Hinter der Pracht des Erhabenen · te ein Denkmal des Nasreddin aus der sowjetischen Zeit –...

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Evangelisches Sonntagsblatt aus Bayern · Nr. 14 vom 9. 4. 2017 13 Habt ihr jemals einen Toten gese- hen?“ Macht nichts, „der Schelm“ und seine Begleiter haben sich bereit- willig zu einer lukrativen Totenwa- schung gemeldet. Im vorrevolutionä- rem Usbekistan treibt sich der ju- gendliche Ich-Erzähler der gleichna- migen Novelle von Gafur Gulom (1903–1966) auf den Straßen und in den Basaren herum. Als Jugendlicher ist er vor 1917 von zu Hause ausge- rissen. Er muss in der oft ungerechten Welt der Erwachsenen lernen, wie man erfolgreich ums Überleben kämpft. Gerade die Welt der Händler und Gelehrten führt er ins Absurde. Entlang der alten „Seidenstraße“ kommt nun hundert Jahre später all- mählich gerade in den Zentren Sar- kand, Buchara oder Chiwa ein Kul- tur-Tourismus in Gang. Die Mo- scheen, Minarette und Medresen (al- te islamische Hochschulen) erstrahlen in grandioser Pracht. Fan- tasiereiche Fayencen und Mosaike schmücken sie. Blautöne dominieren. Sie sind meist aufwändig restauriert. Leider trifft dies nur selten für die Straßen dazwischen zu. Allerdings gibt es jetzt Schnellzüge von Tasch- kent nach Samarkand und Buchara. Auch Chiwa im äußersten Westen soll demnächst angeschlossen werden. Eine Welt im Umbruch. Informations- und Begegnungsreisen dorthin orga- nisiert etwa das Reiseunternehmen „Tour mit Schanz“. Auch viele Basare sind durchaus touristisch ausgerichtet. Manchen der lauten Händler gönnt man da Guloms Streiche. Er spielt der Welt der Erwachsenen selbst eulenspiegel- hafte Streiche. Die Novelle lässt sich als Schelmenroman in der farben- prächtigen Welt der Seidenstraße le- sen. Orientalische Erzählfreude und verschmitzter Humor dominieren sie. Die Streiche des „Schelms“ zeigen aber auch das Absurde vieler traditio- neller Bräuche und Sitten. Entlarvend aber, wie salbungsvoll der „Schelm“ gerade noch hochgelobte Brotgeber von gestern verleugnet. Um die Totenwaschung zu verein- fachen, zerrt der „Schelm“ Guloms mit Kameraden die Leiche in einen Teich. „Inzwischen war der Verstor- bene für uns sehr vertraut gewor- den.“ Natürlich geht dennoch schief, was schief gehen kann. Der Umgang mit dem Toten geschieht auch für christliche Ohren äußerst schändlich. Die muslimischen Gebräuche gera- ten ins Bizarre. Bevor er zur Verant- wortung gezogen werden kann, ist der Schelm bereits zu weiteren Aben- teuern unterwegs. Da sich die Streiche des „Schelms“ aber gegen die vorkommunistische Periode richteten, war er selbst in der Stalinzeit hoch geehrt. „Der Schelm“ ist aber durchaus hintergründig. Kürzlich erschien eine neue deutsche Übersetzung usbekischer Reiseführer. Sie wollen ihren Gästen aus dem Westen diese Welt nahebringen. Gleichzeitig führt Gulom mit sei- nem jugendlichen „Schelm“ die Tradition des orientalischen mittel- alterlichen Nasreddin Hodscha fort – des orientalischen „Till Eulenspie- gels“. Guloms Zeitgenosse Leonid Was- siljewitsch Solowjow (1906–1962) bearbeitete dessen Anekdoten zu fortlaufenden Erzählsträngen. Er lässt seinen Helden in das mittelal- terliche Buchara – eine Hochburg des usbekischen Seidenstraße – zu- rückkehren. Dort findet sich bis heu- te ein Denkmal des Nasreddin aus der sowjetischen Zeit – direkt vor der Medrese (islamische Hochschu- le) Nadir Devon Begi. Solowjow fiel 1946 in Ungnade und überlebte acht Jahre Lager und Verbannung. Das Standbild ist gerade ein Fotoziel junger Menschen. Kinder klettern begeistert auf den Esel. Jugendliche zücken ihr Handy. Türkische Anekdoten verorten je- doch den gewitzten Helden eher in Anatolien. Doch er verwurzelte sich auch in Usbekistan. Nun sind Nasred- dins Streiche eher gegen feudale und klerikale Obrigkeiten gerichtet – pas- send zu den staatlichen Vorgaben der stalinistischen Sowjetunion. Die Nasreddin-Anekdoten lassen sich aber auch aktueller lesen: Er wur- de zum engen Günstling des Herr- schers. Dessen Koch bereitete Auber- ginen so zu, dass sie dem Herrscher köstlich schmeckten. Er wollte dieses Gericht nun jeden Tag essen. Auf den Ausruf des Herrschers, der es als „wohlschmeckendste Gemüse auf der ganzen Welt“ lobte, antwortete Mullah Nasreddin pflichtgemäß: „Ja, Euer Majestät! Das allerbeste!“ Am fünften Tag aber brüllte der Herrscher: „Nehmt sofort dieses Es- sen hinfort! Es ist schauderhaft!“ „Ja, wirklich, Euer Majestät“, pflichtet Nasreddin bei, „es ist das übelste Ge- müse der Welt!“ „Aber Nasreddin“, erklärte der Herrscher, „gerade prie- sest du sie als allerbestes Gemüse?“ „Nun, schließlich diene ich dem Herrscher und nicht dem Gemüse!“ Manche der Nasreddin-Anekdo- ten ähneln den Erzählungen von Till Eulenspiegel, der im niederdeutschen Raum in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erstmals seine Späße getrieben haben soll. Vieles verstand er allzu wörtlich – und führte es da- durch ins Absurde. Erste gedruckte Volkserzählungen über ihn erschei- nen just in der Reformationszeit. Charles de Coster übertrug im 19. Jahrhundert Tills Abenteuer in die Zeit des Befreiungskampfes der Nie- derlanden von Spanien. Auch Nasreddin Hodscha erwacht wieder zum Leben – nicht nur in ei- nem jugendlichen „Schelm“. Schließlich wandte er sich seit jeher gegen Äußerlichkeiten. Online kur- sieren auch auf Deutsch Geschichten, wie er aktulle Korruption oder Unre- gelmäßigkeiten beim Baumwollan- bau ins Absurde führt. Allerdings lan- det er da heute hinter Gittern. Wie kann er sich befreien? Susanne Borée Gafur Gulom: Der Schelm, Deutsche Übersetzung durch Oybek Ostanov und Azamat Azizov, 224 Seiten; Aka- demnashr Verlag 2014, ISBN: 978- 9943-4293-5-2; 17 Euro; Bestellung bit- te per E-Mail [email protected] Mehr zum Reiseunternehmen „Anz von Schanz“ unter www.tour-mit- schanz.de oder Tel. 07054/92650. Hinter der Pracht des Erhabenen Schelme der usbekischen Seidenstraße halten der Welt den Eulenspiegel vor Registan-Platz in Samarkand. Buchtitel „Der Schelm“ und Denkmal Nasreddins in Buchara. Details von Verzierungen in Holz und Keramik. Fotos: Borée

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Evangelisches Sonntagsblatt aus Bayern · Nr. 14 vom 9. 4. 2017 13

Habt ihr jemals einen Toten gese-hen?“ Macht nichts, „der Schelm“und seine Begleiter haben sich bereit-willig zu einer lukrativen Totenwa-schung gemeldet. Im vorrevolutionä-rem Usbekistan treibt sich der ju-gendliche Ich-Erzähler der gleichna-migen Novelle von Gafur Gulom(1903–1966) auf den Straßen und inden Basaren herum. Als Jugendlicherist er vor 1917 von zu Hause ausge-rissen. Er muss in der oft ungerechtenWelt der Erwachsenen lernen, wieman erfolgreich ums Überlebenkämpft. Gerade die Welt der Händlerund Gelehrten führt er ins Absurde.

Entlang der alten „Seidenstraße“kommt nun hundert Jahre später all-mählich gerade in den Zentren Sar-kand, Buchara oder Chiwa ein Kul-tur-Tourismus in Gang. Die Mo-scheen, Minarette und Medresen (al-te islamische Hochschulen)erstrahlen in grandioser Pracht. Fan-tasiereiche Fayencen und Mosaikeschmücken sie. Blautöne dominieren.Sie sind meist aufwändig restauriert.

Leider trifft dies nur selten für dieStraßen dazwischen zu. Allerdingsgibt es jetzt Schnellzüge von Tasch-kent nach Samarkand und Buchara.Auch Chiwa im äußersten Westen solldemnächst angeschlossen werden.Eine Welt im Umbruch. Informations-und Begegnungsreisen dorthin orga-nisiert etwa das Reiseunternehmen„Tour mit Schanz“.

Auch viele Basare sind durchaustouristisch ausgerichtet. Manchender lauten Händler gönnt man daGuloms Streiche. Er spielt der Welt

der Erwachsenen selbst eulenspiegel-hafte Streiche. Die Novelle lässt sichals Schelmenroman in der farben-prächtigen Welt der Seidenstraße le-sen. Orientalische Erzählfreude undverschmitzter Humor dominieren sie.Die Streiche des „Schelms“ zeigenaber auch das Absurde vieler traditio-neller Bräuche und Sitten. Entlarvendaber, wie salbungsvoll der „Schelm“gerade noch hochgelobte Brotgebervon gestern verleugnet.

Um die Totenwaschung zu verein-fachen, zerrt der „Schelm“ Gulomsmit Kameraden die Leiche in einenTeich. „Inzwischen war der Verstor-bene für uns sehr vertraut gewor-den.“ Natürlich geht dennoch schief,was schief gehen kann. Der Umgangmit dem Toten geschieht auch fürchristliche Ohren äußerst schändlich.Die muslimischen Gebräuche gera-ten ins Bizarre. Bevor er zur Verant-wortung gezogen werden kann, istder Schelm bereits zu weiteren Aben-teuern unterwegs.

Da sich die Streiche des „Schelms“aber gegen die vorkommunistischePeriode richteten, war er selbst in derStalinzeit hoch geehrt. „Der Schelm“ist aber durchaus hintergründig.Kürzlich erschien eine neue deutscheÜbersetzung usbekischer Reiseführer.Sie wollen ihren Gästen aus demWesten diese Welt nahebringen.

Gleichzeitig führt Gulom mit sei-nem jugendlichen „Schelm“ dieTradition des orientalischen mittel-alterlichen Nasreddin Hodscha fort– des orientalischen „Till Eulenspie-gels“.

Guloms Zeitgenosse Leonid Was-siljewitsch Solowjow (1906–1962)bearbeitete dessen Anekdoten zufortlaufenden Erzählsträngen. Erlässt seinen Helden in das mittelal-terliche Buchara – eine Hochburgdes usbekischen Seidenstraße – zu-rückkehren. Dort findet sich bis heu-te ein Denkmal des Nasreddin ausder sowjetischen Zeit – direkt vorder Medrese (islamische Hochschu-le) Nadir Devon Begi. Solowjow fiel1946 in Ungnade und überlebteacht Jahre Lager und Verbannung.Das Standbild ist gerade ein Fotozieljunger Menschen. Kinder kletternbegeistert auf den Esel. Jugendlichezücken ihr Handy.

Türkische Anekdoten verorten je-doch den gewitzten Helden eher inAnatolien. Doch er verwurzelte sichauch in Usbekistan. Nun sind Nasred-dins Streiche eher gegen feudale undklerikale Obrigkeiten gerichtet – pas-send zu den staatlichen Vorgaben derstalinistischen Sowjetunion.

Die Nasreddin-Anekdoten lassensich aber auch aktueller lesen: Er wur-de zum engen Günstling des Herr-schers. Dessen Koch bereitete Auber-ginen so zu, dass sie dem Herrscherköstlich schmeckten. Er wollte diesesGericht nun jeden Tag essen. Auf denAusruf des Herrschers, der es als„wohlschmeckendste Gemüse aufder ganzen Welt“ lobte, antworteteMullah Nasreddin pflichtgemäß: „Ja,Euer Majestät! Das allerbeste!“

Am fünften Tag aber brüllte derHerrscher: „Nehmt sofort dieses Es-sen hinfort! Es ist schauderhaft!“ „Ja,

wirklich, Euer Majestät“, pflichtetNasreddin bei, „es ist das übelste Ge-müse der Welt!“ „Aber Nasreddin“,erklärte der Herrscher, „gerade prie-sest du sie als allerbestes Gemüse?“„Nun, schließlich diene ich demHerrscher und nicht dem Gemüse!“

Manche der Nasreddin-Anekdo-ten ähneln den Erzählungen von TillEulenspiegel, der im niederdeutschenRaum in der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts erstmals seine Späßegetrieben haben soll. Vieles verstander allzu wörtlich – und führte es da-durch ins Absurde. Erste gedruckteVolkserzählungen über ihn erschei-nen just in der Reformationszeit.Charles de Coster übertrug im 19.Jahrhundert Tills Abenteuer in dieZeit des Befreiungskampfes der Nie-derlanden von Spanien.

Auch Nasreddin Hodscha erwachtwieder zum Leben – nicht nur in ei-nem jugendlichen „Schelm“.Schließlich wandte er sich seit jehergegen Äußerlichkeiten. Online kur-sieren auch auf Deutsch Geschichten,wie er aktulle Korruption oder Unre-gelmäßigkeiten beim Baumwollan-bau ins Absurde führt. Allerdings lan-det er da heute hinter Gittern. Wiekann er sich befreien? Susanne Borée

Gafur Gulom: Der Schelm, DeutscheÜbersetzung durch Oybek Ostanovund Azamat Azizov, 224 Seiten; Aka-demnashr Verlag 2014, ISBN: 978-9943-4293-5-2; 17 Euro; Bestellung bit-te per E-Mail [email protected]

Mehr zum Reiseunternehmen „Anzvon Schanz“ unter www.tour-mit-schanz.de oder Tel. 07054/92650.

Hinter der Pracht des ErhabenenSchelme der usbekischen Seidenstraße halten der Welt den Eulenspiegel vor

Registan-Platz in Samarkand. Buchtitel „Der Schelm“ und Denkmal Nasreddins in Buchara. Details von Verzierungen in Holz und Keramik. Fotos: Borée