle Bemhungen.

    Privat danke ich meiner Familie und meinen Freunden, insbesondere Vero-nika Wasner, Katrin Volle, Adreana DiAdriano mit Sohn und zuerst und zuletzt Dietmar Koch.

    Tbingen und Vechta, im April 2008

  • VI

    Einig zu seyn, ist gttlich und gut; woher ist die Sucht dennUnter den Menschen, da nur Einer und Eines nur sei?

    Friedrich Hlderlin: Wurzel alles bels.

  • VII

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung und methodische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

    A. Annherung an die Grundstruktur der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . 15

    I. Herausarbeitung der Grundstruktur an Hyperion oder der Eremit in Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

    1. Zu Hyperion im Kontext der neueren Narratologie (Genette) . . 17 2. Exzentrizitt des Zentralen: Zur Verortung der Athenerrede . . . . 22 2.1 Die Orte der Athenerrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.2 Die Athenerrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3 Zusammenfhrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Weiterentwicklung nach der Athenerrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.1 Der Athenerbrief nach der Athenerrede: Diotimas Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2 Der letzte Brief im Vergleich zum Athenerbrief . . . . . . . . . . . . . . 37 3.3 Der Kontext des Monologs im letzten Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Zusammenfhrung: Gesamtroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.1 Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2 Die Re exionsstruktur des Selbstbewusstseins in Seyn, Urtheil, Modalitt und Hlderlins Fichte-Kritik . . . . . . . . 45 4.3 Zeitstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.4 Einholungsstrukturen und die Mitten als bergnge . . . . . . . . . 50 4.5 Die Mitten als Zsuren und ihre Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.6 Implikationen des Schlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.7 Paratextuelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.8 Zur Ineinandersta elung der Einholungsstruktur und zur Bedeutung der Athenerrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4.9 Vergleich der endgltigen Fassung mit den Vorreden zu frheren Fassungen des Hyperion: Fazit zur Teleologie des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 5. Intertextuelle Bezge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5.1 Die Einholungsstruktur als Erotisches: Hyperions Verweise auf Platons Symposion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

  • VIII

    5.2 Das Verhltnis von Wissen und Nicht-Wissen als Triebfeder des Tragischen: Zum Verhltnis Hyperions zu Sophokles Knig dipus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

    II. Bogen und Leier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

    1. Bezge des Hyperion und der Diotima-Gedichte auf Heraklitische Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1.1 Die Heraklit-Bezge in der Athenerrede mit einem Exkurs zu Geschichte der schnen Knste unter den Griechen. Bi zu Ende des Perikleischen Zeitalters . . . . . . . . . . 72 1.2 Saitenspiel im Hyperion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1.3 Harmonie im Hyperion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1.4 Die Diotima-Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1.5 An Diotima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Bogen und Leier in ihren strukturellen Verhltnissen . . . . . . . 90 2.1 Bogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.2 Zu einer anderen Betrachtung von Kreis, Schnheit und Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.3 Leier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

    III. Tragische Schnheit? Verweise auf das Tragische . . . . . . . . . . . . . . . . 100

    1. Hlderlins Sophokles-Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Das untergehende Vaterland und Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Die Bedeutung der Tragdien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. Die tragische Ode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.1 Allgemeiner Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.2 Grund zum Empedokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

    B. Th eoretische Durchfhrung der Grundstruktur der Darstellung . . . . 121

    IV. Harmonisch entgegengesetzt: Zu den Einholungsstrukturen des poetischen Geistes in Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    1. Zum Aufbau des Entwurfs Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Die zweite Phase des poetischen Prozesses und der bergang in die dritte Phase: Selbsteinholung des poetischen Geistes . . . . . 127 2.1 Der erste Schritt in der zweiten Phase: die subjektive Begrndung des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.2 Vorausgreifender Exkurs: die subjektive Begrndung angewandt verstanden: zu Wirkungskreis und Element . . . . . . 129

  • IX

    2.3 Die poetische Verfahrungsweise als metaphorisch und hyperbolisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2.4 Der zweite Schritt in der zweiten Phase: Die objektive Begrndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.5 Der dritte Schritt in der zweiten Phase: bergang zur dritten Phase als Selbstau assung der poetischen Individualitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Nachtrag und Rekapitulation anhand der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes und genauere Bestimmung der dritten Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.1 Nachtrag zur ersten Phase und Rekapitulation der zweiten . . . . . . 141 3.2 Der bergang zur dritten Phase und nhere Bestimmung dieser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4. Der letzte Abschnitt des Entwurfs: Wink fr die Darstellung und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.1 Die dritte Phase und das Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.2 Die Aporie des gttlichen Moments und das Gedicht zwischen Auto- und Heteroreferentialit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.3 Rezeption, Zeichen, Sprache und Leben . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.4 Exkurs zum Fragment philosophischer Briefe . . . . . . . . . . . . . 161 4.5 Der gttliche Moment anders gefasst: Das Ende des Entwurfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

    C. Durchfhrung der Grundstruktur hinsichtlich der Th eorie der Tne sowie konkreter Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

    V. Die Darstellungsstruktur hinsichtlich der Tne in der Verfahrungsweise und weiteren poetologischen Entwrfen . . . . . . . . 171

    1. Zum Status und zum Verhltnis der poetologischen Entwrfe untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Rekapitulation der fr den Tnewechsel relevanten Ausfhrungen in Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3. Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht in Verbindung mit Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4. Die Emp ndung spricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5. Das tragische Gedicht in Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 6. Bezug zu den Errterungen im Kontext des Empedokles- Dramas sowie bergang zu Lst sich nicht . . . . . . . . . . . . . 208

  • X 7. Poetologische Tafeln und ihr Bezug zu den Errterungen im Umkreis des Empedokles-Dramas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 8. Poetische Darstellung und Sto ausgehend von Hlderlins Rezension zu Siegfried Schmids Heroine. . . . . . . . . . . . . . . . . 225 9. Ansatz zur Herausarbeitung des Tneschemas an dem lyrischen Entwurf Wie wenn am Feiertage . . . . . . . . . . . . . . 230 10. Zum Status der poetologischen Re exionen in Bezug auf konkrete Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 11. Methodologische Vorberlegungen zur Betrachtung der Dichtungen und zum Verhltnis von diskursivem und poetischem Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

    VI. Exemplarische lyrische Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

    1. Wie wenn am Feiertage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. Hlfte des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

    VII. Ausblick und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

    Siglen und Abkrzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

    Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

  • 1Einleitung und methodische Grundlegung

    Die Hlderlinforschung ist von Dichotomien geprgt. Bereits die Einteilung der Schriften Hlderlins in bestimmte Phasen und deren inhaltliche Begrn-dung fhrt in das Zentrum der unterschiedlichsten Sichtweisen auf Hlder-lin. Wurde immer wieder Hlderlins Revision seiner poetologischen Position um 1799 in den spteren Schriften, sei es in den Oden1 und Gesngen oder hinsichtlich der Tragdienkonzeption in den Anmerkungen zur Antigon und zum Oedipus,2 konstatiert, so kristallisieren sich an diesen Einteilungen grundstzlich verschiedene Hlderlin-Bilder, die beispielsweise auf Entgegenset-zungen von Romantik und Klassik, Klassizismus und vaterlndischer Wende,

    1 Vgl. beispielsweise Jochen Schmidt: Hlderlins spter Widerruf in den Oden Chiron, Bl-digkeit und Ganymed. Tbingen 1978, und Wolfgang Lange: Das Wahnsinns-Projekt oder was es mit einer antiempedokleischen Wendung im Sptwerk Hlderlins auf sich hat. In: DVjs 63 (1989), S. 645678, sowie Jochen Schmidt: Stellungnahme. In: DVjs 63 (1989), S. 679711, und Wolfgang Lange: Replik. In: DVjs 63 (1989), S. 712714. Anders als Schmidt auch Wolfgang Binder: Hlderlins Dichtung Homburg 1799. In: Friedrich Hlderlin. Stu-dien von Wolfgang Binder. Hrsg. v. Elisabeth Binder u. a. Frankfurt/Main 1987, S. 157177, vgl. v. a. S. 163f. und 176. Im Sinne eines spten Antiklassizismus vgl. ebenso die wirkungs-mchtigen Aufstze von Th eodor W. Adorno: Parataxis. Zur spten Lyrik Hlderlins. In: ber Hlderlin. Aufstze von Th eodor W. Adorno u. a. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/Main 1970, S. 339378, sowie Peter Szondi: berwindung des Klassizismus. Hlderlins Brief an Bhlendor vom 4. Dezember 1801. In: ber Hlderlin. Aufstze von Th eodor W. Adorno u. a. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/Main 1970, S. 320338. Nach 2005 erschienene Lite-ratur konnte nicht mehr eingearbeitet werden.

    2 Diese Schriften wurden in Frankreich hinsichtlich der Zsur anti-idealistisch intensiv rezi-piert, vgl. etwa Philippe Lacoue-Labarthe: Die Zsur des Spekulativen. In: HJb 22 (1980/81), S. 203231; Franoise Dastur: Hlderlin le retournement natal. Tragdie et modernit & Nature et posie. LaVersanne 1997, sowie Jean-Luc Nancy: Th e Calculation of the Poet. In: Th e solid letter. Readings of Friedrich Hlderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 4473 (poetics, that is to say, the thought of poetry or, more precisely, the thought of poetic thought, is understood here as the other of thought, as non-Idealism itself. Poetry, or the un-doing of Idealism, S. 52). Auch Karlheinz Stierle (Sprache und die Identitt des Gedichts. Das Beispiel Hlderlins. In: Friedrich Hlderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Th omas Roberg. Darmstadt 2003, S. 1934) sieht in dem bergang von Wenn der Dich-ter einmal des Geistes mchtig zu den Sophokles-Anmerkungen eine berfhrung der substantialistische[n] Poetik des Geistes in eine Poetik der psychischen Vermgen (S. 25). Eine ertragreiche Zusammenfassung und Diskussion ndet sich in Rodolphe Gasch: Der unterbrechende Augenblick: Hlderlin ber Zsur, Zeit und Gefhl. In: Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes. Zur spten Hymnik und Tragdientheorie Hlderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. Mnchen 2004, S. 419445. Vgl. auch Patrick Primavesi: Das Reien der Zeit. Rhythmus und Zsur in Hlderlins Anmerkungen. In: Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Knsten. Hrsg. v. Patrick Primavesi u. a. Schliegen 2005, S. 205220.

  • 2Idealismus und Mythologie, Idealismus und Moderne, Dichtung und Philo-sophie etc. beruhen.

    Verbunden mit der Problematik der Einteilung der Schriften sind die viel-fltigen Mglichkeiten ihrer Kontextualisierung. Neben diskursanalytischen und historischen Verortungen bietet Hlderlins biographisch o ensichtliche, intensive Auseinandersetzung sowohl mit zeitgenssischen als auch mit antiken philosophischen, poetologischen, poetischen und theologischen Quellen3 vielfl-tige Perspektiven, die in der Forschung die unterschiedlichsten Schwerpunkt-bildungen hervorgebracht haben. Zahlreiche Versuche, Hlderlins Schriften in dem philosophischen Kontext seiner Zeit zu verorten,4 ihren Bezug zur Antike herauszustellen5 oder sie hinsichtlich der theologischen Diskurse6 zu lesen, ste-hen neben Schwerpunktbildungen im politischen7 oder biographischen Bereich (beispielsweise hinsichtlich Hlderlins Wahnsinn8).

    Zudem konnte immer wieder eine Konzentration auf entweder die theo-retischen Schriften und diese dann oftmals, nicht ausschlielich, auf ide-alistischem Hintergrund gelesen oder aber auf die Dichtungen festgestellt werden, wobei sich in beiden Extremen wie auch in den Vermischungen die unterschiedlichsten Anstze und Schwerpunktbildungen nden. Von philo-sophischer Seite wren (zum Teil durchaus unter Einbezug der Dichtungen) eine strker idealistisch-transzendentalphilosophisch ausgerichtete Lesart, eine dekonstruktivistische sowie eine phnomenologisch-hermeneutisch orientierte

    3 Diese Auseinandersetzung ist auch im lebensweltlichen Kontext durch die Forschung bestens belegt, vgl. die Texturen-Bnde (Hlderlin Texturen. Hrsg. von der Hlderlin-Gesellschaft Tbingen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach. Ulrich Gaier u. a. Bd. 1.1: Alle meine Ho nungen. Lau en, Nrtingen, Denkendorf, Maulbronn 17701788. Tbingen 2003; Bd. 2: Das Jenaische Project. Das Wintersemester 1794/95 mit Vorbereitung und Nachlese. Tbingen 1995; Bd. 3: Gestalten der Welt. Frankfurt 17961798. Tbingen 1996; Bd. 4: Wo sind jezt Dichter?. Homburg, Stuttgart 17981800. Tbingen 2002) sowie Hlderlin und der Deutsche Idealismus. Dokumente und Kommentare zu Hlderlins philo-sophischer Entwicklung und den philosophisch-kulturellen Kontexten seiner Zeit. Dargestellt und hrsg. v. Christoph Jamme u. a. 4 Bnde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003.

    4 Zentral dafr Dieter Henrich mit zahlreichen Monographien und Aufstzen, aber auch Michael Franz, Violetta Waibel, Wolfgang Janke, Christoph Jamme, Peter Reisinger und Margarethe Wegenast, um hier nur einige zu nennen. Hinzu kommen historisch breit angelegte Arbeiten wie beispielsweise die von Gerhard Kurz und Ulrich Gaier. Zum Verhltnis von Hlderlin und Rousseau vgl. v. a. Jrgen Links Schriften.

    5 Vgl. beispielsweise die Arbeiten von Uvo Hlscher, Wolfgang Schadewaldt, Bernhard Bschen-stein oder Jochen Schmidt.

    6 Vgl. hier v. a. Arbeiten zum Pietismus.7 V. a. in Bezug auf die Franzsische Revolution bzw. teilweise davon ausgehend hinsichtlich

    Utopie und Revolution.8 Vgl. Pierre Bertaux: Friedrich Hlderlin. Frankfurt/Main 1978. Gerade nicht unter biographi-

    schem Aspekt, sondern unter Einbezug der traditionellen Topik des Dichterwahnsinns sowie der Ditetik betrachtet Christian Oestersandfort (Immanente Poetik und poetische Ditetik in Hlderlins Turmdichtung. Tbingen 2006) Hlderlins spteste Gedichte.

  • 3Herangehensweise herauszustellen, wobei letztere nicht mit Heideggers Lesart gleichgesetzt werden muss.

    In der Literaturwissenschaft haben sich im 20. Jahrhundert die unter-schiedlichsten Anstze an Hlderlins Schriften in so au lliger und oft auch verkrampfter Weise manifestiert, dass die Aufarbeitung der Forschungslitera-tur einem berblick ber die (auch, aber nicht nur historisch) verschiedenen Anstze gleichkommt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der Streit um Hlderlin angesichts der grtenteils blo handschriftlichen berlieferung seiner Schriften ab den 1970er-Jahren in einer Auseinandersetzung um die ange-messene Edition der Texte niedergeschlagen hat. Fr beide Historisch-kritische Ausgaben, die Stuttgarter wie die Frankfurter, lsst sich jedoch festhalten, dass sie fr die Editionsphilologie jeweils weitreichende Innovationen darstellten.9

    Aus der Disparatheit der Forschungsanstze und ihrer Ergebnisse lsst sich jedoch ein Zentrum des Streits ersehen, so meine erste Th ese, die Frage nach der Bewertung des Verhltnisses von Einheit und Di erenz. Diese Problema-tik durchzieht nicht nur die unterschiedlichen theoretischen Anstze als sol-che und ihre Auseinandersetzung miteinander, sondern sie kristallisiert sich gerade deshalb eminent in der Hlderlinforschung, weil dieses Verhltnis die Hlderlinschen Schriften zentral, wenn auch oftmals unausdrcklich, bestimmt. Die Disparatheit der Forschung kann somit unter anderem auch als Re ex auf die Verfasstheit der Hlderlinschen Schriften, sowohl hinsichtlich ihrer Th ema-tik als auch ihres Vollzugs,10 betrachtet werden.11 Denn neben ihrem oftmals unausdrcklichen Bestimmtsein von der Einheits- und Di erenzproblematik erscheinen die handschriftlichen Notizen Hlderlins in den meisten Fllen als Selbstvergewisserungen im Schreiben innerhalb eines Prozesses thematischer

    9 Die Problematik der Historisch-kritischen Ausgaben wird in dem noch nicht erschienenen Aufsatz der Verfasserin am Beispiel von Wie wenn am Feiertage behandelt (Historisch-kritische Hlderlinausgaben. Ein Problemaufri am Beispiel von Wie wenn am Feiertage . Erscheint in: Beihefte zu Editio) und soll hier nicht wiederholt werden.

    In der vorliegenden Arbeit werden Hlderlins Texte sowohl nach den beiden Historisch-kritischen Editionen als auch nach der Mnchner Ausgabe zitiert. Diese enthlt im Gegensatz zu anderen Lese- und Studienausgaben, die sich zumeist sehr weitgehend an einer der Histo-risch-kritischen Editionen orientieren, teilweise abweichende Lesarten. Weichen die konstitu-ierten Texte der Ausgaben voneinander ab, so wird die Abweichung in Klammern hinzugefgt und hinsichtlich einer eventuellen Sinnnderung diskutiert.

    10 Vollzug wird in der gesamten Arbeit einerseits als ein Akt in zeitlicher Erstreckung, als Lese-akt bzw. Akt des Textes resp. Diskurses verwendet, wobei ein (performatives) Geschehens-moment impliziert ist. Dieses wird in der Arbeit eigens expliziert, so dass die Termini Dis-kurs und Performanz in ihrer spezi schen Bedeutung in Bezug auf Hlderlins Texte deutlich werden. Andererseits bildet Vollzug einen Gegen- und Bezugsbegri zu Darstellung in dem Sinne, wie im narratologischen Kontext mit Todorov discours im Verhltnis zur histoire (vgl. Tzvetan Todorov: Les catgories du rcit littraire. In: Communications 8 [1966], S. 125151) bestimmt werden knnte.

    11 Letzteres bezieht sich vor allem auf die Unabgeschlossenheit des berwiegenden Teils der hand-schriftlichen Notizen Hlderlins.

  • 4Durcharbeitung und sind somit in sich und untereinander oftmals zu keiner Homogenitt zu bringen.

    Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es, die teilweise immanenten Konzep-tionen der Einheits- und Di erenzthematik als Zentrum der poetologischen Re exionen Hlderlins um 1800 in ihren bereinstimmungen und Brchen aufzuzeigen und im Zusammenhang der poetischen Darstellungsproblematik12 zu explizieren. Wird das Verhltnis von Einheit und Di erenz am Beginn der abendlndischen Philosophie zum ersten Mal bei Heraklit und Parmenides thematisch und zeichnen sich bereits in diesen unterschiedlichen Konzeptionen zwei grundstzliche Strnge ab, nach denen das Verhltnis gefasst werden kann tendentiell eine strkere Betonung der Einheit bei Parmenides, eine paradoxe Fassung bei Heraklit , so durchzieht die Problematik des Verhltnisses von Einheit und Di erenz, mit aller Vorsicht gesprochen, die abendlndische13 Kultur. Dabei steht dieses Verhltnis nicht lediglich im Zentrum zahlreicher philosophischer und poetologischer Abhandlungen, sondern bestimmt in seiner jeweiligen Ausprgung unausdrcklich auch das Denken, Handeln und Fhlen des Einzelnen.

    Die Vorherrschaft des Einheitsdenkens hat im Kontext einer metaphysisch genannten Denkungsart, die verdichtet als neuplatonisch-aristotelisch-scholas-tisch apostrophiert werden knnte, Auswirkungen bis in das heutige technisch-funktionale Perfektibilittsdenken hinein, in dem Negativitt in der Regel als zu berwindender Mangel aufgefasst wird. Die Weise, wie das Verhltnis von Einheit und Di erenz in seiner abstrakten Ausprgung bestimmt wird, ent-scheidet somit nicht zuletzt auch ber eine lebenspraktische Haltung gegenber Negativittsphnomenen wie Entzug, Krankheit, Scheitern, Tod etc. und im sozialen und ethischen Kontext ber eine Bestimmung von angemessen oder unangemessen bzw. richtig oder falsch. Das philosophisch oftmals sehr

    12 Darstellung wird einerseits in dem umfassenden Sinne gebraucht, wie der Ausdruck im Laufe des 18. Jahrhunderts poetologische Relevanz gewinnt (vgl. beispielsweise Klopstocks Verwen-dungsweise in Von der Darstellung. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken ber die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frank-furt/Main 1989, S. 166173), andererseits als relativer Gegenbegri zu Verweis. Darstellung zeichnet sich im Gegensatz zum Verweis dadurch aus, dass das Dargestellte in seiner Dar-stellung tatschlich auch da ist, whrend der Verweis von sich weg auf ein wirklich ande-res verweist.

    13 Diese Formulierung ist nicht ausgrenzend gemeint, sondern soll in ihrer relativen Unbestimmt-heit gerade die Grenze des Abendlndischen o en halten. Von einer anthropologischen Konstante wird hier bewusst nicht gesprochen. Stellt die Arbeit vorwiegend den Bezug der Hlderlinschen Schriften zur antiken Dichtung und Philosophie sowie zum zeitgenssischen Kontext heraus, so wurde neuerdings auch das Verhltnis Hlderlins zum jdischen Denken beleuchtet, vgl. Robert Charlier: Heros und Messias. Hlderlins messianische Mythogenese und das jdische Denken. Wrzburg 1999.

  • 5abstrakt-strukturell gefasste Verhltnis von Einheit und Di erenz wirkt somit eminent im konkreten Lebensvollzug des Einzelnen als auch in einer politi-schen, sozialen und kulturellen Gemeinschaft nach.

    Ist die Einheits- und Di erenzproblematik von Anfang an mit der Prob-lematik der Darstellung verbunden (vgl. das Verhltnis von Sein und logos bei Parmenides und Heraklit sowie das Verhltnis von Idee und Erscheinung, somit die mimesis-Problematik bei Platon), so wird dieser Komplex in Hl-derlins poetologischen Re exionen bestimmend, die sich konzentriert um 1800 nden. Doch bereits vorher sind Hlderlins Notizen, Schriften und Dichtun-gen entsprechend seinem Bildungskontext von dieser Th ematik mehr oder weniger ausdrcklich geprgt.14

    Die poetologischen Entwrfe um 1800 nun verfolgen so die weiterge-hende Th ese das Ziel, den Anspruch des poetischen Sprechens gegenber einem philosophischen nicht blo zu rechtfertigen, sondern ihn grundlegend zu erfragen und zu begrnden. Das Zentrum der Errterungen Hlderlins ist somit die Frage, ob, inwiefern und aufgrund welcher Voraussetzungen das poetische Sprechen in der Lage ist, das Hchste angemessener darzustellen bzw. angemessener auf es zu verweisen und darin Darstellung zugleich zu

    14 So ist die dichotomische Anlage der frhen Tbinger Hymnen ein fast unbestrittener Topos der Forschung, und auch die nicht-poetischen Entwrfe sind von dem Verhltnis von Einheit und Di erenz geprgt. So ndet sich im o ziellen theologischen Kontext, in der vermutlich ersten religisen Ansprache Hlderlins (MA, Bd. 3, S. 370), Prooemium habendum , sogar bereits die fr Hlderlin eminente sprachliche Bildung des Oxymoron Gottmensch (MA, Bd. 2, S. 10; FHA, Bd. 17, S. 39; StA, Bd. 4,1, S. 172).

    Des Weiteren sind die zentralen Th emen Hlderlins, in denen er sich von einem orthodox-christlichen Kontext lst, in der christlich-theologischen Problematik strukturell vorbereitet (vgl. das zentrale Verhltnis von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit und die verschiedenen Modi der Prsenz des Gttlichen, die noch in Brod und Wein, Friedensfeier, Der Einzige und vor allem Patmos, jeweils in den verschiedenen Fassungen, Th ema sind). Aus diesem Grund erscheint es auch nicht abwegig, Bezge zur mittelalterlichen Th eologie und Philosophie her-zustellen (vgl. Johann Kreuzer: Philosophische Hintergrnde der Christus-Hymne Der Ein-zige. In: HJb 32 [2000/01], S. 69104), abgesehen davon, dass die Nennung des Afrikaners in dem Schluss der zweiten Fassung von Der Einzige (vgl. MA, Bd. 1, S. 459; FHA, Bd. 8, S. 787; StA, Bd. 2,1, S. 159) auf Augustinus bezogen werden kann. In Prooemium habendum nden sich die Abstufungen und Modi der gttlichen Prsenz als unmittelbare O enbahrung und Erscheinungen (MA, Bd. 2, S. 9; FHA, Bd. 17, S. 37; StA, Bd. 4,1, S. 171; vgl. dazu auch den Predigtentwurf, MA, Bd. 2, S. 4345; FHA, Bd. 17, S. 125f.; StA, Bd. 4,1, S. 173175), als die Lehre durch Propheten (ebd.) sowie als das Entsenden des Sohnes als Gottmensch (MA, Bd. 2, S. 10; FHA, Bd. 17, S. 39; StA, Bd. 4,1, S. 172) und als zweyte Person der heiligen Dreyeinigkeit (MA, Bd. 2, S. 9; FHA, Bd. 17, S. 38; StA ebd.).

    Die Bezge der Tbinger Magisterarbeit Geschichte der schnen Knste zu der Ein-heits- und Di erenzthematik werden in Kapitel II.1.1 errtert. In dem Versuch einer Parallele zwischen Salomons Spruchbchern und Hesiods Werken und Tagen ndet sich das Verhltnis von Sto und Form (vgl. MA, Bd. 2, S. 30; FHA, Bd. 17, S. 73; StA, Bd. 4,1, S. 179), und die Auseinandersetzung Zu Jakobis Briefe ber die Lehre des Spinoza bezieht sich zwangslu g auf das Verhltnis von Einheit und Vielfalt, indem Hlderlin den Spinozismus Lessings als Hen kai pan fasst (vgl. MA, Bd. 2, S. 39; FHA, Bd. 17, S. 108; StA, Bd. 4,1, S. 207).

  • 6berschreiten als ein diskursives15 und speziell philosophisches Sprechen. In eins damit steht zur Debatte, was berhaupt ein Hchstes oder das Hchste sein knnte, ebenso Darstellung und Verweis.

    In Hlderlins Schriften zeichnet sich in dieser Hinsicht eine bedeutende Wende zwischen den Vorfassungen des Hyperion und der endgltigen Ver-sion ab, in der die Ideale, die in den Vorreden der frheren Fassungen noch eine zentrale Stellung einnehmen, dispensiert werden und einer spezi schen Au assung von Negativitt als Zentrum und Ursprung weichen (vgl. Kapitel I.4.9). Diese vernderte Konzeption kommt in dem zentralen poetologischen Fragment Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig explizit zum Aus-druck und hlt sich in der grundlegenden Storichtung bis in die Sophokles-Anmerkungen hinein durch.

    Doch zeichnet sich bereits in den Frhschriften die Tendenz zu einer zen-tralen Rolle der Di erenz bzw. Negativitt ab. So deutet die Weise, in der Hlderlin die Fichtesche Konzeption des Selbstbewusstseins in Seyn, Urtheil, Modalitt sowie in dem sachlichen Umfeld kritisiert, auf eine grundstzliche Aufwertung der Di erenz hin. Bleibt die Re exionsstruktur zwar grundstz-lich dieselbe (vgl. Kapitel I.4.2), so bildet die Au assung Hlderlins, nach der Selbstbewusstsein nur vermittels eines grundstzlich anderen als Objekt bzw. Nicht-Ich (und nicht vermittels einer bloen Abspaltung des Nicht-Ich vom absoluten Ich) zu begrnden ist, den Beginn einer radikaleren Fassung der Rolle der Di erenz. Diese tritt jedoch erst in der Endfassung des Hyperion sowie den spteren poetologischen Entwrfen in ihrer ganzen Tragweite hervor.

    Gerade in den Letzteren manifestieren sich die Umwertungen besonders deutlich. Denn fasst Hlderlin in Seyn, Urtheil, Modalitt die intellectuale Anschauung noch als Organ zur Erfassung einer Einheit des Seyns schlecht-hin, so erscheint sie (und mit ihr die zu erfassende Einheit) in Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig sowie in den Entwrfen zu den Tnen in deutlicher Relativierung ihres Anspruchs lediglich als eine von drei mgli-chen Begrndungen bzw. Grundtnen des Gedichts (vgl. Kapitel V).16

    15 Diskursiv bzw. philosophisch wird hier als relativer und nur in diesem Bezug ist die Kon-statierung mglich Gegensatz zum poetischen Sprechen verwendet. Die Sprachverwendung orientiert sich somit an dem behandelten Th ema harmonischer Entgegensetzung und Dar-stellung.

    16 Lawrence Ryan (Hlderlins Lehre vom Wechsel der Tne. Stuttgart 1960) sieht diese grund-stzliche Umwertung nicht und betrachtet die Konzeption des gttlichen Moments transzen-dentaler Emp ndung sowie das in dem Wechsel der Tne Darzustellende durchgngig und zum Teil unausdrcklich von Seyn, Urtheil, Modalitt her. Eine damit einhergehende ber-bewertung der intellectualen Anschauung in Bezug auf die spteren poetologischen Entwrfe ndet sich auch bei Jochen Schmidt (Hlderlin: Die idealistische Sublimation des naturhaf-ten Genies zum poetisch-philosophischen Geist. In: Friedrich Hlderlin. Neue Wege der For-schung. Hrsg. v. Th omas Roberg. Darmstadt 2003, S. 115139; in Bezug auf Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig vgl. S. 125f., auf Hyperion S. 127f., auf ber den Unterschied der Dichtarten S. 128).

  • 7Ebenso nimmt das Hchste und Darzustellende und darin besteht das Hauptanliegen der folgenden Ausfhrungen einen vernderten Charakter an, der mit der grundstzlichen Aufwertung der Negativitt bzw. Di erenz ein-hergeht. Denn wird dieses Hchste in den frheren Konzeptionen, in Seyn, Urtheil, Modalitt sowie in den Vorreden zu den Vorfassungen von Hyperion, noch als absolute Einheit des Seyns schlechthin bzw. als Ideal bestimmt, so scheint zwar die Storichtung von Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig einerseits ganz idealistisch auf die unendliche Durchdrin-gung von Ich und Welt bzw. (poetischem) Geist und Gttlichem zu gehen, andererseits zeigt sich in der Weise der Konzeption des Einheitsmomentes, des gttlichen Moments transzendentaler Emp ndung, jedoch ein Geschehen an, das in Hlderlins Schriften zwar nicht explizit so benannt wird, das jedoch als der Moment des Umschlags von Identitt in Di erenz und von Di erenz in Identitt gefasst werden muss.

    Dieses augenblickliche Geschehen kann als transzendentales nicht mehr in den Kategorien des bergangs beschrieben werden, wie das noch fr den Ent-wurf Das untergehende Vaterland mglich ist (wobei auch da ein Moment des bloen Umschlags bzw. der Anfnglichkeit angenommen werden muss), sondern dieser Augenblick des Umschlags verhlt sich zur Darstellung, die stets in zeitlicher Erstreckung erfolgt, radikal diskontinuierlich. Zugleich begrn-det und ermglicht dieser Umschlag von Identitt und Di erenz ineinander

    Diese bertragung hat insbesondere Auswirkungen auf das Verstndnis der Hlderlinschen Tragdienkonzeption, wie sie sich beispielsweise bei Jrgen Sring (Die Dialektik der Recht-fertigung. berlegungen zu Hlderlins Empedokles-Projekt. Frankfurt/Main 1973, vgl. z. B. S. 61) und Helmut Bachmaier (Th eoretische Aporie und tragische Negativitt. Zur Genesis der tragischen Re exion bei Hlderlin. In: Helmut Bachmaier, Th omas Horst, Peter Reisin-ger: Hlderlin. Transzendentale Re exion der Poesie. Stuttgart 1979, S. 83145, vgl. v. a. S. 133 und 136) ndet.

    Auf die Di erenz zwischen den Konzeptionen der intellektuellen Anschauung geht Th o-mas Horst (Wechsel und Sein. Die Ambivalenz des Absoluten in Hlderlins Poetik. In: Hel-mut Bachmaier, Th omas Horst, Peter Reisinger: Hlderlin. Transzendentale Re exion der Poe-sie. Stuttgart 1979, S. 146187) ein, jedoch lediglich, um sie als ambivalente zu begreifen (vgl. S. 178f.).

    Als schlielich suspendiert (S. 233) betrachtet Xavier Tilliette (Hlderlin und die intel-lektuale Anschauung. In: Philosophie und Poesie. Otto Pggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert. Stuttgart-Bad Cannstatt. Bd. 1 1988, S. 215234, vgl. v. a. S. 229 und 231) die intellectuale Anschauung. In dieselbe Richtung weist Winfried Menninghaus (Geist, Sein, Re exion und Leben: Hlderlins Darstellungstheorie. In: Friedrich Hlderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Th omas Roberg. Darmstadt 2003, S. 4966).

    Patrizia Hucke (Seyn schlechthin und . Zur Beziehung von Einheit und Di erenz in Jenaer Texten Friedrich Hlderlins. In: Erfahrungen der Negativitt. Fest-schrift fr Michael Th eunissen zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Markus Hattstein u. a. Hildesheim u. a. 1992, S. 95114) geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie die Struktur des Einen in sich selber unterschiednen auf die Problematik von Urteil und Sein rckbezieht (vgl. S. 102). Vgl. dazu auch Flix Duque: Es ereignet sich aber / Das Wahre. De la vrit transcenden-tale la vrit potique chez Hlderlin. In: La vrit. Antiquit Modernit. Publ. par Jean-Franois Aenishanslin. Lausanne 2004, S. 221245.

  • 8jedoch die Darstellung als die Wechselwirkung von Einheit und Di erenz in der Zeit, wobei dieses Verhltnis der Begrndung und Ermglichung selbst als diskontinuierliches und somit nicht im Sinne einer kausalen oder nalen Ableitung, sondern als in sich paradoxes und sprunghaftes, gefasst werden muss. So ist es jener Moment, der einerseits die Sprach ndung des Gedichts begrndet und auf den andererseits nicht als absolute Identitt, sondern viel-mehr als der besagte Umschlag, somit als die absolute Identitt und die absolute Di erenz von Identitt und Di erenz verwiesen werden muss.17

    Die eben erfolgte, diskursive Rede ber den gttlichen Moment transzen-dentaler Emp ndung ist nur in diesen Aporien als Verweis mglich, denn das Sagen des Augenblicks des Umschlags sagt ihn als Rede in zeitlicher Erstreckung und in der Di erenz von Einheit und Di erenz immer auch schon nicht. Noch deutlicher ist diese Unmglichkeit in dem zweiten hier angebrachten Verweis, denn weder kann die absolute Einheit noch die absolute Di erenz gesagt wer-den, und am wenigsten als Zusammengehendes, als zugleich absolute Einheit und absolute Di erenz von Identitt und Di erenz.18

    Die Grenzen diskursiven Sprechens zeigen sich hier deutlich an. Zugleich ist die Darstellung dieses Augenblicks die Aufgabe des poetischen Sprechens nach Hlderlin. Diese gegenber einer absoluten Einheit vernderte Au as-sung des gttlichen Moments transzendentaler Emp ndung, bei dem das Gttliche (entsprechend der Fichte-Kritik) zwar als grundstzlich Di erentes zum Menschen gefasst wird, jedoch nicht in dem Sinne eines Absoluten zum Relativen, sondern als in konstitutivem Wechselverhltnis sich be ndend, ent-spricht der gesamten Darstellungsproblematik und dem Verhltnis von Iden-titt und Di erenz in den zentralen poetologischen Schriften. In den auch immer wieder gebrochenen Verhltnissen ist im Ganzen die konstitutive Rolle der Negativitt im Sinne einer Wechselwirkung des einen und des anderen als auch vor allem die Unaufhebbarkeit der Di erenz bzw. Negativitt in der Einheit zu verzeichnen.

    Dabei ist in den Konzeptionen der Darstellungsstruktur, die mit Recht als Identitt (1) der Identitt (2) und der Di erenz angezeigt werden knnen,19

    17 Inwiefern diese paradoxe Formulierung lediglich Verweis sein kann und inwiefern absolut hier zugleich gerade nicht absolut bedeuten muss, wird im Verlauf der Abhandlung deut-lich.

    18 Einheit und Identitt werden hier synonym verwendet.19 Diese Darstellungsweise geht einerseits auf zeitgenssische Verwendungen zurck (vgl. der

    Sache nach bei Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegri e, 15 und 16 und Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794], 3 und als Bestimmung des Absoluten in eben dieser Ausdrucksweise in Bezug auf Fichte bei Hegel: Di erenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke 2: Jenaer Schriften [18011807]. Frankfurt 1970, S. 96), andererseits ist es die Darstellungs- bzw. Verweisform, die das dynamische Verhltnis (als Oxy-moron) gerade als in sich paradox gekehrte Bewegung der In- und Exklusion auf zwei Ebenen und damit dessen Selbstre exivitt und -perpetuation am deutlichsten anzeigt. Dieses Verhlt-

  • 9die erste Identitt nicht als das alles begrndende und ermglichende eine konzipiert, das die Di erenz sowie das Wechselverhltnis von Identitt (2) und Di erenz immer schon umfassen und aufheben wrde. Vielmehr erscheint die-ses eine als Re ex des Wechselverhltnisses der Entgegengesetzten oder aber als identisch mit diesem und ist somit lediglich im strukturellen, nicht aber im qualitativ bestimmten Sinne als Einheit zu fassen. Gegenber einer grob gesprochen vereinigungsphilosophischen Perspektive sind die Begrndungs-verhltnisse somit vertauscht. Anstatt des einen als dem Begrndenden und Umfassenden erscheint hier das Gegensatzverhltnis selbst als das strukturell eine, das nicht anders denn als die Dynamik wechselseitiger Konstitution zu denken ist.20

    Bildet das strukturelle Zusammen der Entgegengesetzten jedoch das Zugrundeliegende, so ist damit der Mglichkeit der Deduktion aus einem Prinzip eine Absage erteilt. Entsprechend operiert die Verfahrungsweise zwar mit transzendentalem Anspruch, wird diesem im Kantischen Sinne jedoch nicht gerecht. An die Stelle transzendentaler Deduktion muss in Korrespondenz zum gttlichen Moment der augenblickliche Ursprung als das pltzliche Zugleichsein und das gegenseitige Sich-Setzen des einen und des anderen treten, das als Geschehen kausallogisch nicht ableitbar ist. Dieses Verhltnis wird in den poetologischen Schriften als Entspringen, als Geburt und in den Dichtungen auch als Zeugen bezeichnet.21

    Geschieht in dem gttlichen Moment transzendentaler Emp ndung der Ursprung der Dichtung und vollzieht und stellt die Dichtung diesen Moment

    nis steigert sich als poetische Darstellung eigens, und aus diesem Grund wird die Struktur an einigen Stellen der Arbeit als Zusammenhang mehrerer solcher Verhltnisse ausgeschrie-ben (vgl. beispielsweise Kapitel V.11). Erscheint diese Darstellungsweise einerseits ungelenk und formalistisch, so ist sie doch andererseits die Weise, die gerade aufgrund ihres extremen Gegensatzes zu dem, worauf sie verweisen soll, nmlich auf die inkommensurable und nicht darstellbare Gesamtdynamik wechselseitiger Verhltnisse am genauesten und tre endsten auf dieses Nicht-Darstellbare als das extrem andere verweist. Gerade darin folgt diese Verweisart selbst der Dynamik der Einheit der Einheit und der Di erenz.

    20 Eine andere Au assung von Einheit zieht einen hheren Stellenwert der intellectualen Anschauung nach sich, vgl. die Angaben oben.

    Eine Abgrenzung zu Hegel hinsichtlich der Negativittsthematik zieht Dieter Henrich (Hegel im Kontext. Frankfurt/Main 1971), nach dem Hlderlin in der Homburger Zeit die Entfaltung der Gegenstze ber die Idee der Wiederholung der Einheit des Ursprungs gestellt (S. 31) habe. Ob der Bezug auf Einheit jedoch in diesem Sinne grndenden Charakter hat, bleibt fraglich: Auch im steten Bezug des Wechsels kann Hlderlin also die grndende Ein-heit nicht entbehren, wenn er auch den Weg in die Trennung als endgltig und die innige Ursprungseinheit als verloren, und zwar glcklich verloren anerkennt (S. 33). In einer jngeren Publikation (Hlderlins Philosophische Grundlehre. In der Begrndung, in der Forschung, im Gedicht. In: Anatomie der Subjektivitt. Bewutsein, Selbstbewutsein und Selbstgefhl. Hrsg. v. Th omas Grundmann u. a. Frankfurt/Main 2005, S. 300324) fasst er dieses Grund-verhltnis ausdrcklich in Bezug auf Erinnerung (vgl. v. a. S. 311f.).

    21 Vgl. beispielsweise Wie wenn am Feiertage , St. 6, V. 5 (MA, Bd. 1, S. 263; FHA, Bd. 8, S. 558; StA, Bd. 2,1, S. 119).

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    so dar, dass er in dieser, als anderer, erneut zu seinem Geschehen drngt, so zeigen sich die sthetisch relevanten Konzeptionen von Schnheit, Harmonie, Einheit, Ruhe, Gleichgewicht, Ma, Telos, Zu-sich-Kommen, Selbst etc. als jeweils relative und radikal geschichtliche, die nur von dem Streit der Gegenstze her gedacht werden knnen und die in eins damit gngige neuzeit-lichen Dichotomien, beispielsweise von Schnem und Erhabenem oder die Gegensatzkonstruktion von Klassik und Romantik,22 unterlaufen.

    Der Ansatz der Arbeit versteht sich als phnomenologisch, wobei damit gerade kein methodisches Bekenntnis, sondern der Versuch, sich in die Vor-aussetzungen der Sache zu stellen gemeint ist. Damit be ndet sich der Ansatz jedoch in einer Aporie, die bereits in Platons Dialog Menon als bohrende Frage formuliert ist, wie nach etwas gefragt werden knne, was gerade nicht bekannt sei. Kommt eine jede Auslegung ber das konstitutive Wechselverhltnis der eigenen Voraussetzungen mit der Sache nicht hinaus und ist damit genau die in sich widerstrebige23 Struktur angesprochen, um die die Arbeit kreist so folgt daraus, dass der Auslegende in erster Linie darauf verwiesen sein muss, sein Vorgehen auf bergeordneter Ebene zu re ektieren, um so vermittels der Wechselwirkungen seine eigenen Voraussetzungen von denen der Sache relativ abheben und so das eine wie das andere relativ fassen zu knnen.

    Aus diesem Grund teilt sich die Arbeit in drei groe Teile und deshalb ist in jedem Abschnitt ein Neuansatz und eine Durcharbeitung der Darstellungs-struktur aus vernderter Perspektive intendiert. Dabei stellt sich die Auslegung einerseits in die Voraussetzungen der Texte, um diese andererseits von innen

    22 Vgl. dazu auch unter kulturhistorischer Perspektive Alexander Honold: Hlderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005, v. a. S. 169 und 294, und Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im spten 18. Jahrhundert. Mnchen 2002, v. a. S. 348.

    23 Die neologistisch anmutende Ausdrucksweise leitet sich von bersetzungen von palintropos bzw. palintonos harmonia (Transkriptionen aus dem Griechischen erscheinen ohne Akzente) in Heraklits Fragment B 51 ab, das die Fgung des Bogens und der Leier (vgl. auch Kapitel II) beschreibt. So bersetzt Bruno Snell: Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich bereinstimmt: des Wider-Spnnstigen Fgung wie bei Bogen und Leier (Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe. Darmstadt 1995, S. 19). Her-mann Diels bersetzt palintropos harmonia mit gegenstrebige Vereinigung (Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Hrsg. v. Walther Kranz. 12., unvernderter Nachdruck der 6. verbesserten Au age. Zrich u. a., Bd. 1 1985, S. 162), Uvo Hlscher mit gegengespannte Fgung (Anfngliches Fragen. Studien zur frhen griechischen Philosophie. Gttingen 1968, S. 144) und Th omas Buchheim mit gegenwendige Fgung (Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Portrt. Mnchen 1994, S. 80). Die Textvariante palin-tonos statt palintropos bersetzt Buchheim mit rckgespannt (vgl. ebd., S. 82) und fasst das Verhltnis umschreibend auch als auseinanderstrebende[s] Zusammenstehen[] (ebd.), als Gegenstrebigkeit (ebd., S. 81) sowie Gegenwirksamkeit (ebd.). Die Gegenstze in die-ser Fgung bezeichnet er als kehrseitig Gegenwirksames (S. 99). Im Zusammenhang eines anderen Fragmentes geht Buchheim auf dieselbe Struktur ein, indem er sie als das gegenstre-bige[] Verhltnis[] (ebd.), den zusammenhaltenden Streit der Kehrseitigen und das Zusammenhaltende der aneinander sich Kehrenden (ebd.) bezeichnet.

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    her zu berschreiten. Diese berschreitung ist jedoch nicht im Sinne einer Transzendierung oder eines angemesseneren Verstndnisses des Autors aufzu-fassen, vielmehr wird sie Teil des Wechselgeschehens von Einheit und Di erenz im Lesen des Textes bleiben mssen. Denn nur dieses Geschehen kann sich in sich selbst auf verschiedenen Ebenen reproduzieren und sich somit einholen, das heit, die zunchst unentfaltete Wechselwirkung von Einheit und Di erenz des Lesens und des Textes relativ und unabschliebar auseinanderlegen und so das eigene Lesen und das Geschriebene voneinander di erenzieren.

    In eins damit wird es gewissermaen als Negativ zu dem beschriebenen Geschehen allererst mglich, das Augenmerk auf die Di erenzen innerhalb der Texte zu legen. Nur in diesem Wechselprozess von Einheit und Di erenz, so knnen die berlegungen zusammengefasst werden, ist es mglich, die Grenzen des eigenen Lesens und die des Gelesenen relativ zu unterscheiden, und nur so kann mit dem Text gegen ihn ber ihn hinaus und zu ihm zurck gegangen werden, was genau der Struktur der Darstellung24 entspricht, um die die Arbeit kreist und worin sich ihre methodische Forderung einlst.

    Entsprechend diesem Ansatz nhert sich die Arbeit in dem ersten Teil A der Grundstruktur der Darstellung an, indem sie von einer strukturellen Ana-lyse25 des 30. und des 60. Briefes (d. h. des letzten Briefes des ersten Bandes und des letzten Briefes des Romans) sowie des Gesamtromans Hyperion oder der Eremit in Griechenland in der endgltigen Fassung ausgeht. Darauf folgt die Herausarbeitung intertextueller Bezge auf Platon und Sophokles, in der eine nicht-traditionelle Lesart Platons26 impliziert ist. Diese Perspektive wird im folgenden Kapitel in Bezug auf Heraklit fortgesetzt, jedoch ohne einen historischen Ein uss nachweisen zu wollen. Vielmehr werden Strukturanalo-gien aufgezeigt und die Vernderung der Negativittskonzeption anhand der verschiedenen Fassungen der Diotima-Gedichte aufgewiesen. Der zweite Teil des Kapitels arbeitet die strukturellen Verhltnisse von Darstellung an den zentralen Phnomenen des Bogens und der Leier heraus.

    Der erste Hauptteil A schliet mit Analogien zwischen Hyperion und poe-tologischen Schriften Hlderlins ab, wobei vor allem die aufgewiesenen Bezge zu den Sophokles-Anmerkungen einen programmatischen Status einnehmen insofern, als sie diese spteren Schriften mit Hyperion in Verbindung brin-

    24 Darstellung wird in der Arbeit entsprechend der Strukturverhltnisse bei Hlderlin auch als Einholung, Re exion und Erinnerung gefasst. Smtliche in der Arbeit verwendeten Bezeichnungen sind Darstellungsverhltnisse in dem Sinne der herauszuarbeitenden Relation von Einheit/Identitt und Di erenz/Negativitt.

    25 Die jeweiligen Abweichungen von der Forschung werden in den Kapiteln diskutiert und kn-nen hier nicht im Einzelnen genannt werden.

    26 Auch die in der Arbeit immer wieder angegebenen Parallelen zu Platons Konzeptionen ori-entieren sich an einer nicht-traditionellen Lesart Platons. Die Verweise dienen in erster Linie dazu, Hlderlins Ausfhrungen in der Auslegung historisch zu beziehen und somit nicht als blo singulre oder moderne erscheinen zu lassen.

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    gen ein Bezug, der in der Forschung aufgrund einer starken Unterscheidung zwischen einem frheren und mittleren idealistischen und einem spteren anti-idealistischen Hlderlin oftmals geleugnet wird.27 Im Ganzen dient dieser Teil bereits der Anzeige der ausgezeichneten Bedeutung der Darstellungsstruk-tur fr das Tragische.

    Nach diesem annhernden Durchgang folgt der zweite, zentrale Teil der Arbeit mit einer ausfhrlichen Analyse des poetologischen Entwurfs Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig , der in der Hlderlinschen Konzeption poetischer Darstellung eine Scharnierstellung einnimmt. In diesem Teil wird die Grundthese der Arbeit herausgearbeitet und begrndet.

    Er nen sich in diesem Mittelteil aus dem genauen Nachvollzug des Textes heraus die greren philosophisch-poetologischen Zge, so wendet sich der dritte Teil C dem Kleingedruckten der Hlderlinschen Poetologie zu, den speziellen Errterungen zu den Tnen. Dazu nimmt die Arbeit eine vernderte und zunchst nochmals basale Perspektive auf Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig ein und begrndet die Tne-Th eorie aus diesem Entwurf heraus. Die weiteren Ausfhrungen beziehen sich auf krzere poetologische Skizzen und Fragmente zu den Tnen, die Durcharbeitungen mglicher poe-tischer Darstellungsweisen des gttlichen Moments im Kontext der Einheits- und Di erenzproblematik sind und somit fr die Hlderlinsche Poetologie wie fr den Zusammenhang und die Di erenzierung der Gattungen einen zentralen Status beanspruchen.28

    Diese Ausfhrungen sind mit grundstzlichen Folgerungen, vor allem in Kapitel V.5 und V.6 durchsetzt. Der Abschnitt V.11 schlielich bezieht die Dynamik von Einheit und Di erenz auf das Verhltnis von Darstellung und Vollzug im Gedicht und arbeitet daran Wegmarken fr eine grundstzliche Betrachtung der Di erenz von diskursivem, speziell philosophischem, und poe-tischem Sprechen heraus.

    Diese nden ihre Fortsetzung und Einlsung in den abschlieenden Analy-sen der exemplarischen Gedichte Wie wenn am Feiertage und Hlfte des Lebens, so dass der Zielpunkt der Hlderlinschen Durcharbeitungen durch die poetische Darstellungsthematik an den Gedichten selbst eingeholt wird. Bewusst beginnt und endet die Arbeit mit der Analyse von Dichtungen. Die Auswahl der abschlieenden Gedichte begrndet sich mit deren konstitutiver

    27 Selbst Ausrichtungen, die den zentralen Status der Sophokles-Anmerkungen hervorheben (vgl. die oben skizzierte franzsische Rezeption) scheuen sich mitunter, diese Bezge herzustellen. Rainer Ngele sieht demgegenber einen durchgngigen Kantbezug sowohl in den poetischen wie den poetologischen und philosophischen Schriften Hlderlins (vgl. Hlderlins Kritik der poetischen Vernunft. Basel u. a. 2005, z. B. S. 6).

    28 Trotzdem werden sie in der Forschung oft nur rudimentr oder ober chlich behandelt. Eine Ausnahme bildet die grundlegende Arbeit von Lawrence Ryan (Hlderlins Lehre vom Wech-sel der Tne. Stuttgart 1960), mit der sich die entsprechenden Kapitel (vgl. Kapitel V) auch zentral auseinandersetzen und eine teilweise abweichende Deutung formulieren.

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    Zwischenstellung, indem sie einerseits in den zeitlich-sachlichen Rahmen der zentralen poetologischen Errterungen gehren, andererseits jedoch in spezi -scher Weise ber diesen hinausweisen. Das ist bei Wie wenn am Feiertage auch als Fragment als erster Ansatz der Gesnge, bei Hlfte des Lebens aufgrund der spteren Entstehung im handschriftlichen Kontext des Abbruchs der Feiertagshymne der Fall. Eine Analyse des Verhltnisses von griechi-scher und hesperischer Dichtung sowie eine eingehendere Untersuchung der Sophokles-Anmerkungen kann und soll hier nicht geleistet werden.29 In dem Kapitel Ausblick und Schluss nden sich jedoch Hinweise zu einer Fortfh-rung der Darstellungsstruktur in der spteren Dichtung.

    Die Arbeit verfhrt entsprechend ihrem phnomenologischen Ansatz weit-gehend immanent,30 doch zeigt sich die Hlderlinsche Poetik darin zugleich als Konzeption, die in Beziehung zu wesentlichen Problemstellungen jngerer Th eorien, und zwar sowohl in poetologischer als auch kulturwissenschaftlicher Perspektive, steht. Die o ensichtlichsten Bezge stellen hierbei der dynamische Text- und Sprachbegri , das Verhltnis von Auto- und Heteroreferentialitt sowie das Konzept von Selbstre exivitt dar. Doch impliziert die genaue Fas-sung der Struktur und Dynamik von Darstellung gerade auch in Hinsicht auf deren Grenzen sowie die relative Di erenz von diskursivem und poeti-schem Sprechen auch Positionen in Bezug auf Pragmatisierung, Perfor-manz, Wirklichkeit, Konstruktion, Reprsentation, Alteritt, Zeichen und Medialitt. Diese Bezge werden in der Arbeit zwar nicht eigens expli-ziert, doch kann Hlderlins Poetik gerade auch fr diese Problemstellungen nicht nur aufschlussreich sein, sondern auch produktiv gemacht werden. Eine eingehende historische und kulturgeschichtliche Verortung der Hlderlinschen Position ist nicht intendiert, wenngleich im Verlauf der Arbeit immer wieder Bezge und Konstellationen aufgezeigt werden.

    29 Zur Verbindung beider vgl. etwa Anke Bennholdt-Th omsen: Wir mssen die Mythe beweisbarer darstellen. Hlderlins moderne Rezeption der Antigone. In: Mythenkorrektu-ren. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hrsg. v. Martin Vhler u. a. Berlin u. a. 2005, S. 181199.

    30 Zum weiteren Kontext der Th ematik vgl. auch den Band Darstellbarkeit. Zu einem sthetisch-philosophischen Problem um 1800. Hrsg. v. Claudia Albes u. a. Frey. Wrzburg 2003.

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    A. Annherung an die Grundstruktur der Darstellung

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    I. Herausarbeitung der Grundstruktur an Hyperion oder der Eremit in Griechenland

    1. Zu Hyperion im Kontext der neueren Narratologie (Genette)

    Genettes Th eorie der Erzhlung1 gilt heute immer noch und nicht blo wegen der verspteten deutschen bersetzung als theoretisch anspruchvollste, aus-gewogenste und kohrenteste, zugleich aber auch [] hochgradig praktikable Th eorie der literarischen Erzhlung.2 Der letzte Punkt hat nicht zuletzt darin seine Ursache, dass die allgemein narratologischen Beobachtungen in Diskurs der Erzhlung ihren Ausgangs- und Endpunkt in der Analyse von Prousts A la recherche du temps perdu haben, somit am Text gewonnen werden und zu ihm zurckfhren sollen. Diese uerst berzeugende Herangehensweise, die nicht vom Allgemeinen zum Besonderen schreiten [soll], sondern gerade vom Besonderen zum Allgemeinen,3 bleibt somit im besten Sinne in dem Paradox jede[r] Poetik, ja berhaupt jede[r] Erkenntnisttigkeit4 befangen, wonach es Gegenstnde nur als singulre gibt, Wissenschaft aber nur vom Allgemeinen.5 Poetischer, jedoch zugleich genauer ausgedrckt, bedeutet dies, dass das All-gemeine im Herzen des Singulren wohnt und folglich entgegen dem bli-chen Vorurteil das Erkennbare im Herzen des Mysteriums.6

    Genette ist sich somit darber bewusst, dass die von ihm vorgeschlagenen Kategorien heuristisch sind und sich an dem jeweiligen Text bewahrheiten bzw. an diesem abgewandelt werden mssen. Zugleich knnen derartige Ein-teilungen gerade in den (statischen) Grenzziehungen, die sie bedeuten, ber sich hinaus auf anderes verweisen, das dann als das Jeweilige, d. h. lediglich im Ausgang von diesen Kategorien beschrieben werden muss. Sowohl dieser Ansatzpunkt einer Relativierung in Bezug auf einen Text als auch die Wahl der Recherche als Genettes Leittext machen in allen bereinstimmungen und Di erenzen den Ansatz fr Hyperion geeignet.

    Ein weiteres positives Argument fr den Bezug dieser Th eorie auf den Hyperion besteht in Genettes triadischer Unterteilung nicht nur in Erzh-

    1 Zum Verstndnis von Th eorie vgl. Genettes Vorwort in Diskurs der Erzhlung (Grard Genette: Die Erzhlung. 2. Au age Mnchen 1998, S. 1113).

    2 Jochen Vogt in seinem Nachwort von 1994 (vgl. ebd., S. 300).3 Grard Genette: Die Erzhlung. 2. Au age Mnchen 1998, S. 12.4 Ebd.5 Ebd.6 Ebd.

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    lung als Diskurs und Erzhlung als Geschichte,7 sondern in Erzhlung (rcit), Geschichte (histoire) und Narration (narration),8 und zwar unter Betonung der wechselseitigen Konstitution,9 die unausdrcklich an einem Pierceschen triadischen Zeichenmodell orientiert zu sein scheint. Dabei wird unter Erzhlung/rcit der Signi kant, die Aussage (nonc), der narra-tive Text oder Diskurs,10 somit der Erzhltext als solcher, aufgefasst, unter Geschichte/histoire die erzhlte Geschichte, das Signi kat, der narrative Inhalt11 und unter Narration/narration der produzierende narrative Akt bzw. die reale oder ktive Situation, in der er erfolgt.12 Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als mit der Narration die Stimme mit einbezogen wird und die jeweilige Erzhlinstanz nicht blo auf der Ebene des discours ange-siedelt sein kann, sondern gerade wie bei Hyperion der Fall als Teil des Diskurses sich mit diesem in konstitutiver Wechselwirkung be ndet.

    Hyperion realisiert die paradox in sich verschrnkte, dynamische Wechsel- und Konstitutionsstruktur von Verschiedenen, die in dem Einen in sich selber unterschiednen als auch in dem Motto des Romans, Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est,13 angegeben ist, auf allen Ebenen und in allen Hinsichten der Erzhlung. Diese Dynamik ist eine, die sich in sich immer schon berschreitet, aber darin zugleich in sich bleibt. Genau dies ist v. a. in Bezug auf mit Genette die Stimme bzw. die Ebenen der Erzhlung sowie hinsichtlich der Zeitstruktur gegeben. Inwiefern darin auch eine berschreitung der Grenzen von Erzhlung, Geschichte und Narration statt ndet, wird sich ausgehend von dem Versuch der Anwendung der einzelnen Kategorien in Bezug auf Stimme und Zeit zeigen.

    Au lligerweise lassen sich smtliche Probleme dynamisch-paradoxer Wech-selwirkungen auf die Zeitstruktur des Romans zurckfhren. Denn diese teilt sich nicht nur in erzhlte Zeit und Erzhlzeit, sondern die erzhlte Zeit ist in sich nochmals di erenziert und in der Erzhlung gedoppelt: in die Zeit, die Hyperion vor dem Briefeschreiben durchlebt (die intradiegetische, erzhlte Zeit) und die Zeit, in der die Erzhler gur Hyperion nicht blo die Briefe schreibt, sondern in der er als Eremit lebt. Erzhlt der Roman zwar hauptschlich von den Erlebnissen Hyperions in dem erstgenannten Zeitraum, so befasst er sich explizit jedoch auch mit den (v. a. inneren) Geschehnissen zur Zeit des Eremitenlebens. In dieser Hinsicht wre das Verhltnis zwischen

    7 Vgl. discours und histoire bei Tzvetan Todorov: Les catgories du rcit littraire. In: Com-munications 8 (1966), S. 125151.

    8 Vgl. Grard Genette: Die Erzhlung. 2. Au . Mnchen 1998, S. 16. 9 Vgl. ebd., S. 17.10 Vgl. ebd., S. 16.11 Vgl. ebd.12 Vgl. ebd.13 MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4.

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    Erzhltem und Erzhlen ein eingeschobenes, whrend die Schilderung der Ereignisse vor dem Beginn des Schreibens der Briefe durchgehend als spteres Erzhlen zu bezeichnen wre. Die beiden Ebenen erzhlter Zeit sind textwelt-lich chronologisch miteinander verbunden und bilden entsprechend der inver-siven Erzhlstruktur14 in der Erzhlung stets zwei Ebenen erzhlter Zeit.

    Wie Lawrence Ryan jedoch gezeigt hat15 und dafr spricht auch der Untertitel des Romans stehen insgesamt nicht die vergangenen oder die zu dem Schreiben der Briefe fast gleichzeitigen Erlebnisse im Mittelpunkt des Romans, sondern vielmehr der Akt des Erzhlens selbst sowie dessen E ekt auf den Erzhlenden, d. h. auf Hyperion, der als Eremit in Griechenland die Briefe an Bellarmin schreibt. Die Unterteilung in ein erzhlendes und erzhltes Ich16 sowie in Geschichte und Narration ist somit nur bedingt mglich und im Falle des Hyperion noch problematischer als bei sonstigen autodiegetischen Erzhlungen in dissonanter Form. Denn mit der berschrei-tung und dem Unterlaufen der Di erenzierung in Geschichte und Narration geht auch die Unmglichkeit einer immer statischen Zuordnung zu den Ebenen der Stimme einher. So kann der erzhlende, die Briefe schreibende Hyperion nicht als extradiegetisch bezeichnet werden, gerade weil seine Ver-nderung im Erzhlen/Schreiben in Wechselwirkung mit dem Erzhlten das eigentliche Zentrum der Erzhlung bildet. Ist die narrative Instanz einer ersten Erzhlung nach Genette per de nitionem extradiegetisch17 und ist die Diegese nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt18 und somit der extradiegetische Erzhler ein Narrator, der als Erzhler! nie in einer Diegese auftritt, sondern, mag er auch ktiv sein, unmittelbar dem (realen) extradiegetischen Publikum gleichgestellt ist,19 so kann der Erzhler Hyperion nicht als solcher bezeichnet werden, denn er ist gerade als Erzhler Hauptgegenstand der Diegese, obwohl er die narrative Instanz einer ersten Erzhlung bildet.

    Zudem ist bei einer solchen Konstellation nicht deutlich, ob die Re exionen des erzhlenden Hyperion auf die E ekte seines Schreibens auf ihn selbst auch als Geschichte bzw. als Erzhlung von Ereignissen gelten sollen oder nicht. Im Sinne der Genettschen Minimalerzhlung knnte das der Fall sein, denn demnach liegt, sobald es auch nur eine einzige Handlung oder ein einziges Ereignis gibt, eine Geschichte vor, denn damit gibt es bereits eine Vernderung,

    14 Vgl. Michael Knaupp: Friedrich Hlderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 76.15 Vgl. Hlderlins Hyperion. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, sowie Hl-

    derlins Hyperion: Ein romantischer Roman?. In: ber Hlderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175212.

    16 Zur Ich-Struktur und zur Konstitution des Selbstbewusstseins vgl. auch Kapitel I.4.2.17 Grard Genette: Die Erzhlung. 2. Au . Mnchen 1998, S. 163.18 Neuer Diskurs der Erzhlung, ebd., S. 201.19 Ebd., S. 249.

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    einen bergang vom Vorher zum Nachher.20 Wrden Genettes Kategorien dahingehend spezi ziert, dass die Geschichte gleichbedeutend mit dem expli-zit Erzhlten wre und die Diegese auch das implizite Geschehen umfassen wrde, so wren beide in sich mehrfach unterteilt, und vor allem knnte in den Briefen, die mit Ausnahme der Paratexte den Roman bilden, kein narra-tiver Standpunkt jenseits der Diegese ausgemacht werden. Vielmehr wre der Erzhlakt als solcher, die Narration, deren Hauptgegenstand.

    Die weitere Mglichkeit, einen Erzhler erster Ordnung als extradiegeti-schen auszumachen, besteht in dem Einbezug der Paratexte (und nicht umsonst beschftigt sich Genette mit diesen eigens), so dass das Ich der Vorrede mit dem extradiegetischen Erzhler, das explizit genannte Publikum mit dem extradiegetischen Adressaten und der erzhlende, schreibende Hyperion mit dem intradiegetischen Erzhler zu identi zieren wre. Bezieht sich die Vor-rede aber auf reale Geschehnisse, v. a. auf den realen zeitlichen Abstand des Erscheinens der beiden Bnde des Hyperion (Ich bedaure, da fr jetzt die Beurteilung des Plans noch nicht jedem mglich ist. Aber der zweite Band soll so schnell, wie mglich, folgen, reale Erscheinungsdaten: 1. Band: 1797, 2. Band: 1799), so wird die Grenze zwischen realem Autor und ktivem Erzh-ler eingerissen.

    Zudem knnen diesem extradiegetischen Erzhler zunchst nur smtliche Paratexte zugeschrieben werden, zugleich gibt er sich in der Vorrede jedoch als Autor des Briefromans zu erkennen:

    Der Schauplaz, wo sich das Folgende zutrug, ist nicht neu, und ich gestehe, da ich einmal kindisch genug war, in dieser Rksicht eine Vernderung mit dem Buche zu versuchen, aber ich berzeugte mich, da er der einzig Angemessene fr Hyper-ions elegischen Charakter wre, und schmte mich, da mich das wahrscheinliche Urtheil des Publikums so bertrieben geschmeidig gemacht.21

    Darin werden die darauf folgenden Briefe als ktiv gekennzeichnet, zugleich ndet sich in der Weise der Ineinandersta elung und Verbindung der Erzhl- und Zeitebenen jedoch der Hinweis darauf, dass die Figur Hyperion nicht blo zugleich der die Briefe schreibende, erzhlende Hyperion ist, sondern zum Autor des gesamten Briefromans wird. In dieser Konstellation berkreuzen sich somit sowohl intra- und extradiegetisches Erzhlen als auch Fiktives und Reales, so dass auch die Paratexte nicht als rein extradiegetisch gelten kn-nen. Es gibt, so die strukturellen Implikationen der Erzhlung, keine Instanz jenseits der erzhlten Welt, der Diegese und blo den relativen, harmoni-schen Gegensatz zwischen Poetisch-Fiktivem und Realem. Dem entspricht genau die Storichtung der Hlderlinschen Poetik mit ihrer Spannung des Poetischen zwischen Auto- und Heteroreferentialitt (vgl. Kapitel IV.4.2).

    20 Ebd., S. 202.21 MA, Bd. 1, S. 611; FHA, Bd. 11, S. 579; StA, Bd. 3, S. 5.

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    In Bezug auf das Ineinander der verschiedenen Ebenen in Hyperion kann mit Genette jedoch nur unter Einschrnkung von einer Metalepse gesprochen werden, da die Grenze zwischen den Erzhlebenen an keiner Stelle eigens ber-schritten wird. Denn lsst sich der erzhlende, die Briefe schreibende Hyper-ion nicht als extradiegetisch bezeichnen, so kann auch das Eindringen des extradiegetischen Erzhlers [] ins diegetische Universum,22 so die leitende Bestimmung der Metalepse, nicht statt nden, da diese Trennungen im Hyper-ion immer auch schon aufgehoben sind. Will man den Ausdruck dennoch zur Anwendung bringen, so msste man von einer grundstzlich metaleptischen Anlage des Romans sprechen insofern, als dessen narrative Struktur von Grund auf die Verschrnkungen der Ebenen realisiere.

    So wird das dynamische und in sich di erenzierte Ineinander auch aus-schlielich in dem Durchdringen und Fortdenken der in dem Roman inhren-ten Re exions- und Darstellungsstruktur durch den Leser deutlich. Angemesse-ner fr Hyperion wre Genettes lediglich hypothetisch formulierte Folgerung, wonach das

    Verwirrendste an der Metalepse [] sicherlich in dieser [] Hypothese [liegt], wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzhler und seine narrativen Adressaten, d. h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgen-deiner Erzhlung gehren.23

    Dadurch werden jedoch die von Genette zuvor eingefhrten Kategorien der Narrativen Ebenen kaum mehr anwendbar. hnliches gilt fr die Errterung des eingeschobenen Erzhlens, bei dem ein hnlicher E ekt auszumachen ist, den Genette aber ebenfalls nicht konsequent ausarbeitet.

    berall, wo es somit nach Genettes eigenen Angaben zu einem Rei-bungse ekt zwischen Erzhlen und Erzhltem kommt,24 und das ist der eigentliche Gegenstand, die Aussage (nonc), des Hyperion, greifen die entworfenen und auch von Genette als heuristisch apostrophierten Erzhlkate-gorien nur als zugleich berwundene und unterlaufene. Gerade die Unmg-lichkeit eindeutiger Zuordnungen, deren permanente berschreitung sowie das dynamisch-paradox verschlungene Ineinander der Ebenen verweisen auf die Verfasstheit des Romans gem des Einen in sich selber unterschiednen im Sinne des Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est.25

    Im Folgenden soll dieser paradoxen, in sich gekehrten und dynamischen Struktur des Einen in sich selber unterschiedenen, der harmonischen Entge-gensetzung, der widerstrebigen Fgung, die in sich immer zugleich ein Sich-berschreiten und gerade darin ein In-sich-Bleiben und Zu-sich-Kommen

    22 Diskurs der Erzhlung, S. 168.23 Ebd., S. 169.24 Vgl. ebd., S. 155.25 MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4.

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    bedeutet, an dem Roman Hyperion nachgegangen werden. Diese Dynamik zeigt sich in Hlderlins Roman jedoch nicht nur als Verfasstheit von Erzhl-texten, sondern als Grundstruktur jeden Sprechens, und gesteigert und in diesem deshalb eigens hervortretend des poetischen Sprechens. Diese paradox-dynamische Struktur ist die Dynamik von Sprechen und von Darstellung im umfassenden sowie das Verhltnis von Darstellung und Vollzug im engeren Sinne. Sie ist wie die Verfasstheit von poetischen bzw. narrativen Texten, gerade auch hinsichtlich der neueren Narratologie nichts als das Verhltnis der Identitt der Identitt und der Di erenz.

    2. Exzentrizitt des Zentralen: Zur Verortung der Athenerrede

    2.1 Die Orte der Athenerrede

    Die einzige Stelle in Hlderlins Texten, an der explizit auf Heraklits hen dia-pheron heauto26 Bezug genommen wird, ist die Athenerrede Hyperions.27 Dieser kommt sowohl hinsichtlich der Entwicklung der Figur Hyperion28 als auch in Bezug auf ihre strukturelle Stellung im Roman eine zentrale Bedeutung zu. Beruft Diotima bei dem darauf folgenden Besuch in Athen Hyperion zum Erzieher unsers Volks29 und bestimmt diese Berufung Hyperions weiteren Weg mageblich, so bildet die Athenerrede im 30. von insgesamt 60 Briefen strukturell-arithmetisch jedoch nicht die Mitte30 des Romans, sondern lediglich das Ende des ersten Bandes, somit der ersten Hlfte. Eine analoge Stellung nimmt die Athenerrede innerhalb des 30. Briefes als letzter Teil seiner ersten Hlfte ein. In beiden Zusammenhngen bildet das zentral Scheinende nicht die Mitte, sondern grenzt lediglich an sie an. Die Zentralitt stellt sich somit jeweils als exzentrische dar.31

    26 Transkriptionen aus dem Griechischen erscheinen ohne Akzente.27 Im 30. Brief des Gesamtromans bzw. im letzten Brief des ersten Bandes des Romans.28 Figur ist hier angesichts der berschreitung der Erzhlebenen (vgl. voriges Kapitel) nicht im

    Sinne einer blo intradiegetischen Instanz, sondern vielmehr als Person aufgefasst, die zum Erzhler und letztlich zum Autor wird.

    29 MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 691; StA, Bd. 3, S. 89.30 Dies ist auch noch bei dem erzhlenden Hyperion der Fall, und zwar als unmittelbare Hin-

    leitung zur Athenerrede: Schon lange war unter Diotimas Ein u mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fhlt ich es dreifach rein, und die zerstreuten schwrmenden Krfte waren all in Eine goldne Mitte versammelt (MA, Bd. 1, S. 681; FHA, Bd. 11, S. 675 [] Diotimas []; StA, Bd. 3, S. 77 [] Diotimas []).

    31 Auf den Begri der exzentrische[n] Bahn, der sich sowohl in der Vorrede zum Fragment von Hyperion (vgl. MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163) als auch in der Einleitung zur vorletzten Fassung (vgl. MA, Bd. 1, S. 557559, hier S. 558; FHA, Bd. 10, S. 276f., hier S. 276; StA, Bd. 3, S. 235237, hier S. 236), jedoch nicht in der Vorrede zur endgltigen Fassung ndet, geht das Kapitel I.4.9 ein. Als ausfhrlichere Errterungen, auch unter Ein-bezug kosmologisch-astronomischer Implikationen vgl. Alexander Honold: Krumme Linie,

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    Dieser strukturellen Stellung der Athenerrede innerhalb des Athenerbriefs sowie dieses Briefs im Gesamtzusammenhang des Romans entsprechen auf der Ebene der Textwelt die raum-zeitlichen Verortungen, in denen Hyperion sei-nen Monolog ber die antiken Athener spricht.32 So ndet die Athenerrede nicht unter dem Eindruck des zeitgenssischen Athen statt, sondern whrend der berfahrt von Kalaurea nach Athen. In beiden Hinsichten, zeitlich wie rumlich, be ndet sich die Athenerrede somit in einem Zwischen, und sie konstituiert sich lediglich in diesem, denn mit der Ankunft endet auch die Rede: So weit war ich, als wir landeten an der Kste von Attika. Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als da wir htten viel in der Ordnung sprechen mgen.33

    Findet der Monolog rumlich zwischen Kalaurea und Attika statt, so dif-ferenziert sich dieses Zwischen darber hinaus in den Gegensatz von Land und Meer, und dieser ist in dem Ausgangs- und Zielpunkt in sich nochmals di erenziert,34 denn sowohl die Insel Kalaurea als auch die Halbinsel Attika

    exzentrische Bahn: Hlderlin und die Astronomie. In: Erschriebene Natur: Internationale Per-spektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Michael Sche el. Bern u. a. 2001, S. 309333; Justus Fetscher: Korrespondenzen der Sonne. Kosmologische Strukturen in Hlderlins Hyper-ion. In: Athenum. Jahrbuch fr Romantik 10 (2000), S. 77107; Alexander Honold: Hype-rions Raum. Zur Topographie des Exzentrischen. In: Hyperion terra incognita. Expedi-tionen in Hlderlins Roman. Hrsg. v. Hansjrg Bay. Opladen 1998, S. 3965, v. a. S. 4552; unter Einbezug Rousseaus vgl. Jrgen Link: Spiralen der inventiven Rckkehr zur Natur. ber den Anteil Rousseaus an der Tiefenstruktur des Hyperion. In: Hyperion terra inco-gnita. Expeditionen in Hlderlins Roman. Hrsg. v. Hansjrg Bay. Opladen 1998, S. 94115, v. a. S. 112114; Michael Franz: Hlderlins Platonismus. Das Weltbild der exzentrischen Bahn in den Hyperion-Vorreden. In: Allgemeine Zeitschrift fr Philosophie 22/2 (1997), S. 167187; Margarethe Wegenast: Hlderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung fr die Konzeption des Hyperion. Tbingen 1990, S. 96106; Jrgen Link: Asymmetrie und Exzentrizitt bei Hlderlin. In: kultuRRevolution 6 (1984), S. 5658; Michael Franz: Das System und seine Entropie. Welt als philosophisches und theologisches Problem in den Schriften Friedrich Hl-derlins. Diss. Saarbrcken 1982, S. 143151; Ulrich Gaier: Hlderlins Hyperion: Compendium, Roman, Rede. In: HJb 21 (1978/79), S. 88143, v. a. S. 109f.; Friedrich Strack: sthetik und Freiheit. Hlderlins Idee von Schnheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frhzeit. Tbin-gen 1976, S. 188f.; Wolfgang Schadewaldt: Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hlderlin. In: HJb 5 (1952), S. 116.

    32 Hyperions Monolog wird als Sprechen dargestellt, das weniger in dem Subjekt Hyperion als vielmehr in der Situation des bersetzens nach Athen grndet. So schliet Hyperions Rede mit der Beobachtung der Unverfgtheit der eigenen Rede: [] ich wunderte mich jezt selber ber die Art meiner uerungen. Wie bin ich doch, rief ich, auf die troknen Berggipfel gerathen, worauf ihr mich saht? (MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683f.; StA, Bd. 3, S. 83f.).

    33 MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83.34 Diese wechselseitige kontrastive Bezogenheit von Land und Meer wird in dem spteren Gesang

    Der Archipelagus hinsichtlich eines mglichen Versinkens einer Insel eigens dargestellt: Alle leben sie noch, die Heronmtter, die Inseln, / Blhend von Jahr zu Jahr und wenn zu Zei-ten, vom Abgrund / Losgelassen, die Flamme der Nacht, das untre Gewitter / Eine der holden ergri und die Sterbende dir [dem Archipelagus, M. H.] in den Schoos sank, / Gttlicher! Du, du dauertest aus, denn ber den dunklen Tiefen ist manches schon dir auf und untergegan-gen (MA, Bd. 1, S. 296; FHA, Bd. 3, S. 232; StA, Bd. 2,1, S. 103).

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    realisieren sich als solche jeweils lediglich in diesem Gegensatz. Das bersetzen von Kalaurea nach Attika ist somit keine Bewegung in dem reinen Gegensatz zwischen Land und Meer, sondern in der Spannung verschiedener Relationen dieses Gegensatzes. Doch sind auch diese nicht ausgeglichen. Denn stellt der Ausgangspunkt, die Insel Kalaurea, ein bergewicht des Meeres gegenber dem Land dar und bildet sie somit das eine Extrem des Gegensatzverhltnisses, so bildet das Ziel der Bewegung, die Halbinsel Attika, nicht das andere Extrem dieses Verhltnisses, das Festland, sondern vielmehr ein Mittleres, eine Halb-insel. Auch die Gegenstzlichkeit der Proportionen zwischen Meer und Land be ndet sich zwischen dem Ausgangs- und dem Zielpunkt der Bewegung nicht im Gleichgewicht.

    Ein analoges Verhltnis zeigt sich in Bezug auf die Zeit. Ist die Athener-rede von dem bevorstehenden Besuch des zeitgenssischen Athen motiviert, beruht sie somit auf einer zeitlichen Vorwegnahme, so behandelt sie thematisch ausschlielich die Verhltnisse des antiken Athen. Die Rede begrndet sich als prsentische durch die zeitliche Vorwegnahme, die die Rckwendung in das (idealisierte) vergangene Athen bewirkt. Dieser inneren Gegenstrebigkeit ent-sprechen die beiden Konstituenten der Rede. Darin, dass sie berhaupt statt- ndet, in ihrer Tatschlichkeit, geht die Rede auf die Vorwegnahme zurck, in dem, was sie sagt, jedoch auf das vergangene Athen.35

    Die Ambivalenz dieser Zeitverhltnisse sowie deren Wahrnehmung (im Sinne) wird auch in der Beschreibung des Endens der Rede bei der Ankunft deutlich: So weit war ich, als wir landeten an der Kste von Attika. Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als da wir htten viel in der Ordnung sprechen mgen.36 Denn kann sich im Sinne tatschlich auf die (geistige) Vergegenwrtigung des alten Athen beziehen, so legt die Ankunft auf Attika ebenso die spannungsvolle Erwartung der bevorstehenden sinnlichen Wahrneh-mung der berreste des vergangenen im zeitgenssischen Athen nahe.

    Auch in Bezug auf die zeitlichen Spannungsverhltnisse lsst sich entspre-chend der quantitativen Exzentrizitt der Rede innerhalb des dreiigsten Briefs sowie des Athenerbriefs innerhalb des Gesamtromans ein Ungleichgewicht in den Relationen feststellen. Umfasst die Rckwendung die Zeit bis zur Antike, so erstreckt sich die Vorwegnahme ber nur wenige Stunden. Kann hier ein Gleichgewicht festgestellt werden, so lediglich ein qualitativ-proportionales, kein quantitativ-arithmetisches,37 und zwar in dem Sinne, dass die historische Gre Athens zu ihrem zeitlichen Abstand von ber 2000 Jahren zum erzhlten

    35 Vgl. dieselbe Struktur in dem Schluss der dritten Strophe der Elegie Brod und Wein. An Heinze. Erste Fassung: Dort ins Land des Olymps [] Dorther kommt und zurk deutet der kommende Gott (V. 16 und 18, MA, Bd. 1, S. 374; FHA, Bd. 6, S. 249; StA, Bd. 2,1, S. 91).

    36 MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83, H. v. m.37 Vgl. die im griechischen Denken nicht ungewhnliche Unterscheidung zum Beispiel bei Ari-

    stoteles: Nikomachische Ethik, 5. Buch, Kapitel 6 und 7 (1131a bis 1132b).

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    Hyperion38 in demselben Verhltnis steht wie die Bedeutung des zeitgenssi-schen Athens zu seinem zeitlichen Abstand von wenigen Stunden.

    In zeitlicher wie rumlicher Hinsicht konstituiert sich die Athenerrede somit in dem Spannungsfeld zweier Relationen, die ihre Gegenstzlichkeit zu unterschiedlichen Graden ausprgen. Diese Verhltnisse bilden entsprechend der verschobenen Mitte der Athenerrede und des Athenerbriefs kein quan-titatives Gleichgewicht von Zweien, sondern allenfalls ein qualitativ-proportio-nales Gleichgewicht zweier (Gegensatz-)Relationen und somit von vier Teilen in einem Spannungsverhltnis.39

    2.2 Die Athenerrede

    Dieser Kontext der Athenerrede steht in spezi schem Spannungsverhltnis zu dem, was der erzhlte Hyperion in seinem Monolog ber die antiken Athe-ner expliziert. Doch zeigen sich nicht nur in dieser Hinsicht Verwerfungen, sondern auch innerhalb der Rede selbst, zwischen ihrem Verfahren und dem in ihr Verhandelten. Die antiken Athener werden in Hyperions Rede als ideal gezeichnet, wobei dieses Ideal gleich zu Beginn von Hyperions Ausfhrungen mit der Freiheit von Negativitt gleichgesetzt wird:

    Ungestrter in jedem Betracht, von gewaltsamem Ein u freier, als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener. Kein Eroberer schwcht sie, kein Kriegsglk berauscht sie, kein fremder Gtterdienst betubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife. Sich selber berlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit.40

    Diese Freiheit von Negativitt in dem Sinne eines Mangels oder einer Negativ-erfahrung wird hier erweitert hin zu einer Freiheit von der Konfrontation mit Fremdem. Das Werden zu sich, das den Athenern gelingt, erscheint mglich aufgrund des vlligen Bleibens in sich ohne Relation zu einem anderen. Was die Athener wurden und waren, wird dem entsprechend absolut gesetzt: vollendete Natur, vollkommenes Kind,41 seine [des Atheners] gttliche Natur.42

    38 Der Ausdruck erzhlter Hyperion wird hier zur Vereinfachung des Sprachgebrauchs auf den zeitlichen Abschnitt bezogen, in dem Hyperion noch nicht als Eremit lebt und die Briefe an Bellarmin schreibt. Das ist trotz der Vereinfachung insofern legitim, als sich der Groteil der Narration auf diese zeitliche Ebene als Geschichte bezieht. Die Bezeichnung entspricht somit dem, was Ryan unschrfer als erlebender Hyperion bezeichnet (vgl. Lawrence Ryan: Hlderlins Hyperion. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, sowie Hlderlins Hyper-ion: Ein romantischer Roman?. In: ber Hlderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175212).

    39 Vgl. auch den ersten Satz des theoretischen Entwurfs Wenn der Dichter einmal des Geistes mchtig , in dem stndig der Ausgleich zweier Proportionen behandelt wird (vgl. MA, Bd. 2, S. 78f.; FHA, Bd. 14, S. 303 .; StA, Bd. 4,1, 241f.).

    40 MA, Bd. 1, S. 681f.; FHA, Bd. 11, S. 676; StA, Bd. 3, S. 77f.41 MA, Bd. 1, S. 682; FHA, Bd. 11, S. 677; StA, Bd. 3, S. 78.42 MA, Bd. 1, S. 684; FHA, Bd. 11, S. 680; StA, Bd. 3, S. 80.

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    Des Weiteren gestaltet sich die Abwesenheit von Negativitt als die Abwe-senheit von Extremen:

    Freilich hat auch Himmel und Erde fr die Athener, wie fr alle Griechen, das ihre gethan, hat ihnen nicht Armuth und nicht ber u gereicht. Die Stralen des Himmels sind nicht, wie ein Feuerreegen, auf sie gefallen. Die Erde verzrtelte, berauschte sie nicht mit Liebkosungen und bergtigen Gaben, wie sonst wohl hie und da die thrige Mutter thut. [] Also noch einmal! da die Athener so frei von gewaltsamem Ein u aller Art, so recht bei mittelmiger Kost aufwuchsen, das hat sie so vortre ich gemacht, und di nur konnt es!43

    Die Mitte, die hier konzipiert wird, ist spannungslos, sie bedarf des anderen, der Extreme, nicht, sondern stellt sich als absolut von ihnen geschieden dar.44

    Entsprechend betrachtet Hyperion auch die kulturellen Leistungen der Athener und stellt fest, da ihre Kunst und ihre Religion die chten Kinder ewiger Schnheit vollendeter Menschennatur sind, und nur hervorgehn konnten aus vollendeter Menschennatur.45 Hyperions Ausfhrungen nden ihren Hhepunkt in der Harmonie der mangellosen Schnheit,46 deren Wesen er mit Heraklits Einem in sich selber unterschiednen gleichsetzt:

    Das groe Wort, das (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche nden, denn es ist das Wesen der Schn-heit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie. Nun konnte man bestim-men, das ganze war da. Die Blume war gereift; man konnte nun zergliedern. Der Moment der Schnheit war nun kund geworden unter den Menschen, war da im Leben und Geiste, das Unendlicheinige war.47

    Das Eine in sich selber unterschiedne des Heraklit, das Wesen der Schn-heit, wird von dem erzhlten Hyperion entsprechend seiner Au assung der antiken Athener als Absolutes, Reines, Mittiges, Negativittsfreies und in sich Spannungsloses betrachtet.48 Diese Konzeption entspricht jedoch weder der

    43 MA, Bd. 1, S. 682f.; FHA, Bd. 11, S. 677; StA, Bd. 3, S. 78f.44 Dieses Antikenbild entspricht in vorweggenommenem Re ex der Be ndlichkeit des erzhl-

    ten Hyperion bei der Ausfahrt nach Athen: Schon lange war unter Diotimas Ein u mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fhlt ich es dreifach rein, und die zerstreuten schwrmenden Krfte waren all in Eine goldne Mitte versammelt (MA, Bd. 1, S. 681; FHA, Bd. 11, S. 675 [[] Diotimas []]; StA, Bd. 3, S. 77).

    45 MA, Bd. 1, S. 684; FHA, Bd. 11, S. 679; StA, Bd. 3, S. 80.46 MA, Bd. 1, S. 685; FHA, Bd. 11, S. 680f.; StA, Bd. 3, S. 81.47 MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 681; StA, Bd. 3, S. 81f.48 Gideon Stiening (Epistolare Subjektivitt. Das Erzhlsystem in Friedrich Hlderlins Briefro-

    man Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Tbingen 2005) sieht das hen diapheron heauto bereits in der Athenerrede als Konzeption, die im Gegensatz zu dem Ein und Alles der ersten Briefe, in dem sich noch eine ununterschiedene Gleichheit realisiere nun [n]icht mehr alle Einzelheit von sich aus[schliet] (S. 445). Dies wird nach Stiening auch im Erzhlvorgang deutlich: Die Erinnerung an die Reise nach Athen konstituiert somit ein Ver-hltnis von Subjekt und Objekt, das als Identitt eine Di erenz nicht mehr ausschlieen mu. Die Prsentationsform der Erlebnisse in einer gelungenen, weil kaum unterbrochenen

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    strukturellen Stellung der Rede im Gesamtzusammenhang des Romans noch der Verfasstheit der Rede selbst. Intern wird das in der Athenerrede pro-pagierte Ideal stndig von deren Vollzug unterlaufen.49 Die Athenerrede ist somit ein in sich Spannungsvolles in der Gegenstrebigkeit der ihr konstitutiv zugehrigen Aspekte.50

    Werden die antiken Athener in Hyperions Monolog als absolut in sich dargestellt, so verfhrt die Rede dem entgegengesetzt, nmlich relational, in der Struktur von Einheit und Di erenz.51 Bereits der Ausdruck in der Athen-errede, der Hyperions eigene, positive Sicht auf die Athener einleitet, [u]n-gestrter, ist ein Komparativ, der die Athener mit anderen Vlkern in Bezug setzt und sie zugleich von diesen abgrenzt: Ungestrter in jedem Betracht, von gewaltsamem Ein u freier, als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener.52 Die folgenden Stze machen lediglich negative Aussagen: Kein Eroberer schwcht sie, kein Kriegsglk berauscht sie, kein fremder Gt-terdienst betubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife.53 Erst durch diese Negation, d. h. aber die Di erenz zu anderen Vlkern, scheint eine positive Bestimmung der Athener mglich: Sich selber berlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit.54

    Doch auch diese Bestimmung stellt die Vortre ichkeit der Athener nicht an sich dar, sondern sagt sie in der Metapher der Kindheit und im Vergleich mit dem werdenden Diamanten, somit in konstitutivem Bezug auf anderes.55

    epischen Darstellung macht diese Struktur einsichtig (S. 456). In beiden Fllen wird der Dif-ferenz jedoch keine konstitutive Rolle zugeschrieben (vgl. auch S. 457 und 484f.), was auch der Charakterisierung der Hlderlinschen Position als dynamisierte[] und dennoch monisti-sche Ontologie (S. 469) entspricht.

    49 Rdiger Grner (Grenzen, Schwellen, bergnge: Zur Poetik des Transitorischen. Gttingen 2001) fasst die Schnheitskonzeption im Hyperion strker in Hegelscher Manier auf, wenn er das Schne in der Kunst als Vor-Schein der Ureinheit (S. 88) sieht. Doris Feil (Stufen der Seele. Erkenntnistheoretische Darstellung in Goethes Werther und Hlderlins Hyperion. Oberhausen 2005) sieht keine Relativierung der Athenerrede durch deren Kontext un