Hl. Franz von Sales Gottesliebe I

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FRANZ VFRANZ VFRANZ VFRANZ VFRANZ VON SON SON SON SON SALES – ABHANDLALES – ABHANDLALES – ABHANDLALES – ABHANDLALES – ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE /IUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE /IUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE /IUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE /IUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE /I

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Deutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe der

WERKE DES HL. FRANZ VON SALES

Band 3Band 3Band 3Band 3Band 3

Nach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe der

OEUVRES DE SOEUVRES DE SOEUVRES DE SOEUVRES DE SOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SALESALESALESALESALESder Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)

herausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesunter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von P. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

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Franz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von Sales

ABHANDLABHANDLABHANDLABHANDLABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBETheotimusTheotimusTheotimusTheotimusTheotimus

Erster TErster TErster TErster TErster Teil (I. - VI. Buch)eil (I. - VI. Buch)eil (I. - VI. Buch)eil (I. - VI. Buch)eil (I. - VI. Buch)

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Das Original hat den Titel TRAITTÉ DE LDas Original hat den Titel TRAITTÉ DE LDas Original hat den Titel TRAITTÉ DE LDas Original hat den Titel TRAITTÉ DE LDas Original hat den Titel TRAITTÉ DE L’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.AAAAAus dem Fus dem Fus dem Fus dem Fus dem Französischen überranzösischen überranzösischen überranzösischen überranzösischen übertragen hat es Ptragen hat es Ptragen hat es Ptragen hat es Ptragen hat es P. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Die Kirchliche DrDie Kirchliche DrDie Kirchliche DrDie Kirchliche DrDie Kirchliche Druckuckuckuckuckerlaubnis ererlaubnis ererlaubnis ererlaubnis ererlaubnis erteilte das Bischöflicheteilte das Bischöflicheteilte das Bischöflicheteilte das Bischöflicheteilte das Bischöfliche

Generalvikariat Eichstätt am 6. MärGeneralvikariat Eichstätt am 6. MärGeneralvikariat Eichstätt am 6. MärGeneralvikariat Eichstätt am 6. MärGeneralvikariat Eichstätt am 6. März 1956.z 1956.z 1956.z 1956.z 1956.

ISBN 3-7721-0128-3© Franz-Sales-Verlag, Eichstätt

3. Auflage 2002Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Brönner & Daentler, Eichstätt

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Ein kurEin kurEin kurEin kurEin kurzes Wzes Wzes Wzes Wzes Wororororort zur Einführt zur Einführt zur Einführt zur Einführt zur Einführungungungungung

Die deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales bereichertsich, nach langer Unterbrechung, mit dem ersten Band des Hauptwerkesdes großen Kirchenlehrers, der „Abhandlung über die Gottesliebe”, auch„Theotimus” genannt. Der zweite Band wird eine Gesamtwürdigungdieses klassischen Buches bringen, sowie ausführliche Sach- und Perso-nenregister (mit den notwendigen Angaben über die von Franz von Sa-les angeführten Schriftsteller) und Erklärungen einzelner Stellen im erstenund zweiten Band, soweit sie für das Verständnis des Buches nützlicherscheinen.

Hier nur eine kurze Bemerkung über den bei Franz von Sales oftzitierten D i o n y s i u s, den das ganze Altertum, Mittelalter und dieNeuzeit bis 1895 für den vom hl. Paulus bekehrten Areopagiten hielt,dessen Werke daher höchstes Ansehen genossen. Heute wissen wir, daßder Verfasser dieser Werke, ein Neuplatoniker, im 5. Jahrhundert gelebthat, also den Namen des Areopagiten Dionysius nur als Deckmantelmißbrauchte, um seinen Schriften größeres Ansehen zu verschaffen, wasihm auch gelungen ist.

Wie in der Philothea führt Franz von Sales auch im Theotimus vielenaturwissenschaftliche Beispiele an, die er der „Naturgeschichte“ des la-teinischen Schriftstellers P l i n i u s entnommen hat, einer Sammlungunwahrscheinlichster Dinge, die zur Zeit des hl. Franz von Sales inhohem Ansehen stand. Man darf sich an diesen Geschichten nicht stoßen,mögen sie uns auch reichlich naiv erscheinen. Wir haben sie nur alsVergleiche und Bilder zu werten; als solche sind sie sehr anschaulichund machen manche schwierige theologische Frage leichter verständlich(z. B. die Geschichte von den „Apoden“).

Derlei durch die Zeit bedingte kleine Schönheitsfehler dieses Werkeswie auch die barocke Länge und Überfülle von Bildern, und von Bildern,die wir heute nicht mehr gebrauchen würden, ferner die uns oft seltsamdünkenden Anwendungen des „Hoheliedes“ und ähnliches – das allesdarf uns nicht den überaus kostbaren Inhalt dieses Werkes übersehen las-

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sen, das von den Päpsten mit den höchsten Lobsprüchen bedacht wurdeund jedenfalls eines der großen Meisterwerke katholischer Mystik ist.

In dieser Übersetzung war ich bestrebt, den Sinn der Worte desgroßen Kirchenlehrers so genau als möglich wiederzugeben, ohne Kür-zungen, die ja in einer Gesamtausgabe der Werke des hl. Franz von Salesnicht statthaft wären. Mein Bestreben ging besonders dahin, die langenPerioden zu zerlegen und so verständlich zu machen, ohne auch nur imgeringsten die Gedankenfolge zu ändern.

Es obliegt mir nur noch die Pflicht, den ehrwürdigen Schwestern derHeimsuchung Mariä in Wien für ihre wertvollen Vorarbeiten Dank zusagen, die mir diese schwierige Arbeit wesentlich erleichtert haben.

Wien, am 29. Januar 1957P. Dr. Franz Reisinger OSFS.

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INHALINHALINHALINHALINHALTSÜBERSICHTTSÜBERSICHTTSÜBERSICHTTSÜBERSICHTTSÜBERSICHTEin kurzes Wort zur Einführung 5Widmungsgebet des Verfassers 33Vorwort 351. Wenn auch die heilige Liebe Kern und Inhalt jeder christlichenVerkündigung ist, so – 2. beschäftigt sich doch die theologische Ab-handlung von der Liebe im besonderen mit dem Ursprung, den Ei-genschaften und Wirkungen der Liebe. Paulus, Kirchenväter, Theo-logen und auch heilige Frauen haben darüber viel Schönes geschrie-ben – 3. Ebenso Schriftsteller zur Zeit des hl. Franz von Sales, –4. der sich aber hier besondere Aufgaben gestel l t hat , nämlichEntstehung, Fortschritt und Verfal l der Liebe, ihre Werke, Vor-züge und Erhabenh e i t d a r z u s t e l l e n – 5 . E r k o m m t m ö g l i c h e nK r i t i k e n z u v o r . – 6 . E r w i l l wohl einiges sagen, das nicht soleicht verständlich ist, aber Streitfragen und Spitzfindigkeiten mei-den. – 7. Er erklärt , was er b i sher veröf fent l i cht hat – 8 . undwas er für dieses Buch den Schwestern der Heimsuchung, undvor a l lem ihrer Mutter verdankt . – 9. Schließlich sagt er, warumer dieses Buch Maria und St. Josef gewidmet hat.

I. I. I. I. I. Buch: VBuch: VBuch: VBuch: VBuch: Vorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlung

1. Kapitel: Gott hat um der Schönheit der menschlichen Natur wil-len die Herrschaft über alle Fähigkeiten der Seele dem Willengegeben. 50

Franz von Sales zergliedert zuerst den Begriff Schönheit. – 1. Dazugehört Ordnung in der Mannigfaltigkeit, – 2. Glanz und Klarheit, –3. bei beseelten Wesen auch Anmut. – 4. Gott ist Urbild der Schön-heit, in ihm ist Einheit in der Dreifaltigkeit. – 5. Diese Einheit inder Mannigfaltigkeit ist in menschlichen Reichen gegeben; im Men-schen selbst aber durch die Herrschaft des Willens über die Vielheitvon Handlungen, Kräften und Fähigkeiten.

2. Kapitel: Der Wille herrscht über die Kräfte der Seele auf ver-schiedene Weise. 52

1. Er herrscht über die Fähigkeiten, uns zu bewegen, wie der Herrüber den Sklaven; – 2. über die Sinne und die Fähigkeit, uns zunähren, zu wachsen, uns fortzupflanzen durch verschiedene Mittelund Kunstgriffe; – 3. auch über Verstand und Gedächtnis, – aber nurin beschränktem Maße.

3. Kapitel: Die Herrschaft des Willens über das sinnenhafte Begehren. 541. Wir können das sinnenhafte Begehren überwinden, was aber nicht

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immer geschieht. – 2. Es verfügt über die Leidenschaften, die dieSeele oft aufwühlen, – 3. und mit denen alle Menschen zu kämpfenhaben, was zwar von den Stoikern verneint, aber durch die Tatsa-chen erhärtet wird. – 4 . Jesus selbst war von ihnen nicht frei ,allerdings beherrschte er sie vollkommen.

4. Kapitel: Die Liebe beherrscht alle Affekte und Leidenschaften.Sie lenkt sogar den Willen, obwohl der Wille auch Gewalt übersie hat. 57

1. Die Liebe geht den anderen Affekten und Leidenschaften voraus;diese sind gut oder schlecht, je nachdem die Liebe gut oder schlechtist. – 2. Die Hauptaffekte sind Begierde, Freude, Furcht und Trau-rigkeit; sie sind alle von der Liebe beherrscht, – 3. selbst der Wille,der die Eigenschaften der Liebe annimmt; – 4. doch herrscht auchwieder der Wille über die Liebe, da er in der Wahl der Liebe freiist. – 5. Soll die Gottesliebe in uns herrschen, müssen wir die Ei-genliebe bekämpfen.

5. Kapitel: Die Willensregungen. 591. Wie es im sinnlichen Begehren Regungen gibt, so auch im geistigenBegehren, im Willen. Man nennt sie Affekte; – 2. sie sind oft denLeidenschaften entgegengesetzt, – 3. deren Existenz die Stoiker leug-neten, während sie Affekte anzunehmen scheinen. – 4. Diese Affektesind mehr oder minder edel, je nach ihrem Gegenstand und Ursprung,je nachdem sie von der sinnenhaften Natur, von der vernunftbegabtenNatur, vom Glauben oder von Gott selbst stammen.

6. Kapitel: Vorherrschaft der Gottesliebe über jede andere Liebe. 62

1. Unter al len Arten der Liebe führt die Liebe zu Gott das Zep-ter. – 2. Obwohl Zweitgeborene kann sie nur Königin sein odernichts. – 3. Als übernatürl iche Liebe muß sie die Herrschaft überjede Liebe, ja sogar über Verstand und Willen haben. – 4. Sie hatihren Herrschersitz in der höchsten Zone des Geistes, von wo sieüber al le Fähigkeiten mit unvergleichlicher Milde herrscht.

7. Kapitel: Allgemeine Beschreibung der Liebe. 64

1. Das Gute zieht den Willen an, – 2. der Wohlgefallen daran findet,den es daher drängt, sich mit dem Guten zu vereinigen. – 3. Wohlgefal-len ist Beginn der Liebe, eigentliche Liebe ist aber das Hinströmen desHerzens, zu dem, was man liebt. – 4. Manche Theologen haben zwardas Wissen der Liebe im Wohlgefallen gesehen, – 5. aber sie irren. DasWesen der Liebe ist die Bewegung zu dem hin, was man liebt. – 6. DieLiebe ist eine unvollkommene, wenn man nur „möchte“, weil der Ge-genstand der Liebe unerreichbar ist, – 7. oder weil eine entgegenge-setzte Liebe stärker ist.

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8. Kapitel: Welcher Art ist die innere Beziehung, die Liebe weckt? 681. Die Wurzel der Liebe liegt in einer inneren Beziehung zu dem,was man l iebt. – 2. Dies ist aber nicht nur Ähnlichkeit , sondern –3 . eine gewisse Zuordnung zueinander, ein gegenseitiges Sicher-gänzen. – 4. Tritt Ähnlichkeit hinzu, dann ist der Liebesdrang nochmächtiger.

9. Kapitel: Liebe strebt nach Vereinigung. 701. Ihre Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Bräutigam möchte dieBraut im Hohelied durch Küssen sti l len. – 2. Der Kuß war vonjeher das Zeichen inniger Liebe, d. h. der Herzensvereinigung, –3. wohin ja die Liebe strebt.

10. Kapitel: Die Vereinigung, nach der Liebe strebt, ist geistigerNatur. 73

1. Liebe strebt nach Vereinigung, ob sie auf natürlichen Banden be-ruht oder frei eingegangen wird. – 2. Die menschliche Liebe mußnach geistiger Vereinigung streben. – 3. Vermischung mit sinnlicherLiebe schwächt die eigentliche menschliche Liebe. – 4. Daher mußdiese in der Seele herrschen. „Ekstase“, die uns über uns selbsterhebt, muß unser Ziel sein. – 5. Wenn die Seele sich sinnlicherLiebe hingibt, verfällt die himmlische Liebe. – 6. Dagegen wächstdie himmlische Liebe, je mehr man sich der sinnlichen Liebe ent-hält.

11. Kapitel: Die beiden Bereiche der Seele. 791. In unserer Seele gibt es drei Stufen, sie ist lebend, empfindend undve r s t e h e n d . J e d e r S t u f e e n t s p r e c h e n d s t r e b t d i e S e e l e n a c hgewissen Dingen oder f l ieht s ie . – 2 . In der höchsten Stufe derSee le gibt es noch zwei weitere Stufen, die niederer und höhererSeelentei l genannt werden. – 3 . Beispie le dafür aus der Bibelund – 4 . aus dem Leben. – 5. Das Beispiel Christi.

12. Kapitel: Die vier Stufen der Vernunft. 821. Wie es im Tempel Salomos drei Vorhöfe und darüber das Allerhei-ligst e g a b , s o g i b t e s a u c h in d e r S e e l e drei S t u f e n u n d d a r ü -b e r die höchste Seelenspitze. – 2. Diese wird mit fünf Vergleichs-punkten treffend durch das Al lerhei l igste des Tempels vers inn-bildet. – 3. Die Seele gibt sich dort einfach liebend Gott hin, –4. was aber nicht hindert, daß der Verstand weitere Erörterungenaus dem Glauben heraus anstellen kann.

13. Kapitel: Die verschiedenen Arten der Liebe. 851. Liebe des Wohlwollens und des Begehrens; – 2. Liebe des Wohl-gefallens und der Sehnsucht; – 3. Liebe einfachen Wohlwollens undder Freundschaft; – 4. Freundschaft schlechthin und erlesene Freund-schaft; – 5. erlesene und einzig große Freundschaft. – 6. Ganz großeLiebe und unvergleichliche Liebe, Caritas.

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14. Kapitel: Liebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet wer-den. 86

1. Trotz Origines ist nach Augustinus das Wort „Amor = Liebe“ fürdie Caritas, die Gottesliebe geeignet. – 2. Es wurde sogar im Alter-tum vorgezogen, um ihm den üblen Geruch sündhafter Leidenschaftzu entziehen.

15. Kapitel: Die innere Beziehung zwischen Gott und Mensch. 871. Freude an Gott und Vertrauen zu Gott beweisen, daß eine innigeBeziehung zwischen Gott und Mensch besteht. – 2. Der Mensch,Ebenbild Gottes – 3. Gegenseitige Ergänzung des Überflusses undMangels. – 4. Gott drängt die Liebe, s ich zu schenken, uns dieArmut, uns beschenken zu lassen. – 5. Wir sind für Gott geschaffen.

16. Kapitel: Wir neigen natürlicherweise dazu, Gott über alles zulieben. 90

1. Gäbe es Menschen, in Heiligkeit geschaffen wie Adam, so würdeder allgemeine Beistand, den Gott allen Geschöpfen gibt, genügen,daß s ie Gott über a l les l ieben. – 2 . Diese Liebe wäre e ine natür-l iche, wenngleich ihre Natur in den Gnadenzustand erhoben wäre. –3. Obwohl wir den Gnadenzustand verloren haben, verbleibt uns einNaturtr ieb, Gott zu l ieben. – 4 . Dieser Trieb erwacht , sobald erGottes gewahr wird.

17. Kapitel: Natürlicherweise sind wir ohnmächtig, Gott über alleszu lieben. 92

1. Wegen seiner Schwäche folgt der Wille so oft nicht der Erkenntnisund dem Antrieb zu Gott hin. – 2. Die alten Philosophen hattenwohl richtige Erkenntnis von Gott, aber nicht den Mut, sich zu demeinen Gott zu bekennen. – 3. Daher bringt unsere durch die Sündegeschwächte Natur aus sich heraus nur Ansätze der Gottesliebe her-vor, nicht aber die eigentliche Reife der Liebe.

18. Kapitel: Die natürliche Neigung, Gott zu lieben, ist nichtzwecklos in uns. 94

1. Warum also diese Neigung, Gott zu l ieben, wenn wir ihr nichtfo lgen können? – 2 . Got t hat s ie uns in se iner L iebe gegeben,damit s ie uns Ansporn sei , nach Liebe zu s treben. – 3 . Fal ls wirihr treu sind, zieht s ie Gottes Gnade auf uns herab und führt unszu den höchsten Stufen der Liebe. – 4. Zugleich erinnert s ie unsdaran, daß wir Gott angehören, der uns wieder an s ich ziehenwil l .

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II. Buch: Geschichte des Ursprungs und der himmlischenII. Buch: Geschichte des Ursprungs und der himmlischenII. Buch: Geschichte des Ursprungs und der himmlischenII. Buch: Geschichte des Ursprungs und der himmlischenII. Buch: Geschichte des Ursprungs und der himmlischenGeburGeburGeburGeburGeburt der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.

1. Kapitel: Die göttlichen Vollkommenheiten sind nur eine einzige,aber unendliche Vollkommenheit. 98

1. Die Sonne erscheint zuweilen rot oder fahl, obwohl sie das stets sichgleichbleibende Licht ist. – 2. So reden wir auch von Gott, als ob erverschiedene Eigenschaften hätte, in Wirklichkeit gibt es in Gott kei-ne Mannigfaltigkeit, sondern er ist einfach seine Vollkommenheit. – 3. Kein Geschöpf kann Gott den ihm gebührenden Namen geben. –4. Wir brauchen daher eine Vielzahl von Worten, wenn wir von Gottreden. – 5. Vergleich mit dem Manna und der Pflanze Dodecatheos. –6. Der erhabenste Name, den wir Gott geben können, ist die Beteue-rung, daß sein Name über alle Namen erhaben ist.

2. Kapitel: In Gott gibt es nur einen einzigen Akt und dieser istseine eigene Gottheit. 101

1. Bei uns gibt es aber eine große Mannigfaltigkeit von Handlungen, –2. in Gott gibt es aber nur eine höchst einfache Vollkommenheitund in d ieser e ine e inz ige und lautere Wirkl ichkei t . – 3 . Wirfreilich reden von verschiedenen Handlungen Gottes, weil wir nichtanders können. – 4. Gott sprach nur ein Wort und kraft diesesWortes war alles da, – 5. gleich dem Kupferstichdrucker, der durcheinen einzigen Akt eine Menge von Bildern erzeugt. – 6. Dieser ein-zige Akt G o t t e s v e r h i n d e r t n i c h t d i e M a n n i g f a l t i g k e i t d e rD i n g e , – 7 . i m G e genteil, die göttliche Einheit bewirkt die Ver-schiedenheit.

3. Kapitel: Allgemeines über die göttliche Vorsehung. 1041. Gott bedarf keines vielfachen Wirkens, wir aber müssen ent-sprechend unserer Verfassungskraft von Gottes Wirken sprechen. –2. Wir sehen an Salomo ein Bild der göttlichen Vorsehung. – Erplante zunächst alles, – 3. dann schritt er ans Werk und führte seinePlanung durch . – 4 . So sagen wir auch, daß Gott zuerst p lante ,welche Wesen er erschaffen sollte, ihnen feste Ziele gab, sie erschufund ihnen a l les g ib t , was s ie brauchen; das i s t göt t l i che Vor-sehung. – 5. Man unterscheidet eine natürliche und übernatürliche, ei-ne allgemeine und eine persönliche Vorsehung. – 6. In der Natur die-nen die Geschöpfe einander. – 7. Alles untersteht der göttlichenVorsehung, auch alles Unerwartete, ja auch Mißgeburten, sie sindgleich Schatten auf Gemälden.

4. Kapitel: Die übernatürliche Vorsehung gegenüber den vernunft-begabten Geschöpfen. 108

1. Von Ewigkeit her beschloß Gott, die innigste Vereinigung miteinem Geschöpf einzugehen, – 2. und zwar erwählte er dazu diemenschl iche Natur . – 3 . Diese Mitte i lung seiner Güte wol l te erauf viele Geschöpfe um seines vielgeliebten Sohnes wegen ausströ-

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men lassen, weswegen er die Menschen und die Engel erschuf. – 4. Ausden verschiedenen Möglichkeiten, die Menschheit mit der Gottheitzu vereinigen, wählte Gott die Zeugung durch eine Frau ohne Mann;er erkor dafür Unsere Liebe Frau. – 5. Gott beschloß, alle Dingeunseres Herrn wegen ins Dasein zu rufen, und so erschuf er dieEngel und Menschen in ursprünglicher Gerechtigkeit , – 6. abermit Freiheit begabt, so daß sie die Gerechtigkeit verlieren konnten.Tatsäch l i ch ver lor s ie e in Te i l der Enge l und wurde auf ewigverstoßen. – 7. Gott sah auch voraus, daß der erste Mensch seineFreiheit mißbrauchen würde, wollte aber infolge vieler mildernderUmstände nicht mit gleicher Strenge gegen ihn vorgehen und be-schloß, ihm Verzeihung zu gewähren. – 8. Damit aber das Erbar-men nicht der Gerechtigkeit entbehrte, beschloß er die Rettungder Menschen auf dem Weg eines gestrengen Loskaufes durch eineErlösung, die überreichlich alle Mittel erwerben sollte, damit wir zurHerrlichkeit gelangten.

5. Kapitel: Die himmlische Vorsehung hat den Menschen eine über-reiche Erlösung geschenkt. 111

1. Wenn wir von mehreren Beschlüssen Gottes sprechen, so redenwir nach unserer Art; in Gott gibt es ja nur einen Akt, der allesumfaßt . – 2 . Wir zerg l iedern d iesen Akt in versch iedene , wei lwir nicht anders können, und sagen also, daß die göttliche Vorsehungim Schöpfungsplan als das Liebenswerteste zuerst den Erlöser woll-te und alles auf ihn hinordnete. – 3. Die Sünde der ersten Menschenbesiegte nicht die Barmherzigkeit Gottes, diese wurde dadurch nurnoch mehr herausgefordert. O glückliche Schuld! – 4. Es bleibenwohl Leid und Drangsal, aber auch dieses gereicht jenen, die Gottl i e b e n , z u m B e s t e n . B e s p r e n g t d u r c h J e s u B l u t , w e r d e n w i rleuchtender weiß als durch den Schnee der Unschuld.

6. Kapitel: Einige besondere Gnadenerweise der Vorsehung in derErlösung der Menschen. 113

1. Gott läßt noch herr l i cher a l s d ie Natur d ie Schätze se inerGnadengaben in der Mannigfaltigkeit der Gnadengaben aufscheinen. –2. Vor allem sollte Maria der Strom der Sünde nicht erreichen,außerdem sollte sie mit allen Blüten der Vollkommenheit beschenktwerden und von jeder Gefahr der Verdammnis und der Sünde er-löst sein. – 3. Auch andere Menschen sollten von der Gefahr derVerdammnis bewahrt werden (der Täufer, Jeremia). – 4. Ande-ren sicherte Gott nicht die Liebe für das ganze Leben, sondernnur für das Ende und eine Zeit zuvor.

7. Kapitel: Die Mannigfaltigkeit der Gnadengaben. Wunder-bare Offenbarung der göttlichen Vorsehung. 115

1. Außer diesen besonderen Gnaden ergoß die göttliche Güte eineF ü l l e v o n S e g n u n g e n ü b e r d i e M e n s c h e n u n d E n g e l – 2 . u .zw . in g rößter Mannigfaltigkeit, so daß es nicht zwei Menschen gibt,die sich an übernatürlichen Gaben vollkommen gleichen. – 3. Die

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Engel sind in ihren Gnadengaben sehr verschieden, entsprechend ihrerverschiedenen Natur. – 4. Jeder Mensch empfängt auch seine eigeneGnade, verschieden von der der anderen. 5. Wir müssen uns hüten zufragen, warum das so ist. Die Kirche gleicht einem Garten, dessenSchönheit gerade in der Mannigfaltigkeit der Blumen besteht.

8. Kapitel: Wie sehr Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben. 1181. Die Liebe ist das Universalmittel unseres Heiles. Jesus verlangtmit unendlicher Sehnsucht danach, daß wir ihn lieben und so ewigse l i g werden . – 2 . N ich t nur e r l aub t e r e s uns , sondern e r ve r -kündet seine leidenschaftliche Liebe zu uns und befiehlt uns, ihnzu l ieben. – 3. Seine Liebe ermutigt die Herzen zur Liebe. – 4. Ja,er klopft an der Tür, d. h. er bietet die Reichtümer seiner Güte dazuauf, uns zu bekehren. – 5. Er verweilt an der Tür, um dort zu klop-fen, dauernd ruft er zur Bekehrung auf, so unendlich ist seine Liebe.

9. Kapitel: Wie Gottes ewige Liebe unserem Herzen mit ihrer Ein-gebung zuvorkommt, damit wir ihn lieben. 120

1 . Au s E r b a r m e n h a t u n s G o t t g e l i e b t u n d a n s i c h g e z o g e n . –2 . D i e Apoden können von der Erde nicht wegfliegen, wenn sie nichtdurch einen Wind gehoben werden. – 3. Die Engel, die gesündigthatten, wurden sofort in der Hölle begraben. Die Menschen aberfallen wohl durch die Sünde gleichsam auf die Erde hinab, sindaber nicht ganz tot, sie haben noch ein wenig Bewegungsfähigkeit.– 5. Gottes Gnade kann sie ergreifen. – 6. Dies geschieht in uns,aber nicht durch uns, wie es dem hl. Petrus nach seiner Sünde ge-geben wurde – und auch als er in Ketten lag. – 7. Gottes Eingrei-fen weckt uns ohne unser Dazutun.

10. Kapitel: Wir weisen oft die Einsprechungen zurück und verwei-gern Gott unsere Liebe. 123

1. Wehe dir, Chorazin... Die Juden widerstanden der angebotenenGnade. Die weniger Antriebe Gottes erfahren hatten, taten Buße,jene die größere Gnaden erhielten, blieben verstockt. – 3. Warumbleiben Engel treu, während andere gefallen sind? Weil die einendurch Gottes Gnade in der Liebe verharrten, die anderen aber durchihren eigenen Willen böse wurden. – 4. Warum fielen Engel derhöchsten Ordnung, während Engel niedriger Ordnung fest blieben?Die einen haben alles Lob Gott zu geben, die anderen alle Schuldsich zuzuschreiben. – 5. Gott verläßt nur diejenigen, die ihn verlassen.

11. Kapitel: Es liegt nicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einenhohen Grad der Liebe besitzen. 126

1. Gottes Gnaden ergießen sich überreichlich auf uns, Gott will aber,daß sie in uns nur mit der freiwilligen Zustimmung unseres Willenseinströmen. – 2. Wir empfangen Gottes Gnaden vergeblich, wennw i r s i e n i c h t i n s H e r z h i n e i n l a s s e n . – 3 . W i l l i g e n w i r n i c h tvollständig ein, so wird der Nutzen der Gnade dem Maße der Einwil-ligung entsprechen, so wie – 4. die Witwe im Leben des Propheten

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Elija nur so viel Öl empfing, als sie leere Gefäße hatte. – 5. Warumsind wir nicht Heilige? Weil wir unsere Freiheit mißbrauchen. –6. Der hl. Franziskus hielt sich für den größten Sünder, er glaubte,wenn andere dieselben Gnaden empfangen hätten, hätten sie Gottviel besser gedient als er. – 7. Wenn manche nicht über den Zustandder Ruhe hinausgelangen, sagt die hl. Theresia, liegt es nicht an Gott,sondern an uns, die der Gnade Hindernisse in den Weg legen.

12. Kapitel: Die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheitihnen zu folgen oder sie abzulehnen. 128

1. Franz von Sales spricht hier nicht von den Wundern der Gnade,die fast in einem Augenblick Wölfe in Hirten verwandelt, – 2. wenndie göttliche Güte aus ihren Schranken tritt und förmlich die Seelemit Gnaden überschüttet. – 3. Für gewöhnlich zieht aber Gott dieMenschen mit den Banden der Liebe an, er lockt sie an sich mitGefühlen der Freude und Lust. – 4. So wird auch unsere Freiheit nichtvergewaltigt. Die Gnade wirkt kraftvoll, aber milde. – 5. Der Willekann dem Zug der Gnade fo lgen oder ihm Widers tand le i s ten .– 6 . So sagt Jesus der Samariterin: „Du würdest ihn vielleicht ge-beten haben.“ Es bleibt die Freiheit, zu bitten oder nicht zu bitten. –7. Wir können aber nicht verhindern, daß Gott auch weiterhin zuunseren Herzen spricht. Gottes Gnade kommt uns zuvor, es stehtaber bei uns, ihr beizustimmen und zu folgen.

13. Kapitel: Erste Empfindungen der Liebe, die Gottes Lockun-gen in der Seele wecken, bevor sie den Glauben hat. 132

1. Wie der Wind ins Gefieder der Apoden fährt und sie hebt, sorüttelt auch die Eingebung den Willen wach. Die göttliche Gütekommt uns zuvor. Es geschieht „in uns“, aber „ohne uns“. – 2. Gebenwir eine noch so geringe Zustimmung, wird die Gnade ihre Tätigkeitmit unserer Einwilligung vereinen und uns von Stufe zu Stufe der Lie-be hinaufhelfen. – 3. Die ersten Liebesregungen sind erst eine be-ginnende Liebe, noch nicht Frucht, aber fruchtverheißende Blüten. –4. So weckte die Gnade im späteren hl. Pachomius, als er die liebe-volle Hilfe von Christen gewahrt, die ersten Regungen des Glaubensund der Liebe, – 5. denen er entsprach, so daß er zu Gott um tie-feres Wissen betete. – 6. So stärkt Gott sachte seine Gnade in denMenschen, wenn sie ihr beistimmen. Mächtig sind Gottes Lockungen,sie zwingen aber nicht.

14. Kapitel: Empfindungen göttlicher Liebe, die mit dem Glaubenempfangen werden. 135

1. Wenn Gott uns den Glauben schenkt, so geschieht dies nicht aufdem Weg von Darlegungen, sondern durch göttliche Eingebungen.Gott zeigt, wie l iebenswert das ist , was wir glauben sollen. – 2.Dabei legt Gott der Seele die Geheimnisse des Glaubens in Dunkelgehüllt vor; wir sehen nicht, sondern ahnen nur diese Wahrheiten.Trotzdem verschafft dieses Hell-Dunkel des Glaubens sich Glau-ben und Gehorsam, – 3. so daß der Glaube mit der Braut im Hohe-

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lied sagen kann: „Schwarz bin ich, aber schön.“ – 4. Beweise ma-chen die Religion glaubwürdig, aber nur die Gnade des Glaubensbewirkt ta t sächl ichen Glauben. – 5 . So wie be i Konzi l ien d ieDiskussionen vorausgehen, die Entscheidung aber der Heilige Geistfällt, – 6. so beginnt der Glaube durch die göttliche Einwirkung,die seine Schönheit der Seele vorstellt , dadurch in ihr Wohlgefal-len daran auslöst und damit einen Beginn der Liebe einschließt.

15. Kapitel: Das große Liebesempfinden, das wir durch die heiligeHoffnung empfangen. 138

1. Da wir eine natürliche Neigung für das höchste Gut haben, emp-finden wir Liebe zu ihm, sobald der Glaube es uns zeigt. – 2. Dasmenschliche Herz strebt auf Gott hin, ohne recht zu wissen, wie erist. Findet es ihn im Born des Glaubens, welch heiliges Verlangennach Vereinigung mit ihm! – 3. So wie es auch sonst Vorgefühlevon Freuden gibt, die man noch nicht kennt und die die Freude um sogrößer machen, wenn sie eintreten, so empfindet auch die Seelefrohes Glück, wenn sie Gott findet, nach dem sie unbewußt strebt. –4. Welche Freude, wenn ihr Durst nach Glück jetzt gelöscht wird,da sie das höchste Gut gefunden hat.

16. Kapitel: Wie die Liebe in der Hoffnung tätig ist. 1401. Der Glaube weckt Wohlgefallen an Gott, und dieses weckt Sehn-sucht nach seiner Gegenwart. – 2. Diese Sehnsucht aber würde zurQual, wären wir nicht sicher, sie stil len zu können. – 3. Gott hatuns aber diese Sicherheit gegeben; dadurch wird unsere Sehnsuchtauch gestärkt, ihr aber das Quälende genommen und dem HerzenFriede geschenkt. Das ist die Wurzel der Hoffnung. – 4. Dieses Hof-fen ist in uns vom Streben begleitet, weil Gott unser Mitwirkenverlangt; – 5. das Streben ist ein Sprößling der Hoffnung. Beideaber gehören unzertrennlich zusammen und beide haben ihre Wurzelin der sehnsüchtigen Liebe nach dem höchsten Gut. – 6. Alles darinist aber Liebe: Glaube weckt Liebe, diese die Sehnsucht, diese dieHoffnung und das Streben; so zielt die Hoffnung in jeder Hinsichtauf Gott hin und ist folglich eine göttliche und theologische Tugend.

17. Kapitel: Die Liebe der Hoffnung ist wohl sehr wertvoll, aberdoch noch unvollkommen. 143

1. In der Hoffnung l ieben wir Gott , nicht weil er in s ich selbergut ist , sondern weil er gut gegen uns ist . – 2. Wohl wird in derHoffnung Gott nicht nur um unserer selbst wil len geliebt – sonstwäre ja die Selbstl iebe das Ziel der Gottesl iebe; – 3. aber s ie istdoch eine Liebe des Begehrens, wohl eines heiligen Begehrens; unserInteresse spielt auch mit , aber Gott hat den Vorrang, er ist unserZiel , in dessen Besitz die ganze Seligkeit besteht. – 4. Wir l ie-ben Eltern, Vorgesetzte, nicht weil sie Eltern usw. sind, sondernweil sie unsere Eltern sind. – 5. So lieben wir Gott auch in derTugend der Hoffnung, wei l er unser höchstes Gut ist , – 6 . undwir l ieben ihn auf höchste, weil er eben unser höchstes Gut ist. –

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Trotzdem ist die L i e b e h i e r n o c h unv o l l k o m m e n , d e n n i n d e rHoffnung l ieben wir Gott nicht , wei l er die unendl iche Güte ansich i s t , sondern wei l er es für uns i s t .

18. Kapitel: Die Liebe in der Buße. Verschiedene Arten der Buße. 1461. Buße ist Reue und Vorsatz, das Unrecht wieder gutzumachen. –2. Es gibt eine rein natürliche Reue, wie sie auch Heiden hatten. –3. Es gibt auch eine natürliche Reue aus dem Bewußtsein, Gottbeleidigt zu haben. Auch diese findet sich bei den Heiden. – 4. Sie ge-h ö r t i n d a s G e b i e t d e r b l o ß n a t ü r l i c h e n Re l i g i o n . – 5 . U n dd o c h i s t die Buße eine durchaus christliche Tugend; die Heidenkannten sie kaum, den Christen aber ist sie wesentlich. – 6. Sie ent-steht durch die Erkenntnis, Gott durch die Sünde beleidigt zu ha-ben – woraus dann mehrere Beweggründe entspringen, z. B. Furchtv o r d e r H ö l l e , – 7 . H ä ß l i c h k e i t d e r S ü n d e , – 8 . S c h ö n h e i td e r Tu gend, Beispiel der Heiligen.

19. Kapitel: Buße ohne Liebe ist noch unvollkommen. 1491. Diese Reue ist wertvoll (die Heilige Schrift und die Kirche for-dern dazu auf), aber unvollkommen, weil ihr Motiv der Gottes-liebe noch fehlt, das sie allerdings nicht verwirft, – 2. denn dann wäresie schlecht. Strebt der Wille das Gute an, verwirft aber das Bes-sere, so ist er ungeordnet. Furcht und die anderen Motive der un-vollkommenen Reue sind gut für den Anfang, wären aber schlecht,wenn man nicht bis zur Liebe vorstoßen wollte. – 3. Die Reue, diedie Liebe ausschließt, ist höllisch; die Reue, die die Liebe nichtausschließt, aber auch nicht einschließt, ist gut, aber unvollkommen.Sie genügt zum Heil erst, wenn sie mit der Gottesliebe verbundenist.

20. Kapitel: Wie Liebe und Schmerz bei der Reue ineinander ver-schmelzen. 151

1. Die Natur verwandelt nie Feuer in Wasser, Gott aber legt zu-weilen in die Seele inmitten des Leids inniger Reue das heiligeFeuer der Liebe, das sich umwandelt in die Wasser der Reuetränen,die sich dann wieder umwandeln in noch größeren Liebesbrand. –2. Die vollkommene Reue trennt die Seele kraft des Reueschmerzesvon dem Geschöpf, das sie gefesselt hatte – und vereinigt sie mitGott kraft der Liebesmotive. – 3. Weder der Reueschmerz noch dieLiebe geht immer voraus, oft taucht beides zugleich auf. – 4. Gewöhn-lich erscheint die Reue vor der Liebe, diese folgt ihr aber auf denFuß. Die unvollkommene Liebe sehnt sich nach Gott, die Buße suchtund findet ihn, die vollkommene Liebe hält ihn fest. – 5. Es kommtauch vor, daß eine vollkommene Reue nur Kraft und Eigenschaften derLiebe enthält, nicht aber ihre eigentliche Tätigkeit, – 6. insofernnicht das Wohlgefal len an Gott zur Vereinigung antreibt , son-dern das Mißfallen an der Sünde; aber sie treibt zur Vereinigungmit Gott an, hat also die Eigenheit der Liebe – 7. und deren Kraft,weil die Erkenntnis der Sünde mit der Sehnsucht nach Gott dieSeele zur Liebe entflammt, womit allerdings die Liebe selbst schon

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da ist. Das Ende der Reue bringt damit den Beginn der Liebe. –8. Diese liebende Reue äußert sich dann gewöhnlich in Herzenser-hebungen zu Gott, in Stoßgebeten.

21. Kapitel: Die liebevollen Lockungen des Herrn helfen und be-gleiten uns bis zum Glauben und zur Liebe. 155

1. Zwischen dem ersten Erwachen von der Sünde bis zum festenEntschluß, zu glauben, l iegt oft eine lange Zeit, während der esgut ist zu beten, – 2. wie es Augustinus getan, dessen Bekehrungsich so viele Schwierigkeiten entgegensetzten. – 3. Der Herr locktuns, aber auch die Versuchungen locken und der Mensch bleibt frei,dem einen oder den anderen zu folgen. – 4. Weisen wir die Gnadenicht zurück, so erweitert sich die Seele, bis sie ganz umgewandeltist. So erging es dem Apostel Petrus. – 5. All dies ist Gnade: erstesWecken der Seele, das Beten, das Laufen zu Gott, die Liebe. –6. Lassen wir nicht von der Gnade, dann läßt sie nicht von uns,bis sie uns in den Hafen der göttlichen Liebe gebracht hat.

22. Kapitel: Kurze Beschreibung der Gottesliebe. 1581. So geleitet Gott die Seele von Liebe zu Liebe, – 2. die echteFreundschaft mit Gott ist , – 3. weil s ie gegenseit ige Liebe ist , –4. aber eine Freundschaft auserlesener Art, – 5. daher kann nurGott s ie ver le ihen, – 6 . und s ie thront auf der höchsten Spitzeunseres Geistes als Königin, Krone und Sonne unserer Seele.

III. Buch: ForIII. Buch: ForIII. Buch: ForIII. Buch: ForIII. Buch: Fortschritt und Vtschritt und Vtschritt und Vtschritt und Vtschritt und Vollendung der Liebeollendung der Liebeollendung der Liebeollendung der Liebeollendung der Liebe

1. Kapitel: Die heilige Liebe kann in jedem stets vermehrt werden. 1621. Die Heilige Schrift und das Konzil von Trient versichern uns, daßwir stets in der Gerechtigkeit wachsen können und sollen. – 2. Esist unmöglich, im gleichen Zustand zu bleiben. Wer nicht hinauf-steigt, steigt hinab. – 3. Wer Jesus nachfolgt, schreitet beständigvorwärts. – 4. Stets vorwärts zu schreiten, ist Gottes Gebot. Sitzenbleiben ist des Teufels. – 5. Wahre Tugend kennt keine Grenzen. –6. Die heilige Liebe kann also immer wachsen, ohne je unendlichzu werden; Unendlichkeit ist ja nur Gottes.

2. Kapitel: Wie leicht der Herr das Wachsen der Liebe gemacht hat.1641. Auch das Kleinste (ein Glas Wasser) belohnt der Herr mit demWachsen der Liebe, – 2 . denn der Herr i s t es , der in der Seeledie Liebe vermehrt; – 3. u. zw. je nach dem Gebrauch, den wir vonseiner Gnade machen. Auch die geringsten und lässig vollzogenenWerke haben Wert vor ihm. – 4. Freilich soll das Herz mit großemEifer kostbare Werke vollbringen, damit die Liebe dadurch kräftigvermehrt werde. – 5. Gute Werke vermehren also die Liebe, auchwenn sie gering sind, wenn sie aus Liebe getan werden. (Bei densittlichen Tugenden ist es anders.)

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3. Kapitel: Fortschritte in der Liebe. 1671. Das Gleichnis von der ohnmächtig gewordenen Prinzessin , –2. der der Fürst vier Liebesdienste erweist. – 3. So handelt auchGott gegen die Seele, die seine Braut ist , s ie kann ohnmächtigwerden, d. h. in die Sünde fallen. – 4. Gott hilft ihr, indem er siezunächst zum Leben wieder erweckt . Er tut d ies in uns , aberohne uns. Wenn sie nun gehen kann, stützt er sie, so daß sie nurmit se iner Hi l fe gehen kann. – 5 . Kann s ie auch schon a l le ingehen, dann zeigt er immer noch seine Liebe, spornt sie an, unter-stützt sie und festigt sie gegen Versuchungen. – 6. In schwierigenSituationen und zu besonders erhabenen Taten s tärkt s ie Gott ,richtet sie auf und hilft ihr vorwärts . – 7 . Daher i s t das Gebetimmer notwendig , w ie es – 8 . die Beispiele des hl. Antonius undder hl. Katharina von Siena zeigen.

4. Kapitel: Die heilige Beharrlichkeit in der göttlichen Liebe. 1721. G o t t s o r g t f ü r u n s w i e e i n e M u t t e r f ü r i h r K i n d , h ä l t u n san der Hand, läßt uns gehen oder trägt uns, bewirkt in uns das„Wollen und Vollbringen“ (Konzil von Trient). – 2. In dieser Füh-rung durch Gott von der ersten Einführung in der Liebe bis zuderen Vollendung in der Todesstunde besteht die große Gabe derBeharrlichkeit. – 3. Diese Folge von göttlichen Hilfen ist sehr kurzbei jenen, die sich knapp vor dem Tod bekehren, – 4. bei anderenumfaßt s ie eine große Zeitspanne. Gott al lein kann s ie geben,wir mögen sie aber erbitten und die Mittel gebrauchen. – 5. So liegtsie auch in unserer Macht , wenn s ie auch von Gott geschenktwird, d e s s e n G n a d e a b e r n i e f e h l t . – 6 . D a h e r m ü s s e n w i ru n s e r e ganze Hoffnung auf Gott setzen, der das Werk, das erbegonnen, auch vollenden wird, wenn wir nicht versagen.

5. Kapitel: Das Glück, in der göttlichen Liebe zu sterben, ist einebesondere Gabe Gottes. 175

1. Hat Gott die Seele bis zum Ende des Lebens geführt, dann stehter ihr auch noch im seligen Sterben bei, dann bekennt die Seele,daß Gott alles für sie getan. – 2. Denn Gottes Wille war ja, daßalle Menschen selig werden u. zw. durch Mittel, die ihrer Natur ent-sprechen. Er wollte sie berufen, ihnen Reueregungen mitteilen, dieLiebe schenken, die nötigen Hilfen und die Gnade der Beharrlichkeitgeben. – 3. Gott schenkte die Seligkeit auf die Verdienste hin, dieseauf die Liebe hin, die Liebe auf die Reue hin, diese auf den Gehor-sam hin, den wir der Berufung leisten, und diese auf die Erlösungdurch Christus hin. – 4. Von der Erlösung hängen also alle dieseWirkungen ab. Wenn wir, auf Christus gepfropft, in ihm bleiben, sowerden wir durch seine Hilfe zur Glorie gelangen. – 5. So sollenwir alle ihm angehören und er wird „unser“ sein. Es liegt also anuns, ob wir „sein“ sind, wonach Gott so innig verlangt.

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6. Kapitel: Wir können in diesem Leben nicht zur voll-kommenen Liebesvereinigung mit Gott gelangen. 178

1. Wir sind für Gott geschaffen, die Vereinigung mit Gott, nach derunser Herz sich sehnt, kann aber in diesem irdischen Leben nichtzur Vollkommenheit gelangen. – 2. Die Braut im Hohelied beteu-ert, daß sie ihren Vielgeliebten nie mehr lassen will, – 3. sie maßtsich diese Rechte über ihren Bräutigam an, den sie an sich gefesselthat. – 4. Diese vollkommene Vereinigung der Seele mit Gott wirdaber erst im Himmel stattfinden. – 5. Freilich gibt auch jetzt schond e r B r ä u t i g a m d e n L i e b e s k u ß d u r c h t a u s e n d f a c h e E m p f i n -d u n g e n s e i ner liebreichen Gegenwart, aber es bleibt die Sehnsuchtnach dem erhabenen Kuß der Vermählung, der ewig dauert.

7. Kapitel: Die Liebe der Heiligen auf Erden kann ebenso groß, janoch größer sein als jene der Seligen im Himmel. 180

1. Die Liebe im Himmel ist immer viel größer als jene, die manauf Erden hatte. – 2. Im Himmel l iebt man unablässig, die Liebeis t dor t s tark , unver le tz l i ch , re in und lauter . – 3 . Und doch hates Menschen gegeben, deren Liebe auf Erden die so mancher Heili-gen im Himmel übertraf, u. zw. in der Liebeshingabe und Liebes-haltung, wenngleich sie den Heiligen in der Übung der Liebe nach-standen.

8. Kapitel: Die unvergleichliche Liebe der Mutter Gottes, UnsererLieben Frau. 182

1. Ihre Liebe übertraf wenigstens gegen Ende ihres L ebens dieder höchsten Serafim; sie hat sie sogar schon auf Erden auch inder Ausübung der Liebe übertroffen – 2. Auch ihr Schlaf war einSchlaf der Liebe. Wenn es die Pflicht aller ist, ihren Leib zu lieben,mit welcher Ehrfurcht mußte Maria ihren Leib als Quelle des LeibesChristi lieben, und ihm daher liebevoll die Ruhe geben, der er be-darf . – 3 . Träume s ind Nachwirkungen der Tagesgedanken. Wiehei l ig müssen die Träume Mariens gewesen sein. – 4. So bewahrteMaria stets die göttliche Liebe, ja sie steigerte sie unaufhörlich inunerhörtem Ausmaß als „die Mutter der schönen Liebe“.

9. Kapitel: Vorrede zur Abhandlung über die Vereinigung der Se-ligen des Himmels mit Gott. 185

1. Je schöner der Gegenstand unserer Sinne ist, desto größer ist derGenuß, den der Sinn darin findet. – 2. Der Gegenstand unseres Er-kenntnisvermögens ist nun die Wahrheit; seine Freude ist es, die Wahr-heit zu entdecken und zu erkennen, und je erhabener die Wahrheit ist,desto größer seine Freude und Hingabe. – 3. Daher die überaus großeFreude, wenn wir die Wahrheiten des Glaubens zu schauen beginnen,in den Spuren „seiner Füße“ und in den geoffenbarten Wahrheiten, diewie ein Aufgehen des Morgenlichtes sind. – 4. Aber wie beglückendwird es erst sein, wenn wir die göttlichen Wahrheiten im Mittagslichtder Glorie schauen werden.

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10. Kapitel: Vorausgehende Sehnsucht wird die Vereinigung mitGott gewaltig verstärken. 188

1. Die Sehnsucht, die dem frohen Besitz vorausgeht, schärft undverfeinert die Empfindung, die damit verbunden ist. Je dringen-der das Verlangen, desto größer die Freude des Besitzes. – Wel-c h e Freude a l so , Got tes Ant l i t z schauen zu dürfen . – 2 . DerSchmerz Alexanders des Großen über Welten, die er nicht erobernkonnte, zeigt, daß die Welt nicht genügt, das Herz zu befriedigen. –3. Selige Unruhe des Herzens, welche Freude, wenn sie nach langerSehnsucht im Himmel gestillt ist.

11. Kapitel: Die Vereinigung der seligen Geister mit Gott in derSchau der Gottheit. 189

1. Die Sinne nehmen Abbilder der Dinge, die sie erfassen, auf, siewerden dann durch die Tätigkeit der geistigen Kräfte zu verstan-desgemäßen Abbi ldern . – 2 . So sehen wir auch die Dinge desGlaubens wie in einem Spiegel . – 3. Im Himmel sehen wir aberGott selbst ohne das Mittel eines Abbildes. – 4. Seine Wesenheitselbst vereinigt sich mit uns, so daß wir die Gottheit in sich selbstund durch sie selbst sehen. – 5. Hier haben wir als Unterpfand dasheiligste Altarssakrament, in dem Christus selbst uns zugeeignetwird, wenn auch verschleiert. – Im Himmel gibt sich uns Gott ent-schleiert. Wir werden ihn von Angesicht zu Angesicht schauen, sowie er ist.

12. Kapitel: Die ewige Vereinigung der seligen Geister mit Gottin der Schau der ewigen Geburt des göttlichen Sohnes.191

1. Unser Geist wird also Gott schauen und damit auch das unend-liche Erkennen Gottes eigener Schönheit, zu dessen Ausdruck derVater von Ewigkeit her das „Wort“ aussprach, das auch der ganzeinzige Gott ist, vom Vater verschieden, nicht in der Natur, sondernnur durch das Personsein, – 2. in al lem ganz einziger Gott mitseinem Vater, zwei Personen in einer al leinigen Wesenheit undGottheit. – 3. So ist Gott der Alleinige, doch nicht Einsame. WelcheFreude, diese ewige Geburt des Sohnes zu schauen, – 4 . wennschon die Vision der zeitlichen Geburt Christi einen hl. Bernhardmit sov ie l Freude er fü l l te . – 5 . Wie es ers t se in wird , wenn wirdie ewige Geburt des Sohnes vom Vater sehen als „Gott von Gott,Licht vom Licht“?

13. Kapitel: Die Vereinigung der Seligen mit Gott in der Schaudes Heiligen Geistes. 193

1. Der ewige Vater sieht die unendliche Schönheit seines göttlichenWesens im göttlichen Sohn; dieser sieht diese Schönheit ursprüng-lich im Vater. Ist es da denkbar, daß Vater und Sohn einander nichtin einer unendlichen Liebe lieben, – 2. welche Liebe ein einzigerHauch ist, gehaucht vom Vater und Sohn, ausgehend daher vomVater und Sohn, – 3. unendlich wie der Vater und der Sohn, deren

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Hauch eben auch nur unendlich sein kann, daher wahrer Gott mitdem Vater und Sohn und – 4. eine dritte Person neben Vater undSohn, ein einziger Gott mit ihm? – 5. Wenn schon menschlicheFreundschaft so schön ist, wie schön muß erst die ewige Freundschaftzwischen Vater und Sohn sein, d ie der g le iche Gott mit ihneni s t .

14. Kapitel: Das Licht der Glorie dient bei den seligen Geistern imHimmel zur Vereinigung mit Gott. 196

1. Wir werden im Himmel Gott schauen ohne Bild, aber nicht ohneein wunderbares Licht, das unsere Erkenntniskraft zur erhabenenSchau Gottes bereitet, erhöht und steigert. Der Verstand aus sichheraus kann es nicht. – 2. Daher schenkt uns Gott das Glorienlicht,das uns fähig macht, die göttliche Lichtfülle geraden Blickes zu be-trachten – 3. und nicht nur aus der Ferne. Wir werden, in dieseQuelle hineingetaucht und versenkt, sie kraft des Lichtes der Glo-rie schauen.

15. Kapitel: Die Vereinigung der Seligen mit Gott wird verschie-dene Grade haben. 197

1. Dieses Glorienlicht wird den Seligen das Maß ihrer Schau geben. –2. Alle schauen im Himmel Gottes ganze Wesenheit, aber keinerschaut sie in ihrer ganzen Unermeßlichkeit. – 3. So ist es ja auchmit unseren Sinnen, wir hören, sehen und schmecken dasselbe ver-schiedentlich gut, je nach der Beschaffenheit unserer Sinne. – 4. Nunumfaßt Gottes Unendlichkeit unendlich mehr Vollkommenheiten alswir Aufnahmefähigkeit besitzen, und auch das zu wissen, wird zuunserer Seligkeit gehören. – 5. Wie die Fische die Ozeane nicht aus-schwimmen und die Vögel nicht die ganze Luft durchfliegen, so be-wegen sich die Seelen der Seligen im unendlichen Ozean Gottes;es ist aber ihre ewige Freude, zu wissen, daß dieser noch unendlichgrößer ist als sie ihn genießen können. – 6. Die zwei Wirklichkei-ten reißen die seligen Geister zur Bewunderung hin: die unendlicheSchönheit Gottes, die sie schauen, und der Abgrund der Unendlich-keit , den es noch in dieser Schönheit zu sehen gibt . So ist ihnendie höchste Freude, zu sehen, daß die von ihnen geliebte Schönheitso groß ist, daß sie nur durch sich selbst erkannt werden kann.

IVIVIVIVIV. Buch: V. Buch: V. Buch: V. Buch: V. Buch: Verererererfall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.1. Kapitel: Wir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in

diesem sterblichen Leben sind. 2021. Das gilt für die große Mehrzahl der Gläubigen, – 2. die auchnicht bes tändiger s ind a l s Luz i fer , Adam, David , Petrus . . . –3. Aber wie ist so etwas Furchtbares möglich? – 4. Unsere Seeleist in diesem Leben nicht so von Liebe erfüllt, daß sie sie nichtdurch eine Versuchung verlieren könnte. – 5. So leicht erliegenwir Einflüssen, so leicht werden wir von Scheingütern getäuschtund überrumpelt.

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2. Kapitel: Das Erkalten der heiligen Liebe. 2051. Die Liebe kann so geschwächt sein, daß sie sich zu keiner Tätigkeitmehr aufrafft. – 2. Die läßlichen Sünden, besonders wenn sie zahlreichsind und aus Anhänglichkeit geschehen, lähmen die Liebe, aber lö-schen sie nicht aus. – 3. Wenn Gott den Bischof von Ephesus tadelt,daß er von der ersten Liebe abgewichen ist, und wenn der Heilandvoraussagt, daß die Liebe vieler erkalten wird, so heißt es noch nicht,daß sie tot ist, wohl aber untätig und unfruchtbar. – 4. Aber Sünde istauch die läßliche Sünde, – 5. und die Anhänglichkeiten an läßlicheSünden halten die Liebe wie eine Sklavin gefangen; sie kann aber nichtlange untätig sein, ohne zugrunde zu gehen. – 6. Durch die läßlicheSünde macht man sich für die Todsünde bereit und steht in großerGefahr, die Liebe ganz zu verlieren.

3. Kapitel: Wie man die Liebe zu Gott aus Liebe zu den Geschöp-fen aufgibt. 207

1. Wenn man von der Liebe keinen Gebrauch macht, d. h. keineWerke der Liebe tut, verkümmert sie und wird dann von den Versuchun-gen überrumpelt. – 2. Das Schlechte kann dann seine Reize tief ins Herzhineinwerfen, und wenn man dann Gefallen daran findet, kann es dieLiebe ersticken. – 3. So war es bei Eva. – 4. Wer sich eitlen Ver-gnügungen hingibt und sich in seiner Eigenliebe gefällt, fällt leichtdem Feind zum Opfer. – 5. Scheingüter verführen uns, – 6. wennder Glaube nicht als Schi ldwache aufmerksam bleibt . – 7. WieAbschalom durch schmeichelhafte Reden das Volk verführte, so zeigtauch uns die Eigenliebe Scheingüter und überzeugt uns, wenn derGlaube nicht wacht, – und dann weicht die Liebe aus der Seele. –Jammervoller Anblick!

4. Kapitel: Die heilige Liebe geht in einem Augenblick verloren. 2101. Die Eigenliebe führt zur Verachtung Gottes; ist es so weit, so gehtdie göttliche Liebe in einem Augenblick zugrunde. – 2. In der Ver-achtung Gottes liegt das Wesen der Todsünde. – 3. Die Liebe ist sogroß, daß sie nicht aufhören kann zu herrschen, ohne daß sie nichtzugleich aufhört zu sein. – 4. So wird die Liebe, die in einem Au-genblick in unsere Herzen durch den Heiligen Geist eingegossen wird,auch nicht in einem Augenblick von uns genommen. – 5. Man verliert vonihr nicht das Geringste, ohne sie ganz zu verlieren. – 6. Der Ent-schluß, Gottes Willen allem vorzuziehen, ist das Wesensstück derLiebe; man kann davon nicht das Geringste wegnehmen, ohne die Lie-be zugrundezurichten.

5. Kapitel: Der freie geschöpfliche Wille ist einzige Ursache desVersagens und Erkaltens der Liebe. 213

1. Wir allein sind Ursache unseres Verderbens. Die göttliche Gnadefehlt niemals denen, die ihr Bestes tun und um die göttliche Hilfebeten. – 2. Wenn die Sonne dem schlafenden Wanderer ins Gesichtscheint , läßt er s ich wecken oder er dreht s ich um und schläftweiter. – 3. Die geweckt werden, verdanken es der Sonne. – 4. Die

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sich nicht wecken ließen, haben nur sich selbst anzuklagen. – 5. Sohaben auch alle, die den Eingebungen folgen, allen Grund sich zufreuen, aber keinen, sich zu rühmen; – 6. während jene, die imSchlaf der Sünde verharren, wohl Grund haben zu jammern; dieSchuld müssen sie sich aber selbst zuschreiben.

6. Kapitel: Wir müssen anerkennen, daß Gott uns alle Liebe gege-ben, die wir für ihn hegen. 215

1. Die Liebe zu Gott verdankt Ursprung, Entfaltung und Vollendungder ewigen Liebe Gottes zu den Menschen. – 2. Alles haben wir vonGott empfangen, besonders die übernatürlichen Güter der heiligenLiebe, die Einwilligung nicht ausgenommen. – 3. Nie hätten wir dasKönnen und Wollen zur Mitwirkung aufgebracht, wäre die Gnadenicht zuvorgekommen. Wir können die Wirkung der Eingebung ver-hindern, wir können sie aber nicht geben. – 4. Gegeben wird sie vonGott. – 5. Beispiel von der Perlmutter. – 6. Gott allein wirkt alles inuns und ohne ihn ist nichts geschehen.

7. Kapitel: Wir müssen jegliche Neugierde überwinden und uns de-mutsvoll der allweisen göttlichen Vorsehung überlassen. 219

1. Wenn wir aus eitler Neugierde unsere Überlegungen zu Göttli-chem erheben wol len, werden wir in unserem Denken nicht ig . –2 . Niemals dürfen wir unseren Verstand in solch närrischen Wirbel-wind hineinziehen lassen; unsere Pflicht ist es, Gottes Ratschlüsseanzubeten. – 3. Wir wissen aus vielen Stellen der Heiligen Schrift,warum Gott das Volk der Juden verwarf, und doch mahnt Paulus, daßes nicht gut ist, über die unergründlichen Ratschlüsse Gottes nach-zugrübeln. – 4. So sagt auch Augustinus, dem Christen genügezu wissen, daß Gott niemand rettet, es sei denn aus Barmherzigkeit,und niemand verdammt, es se i denn aus Gerecht igkeit . – 5 . Esgenügt zu wissen, daß es von Gott abhängt, daß man steht, abernicht von ihm kommt, daß man fällt . – 6. Man kann für GottesRatschlüsse nur Billigkeitsgründe anführen und in Wirklichkeit sindes vielleicht andere; jedenfalls übersteigen sie unser Erkennen undBegreifen, was uns in demütiger Unterwerfung unter Gottes heiligenWillen halten soll.

8. Kapitel: Mahnung zur liebenden Unterwerfung, die wir den Be-stimmungen der göttlichen Vorsehung schulden. 223

1. Laßt uns die Tiefe der Gerichte Gottes l ieben und anbeten.– 2. Erst im Himmel werden wir die Beweggründe des göttlichenWillens verstehen. – 3. Wir verstehen nicht, warum es in einerUhr d i e v i e l e n R ä d e r g i b t , d e r U h r m a c h e r w e i ß e s . – 4 . S ow e i ß a uch nur der göttliche Urheber der Welt den Sinn all des-sen, was dort vorgeht. – 5. Wie Menschen, die an Schwindel lei-den, sehen wir die Dinge oft nicht richtig. Die Beweggründe dergöttlichen Vorsehung wären armselig, würden wir sie verstehen.Glauben wir an die Liebe und Weisheit Gottes!

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9. Kapitel: Zuweilen bleibt ein Überrest von Liebe in der Seele,obgleich sie die heilige Gottesliebe verlor. 226

1. Wie traurig das Schauspiel einer in die Todsünde herabsinkendenSeele. – 2. Zustand der „unvollkommenen Liebe“. – 3. Es bleibteine gewisse Scheinliebe zurück, – 4. gleichsam ein Echo der erstenLiebe, – 5. ein Nachklang derselben, – 6. von der echten Liebeaber sehr verschieden, – 7. wenn auch aus ihr geboren.

10. Kapitel: Wie gefährlich die unvollkommene Liebe ist. 2281. Wenn die Liebe aus der Seele gewichen ist, läßt sie Spuren zurück,– 2. die nicht immer leicht von der echten Liebe zu unterscheidensind. – 3. Auch diese unvollkommene Liebe ist als Geschöpf derheiligen L i e b e a n u n d f ü r s i c h g u t . – 4 . S i e i s t g e f ä h r l i c h ,w e i l m a n s i c h m i t i h r l e i c h t b e g n ü g t u n d s i e f ü r d i e w a h r eL i e b e h ä l t , – 5. weil sie uns so täuscht, – 6. und dazu führt, daßman sich einbildet, heilig zu sein, und darüber ruhig bleibt.

11. Kapitel: Wie man die unvollkommene Liebe erkennen kann. 2301. Findest du in dir Absichten, schwere Sünden zu begehen, so istdie heil ige Liebe nicht in deinem Herzen. – 2. Es handelt s ichallerdings um die gegenwärtigen Absichten, nicht um etwas, waseinmal eintreffen könnte, – 3. wie ja auch eingebildete Tapferkeitin eingebildeten Köpfen nicht wirkliche Tapferkeit ist. – 4. Für dieZukunft müssen wir einfach auf Gott vertrauen – 5. und das auf-richtige Verlangen haben, mutig kämpfen zu wollen.

VVVVV..... Buch: Die zwei HaupttätigkBuch: Die zwei HaupttätigkBuch: Die zwei HaupttätigkBuch: Die zwei HaupttätigkBuch: Die zwei Haupttätigkeiten der Liebe:eiten der Liebe:eiten der Liebe:eiten der Liebe:eiten der Liebe:WWWWWohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlwollen.ohlwollen.ohlwollen.ohlwollen.ohlwollen.

Mit dem 5. Buch beginnt die Schilderung der Tätigkeiten, der Aus-wirkungen der Gottesliebe. Die ersten zwei, von denen dieses Buchhandelt, sind 1.) das Sich–Freuen an Gott, das Wohlgefallen, dasman an Gott findet, 2.) das Wohlwollen, das heißt, daß man GottGutes will, es ihm wünscht oder wünschen will.

1. Kapitel: Das heilige Wohlgefallen der Liebe und worin es be-steht. 234

1. Das heilige Wohlgefallen ist der starke Beweggrund der Liebe,wie d iese d ie s tarke Bewegung i s t , d ie durch das Wohlgefa l lenausgelöst wird. – 2. Dieses Wohlgefallen an Gott hat seinen Ur-sprung in der Betrachtung der Vollkommenheiten Gottes. – 3. Esw i r d d u r c h A k t e d e r Z u s t i m m u n g u n d d e r F r e u d e g e f ö r d e r t ,– 4 . d ie dann eben Akte der Freude und des Wohlgefallens sind, –5. durch die wir förmlich die Vollkommenheiten Gottes in uns hin-einziehen. – 6. Dies wird im Himmel in vollendeter Weise gesche-

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hen, – 7. aber es bewirkt jetzt schon, daß wir Gott ähnl ich wer-den, – 8 . wie es bei St. Paulus der Fall war, der seinen Ruhm, d.h. sein Wohlgefallen nur im Kreuz Christi fand.

2. Kapitel: Durch das heilige Wohlgefallen werden wir gleich klei-nen Kindern an der Brust des Herrn. 236

1. Im heiligen Wohlgefallen der Liebe hält der himmlische BräutigamGastmahl mit uns und wir mit ihm. – 2. Wir gefal len uns an ihmund er gefäl l t s ich an unserem Wohlgefal len. – 3. So z iehen wirdas Herz Gottes in das unsere hinein und machen uns alle Güterund Freuden des Bräutigams zu eigen. – 4. Wir empfangen von sei-nen reichen Schätzen, – 5. die vergleichbar sind mit der Milch, demHerzblut der Mutter, mit dem sie ihr Kind stil lt , – 6. und gleichdieser der Seele Freude ohne Übermut, heiligen Rausch ohne Ver-wirrung und Belebung schenken.

3. Kapitel: Herzenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nachseinem Besitz als Wirkung heiligen Wohlgefallens. 240

1. Durch das Wohlgefallen ist Gott unser und wir sind sein, – 2. wirwerden Besitzer Gottes und Gottes Besitz. – 3. Wir sättigen da-durch unsere Seele mit Freude, wünschen aber immer noch mehr,uns an Gott zu sättigen. – 4. Weil Gott ein unbegrenztes Gut ist,herrscht das Verlangen im Besi tz und der Besi tz im Verlangen. –5. Die Seele ruht in Gott, trotzdem bleibt die Sehnsucht, Gott nochmehr zu l ieben; so i s t Ruhe in der Bewegung der Affekte undBewegung in der Ruhe in Gott, – 6. nicht Bewegung, um Gott zusuchen, sondern um sich in Gottes Liebe zu ergehen.

4. Kapitel: Das liebevolle Mitleid, ein noch deutlicher Aus-druck der Liebe des Wohlgefallens. 244

1. Mitleiden ist Teilnahme am Leiden. – 2. Die Größe des Mit-leidens hängt von der Liebe, ihrem Ursprung ab, – 3. auch von derGröße der Leiden. – 4. Es wird erhöht durch die Gegenwart desLeidenden. – 5. Mitleiden und Freude am Beispiel des PatriarchenJ a k o b . – 6. Freude, die selbst den Tod überwindet.

5. Kapitel: Leid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn. 2471. Mitleiden aus Liebe beim Anblick des Leidens Christi. – 2. Liebeheiligen Wohlgefallens, da Jesus aus Liebe leidet. – 3. Leiden undLiebe in Jesus und in der Seele, die Jesus l iebt. – 4. Daher dieWundmale des hl. Franziskus und der hl. Katharina. – 5. Durch seinliebevolles Leiden will Jesus in unserer Seele einkehren.

6. Kapitel: Die Liebe des Wohlwollens, die sich Gott gegenüber inWünschen äußert. 250

1. Gott kommt uns mit seinem Wohlwollen zuvor, bei uns folgt esdem Wohlgefallen. – 2. Die Liebe des Wohlwollens kann sich beiuns nur in bedingten Wünschen äußern – 3. und im begeistertenGebet, wie auch im Wunsch nach größerer Liebe zu Gott.

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7. Kapitel: Der Wunsch, Gott zu lobpreisen, trennt uns von denminderwertigen Freuden und lenkt die Aufmerksamkeiten auf dieVollkommenheiten Gottes. 252

1. Der Wunsch nach größerem Wohlgefallen an der Güte Gottestreibt die Seele an, sich aller anderen Vergnügungen zu berauben,um Gott allein anzugehören. – 2. Daher hält sich die Seele bei Ge-schöpfen nicht mehr als notwendig auf, – 3. wie Maria Magdalena,die nur ihren Meister sucht, wie die heiligen drei Könige, wie Mariaund Josef, als s ie Jesus verloren hatten. – 4. Die Seele versenktsich deshalb auch in alles, was ihre Liebe stärken kann.

8. Kapitel: Das heilige Wohlgefallen führt zum Lobpreis des gött-lichen Vielgeliebten. 254

1. Der Gelobte und Geehrte hat keinen Vorteil von Lob und Ehre,– 2. auch Gott nicht. Aber es entspricht dem menschlichen We-sen und ist geeignet, unsere Liebe auszudrücken. – 3. So wünschtdie Seele wenigstens, daß Gottes Name mehr gepriesen werde undsie fängt damit bei sich selber an. – 4. Sie ereifert sich zu immervermehrtem Lobpreis Gottes. Dies vertieft wieder das Wohlgefallenan Gott , was die Seele wieder zu neuem Lobpreis Gottes auf-muntert . – 5 . Wie die Nachtigal l s ingt , bis s ie tot hinsinkt , sovergeht a u c h d i e S e e l e i m L e i d , G o t t n i c h t g e n u g l o b e n z uk ö n n e n . – 6. Gleich einer Zikade möchte sie Gott mit vielen Keh-len, mit allen Seelenkräften lobsingen.

9. Kapitel: Das heilige Wohlwollen treibt uns an, alle Geschöpfezum Gotteslob aufzurufen. 258

1. So die Jüngl inge im Feuerofen und der Psalmist , – 2 . so St .Franziskus im Sonnengesang und die Braut im Hohelied. – 3. Soruft auch die liebende Seele alle Geschöpfe auf, am Lobpreis Got-tes te i lzunehmen, – 4 . und es treibt s ie zur Verkündigung desWortes Gottes unter den Heiden und so vielen Werken im Dien-ste Gottes .

10. Kapitel: Das Verlangen, Gott zu loben, weckt unsere Sehnsuchtnach dem Himmel. 260

1. Die Seele sieht, daß sie ihr Verlangen, Gott würdig zu loben, aufErden nicht stillen kann, während sie von den wunderbaren Lob-gesängen Gott zu Ehren im Himmel weiß, wo – 2. das WohlgefallenGottes vom Thron Gottes in die Herzen strömt und diese mit demHalleluja heil igen Wohlwollens antworten. – 3. Daher das Ver-langen gottliebender Seelen nach dem Himmel, das bei St. Franzis-kus so mächtig war, ihn der Erde zu entreißen.

11. Kapitel: Unsere Liebe des Wohlwollens im Gotteslob des Er-lösers und seiner Mutter. 262

1. Wir steigen von Stufe zu Stufe, wenn wir zum Lobgesang Gotteseinladen, und erheben uns schließlich zur heiligsten Jungfrau, die

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unter den Geschöpfen den unvergänglichsten Lobpreis Gottes singt.– 2. Über ihr aber steht noch Jesus, der Gottmensch. Der Sohn singtdem Vater herrlichen Lobgesang, – 3. göttl ichen Lobgesang, daJesus wahrer Gott ist, herrlicheren Lobpreis als alle menschlichenLoblieder – 4. Erneute Quelle unserer Sehnsucht nach dem Himmel.

12. Kapitel: Das Lob über alles Lob, das Gott sich darbringt.Wie unser Wohlwollen dabei tätig ist. 266

1. Wenn das Gotteslob Jesu auch unendlich ist auf Grund der Person,die es darbringt, so doch nicht ihrer Natur und Wesenheit nach. –2. Daher wird Gott noch unendlich lobenswerter sein, als er selbstvon Jesus gelobt werden kann. – 3. Nur er selbst kann sich das Lobgeben, das ihm gebührt. Daher beten wir auch: „Ehre sei . . . wieim Anfang so auch jetzt und in Ewigkeit.“ – 4. Welche Freude fürdie Seele, ihre Sehnsucht nach einem Gottes würdigen Lob durch ihnselbst gestillt zu sehen. – 5. Die Seele findet die Ruhe in der stetenBewegung des Wohlgefallens und des Wohlwollens.

VI. Buch: Die TätigkVI. Buch: Die TätigkVI. Buch: Die TätigkVI. Buch: Die TätigkVI. Buch: Die Tätigkeiten der heiligen Liebe im Gebeteiten der heiligen Liebe im Gebeteiten der heiligen Liebe im Gebeteiten der heiligen Liebe im Gebeteiten der heiligen Liebe im Gebet

1. Kapitel: Beschreibung der mystischen Theologie, die nichts an-deres ist als das Gebet. 270

1. Wir unterscheiden zwei Hauptübungen der Liebe zu Gott: die Af-fektliebe und die Tatliebe. – 2. Die Affektliebe besteht hauptsächlichaus dem Gebet, dessen Beschreibung nicht leicht ist. – 3. Wir verste-hen unter Gebet nicht nur Bit ten, sondern jedes Sprechen mitG o t t und zwar über Gott. – 4 . Daher sind Gebet und mystischeTheologie ein und dasselbe (aber von der spekulativen Theologieverschieden). – 5. Sie heißt mystisch, weil das Gespräch ganz imGeheimen vor sich geht. – 6. Gebet ist also ein liebevolles Gesprächmit Gott über seine Güte, um mit ihm eins zu werden. – 7. DasGebet ist ein verborgenes Manna, – 8. denn Liebe verlangt nachHeimlichkeit ; – 9. s ie spricht auch mit den Augen, durch Sehn-sucht und Gebärden, ja auch durch Stille und Schweigen.

2. Kapitel: Die Betrachtung, die erste Stufe des innerlichen Gebetesoder der mystischen Theologie. 274

1. Betrachten ist aufmerksames, wiederholtes Nachdenken, das ge-eignet i s t , gute und böse Affekte zu wecken. – 2 . Nicht jedesNachdenken ist Betrachten, – 3. sondern nur solches, das daraufgerichtet ist, den Willen zu heiligen und zu heilsamen Affekten undEntschlüssen anzuregen. – 4. Unterschied zwischen mündlichemBeten und Betrachten, – 5. das ein Nachsinnen, wiederholtes Vor-kosten, sozusagen Wiederkauen ist, ein Gehen von Geheimnis zuGeheimnis mi t der Abs icht , Beweggründe zur Liebe zu f indenund hei l ige Affekte in uns zu wecken.

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3. Kapitel: Die Beschauung – Erster Unterschied zwischen ihrund der Betrachtung. 278

Die Beschauung ist nichts anderes als ein liebevolles, einfaches,ständiges Aufmerken des Geistes auf göttliche Dinge. – Es unter-scheidet sich darin von der Betrachtung, daß 1. das innerliche Ge-bet Betrachtung heißt, bis es den Honig der Hingabe an Gott hervor-gebracht hat. Danach verwandelt es sich in die Beschauung. – 2. DieBetrachtung geht von Gedanken zu Gedanken, bis die Liebe gewecktist; dann wird sie zum Schauen. Die Betrachtung ist die Mutter derLiebe, die Beschauung aber ist deren Tochter. – 3. So krönt die Be-schauung ihre Mutter, die Liebe, verleiht ihr Vollendung und höch-sten Wert.

4. Kapitel: Die Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott, diesesbestimmt aber nicht den Grad ihrer Vollkommenheit. 280

1. Kenntnis ist erforderlich, um Liebe zu wecken. – 2. Unsere Liebekann aber größer als unser Wissen sein. – 3. Ungebildete sind oftfür die Liebe empfänglicher als Gebildete. – 4. Die Erkenntnis desGuten br ingt die Liebe hervor , best immt aber nicht ihr Maß. –5. Erfahrung und Übung der Liebe stärkt mehr die Liebe als theo-retisches Wissen. – 6. Wissen kann aufblähen und der Stolz ist derRuin jeder Frömmigkeit, es kann aber auch die Frömmigkeit nichtnur erleuchten, sondern auch vertiefen.

5. Kapitel: Zweiter Unterschied zwischen der Betrachtung undBeschauung. 283

1. Die Betrachtung erwägt die Dinge einzeln, Stück für Stück; dieBeschauung umfaßt das, was sie liebt, mit einem einfachen zusam-mengerafften Blick, – 2. nachdem sie die vielen Beweggründe, Gottzu lieben erwogen hat. – 3. So sprach auch Gott bei den einzelnenSchöpfungsakten, daß sie gut waren, umfaßt aber dann al les ineinem Blick, „er sah alles, was er gemacht hat, und alles war sehrgut.“ – 4. Aus dem Ineinanderströmen aller Liebesregungen ent-steht ein Affekt, der gleichsam der Inbegriff des Affektes ist, mäch-tiger als alle einzelnen Affekte. – 5. So werden wir im HimmelVerschiedenes in einem Blick erfassen. Je mehr die Dinge sichvon Gott entfernen, desto mehr zerteilen sie sich; je mehr sie sich Gottnähern, desto mehr vereinigen sie sich.

6. Kapitel: Die Beschauung geht ohne Mühe vor sich. Dritter Un-terschied zwischen ihr und der Betrachtung. 287

Es gibt drei verschiedene Arten des Schauens im beschaulichen Ge-bet: Wir schauen auf eine der Vollkommenheiten Gottes, ohne andie anderen zu denken, – 2. oder auf mehrere Vollkommenheiten,aber mit einem einfachen Blick, – 3. oder auf ein göttliches Werk,um dann mit Liebe den zu umfassen, der es getan. – 4. Aber stetsgeschieht dies mit Freude, ohne Mühe und Überlegung. Es ist einheiliges Trinken und Sichberauschen. – 5. Gebet, Hören des Wortes

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Gottes, geistliche Gespräche und Lesungen sind Hilfen, um zumbeschaulichen Gespräch zu gelangen. Die solches pflegen, heißen da-her Beschauliche.

7. Kapitel: Die liebeerfüllte Sammlung der Seele in der Beschauung. 2901. Hier ist die Rede nicht von unserer Bemühung, uns zu sammeln,sondern von der Sammlung, die Gott bewirkt, wenn es ihm gefällt.– 2. So geschieht dies: Der Herr verbreitet im Grunde des Herzenseine gewisse Seligkeit, worauf sich alle Seelenkräfte und Sinne diesemInnersten der Seele zuwenden und dort bei Gott verwei len. –3. Wie mag alles in der Seele Mariens um Jesus gesammelt gewesensein, als sie ihn unter ihrem Herzen trug. – 4. Ähnliche Seligkeitkann allen zuteil werden, die die heilige Kommunion empfangenhaben, die Liebe bewirkt diese Sammlung. – 5. Sie ereignet sicha u c h , w e n n w i r , a u f w e l c h e A r t i m m e r , u n s i n G o t t e s h e i l i g eGegen wart versetzen.

8. Kapitel: Die Ruhe der in ihrem Vielgeliebten gesammelten Seele. 2931. Ist die Seele in Gott gesammelt, so merkt sie so still und ruhigauf ihren Vielgeliebten hin, daß ihr scheint, als wäre ihr Aufmerkenfast kein Aufmerken. Das ist „das Gebet der Ruhe“. – 2. Die Seelegibt sich damit zufrieden, zu wissen, daß ihr Geliebter bei ihr ist. –3. Diese Stille geht oft so weit, daß die Seele und all ihre Kräftegleichsam im Schlaf versunken sind; sie empfängt die Freude undSeligkeit der Gegenwart ihres Vielgeliebten, merkt sie aber nicht– 4. und ist sich dieses Genusses nicht bewußt, bekundet aber trotz-dem, wie kostbar ihr dieses Glück ist , wenn man es ihr nehmenwil l . – 5 . Das war die Ruhe Magdalenas , a ls s ie zu den Füßendes Meisters sitzend zuhörte – 6. und des Evangelisten Johannesbeim Abendmahl. – 7. Schenkt Gott diese Gnade, dann rühre mansich nicht, um Akte zu erwecken. Diese Liebesruhe schließt allesin sich, was man wünschen könnte.

9. Kapitel: Wie diese heilige Ruhe vor sich geht. 2961. Wie das Kind an der Mutterbrust, so ruht die Seele in Gott; sienimmt fast unbewußt die Wonne dieser Gegenwart in sich auf, ohneetwas mit irgendeiner Fähigkeit zu tun, außer mit der Spitze ihresWillens. Stört man sie aber, so zeigt s ie s ich unwil l ig. – 2. Wassol l te s ie auch tun oder suchen? Sie hat den gefunden, den s iesuchte und ist sel ig, bei ihm zu sein. – 3. Sie bedarf weder desGedächtnisses noch der Einbildungskraft ; der Wille al lein nimmtdie beglückende Gegenwart Gottes still in sich auf, während allesandere in Ruhe verbleibt.

10. Kapitel: Die verschiedenen Grade dieser Ruhe. Wie man siebewahren soll. 298

1. Die Seele, der Gott die heilige Ruhe schenkt, soll nicht sich selbstund ihre Ruhe betrachten; um sie zu bewahren, darf man sie nichtneugierig anschauen. – 2. Durch Handlungen des Körpers oder des

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Geistes verliert man sie nicht. – 2. Wenn Verstand und Gedächtnismit dem Willen zusammenarbeiten, ist sie wohl größer, aber es ge-nügt, wenn sie im Willen herrscht. – 3. Die Ruhe der Seele wäreweit tiefer und schöner, wäre um sie herum kein Lärm und würdeHerz und Le ib s i ch n icht regen . Da s ie d ies aber n icht ganzverhüten kann, bewahrt sie die Ruhe wenigstens im Willen, dersich auch nicht bewegt, um die anderen Fähigkeiten zurückzu-führen. Diese werden ja von selbst durch die Freude angezogen,die der Wille empfängt.

11. Kapitel: Verschiedene Grade der heiligen Ruhe. Selbstverleug-nung, die man zuweilen dabei übt. 300

1. Es gibt also verschiedene Grade der heiligen Ruhe. Sie breitetsich über alle Kräfte der Seele aus oder herrscht nur im Willenund dort zuweilen fühlbar, zuweilen unwahrnehmbar. Zuweilenfühlt sie Gottes Gegenwart an einem innerlichen Feuer, zuweilenwieder brennt das Herz vor Freude, ohne es zu merken. Zuweilenhört sie ihn reden, zuweilen hört sie ihn und spricht auch mit ihm,zuweilen wieder vermag sie nicht mit ihm zu sprechen. Zuweilenhört sie ihn nicht, spricht nicht mit ihm, sondern weiß nur, daß sie inseiner Gegenwart i s t . – 2 . Es bedarf größerer Sorgfal t , s ich inGottes Gegenwart zu begeben, als in ihr zu verweilen, – was auchgeschieht, indem man einfach nur wartet, ob es ihm gefallen wird,uns anzuschauen. Man bleibt einfach, wo es ihm gefällt, daß wirseien. – 3. Das Beispiel der denkenden Statue. – 4. Die Ruhe, inder der Wille nur durch einfache Zustimmung zum göttlichen Wohl-gefallen tätig ist und nichts vorhat, als unter dem Blick Gottes zusein, so wie es ihm gefällt , ist eine höchst wertvolle Ruhe. DasHöchste der Liebesentrückung i s t n icht d ie e igene Freude zuwol len, sondern daß Gott s ich erfreue.

12. Kapitel: Das Hinströmen der Seele in Gott oder das Zerfließender Seele in Gott. 304

1. Wir nennen ein Herz hart , wenn es an seinen Neigungen undan seinem Eigenwillen festhält, – 2. von einem sanften, empfänglichen,lenkbaren Herzen sagen wir, es sei weich. Die Liebe, die stärker istals der Tod, macht die Herzen zart und weich und zerschmilzt sierascher als al le anderen Leidenschaften. – 3. „Meine Seele istzerschmolzen, als mein Vielgeliebter zu mir sprach“ (Hohelied). DieLiebe bewirkt dies. – 4. Ein starkes Wohlgefallen läßt die Seelenicht mehr in sich verbleiben; gleich einem Balsam verströmt siest i l l die Gottheit , die s ie l iebt. – 4. Dieses Einströmen der Seelein Gott ist eine wahre Entrückung, wodurch sie aus sich heraustritt,um sich mit Gott zu verschmelzen und in ihm aufzugehen. Sie stirbtaber nicht, sie lebt, ohne sich selbst zu leben.

13. Kapitel: Die Liebeswunde 3071. Die Liebe ist die erste Leidenschaft; sie ist Grund und Ursprungaller Leidenschaften. – 2. Darum kehrt sie zuerst in das Herz ein,

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und weil sie bis zum innersten Grund des Wissens vordringt, sagtman, s ie verwunde das Herz; und da sie verwundet, bereitet s iefolglich Schmerz. So ist die Liebe süß und herb zugleich. – 3. Wieverwundet sie und bereitet sie Schmerz? Zunächst wenn der Geliebteabwesend ist, läßt er im Herzen den Stachel der Sehnsucht zurück.– 4. Noch andere Wunden schlägt die Liebe: a.) wer liebt, gibt sichhin, trennt sich also von sich selbst, – b.) die Sehnsucht, c.) nochandere Wunden, die die heilige Liebe verursacht, – 5. und zwar zu-nächst den Zwiespalt von Sehnsucht und Unvermögen, – 6. Sehn-sucht, der kein Erfolg beschieden ist, – 7. was im Himmel nicht seinwird, – 8. auf Erden aber immer größer wird, denn wer sich unterden Sterblichen nicht danach sehnt, die göttliche Güte inniger zulieben, liebt sie nicht genug.

14. Kapitel: Andere Weisen der heiligen Liebe, die Herzen zuverwunden. 311

1. Nichts verwundet ein liebendes Herz mehr, als wenn es weiß,daß ein anderes Herz aus Liebe zu ihm verwundet ist. Wie könnenwir Jesus verwundet sehen bis zum Tod am Kreuz, ohne selbst auchaus Liebe verwundet zu werden. – 2. Eine andere Liebeswunde ist,wenn die Seele Gott liebt, aber von ihm behandelt wird, als wüßteer nicht von ihrer Liebe und als brächte er ihr Mißtrauen entge-gen. – 3. Manche lieben Gott über alles, aber fühlen nicht einenFunken Eifer, sondern nur Kälte, und begehen viele Unvollkommen-heiten. Ihre Seelen s ind ganz wund. – 4 . Eine weitere Liebes-wunde ist die Erinnerung, einst Gott nicht geliebt zu haben, – 5. wieauch der Gedanke an die Vielen, die Gottes Liebe verachten. –6. Aber bei all diesen Liebeswunden wird der Schmerz als wohltu-end empfunden. In der Liebe gibt es kein Leid, oder wenn es einLeid gibt, ist es ein geliebtes Leid (Augustinus).

15. Kapitel: Das Liebessiechtum des von der Liebe verwundetenHerzens. 314

1. Die Liebe hat die Kraft, auch den Leib in tödliche Krankheit zustürzen. – 2. Darum das Wort Platons: Die Liebe ist arm, zerris-sen, nackt, barfuß, armselig, liegt auf bloßer Erde, vor den Türenund ist immer bedürftig. Das gilt von der menschlichen, – 3. aberauch von der göt t l i chen Liebe , w ie das Be i sp ie l der Hei l igenze ig t . – 4 . Die Braut des Hoheliedes ist schön, aber schwarz, ver-sengt durch die Glut der Liebe. – 5 . Wenn die Liebe t iefe Wun-den schlägt , versetzen diese uns in einen Zustand des Siechtums,wie es wieder Heilige zeigen – und besonders der hl. Franziskus, daer die heiligen Wundmale Jesu empfing, – 6. und die Heiligen: Phil-ipp Neri, Stanislaus Kostka, Franz Xaver ...

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Widmungsgebet des VWidmungsgebet des VWidmungsgebet des VWidmungsgebet des VWidmungsgebet des Vererererer fassersfassersfassersfassersfassers

Heiligste Mutter Gottes, Du Gefäß einzigartiger Erwählung und Köni-gin der erhabensten Liebe! Kein Geschöpf ist der Liebe so würdig wie Du,keines liebt so und wird so geliebt wie Du! An Dir fand der himmlischeVater von Ewigkeit her sein Wohlgefallen, denn er bestimmte Dein ma-kelloses Herz zur Vollkommenheit heiliger Liebe, damit Du einst seinenEingeborenen mit derselben Liebe mütterlich lieben könntest, wie erselbst ihn von Ewigkeit her väterlich umfangen hielt.

Jesus, mein Erlöser, wem könnte ich besser die Worte Deiner Liebewidmen als dem liebenswürdigsten Herzen der Vielgeliebten DeinerSeele?

Aber, siegreiche Mutter, wer kann Dich in Deiner Majestät anblicken,ohne zu Deiner Rechten den zu sehen, den Dein Sohn so oft aus Liebezur Dir Vater nannte; der Dir durch das himmlische Band jungfräulicherEhe angetraut war, als Beistand und Helfer bei der Leitung und Erzie-hung Deines göttlichen Kindes.

O großer heiliger Josef, viellieber Bräutigam der Mutter des Vielge-liebten. Wie oft hast Du Ihn, den Himmel und Erde lieben, auf DeinenArmen getragen, indes Deine Seele Entzücken über die süßen Zärtlich-keiten des göttlichen Kindes erfüllte! Welche Freude, wenn es Dich seinenlieben Vater und seinen treuen Freund nannte.

Die Lampen im Tempel zu Jerusalem ruhten auf goldenen Lilienkel-chen (1 Kön 7,49). O Maria und Josef, Ihr heiligen Lilien von unvergleich-licher Schönheit, „an denen sich der Vielgeliebte mit allen freut“ (Hld6,2), die ihn lieben! Wenn ich die Hoffnung haben darf, daß diese Schriftder Liebe die „Kinder des Lichtes“ (Lk 16,8) erleuchten und entflammenwird – wohin könnte ich diese meine Arbeit eher tragen als zu Euch,Ihr Lilien, an denen sich die Sonne der Gerechtigkeit, „der Abglanz desewigen Lichtes“ (Weish 7,25f) so sehr ergötzte, daß sie an ihnen die Wonnenihrer unsagbaren Liebe zu uns offenbarte.

O vielliebe Mutter des Vielgeliebten! O viellieber Bräutigam der Viel-geliebten! Ich werfe mich Euch zu Füßen, zu jenen Füßen, die meinenHeiland trugen, und weihe diese kleine Schrift der unermeßlichen GrößeEurer Liebe!

Durch das von Euch angebetete Herz Eures gütigsten Jesus, des Königsaller Herzen, flehe ich Euch um Eure mächtige Fürsprache an. Bewirkt,

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daß der Heilige Geist meine Seele und die Seelen der Leser dieserSchrift belebe, damit wir von nun an alle unsere Neigungen seinergöttlichen Güte als Brandopfer darbringen, um zu leben, zu sterben undauf ewig wieder aufzuleben in den Gluten jenes himmlischen Feuers,das unser Herr und Euer Sohn so sehnlichst in unseren Herzen zuentzünden verlangte (Lk 12,49), ein Wunsch, für den er wirkte und littbis zum Tod, „ja bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8).

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VVVVVorororororworworworworwor ttttt

1. Der Heilige Geist lehrt, daß die Lippen der göttlichen Braut demPurpur und der Honig träufelnden Wabe gleichen (Hld 4,3.11). So soll esjedermann wissen, daß die von ihr verkündete Lehre nichts anderes alsdie heilige Liebe ist. Ihr Glanz überstrahlt ja den des Purpurs, da sie vomheiligen Blut des Erlösers entflammt ist. Sie ist auch süßer als Honigdurch die Güte des Vielgeliebten, der sie mit Freuden überschüttet (Hld8,5).

Als ihr göttlicher Bräutigam sich anschickte, sein Gesetz weithin zuverkünden, sandte er feurige Zungen über die Jünger herab, die er dafürbestimmt hatte. So wollte er kundtun, daß die Predigt des Evangeliumsnichts anderes wolle, als die Herzen für Gott zu entflammen.

Betrachtest du schöne Tauben im Sonnenschein, so wirst du sehen,wie die Farben ihres Gefieders verschieden schillern, je nach der Richtung,von der du sie betrachtest. Ihr Gefieder ist so empfänglich für den Glanzder Farben, daß der Sonnenschein auf ihren Federn eine Fülle von Spie-gelungen hervorruft, die wieder ein mannigfaltiges Farbenspiel im Ge-folge haben. Und diese Farben sind so lieblich anzuschauen, daß ihreSchönheit allen Glanz und allen Schmelz der kostbarsten Edelsteine über-trifft. Wie von zartem Gold ist diese Buntheit überhaucht, so daß dergoldene Schimmer die Farbenpracht noch lebendiger erscheinen läßt.

Dies wollte der königliche Prophet wohl andeuten, als er den SöhnenIsraels zurief:

Als ihr bei den Hürden der Herde geruht,da glänzten die Flügel der Tauben von Silber,ihre Federn vom rötlichen Gold (Ps 68,14).

Gewiß schmückt eine herrliche Fülle von Lehren, Predigten, frommenAbhandlungen und Büchern die Kirche. Sie sind alle sehr schön und vonerfreulichem Anblick; es vereinigen sich ja in ihnen die Strahlen derSonne der Gerechtigkeit mit den Worten der kirchlichen Hirten, diegleichsam das glanzvolle Gefieder dieser mystischen Taube sind (s. Ps45,2). Aber mögen auch die Färbungen der Lehre, die sie verkünden, nochso verschieden sein, auf allen ruht doch der Glanz des herrlichen Gol-des der heiligen Liebe. Überall kann man sehen, wie es mit seinem un-vergleichlichen Schimmer alle Wissenschaft der Heiligen verklärtund sie über jede andere Wissenschaft erhebt.

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Alles gehört der Liebe, alles liegt in der Liebe, alles ist für die Liebe,alles ist aus Liebe in der heiligen Kirche.

2. Wir wissen, daß das Tageslicht nur von der Sonne kommt. Trotzdemsagen wir für gewöhnlich, die Sonne scheine nicht, wenn wir sie nichtunverhüllt strahlend am Himmel sehen. So handelt wohl auch die ganzechristliche Lehre von der heiligen Liebe, – wir geben aber nicht der ge-samten Theologie diesen Ehrentitel, sondern nur jenen theologischenAbhandlungen, die zum Gegenstand den Ursprung, die Natur, die Eigen-schaften und Tätigkeiten der Liebe haben.

Verschiedene Schriftsteller haben nun tatsächlich Herrliches darübergeschrieben, besonders die alten Väter, die selbst Gott mit glühenderLiebe dienten und daher auch auf göttliche Weise von seiner Liebezu sprechen wußten. Wie erhebend ist es, den hl. Paulus von himmli-schen Dingen reden zu hören, die er im Himmel selbst gelernt (2 Kor12,4). Und wie wohltuend ist es, Menschen, die aus dem Schoß der gött-lichen Liebe ihre Nahrung empfangen, von deren heiliger Wonne redenzu hören. Deshalb haben auch die Theologen der Scholastik, die amschönsten und eingehendsten über die Gottesliebe schrieben, an Fröm-migkeit besonders hervorgeleuchtet. Der hl. Thomas von Aquin z. B.verfaßte eine Abhandlung, die dieses Heiligen würdig ist; ebenso schrie-ben auch der hl. Bonaventura, der selige Dionysius der Kartäuser mehre-re ausgezeichnete Werke darüber. Von Johann Gerson, dem Kanzlerder Pariser Universität, sagt Sixtus von Siena: „Er erörterte so vorzüg-lich die fünfzig Eigenschaften der göttlichen Liebe, die da und dort imHohelied angedeutet sind, daß es scheint, nur ihm sei es vorbehaltengewesen, die Regungen der göttlichen Liebe so genau aufzuzählen.“Was war das doch für ein überaus gelehrter, weiser und frommer Mann!

Damit jedoch offenbar werde, daß solche Schriften eher der Frömmig-keit Liebender, als der Wissenschaft Gelehrter entstammen, gefiel esdem Heiligen Geist, mehrere Frauen dazu anzuregen, die dann auchWundervolles über die heilige Liebe schrieben. Wer vermochte es je, diehimmlischen Gluten dieser heiligen Liebe besser zu schildern, als einehl. Katharina von Genua, eine hl. Angela von Foligno, eine hl. Katharinavon Siena, eine hl. Mechthild?

3. Auch in unseren Tagen haben manche darüber geschrieben, dochkonnte ich ihre Schriften nicht genau durchstudieren, wiewohl ich sie soweit durchsah, um entscheiden zu können, ob für meine Schrift nochRaum wäre.

Vorwort

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Ludwig von Granada, dieser große Lehrer der Frömmigkeit, hat inseinem „Memoriale“ eine Abhandlung über die Liebe Gottes veröffent-licht, die durch den Namen ihres Verfassers hinreichend empfohlen ist.Diego Stella, aus dem Orden des hl. Franziskus, verfaßte darüber einmit viel Liebe geschriebenes Buch, das auch für Betrachtungen gut ver-wendet werden kann. Christoph von Fonseca, ein Mönch aus dem Ordendes hl. Augustinus, hat ein noch größeres Werk darüber geschrieben,das viel Schönes enthält. Auch P. Ludwig Richeome aus der Gesell-schaft Jesu veröffentlichte ein Buch mit dem Titel: „Die Kunst, Gottdurch die Geschöpfe zu lieben.“ Da dieser Autor persönlich und in seinenSchriften von so großer Liebenswürdigkeit ist, wird er es zweifellos nochmehr sein, wenn er über die Liebe selbst schreibt. P. Johannes von JesusMaria, unbeschuhter Karmelit, verfaßte eine Schrift: „Die Kunst, Gott zulieben“, die sehr geschätzt wird. Ebenso gab auch der große, berühmteBellarmin kürzlich ein kleines Büchlein heraus, das den Titel trägt: „Lei-ter, auf der wir durch die Geschöpfe zu Gott emporsteigen.“ Dieses Büch-lein kann nur ausgezeichnet sein, da es von einem so gelehrten und from-men Mann stammt, der schon so viel Wertvolles zum Nutzen der Kirchegeschrieben hat. Ich will nichts sagen vom „Aufruf zur Gottesliebe“,dessen Verfasser, ein großer Meister der Beredsamkeit, durch die Mengeund Mannigfaltigkeit seiner Predigten und geistvollen Schriften in ganzFrankreich bekannt und berühmt ist. Meine Seele ist eine innige, geisti-ge Verwandtschaft mit der seinen eingegangen, als er durch die Auflegungmeiner Hände das heilige Mal bischöflicher Würde zum Wohl des Bis-tums Belley und zur Ehre der Kirche erhielt. Tausend Bande aufrichtigerFreundschaft verbinden uns außerdem und das alles verbietet mir, einUrteil über seine Werke abzugeben, unter denen dieser „Aufruf zurGottesliebe“ eine der ersten Schöpfungen dieses geistsprühenden, vonallen bewunderten Schriftstellers war.

Überdies sei noch die Schrift des ehrwürdigen Paters Laurentius vonParis aus dem Kapuzinerorden erwähnt. Diese gleicht einem prächtigen,zur Ehre der göttlichen Liebe erbauten Palast, der, einmal vollendet, einvollständiges Lehrgebäude der Gottesliebe darstellen wird. Endlich hatdie selige Theresia von Jesus in allen ihren Schriften so Wunderbaresüber die heiligen Regungen der Liebe geschrieben, daß man ganz hin-gerissen ist, so hohe Beredsamkeit bei solcher Demut und so tiefschür-fendes Denken bei solcher Einfalt des Geistes zu sehen. Vor ihrer höchstweisen Unwissenheit wird die Weisheit so mancher Gelehrter höchst un-

Vorwort

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wissend erscheinen und nach vielen gelehrten Bemühungen müssen sie vollBeschämung gestehen, daß sie von dem nichts verstehen, was diese heilige Frauauf so treffende und tiefe Weise von der Übung der heiligen Liebe geschrie-ben hat. Gott schlägt auf diese Weise den Thron seiner Macht auf demSchauplatz menschlicher Schwäche auf, indem er sich der Schwachenbedient, um das Starke zu beschämen (1 Kor 1,27).

4. Diese Abhandlung, die ich dir, mein lieber Leser, vorlege, folgtall jenen ausgezeichneten Büchern nur von ferne, ohne Hoffnung, sie jeerreichen zu können. Dennoch vertraue ich, daß die Gunst jener beiden vonLiebe entflammten Herzen, denen ich sie widme, dich einigen Nutzen darausschöpfen läßt. Ich hoffe, daß du darin viele gute Erwägungen finden wirst,die dir sonst nicht so leicht begegnen, während du anderswo so manchesSchöne lesen wirst, das sich hier nicht findet.

Es scheint mir sogar, daß ich nicht dasselbe vorhabe, wie die Verfasserdieser Schriften, abgesehen davon, daß wir alle die heilige Liebe ver-herrlichen wollen. Aber davon wird dich das Buch selbst überzeugen. Ichhabe nur daran gedacht, einfach und schlicht, ungekünstelt und unge-schminkt die Geschichte der Entstehung, des Fortschritts und Verfallsder göttlichen Liebe, ihrer Werke, Eigenschaften, Vorzüge und Erhaben-heit zu beschreiben. Wenn du hier außerdem noch anderes findest, sosind es Ausweitungen, die beinahe unvermeidlich sind, wenn man, wieich, unter vielen Ablenkungen schreiben muß. Ich glaube aber, daß auchsie von einigem Nutzen sein werden. Auch die Natur, die so weiseWerkmeisterin, läßt gleichsam aus kluger Unachtsamkeit den Weinstocknicht nur Trauben hervorbringen, sondern mit ihnen viel überflüssigesBlätter- und Rankenwerk. Es gibt wenige Weinstöcke, die nicht zu be-stimmten Zeiten ausgeputzt und beschnitten werden müssen.

5. Man behandelt manchmal die Schriftsteller zu hart. Man fällt sehrrasch ein strenges Urteil über sie und offenbart dabei selbst mehr anTaktlosigkeit, als jene an Unklugheit, da sie ihre Schriften voreilig ver-öffentlichten. Dieses unüberlegte Urteilen gefährdet schwer sowohl dasGewissen der Urteilenden als auch die Unschuld der Angeklagten. Man-che schreiben Albernheiten, andere gefallen sich wieder in plumpem Tadel.

Das freundliche Interesse des Lesers macht die Lektüre nützlich undangenehm. Um dich daher, mein lieber Leser, günstig zu stimmen, will ichdich über einige Punkte aufklären, die dir sonst Ärger bereiten könnten.

Einige werden vielleicht finden, ich sei zu weitschweifig und es wäreüberflüssig, den Gegenstand bis zu seiner Wurzel hin zu verfolgen. Mir

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jedoch scheint die göttliche Liebe einer Pflanze vergleichbar, die wirAngelica nennen und deren Wurzel ebenso wohlriechend und heilkräftigist wie ihr Stamm und ihre Blätter. Allerdings könnten die vier erstenBücher und auch manche andere Kapitel von jenen übergangen werden,die nur über die Übung der heiligen Liebe belehrt werden wollen; dochwerden sie auch ihnen von Nutzen sein, wenn sie in der rechten Verfas-sung an die Lektüre herangehen. Vielleicht hätten sich wieder anderedaran gestoßen, nicht eine vollständige Abhandlung über alles zu fin-den, was zur himmlischen Liebe gehört.

Natürlich berücksichtigte ich die Geistesverfassung unserer Zeit. Ichmußte es tun; es ist sehr wichtig zu wissen, in welcher Zeit man schreibt.

Bisweilen zitiere ich Worte aus der Heiligen Schrift etwas anders, alssie sich in den gebräuchlichen Ausgaben finden. Ich bitte dich, lieberLeser, glaube nicht, daß ich deshalb diese Ausgaben für gering achteoder mich von ihnen entfernen wolle. Ich weiß, daß der Heilige Geistsie durch das Konzil von Trient bestätigt hat und wir daher die Pflichthaben, uns daran zu halten. Ich benutze daher andere Übersetzungennur, um die gebräuchlichen zu bestätigen und den wahren Sinn derselbenzu erhellen und zu bekräftigen. So werden z. B. die Worte des himmli-schen Bräutigams zu seiner Braut: „Du hast mein Herz verwundet“ (Hld4,9), durch eine andere Übersetzung, „du hast mein Herz davongetragen“,beziehungsweise, „du hast mein Herz an dich gezogen und geraubt“(griechische Übersetzung), besser beleuchtet. Ebenso verhält es sich z. B.mit den Worten des Erlösers: „Selig sind die Armen im Geiste“ (Mt 5,3);denn auch sie gewinnen an Bedeutung, wenn man daneben den grie-chischen Text liest: „Selig sind die Bettler im Geiste.“

Die Psalmen Davids zitiere ich oft in Versen, um sie dir ansprechendzu machen; ich hatte dabei die treffliche Übersetzung des Abtes vonThiron, Philipp des Portes, vor mir. Manchmal wich ich jedoch auchdavon ab; nicht weil ich denke, bessere Verse schmieden zu können – daswäre anmaßend von mir, da ich nie gedacht, derartiges zu können, undjedenfalls in meinem Stand und Alter davon lassen müßte, wenn ich mich jedamit beschäftigt hätte. Wenn ich also anders übersetzt habe, so geschahes, weil mir seine Übersetzung nicht richtig erschien. So übersetzt er z. B.im 133. Psalm ein lateinisches Wort mit „Fransen am Saum eines Ge-wandes“, das meiner Ansicht nach besser mit „Halskragen“ (Ps 133,2)übersetzt werden soll. Ich habe also die Übersetzung gewählt, die ich fürdie richtige hielt.

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Ich schreibe nichts, was ich nicht von anderen gelernt hätte, jedochwäre es mir unmöglich, im Einzelnen anzugeben, was ich anderen ver-danke. Doch kann ich dir versichern, lieber Leser, daß ich es mir zurPflicht machen würde, jedem Schriftsteller, dem ich größere und be-deutendere Stellen entnommen hätte, die ihm gebührende Ehre zu er-weisen. Und da möchte ich dir gleich sagen, um jeden Argwohn zu zer-streuen, daß das 13. Kapitel des siebenten Buches aus einer Predigtstammt, die ich im Jahre 1602 zu Paris in der Kirche St. Johann amGestade am Fest Mariä Himmelfahrt gehalten habe.

Den Aufbau des Buches im Einzelnen (d. h. die Aufeinanderfolge derKapitel) habe ich nicht ausdrücklich hervorgehoben, doch wirst du beieiniger Aufmerksamkeit den Zusammenhang leicht entdecken. In diesenund auch vielen anderen Belangen habe ich mich bemüht, sowohl meineZeit als auch deine Geduld nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen.

Nach Drucklegung meines Buches „Anleitung zum frommen Leben“hat der Herr Erzbischof von Vienne, Peter von Vilars, sich so gütigüber mein Buch und über mich selbst geäußert, daß ich es nicht wagendürfte, seinen Ausspruch zu wiederholen. Er bewog mich gleichzeitigzur Abfassung ähnlicher Schriften und gab mir unter anderen den Rat,die einzelnen Kapitel so kurz zu halten, als es nur immer der Gegen-stand erlaube. „Wanderer,“ so sagte er, „lassen sich gern von ihrem Wegablenken, wenn sie wissen, daß ein schöner Garten nur zwanzig oderfünfundzwanzig Schritte entfernt liegt; wäre der Garten entfernter, sowürden sie ihn wohl nicht aufsuchen. So entschließt man sich leichter,ein Kapitel zu lesen, das nicht zu lang ist, als eines, dessen Gegenstandzwar anziehend wäre, dessen Lesung aber zuviel Zeit beanspruchte.“Ich hatte also recht, hier meiner eigenen Neigung zu folgen, weil diesergroße Mann auch so dachte, der einer der heiligsten Prälaten wie dergrößten Theologen unserer Zeit ist, und als er mich mit seinem Schreibenbeehrte, Senior der Doktoren der Pariser Universität war.

Ein großer Diener Gottes machte mich vor einiger Zeit darauf auf-merksam, daß viele Männer meine „Anleitung zum frommen Leben“nicht lesen wollten, weil ich mich dort an eine „Philothea“ wende. Siemeinten, Unterweisungen, die an Frauen gerichtet seien, paßten nichtfür Männer. Ich wunderte mich darüber, daß es Männer gibt, die somännlich tun und dabei so unmännlich sind. Urteile selbst, mein lieberLeser, ob die Frömmigkeit nicht Männern ebenso wertvoll ist als Frau-en, und ob man den zweiten Brief des hl. Johannes, der an die heilige

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Matrone Electa gerichtet ist, nicht mit der gleichen Ehrfurcht und Auf-merksamkeit lesen soll wie den dritten, der sich an Gajus wendet; ferner,ob man die tausend und abertausend Briefe und ausgezeichneten Ab-handlungen der Kirchenväter als unnütz für Männer ansehen soll, weil siefür heilige Frauen der damaligen Zeit verfaßt worden sind. Überdies be-zeichne ich mit dem Namen „Philothea“ einfachhin nur die Seele, dienach Frömmigkeit strebt. Eine Seele aber hat wohl der Mann so gut wiedie Frau.

Nichtsdestoweniger will ich hier doch dem großen Apostel nachfolgen,der sich für einen Schüler aller hielt (Röm 1,14), und wende mich indieser Schrift an einen „Theotimus“. Falls aber nun wieder Frauen dieseSchrift nicht lesen wollten, weil sie an einen Mann gerichtet ist (ihnenwäre diese Schwäche eher zu verzeihen), so bitte ich sie zu glauben,daß der „Theotimus’’, zu dem ich spreche, der menschliche Geist ist, derin der heiligen Liebe vorankommen will. Geist aber haben die Frauendoch ebensogut wie die Männer.

6. Diese Abhandlung soll also bereits frommen Seelen helfen, nochweiter voranzukommen. Ich war daher gezwungen, manches zu sagen, wasvielen noch unbekannt ist und deshalb etwas dunkel erscheinen wird.Es ist immer etwas schwierig, einer Wissenschaft auf den Grund zu gehen.Wieviele Taucher gibt es, die bereit und imstande sind, Perlen und kost-bare Gesteine aus dem Meeresgrund heraufzuholen? Hast du aber fri-schen Mut, in diese Schrift einzudringen, so wird es dir gehen wie denTauchern. Von ihnen berichtet Plinius (Hist.nat. 2,42), sie hätten in dentiefsten Abgründen des Meeres deutlich das Licht der Sonne gesehen.So wirst auch du in den schwierigsten Stellen eine liebe, freundlicheKlarheit finden.

Ich habe nicht jenen folgen wollen, die Bücher verachten, welche voneinem übererhabenen Leben der Vollkommenheit handeln. Selber wollteich aber von dieser Art Vollkommenheit nicht schreiben. Ich möchte we-der die Verfasser solcher Bücher tadeln, noch den Tadlern einer Sachebeistimmen, die ich nicht verstehe.

Ich habe viele theologische Probleme berührt, aber ohne mich in Streit-fragen einzulassen. Meine Darlegungen habe ich ganz schlicht und ein-fach abgefaßt. Ich brachte dabei weniger das, was ich einst bei öffentli-chen Streitreden gelernt hatte, sondern was ich in der Sorge um die Seelenund aus meiner zwanzigjährigen Erfahrung als Prediger für das Ge-eignetste zur Verherrlichung des Evangeliums und der Kirche hielt.

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7. Verschiedene Persönlichkeiten machten mich aufmerksam, daß ge-wisse Bücher im Umlauf wären, nur mit dem Anfangsbuchstaben des Na-mens ihrer Autoren signiert, die dem meinen gleichen. Deshalb meintensie, daß diese Bücher von mir stammten. Manche nahmen daran Är-gernis, weil sie glaubten, ich sei von der Einfachheit meiner Schreibweiseabgewichen, um meinen Stil mit großen Worten, meine Worte mit welt-lichen Ideen und meine Ideen mit hochtrabender und überladener Rede-kunst aufzublähen.

In Wirklichkeit, lieber Leser, geht es mir so wie jenen, die kostbareEdelsteine schneiden und schleifen und deren Augen bei der gespanntenAufmerksamkeit müde werden, die diese Feinarbeit erfordert. Sie schauen gernvon Zeit zu Zeit auf einen schönen Smaragd, um an seinem frischen Grünihre ermüdeten Augen zu erfrischen und wieder zu kräftigen. So liebe auchich es, bei den vielen Arbeiten, die mein Amt mit sich bringt, vor mirkleine Entwürfe zu geistlichen Abhandlungen zu haben, um mich beiihrem Anblick ein wenig auszuspannen und zu erholen.

Ich gebe mich aber nicht etwa als Schriftsteller aus. Dies gestattet mirweder mein schwerfälliger Geist, noch mein Amt, das mich nötigt, mitvielen Menschen zu verkehren und vielen zu dienen. Deshalb habe ichauch nur sehr wenig geschrieben und noch weniger veröffentlicht. Umdem Rat und Willen meiner Freunde zu folgen, sage ich dir nun, wasich geschrieben habe, damit du mich nicht etwa fremder Arbeiten wegenlobst – mich, der ich nicht einmal für meine eigenen Arbeiten Lob ver-diene.

Neunzehn Jahre sind es, seit ich mich zu Thonon, einer kleinen Stadtam Genfer See aufhielt, die sich allmählich zum katholischen Glaubenbekehrte. Damals schrie der reformierte Prediger, ein großer Gegner derkatholischen Kirche, herum, daß der katholische Glaubensartikel von derwirklichen Gegenwart unseres Herrn im Sakrament dem Glaubens-bekenntnis und der Analogie des Glaubens widerspreche. Er bediente sich ab-sichtlich des Ausdruckes „Analogie“, den seine Zuhörer nicht verstan-den, um nur recht gelehrt zu erscheinen. Daher wurde mir damals vonkatholischer Seite der Auftrag erteilt, etwas zur Widerlegung dieses Un-sinns zu schreiben. Es erschien mir ratsam, eine kurze Betrachtung überdas apostolische Glaubensbekenntnis zu verfassen, um die Wahrheit dar-zulegen. Das tat ich dann auch. Alle Exemplare dieser Schrift wurdendamals in dieser Diözese verteilt, so daß sich nun keines mehr vorfindet.

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Bald darauf kam Se. Durchlaucht, der Herzog von Savoyen, in diesesLand diesseits der Alpen. Da er die Genf benachbarten Gebiete (Chablais,Gaillart, Ternier) halb und halb bereit fand, die katholische Religion wie-der anzunehmen – sie war durch die Folgen des Krieges und eines Auf-standes vor mehr als 70 Jahren verdrängt worden, – beschloß er, dieöffentliche Ausübung des katholischen Glaubens in allen Pfarrgemeindenwieder einzuführen und die des Irrglaubens abzuschaffen. Diesem Vor-haben standen große Hindernisse entgegen: sowohl das, was man Staatsin-teresse nennt, als auch persönlicher Widerstand einiger in der Wahrheitnoch nicht unterrichteter Menschen. Der Herzog überwand aber dieseSchwierigkeiten mit unerschütterlicher Energie, wie mit Sanftmut undgroßer Klugheit. Er versammelte die bedeutendsten und hartnäckigstenGegner und sprach zu ihnen mit einer so eindringlichen, zu Herzengehenden Freundlichkeit, daß fast alle, überwunden von der sanftenGewalt seiner väterlichen Liebe, die Waffen ihres Widerstandes ihm zuFüßen legten und ihre Seelen der heiligen Kirche anvertrauten.

Es sei mir gestattet, noch Folgendes kurz zu streifen. Es gäbe vielegroße Taten dieses Fürsten zu loben, z. B. seine hervorragende Tapfer-keit, wie sein militärisches Können, das soeben ganz Europa bewunderthat. Ich selber kann mich freilich nie genug über die Wiederherstellungder heiligen Religion in den drei Landschaften freuen, die ich obenerwähnt habe. Ich konnte doch an dem Fürsten soviel Frömmigkeit, ver-bunden mit soviel Klugheit, Gerechtigkeit, Großmut und Güte beobach-ten, daß es mir vorkam, als wäre dort wie auf einem Miniaturbildalles zu sehen gewesen, was man je an Fürsten gelobt hat, die am eifrig-sten für die Ehre Gottes und der Kirche gearbeitet haben.

Der Schauplatz war zwar klein, die Taten jedoch groß. Und wie je-ner Künstler des Altertums wegen seiner großen Meisterstücke nie so vielBewunderung erntete wie wegen eines Schiffleins, das er mit allem, wasdazu gehörte, aus Elfenbein in so kleinem Ausmaß verfertigt hatte, daßdie Flügel einer Biene das Ganze bedeckten, so achte auch ich die Tatenjenes Fürsten in dem kleinen Winkel seiner Gebiete weit höher, als vieleseiner anderen großartigen Taten, die manche Leute in den Himmel he-ben.

Damals wurde das siegreiche Zeichen des heiligen Kreuzes auf allenWegen und öffentlichen Plätzen wieder errichtet. Auch in Annemasse un-weit Genf war dies mit großer Feierlichkeit geschehen. Deshalb verfaßteein reformierter Prediger eine kleine Schmähschrift voll giftiger Lä-

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sterungen. Man hielt es für gut, daß darauf geantwortet werde, und derdamalige Bischof von Genf, Claudius von Granier, mein Vorgänger seli-gen Andenkens, gab mir den Auftrag dazu. Er vermochte viel über mich,nicht nur, weil er mein Bischof war, sondern auch, weil ich in ihmeinen heiligen Diener Gottes verehrte. Ich schrieb also diese Antwortunter dem Titel „Verteidigung der Kreuzesfahne“ und widmete sie demHerzog als Zeichen meiner Ergebenheit und Dankbarkeit für die Sorge,die er der Kirche in jener Gegend zugewendet hat. Diese Schrift erlebtevor kurzem eine Neuauflage, jedoch mit dem schwulstigen Titel „Pantalo-gie oder der Schatz des Kreuzes“ – ein Titel, der mir nie in den Sinngekommen wäre, besitze ich doch weder Gelehrsamkeit noch Muße undGedächtnis, um so viele wertvolle Gedanken zu sammeln und in einemWerk zusammenzufassen, das man mit Recht „Pantalogie oder Schatz“nennen könnte. Derartige Titel sind mir überhaupt verhaßt. „Der Archi-tekt, der den Verstand verlor, erbaute größer als das Haus das Tor.“ –

Im Jahre 1602 hielt man in Paris, wo ich damals gerade weilte, mitgroßem Gepränge das Begräbnis des Fürsten Emmanuel von Lothringen, Her-zogs von Mercoeur, der sich durch seine Heldentaten gegen die Türken inUngarn so sehr hervorgetan hatte, daß sein Andenken es wohl verdiente,bei der ganzen Christenheit in Ehren zu stehen. Seine erlauchte Witwe,Maria von Luxemburg, bot zur feierlichen Gestaltung des Begräbnissesalles auf, was Edelsinn und Liebe ihr eingeben konnten. Da meinVater, Großvater und Urgroßvater als Edelknaben am Hofe ihrererlauchten Ahnen, der Fürsten von Martigues, erzogen worden waren,sah sie auch mich als angestammten Diener ihres Hauses an und beauftragtemich, die Leichenrede zu halten. Mehrere Kardinäle und Prälaten sowieeine große Anzahl Fürsten, Fürstinnen, Marschälle von Frankreich, Or-densritter und der ganze Parlamentshof sollten sich dazu einfinden. Ichschrieb also jene Leichenrede und hielt sie dann vor dieser erlauchtenVersammlung in der Kathedrale von Paris. Da sie alle Heldentaten desverstorbenen Fürsten aufzählte, willigte ich gerne ein, sie drucken zu las-sen, verlangte es doch die fürstliche Witwe, deren Wunsch für mich Befehlist. Ich widmete die Schrift der Herzogin von Vendome, die damals,obwohl noch sehr jung und unvermählt, bereits unverkennbare Anzei-chen hoher Tugend und Frömmigkeit offenbarte, die, jetzt in ihr entfaltet,zeigen, wie würdig sie der Abkunft und Erziehung einer so frommen,gottesfürchtigen Mutter ist.

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Während der Drucklegung dieser Leichenrede bekam ich die Nachricht, daßich zum Bischof ernannt worden sei. Ich kehrte daher sogleich hierherzurück, um die Weihe zu empfangen und mein Amt anzutreten. Balddarauf trug man mir die Notwendigkeit vor, den Beichtvätern einige wich-tige Punkte wieder in Erinnerung zu bringen. Ich schrieb darüber 25 „Er-mahnungen“ und ließ sie drucken, um sie leichter allen zukommen zulassen, an die sie gerichtet waren. Seit jener Zeit aber sind sie schon öfterund an verschiedenen Orten nachgedruckt worden.

Drei oder vier Jahre später gab ich die „Anleitung zum frommenLeben“ heraus. Ich habe im Vorwort dieses Buches gesagt, bei welcherGelegenheit es entstanden ist und zu welchem Zweck ich es geschriebenhabe. Darüber habe ich dir, lieber Leser, nichts mehr zu sagen, als daßes im allgemeinen gut aufgenommen wurde, selbst von den bedeutend-sten Bischöfen und Theologen. Trotzdem wurde es einer strengen Kritikunterzogen; ich wurde nicht nur getadelt, sondern öffentlich bekämpft,weil ich der „Philothea“ sage, daß Bälle eine an sich indifferente Sacheseien und daß man sich zur Erholung auch Späße erlauben dürfe.

Da ich nun diese Kritiker kenne, muß ich wohl annehmen, daß sie guteAbsichten dabei hatten; sie hätten aber wohl bedenken sollen, daß dererste Satz der allgemeinen und wahren Lehre der heiligsten und ge-lehrtesten Theologen entnommen ist und daß ich für Menschen geschrie-ben habe, die mitten in der Welt, ja sogar am Hofe leben. Außerdemschreibe ich ausführlich von der großen Gefahr, die das Tanzen mit sichbringt. Was aber das Zweite betrifft, so mögen sie bedenken, daß derAusdruck „Späße“ nicht von mir, sondern vom heiligen, bewunderungs-würdigen König Ludwig stammt, also von einem wohl zuverlässigenLehrer in der Kunst, die Hofleute zur Frömmigkeit anzuleiten. Es scheintmir, wenn sie das alles beachtet hätten, so hätten Liebe und Takt ihremEifer, mochte er noch so unerbittlich und streng sein, nie gestattet, sichmit solcher Entrüstung gegen mich zu wenden.

8. Ich bitte dich inständig, lieber Leser, um Güte und Wohlwollenbei der Lektüre dieser Abhandlung. Findest du den Stil dieser Schriftverschieden von dem der „Philothea“ (der Unterschied wird jedoch nurgering sein) und fällt es dir auf, daß beide Schriften abweichen von der Art, inder die „Verteidigung der Kreuzesfahne“ abgefaßt ist, so bedenke, daßman in 19 Jahren vieles lernt und verlernt, daß die Sprache des Krie-ges anders ist als die des Friedens und daß man anders mit Anfängern alsmit alten Gefährten spricht.

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In dieser Schrift spreche ich zu Seelen, die auf dem Weg der Fröm-migkeit fortgeschritten sind.

Ich muß dir nämlich mitteilen, daß wir in der Stadt eine Genossen-schaft von Jungfrauen und Witwen besitzen, die sich von der Welt zurück-gezogen haben, um unter dem Schutz der Mutter Gottes ein gemeinsames,dem Dienste Gottes geweihtes Leben zu führen. Ihre Reinheit und Fröm-migkeit hat mir viel Trost geschenkt; so war auch ich bemüht, ihnen dafürFreude zu bereiten, indem ich ihnen oft das Wort Gottes verkündete,sowohl in öffentlichen Predigten als in geistlichen Unterweisungen. Eswaren dabei fast immer Ordensmänner oder andere Personen von großerFrömmigkeit anwesend, in deren Gegenwart ich öfters schwierige Dingedes geistlichen Lebens erörtern mußte, die weit über das in der „Philothea“Gesagte hinausgingen.

Einen bedeutenden Teil dessen, was ich hier in diesem Buch erörtere,verdanke ich dieser gottgesegneten Gemeinschaft. Ihre Mutter und Oberin wuß-te, daß ich diese Schrift vorhatte, sie aber ohne besondere Hilfe Gottes nurschwer vorwärts bringen könnte, und nur, wenn ich dazu ständig angetrie-ben würde. So betete sie selbst für ein gutes Gelingen, ließ auch dafürbeten und bat mich immer wieder, die wenigen freien Augenblicke, diemir im Dienste meiner Amtsgeschäfte übrig blieben, für diese Schrift zuverwenden. Bei der Hochschätzung, die ich für diese Seele, Gott weiß es,hege, hatte sie keine geringe Macht, mich in dieser Hinsicht zu beeinflus-sen.

Ich hatte schon längere Zeit vor, über die Gottesliebe zu schreiben, aber wasmir damals vorschwebte, ist nicht mit dem zu vergleichen, was nun, durchdie erwähnten Umstände gefördert, zustande gekommen ist.

Ich gestehe dir das ganz aufrichtig und einfach nach Art unserer Ah-nen, damit du wissest, daß ich nur geschrieben habe, wenn es mir geradedie Zeit und meine Geschäfte erlaubten. So hoffe ich, daß du mir günstigergesinnt wirst.

Nach Ansicht der Griechen stellte Phidias nichts so meisterhaftdar wie die Götter, und von Apelles hieß es, nichts sei ihm so gelun-gen wie sein „Alexander der Große“. Es gelingt nicht jede Arbeit gleichgut. Wenn diese Abhandlung nicht entspricht, so möge deine Güte, lieberLeser, um so größer sein und Gott wird seinen Segen dazu geben.

9. Um dir diesen Segen zu erflehen, widme ich dieses Werk der Mutter,die so innig liebte, und dem Vater, dessen Liebe so herzlich war, wie

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ich meine „Anleitung“ dem göttlichen Kind als dem Erlöser der Lieben-den und der Liebe der Erlösten gewidmet habe.

Wenn eine gesunde, kräftige Frau ein Kind zur Welt bringt, wählt sieden Taufpaten gewöhnlich aus ihrem irdischen Freundeskreis. Wenn aberdie Geburt des Kindes wegen ihrer Schwäche oder Kränklichkeit schwie-rig und gefährlich ist, dann ruft sie die Heiligen des Himmels an undmacht ein Gelübde, ihr Kind von irgendeinem Armen oder einer from-men Person im Namen des hl. Josef, des hl. Franziskus von Assisi, deshl. Franziskus von Paula, des hl. Nikolaus oder irgend eines anderenHeiligen aus der Taufe heben zu lassen, damit alles gut gehe und dasKind am Leben bleibe. So habe auch ich, ehe ich Bischof war und mehrMuße und weniger Angst vor dem Schreiben hatte, meine kleinen Schrif-ten den Fürsten dieser Erde gewidmet. Jetzt aber, da ich mit Amtsge-schäften überlastet bin und mir das Schreiben nicht leicht fällt, widme ichmeine Bücher nur mehr den Fürsten des Himmels. Ich bitte sie, mir dienötige Erleuchtung von Gott zu erflehen, damit, wenn es dem göttlichenWillen gefällt, diese Schriften Frucht bringen und manchem eine Hilfeseien.

Gott segne dich, mein lieber Leser, und mache dich reich an seinerheiligen Liebe!

Von ganzem Herzen unterwerfe ich jederzeit meine Schriften sowiemeine Worte und Werke dem Urteil der heiligen römisch-katholischenKirche, wissend, daß sie die Säule und Grundfeste der Wahrheit ist (1Tim 3,15), in der sie weder irren noch wanken kann; ferner „daß nie-mand Gott zum Vater haben wird, der diese Kirche nicht zu seiner Mut-ter hat“ (Augustinus zugeschr. 3. Band zum Glaubensbek.).

Annecy, am Feste der großen, von Liebe erfüllten Apostel Petrusund Paulus 1616.

Gott sei gepriesen!

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ERSTES BUCHERSTES BUCHERSTES BUCHERSTES BUCHERSTES BUCH

VVVVVorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlungorbereitung auf die ganze Abhandlung

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1. KapitelGott hat um der Schönheit der menschlichen NaturGott hat um der Schönheit der menschlichen NaturGott hat um der Schönheit der menschlichen NaturGott hat um der Schönheit der menschlichen NaturGott hat um der Schönheit der menschlichen Natur

willen die Herrschaft über alle Fähigkeiten derwillen die Herrschaft über alle Fähigkeiten derwillen die Herrschaft über alle Fähigkeiten derwillen die Herrschaft über alle Fähigkeiten derwillen die Herrschaft über alle Fähigkeiten derSeele dem Willen gegeben.Seele dem Willen gegeben.Seele dem Willen gegeben.Seele dem Willen gegeben.Seele dem Willen gegeben.

1. Wo Verschiedenes zu einer Einheit gebracht wurde, herrscht Ord-nung. Diese Ordnung bewirkt, daß die Dinge zueinander passen undaufeinander abgestimmt sind. Und dieses richtige Verhältnis zwischenDingen, die sonst ohne Fehl und Makel sind, macht ihre Schönheit aus.Ein Heer ist schön, wenn all seine Truppenkörper so geordnet aufge-stellt werden, daß sie bei aller Verschiedenheit doch auf das Ganze aus-gerichtet sind und so zusammen eine einheitliche Armee bilden.

Damit Musik schön sei, müssen die Stimmen nicht nur hell, klar unddeutlich erkennbar, sondern sie müssen auch aufeinander abgestimmt sein.So entsteht ein richtiger Zusammenklang, eine reine Harmonie. Diesewird erreicht durch die Einheit in der Verschiedenheit und durch dieVerschiedenheit in der Einheit der Stimmen, die man nicht ohne Grundeinen vielklingenden Zusammenklang oder vielmehr einen zusammen-klingenden Vielklang nennen kann.

2. Der große hl. Dionysius (De div. nom. 4) und nach ihm der hl.Thomas von Aquin (I. II 27,1) haben mit Recht gesagt, daß Schönheitund Güte sich wohl ähnlich, aber doch nicht dasselbe seien. Gut ist, wasdem Begehrungsvermögen und dem Willen zusagt, schön ist, was demVerstand und der Erkenntnis gefällt. Anders gesagt: gut ist, dessen Ge-nuß uns erfreut, schön, dessen Kenntnis uns befriedigt. Wir nennendaher schön nur etwas, was von diesen beiden Sinnen erfaßt ist, die amschärfsten wahrnehmen und am meisten der Erkenntnis dienen, vonGesicht und Gehör. Wir reden nicht von einem schönen Geruch oderGeschmack, wohl aber von schönen Stimmen und Farben.

Das Schöne heißt also schön, weil seine Kenntnis erfreut. Daher ist esnotwendig, daß zur Einheit in der Mannigfaltigkeit, zur Unversehrtheit,Ordnung und dem richtigen Verhältnis der einzelnen Teile zueinandersich noch in reichem Maße Glanz und Klarheit gesellen. So wird dieSchönheit erkennbar und sichtbar. Um schön zu klingen, müssen dieStimmen hell und klar tönen. Um als schön empfunden zu werden,muß die Rede verständlich, müssen Farben frisch und glanzvoll sein.Dunkel, Schatten und Finsternis sind häßlich und machen alles häßlich.Im Dunkel kann man nichts wahrnehmen, weder Ordnung noch Mannig-

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faltigkeit, noch Einheit, noch Ebenmaß. Deshalb sagt auch der hl. Dio-nysius (De div. nom.4): „Gott, die höchste Schönheit, ist Urheber derschönen Ordnung, des Glanzes und der Anmut, die überall sichtbar sind,da sein Leuchten sich als Licht auf alle Dinge ergießt und in ihnenaufstrahlt.“ So wird alles schön, da Gott Schönheit durch Ebenmaß,Klarheit und Anmut schaffen wollte.

Schönheit ist wirkungslos, wertlos und tot, wenn nicht Klarheit undGlanz sie beleben und ihr Wirkung verleihen. Deshalb nennen wir auchFarben lebhaft, wenn sie leuchten und glänzen.

3. Beseelte, lebende Wesen werden aber nicht vollendet schön sein,wenn ihnen Anmut fehlt. Diese fügt zum Ebenmaß der einzelnen form-vollendeten Teile auch noch das Ebenmaß der Bewegungen, Gebärden,und Handlungen hinzu. Und das ist gleichsam Seele und Leben in derSchönheit lebender Wesen.

4. So sehen wir in der alles überragenden Schönheit Gottes die Einheitder Natur in der Verschiedenheit der Personen, dazu eine unendlicheLichtfülle, verbunden mit einem unfaßbaren Ebenmaß aller Vollkommen-heiten in Handlungen und Bewegungen. Diese sind in erhabenster Weisezusammengefaßt und sozusagen miteinander verbunden und aufeinanderabgestimmt in der ganz einzigen, ganz einfachen Vollkommenheit derreinen göttlichen Wirklichkeit, die Gott selbst ist, der Unwandelbareund Unveränderliche (wovon wir später reden werden, s. 2.Buch, 2.Kap.).

5. Da also Gott wollte, daß alles gut und schön sei, hat er die vielenund verschiedenen Dinge zu einer vollkommenen Einheit zusammen-gefaßt. Er hat sie sozusagen zu einem einheitlichen Reich geformt. Sosollten sie einander stützen und alle in ihm, dem allerhöchsten Herrscher,ihren Halt haben. Alle Glieder fügt er zu einem Leib zusammen undstellt sie unter ein Haupt. Aus mehreren Menschen bildet er eine Familie,aus mehreren Familien eine Gemeinde, aus mehreren Gemeinden eineProvinz, aus mehreren Provinzen ein Reich, und dieses unterstellt ereinem Herrscher.

6. So hat Gott auch in jedem Menschen eine natürliche Monarchieerrichtet. In jedem Menschen gibt es eine unermeßliche Menge und Man-nigfaltigkeit von Handlungen, Regungen, Gefühlen, Neigungen, Gewohn-heiten, Leidenschaften, Fähigkeiten und Kräften. Über diese alle hat Gottden Willen als Herrscher gesetzt, der alles lenkt und leitet und allem,was es in dieser kleinen Welt gibt, seine Befehle erteilt. Es ist, wie wennGott zum Willen gesprochen hätte, wie Pharao zu Josef: „Du wirst über

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meinem Haus stehen, das ganze Volk wird den Befehlen deines Mundesgehorchen, ohne dein Geheiß darf keiner sich rühren“ (Gen 41,40.44).

Diese Herrschaft übt aber der Wille in sehr verschiedener Weise aus.

2. KapitelDer WDer WDer WDer WDer Wille herrscht über die Kräfille herrscht über die Kräfille herrscht über die Kräfille herrscht über die Kräfille herrscht über die Kräfte der Seele auf verschiedene Wte der Seele auf verschiedene Wte der Seele auf verschiedene Wte der Seele auf verschiedene Wte der Seele auf verschiedene Weise.eise.eise.eise.eise.

1. Der Hausvater führt Frau, Kinder und Diener durch seine Weisun-gen und Befehle, denen zu gehorchen sie verpflichtet sind, obgleich sieauch ungehorsam sein können. Hat er Leibeigene und Sklaven, soherrscht er über sie durch seine Macht, der sie keinen Widerstand zu lei-sten vermögen. Seine Pferde, Ochsen und Maultiere aber lenkt er durchbestimmte Mittel, er bindet sie an, zügelt sie, gibt ihnen die Sporen,sperrt sie ein, läßt sie frei ...

So herrscht der Wille über die Fähigkeit, uns zu bewegen, wie übereinen Leibeigenen oder Sklaven. Sie gehorcht immer, außer sie wäre vonaußen her behindert. Wir öffnen und schließen den Mund, bewegen dieZunge, die Hände, Füße, Augen und alles, was wir bewegen können,wie wir wünschen und wollen, ohne Widerstand zu finden.

2. Über unsere Sinne aber, und die Fähigkeit, uns zu nähren, zuwachsen und uns fortzupflanzen, können wir nicht so leicht herrschen.Es ist nur möglich, wenn wir bestimmte Mittel und Kunstgriffe anwen-den.

Ruft man einen Sklaven, so kommt er; sagt man ihm, er solle stehenbleiben, so steht er. Einen solchen Gehorsam kann man aber nicht voneinem Sperber oder Falken erwarten. Will man, daß er zurückfliege,so muß man ihm die Lockspeise zeigen; will man ihn beruhigen, so mußman ihm die Haube aufsetzen. – Man sagt dem Knecht: Geh nach rechtsoder nach links, und er tut es; um aber ein Pferd dazu zu bewegen,muß man die Zügel gebrauchen.

So können wir auch den Augen nicht das Sehen verbieten, noch denOhren das Hören, noch den Händen das Fühlen, noch dem Magen dieVerdauung, noch dem Leib das Wachsen und das Gebären. Alle dieseFähigkeiten haben keinen Verstand und können daher nicht gehorchen.Niemand kann seiner Größe auch nur eine Elle hinzufügen (Mt 6,27).Rahel wollte Kinder haben, es war ihr aber versagt (Gen 30,1). Wir essenoft, ohne daß es uns wirklich nährt und ohne daß wir zunehmen.

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Wer diese Fähigkeiten beherrschen will, muß die richtigen Mittel an-wenden. Wenn der Arzt einen Säugling behandelt, erteilt er ihm keineBefehle, sondern sagt der Mutter oder der Amme, was sie mit ihm tunsollen, oder heißt sie selbst das oder jenes essen, diese oder jene Arzneieinnehmen. Die in der Nahrung oder Arznei enthaltenen Stoffe gehendann in die Milch über und durch die Milch in den Leib des krankenSäuglings, der so dem Willen des Arztes folgt, ohne auch nur darandenken zu können.

Es hat keinen Sinn, dem Magen, dem Gaumen, dem Schoß Enthalt-samkeit, Nüchternheit und Zurückhaltung zu predigen. Man muß viel-mehr den Händen befehlen, daß sie dem Mund Nahrung und Trunk nurmaßvoll zuführen; man muß der Zeugungskraft Gegenstände, Gelegen-heiten und Nährstoffe entziehen oder zuführen, je nach dem Gebot derVernunft; man muß die Augen abwenden oder schließen, will man, daßsie nicht sehen. Mit diesen Mitteln wird man das erreichen, was derWille verlangt.

So, Theotimus, lehrt der Herr, daß es Ehelose gibt, die es um desHimmelreiches willen sind (Mt 19,12). Sie sind es nicht aus einer natür-lichen Unfähigkeit heraus, sondern weil der Wille Mittel gebraucht, dieihm helfen, enthaltsam zu bleiben.

Es ist unsinnig, dem Pferd zu befehlen, daß es nicht fett werden, nichtwachsen, nicht ausschlagen dürfe. Wenn du das haben willst, dann gibihm weniger Futter. Es hat keinen Sinn, ihm Befehle zu geben; du mußtes zügeln, willst du es zahm haben.

3. Der Wille hat sogar über Verstand und Gedächtnis eine gewisseMacht. Es gibt Verschiedenes, was der Verstand untersuchen, dessendas Gedächtnis sich erinnern kann. Der Wille kann nun bestimmen,welchen Gegenständen diese Fähigkeiten sich zuwenden und von welchensie sich abwenden sollen.

Es ist wohl wahr, daß der Wille mit diesen Fähigkeiten nicht so un-umschränkt schalten und walten kann wie mit Händen, Füßen oderZunge. Gedächtnis und Verstand bedürfen ja der sinnenhaften Fähigkei-ten und besonders der Einbildungskraft, um tätig zu sein; diese abergehorchen nicht so rasch und unfehlbar dem Willen. – Trotzdem setzt derWille Gedächtnis und Verstand in Bewegung, gebraucht und verwendetsie, wie es ihm gefällt. Allerdings gelingt ihm dies nicht unbedingt undunfehlbar. Die unbeständige und flatterhafte Einbildungskraft lenktzuweilen Gedächtnis und Verstand ab und treibt sie anderswohin.

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Der Apostel ruft daher aus: „Ich tue nicht das Gute, das ich will, son-dern das Böse, das ich hasse’’ (Röm 7,15). Auch wir müssen es oft bekla-gen, daß wir nicht an das Gute denken, das wir lieben, sondern an dasBöse, das wir hassen.

3. KapitelDie HerrschafDie HerrschafDie HerrschafDie HerrschafDie Herrschaft des Wt des Wt des Wt des Wt des Willens über das sinnenhafillens über das sinnenhafillens über das sinnenhafillens über das sinnenhafillens über das sinnenhafte Begehren.te Begehren.te Begehren.te Begehren.te Begehren.

1. Der Wille herrscht also, Theotimus, über Gedächtnis, Verstand undEinbildungskraft, nicht mit zwingender Gewalt, sondern kraft seiner Au-torität. Doch gehorchen sie ihm nicht unfehlbar, wie ja auch dem Haus-vater Kinder und Angestellte nicht immer gehorchen.

So ist es auch beim sinnlichen Begehren, das nach St. Augustin (St.G.14,7) bei uns Sündern Begierlichkeit genannt wird. Es bleibt dem Willenwie dem Geist untergeordnet, so wie das Weib dem Manne. Wie (s.St.G.15,7) zur Frau gesagt wird: „Du wirst dich zu deinem Manne hinwendenund er wird dein Herr sein“ (Gen 3, 16), so war es auch Kain gesagtworden, daß sein Begehren sich zu ihm hinwenden werde, er aber dar-über herrschen solle (Gen 4,7). Sich zu jemandem hinwenden, heißt abernichts anderes, als sich ihm unterwerfen und ihm untertan sein.

„O Mensch,“ sagt St. Bernhard (5. Fastenpredigt), „es liegt in deinerMacht, deine Feinde zu deinen Dienern zu machen, wenn du nur willst.Dann wird dir alles zum Guten gereichen. Das Begehren steht unter dirund du sollst es beherrschen. Dein Feind kann dich die Versuchungfühlen lassen, aber du kannst, wenn du willst, deine Zustimmung gebenoder verweigern.“

Gestattest du dem Begehren, dich zur Sünde zu verleiten, dann wirstdu ihm unterlegen sein und es wird dich beherrschen. Denn „wer dieSünde begeht, ist Sklave der Sünde“ (Joh 8,34). Aber solange du die Sündenicht begangen hast, solange du noch keine Zustimmung gegeben hast,sondern nur in Stimmung dafür bist, das heißt, solange sie nur in dei-nem Begehren, aber noch nicht in deinem Willen ist, ist „dieses Begehrennoch unter dir und du wirst es beherrschen.“

Bevor der Kaiser gewählt ist, untersteht er den Kurfürsten, die überihn herrschen, da sie ihn wählen oder auch ablehnen können. Ist er abereinmal durch sie erwählt und zum Kaiser erhoben, dann stehen sie unterihm und er herrscht über sie. Bevor der Wille dem Begehren nachgibt,

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herrscht er darüber, hat er aber nachgegeben, dann wird er dessen Skla-ve.

Alles in allem ist das sinnenhafte Begehren in Wirklichkeit ein meu-ternder, widerspenstiger und unruhiger Untertan. Man muß wohl ge-stehen: wir können es nie so niederwerfen, daß es nicht wieder auf-stünde und versuchte, gegen die Vernunft anzustürmen. Trotzdem hatder Wille so viel Macht über dieses Begehren, daß er es niederringen,seine Absichten vereiteln und es zurückschlagen kann, wenn er nurwill. Man schlägt es ja genügend zurück, wenn man seinenEinflüsterungen nicht nachgibt. – Wir können nicht verhindern, daßdie Begierlichkeit die Sünde empfange, wohl aber, daß sie die Sündegebäre und vollende (Jak 1,15).

2. Diese Begierlichkeit, dieses sinnenhafte Begehren verfügt über zwölfRegungen, durch die es wie durch ebensoviele meuternde RädelsführerAufstände im Menschen anzettelt. Und da sie für gewöhnlich die Seeleverwirren und den Leib erregen, nennt man sie nach St. Augustinus „see-lische Störungen“, insofern sie die Seele verwirren, und „Leidenschaf-ten“, insofern sie den Leib erregen (St. G. 14,8).

Sie alle betreffen das Gute und das Schlechte, jenes, um es zu er-langen, dieses, um es zu meiden.

Das Gute an sich, nach seiner natürlichen Güte betrachtet, erweckt Lie-be, die erste und wichtigste Leidenschaft. Ist es abwesend, dann ruft esin uns den Wunsch danach hervor. Glaubt man die Erfüllung diesesWunsches zu erreichen, dann hegt man Hoffnung; glaubt man, sie nichterreichen zu können, dann überkommt einen die Verzweiflung; ist aberdas Gute in unserem Besitz, so schenkt es uns Freude.

Mit dem Bösen ist es umgekehrt. Erkennen wir etwas als schlecht,so hassen wir es; ist es noch nicht da, so hüten wir uns davor; glaubenwir, ihm nicht entgehen zu können, so fürchten wir es; glauben wir aber,es vermeiden zu können, dann werden wir kühn und mutig; sehen wires gegenwärtig, dann sind wir traurig und dann überfällt uns Unmut undZorn, um es zu verwerfen und zurückzuweisen oder wenigstens uns zurächen. Gelingt uns das nicht, dann bleiben wir traurig. Haben wir es aberzurückgewiesen und uns gerächt, dann empfinden wir Genugtuung undBefriedigung, die triumphierende Freude ist; denn wie der Besitz desGuten das Herz erfreut, so hebt der Sieg über das Böse den Mut.

Dieses ganze Volk sinnenhafter Leidenschaften steht unter der Herr-schaft des Willens. Er verwirft ihre Einflüsterungen, schlägt ihre Angrif-

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fe zurück und hindert sie daran, etwas zu erreichen. Zum mindesten versagter ihnen kraftvoll seine Zustimmung; ohne diese können sie ihm nichtschaden; wird sie verweigert, so werden sie besiegt, ja mit der Zeit ge-schwächt, entkräftet, lahmgelegt, unterdrückt und, wenn auch nie ganztot, so doch gedämpft und abgetötet.

3. Diese Vielzahl von Leidenschaften verbleibt in unserer Seele, Theo-timus, um unseren Willen in der Tugend und geistlichen Tapferkeit zuüben. Die Stoiker leugneten, daß der Weise von ihnen befallen würde;sie täuschten sich aber schwer, um so mehr als sie das, was sie in Redenverneinten, durch ihre Taten bestätigten.

Augustinus (St.G. 9,4) erzählt darüber eine hübsche Geschichte. AulusGellius hatte sich mit einem berühmten Stoiker eingeschifft. Da erhobsich ein gewaltiger Sturm und der Stoiker wurde in seinem Schreckenaschfahl und leichenblaß und begann heftig zu zittern, so daß alle aufdem Schiff es sahen und interessiert betrachteten, obwohl sie in gleicherGefahr waren. Als schließlich das Meer wieder besänftigt und die Gefahrvorüber war und man wieder beruhigt frei zu plaudern und zu scher-zen begann, machte sich ein asiatischer Lebemann an den Stoiker heranund warf ihm spöttisch vor, daß er doch auch vor Angst in der Gefahrganz bleich geworden war, während er selbst furchtlos und ruhig geblie-ben sei. Darauf antwortet ihm der Stoiker mit der treffenden Erwi-derung des Aristippus, eines Philosophen aus der Schule des Sokrates,dem man das Gleiche vorgeworfen hatte: „Du hast recht gehabt, dichnicht um das Leben eines schlechten Wirrkopfes zu sorgen; ich aber hättewohl nicht recht gehandelt, hätte ich nicht um den Verlust der Seele desAristippus gebangt.“

Das Schöne an der Geschichte ist, daß Aulus Gellius sie als Augenzeu-ge erzählt. Freilich, was die Antwort selbst betrifft, so zeigt sie wohleher die Schlagfertigkeit des Stoikers als die Richtigkeit seiner Auffas-sung. Da er noch einen Genossen seiner Angst anführt, beweist er mitzwei untadeligen Zeugen, daß die Stoiker auch von Furcht ergriffen wa-ren, und zwar von einer Furcht, die ihren Stempel den Augen, dem Ge-sicht und der ganzen Haltung aufgedrückt hatte, also doch eine Lei-denschaft war.

4. Wie verrückt ist es doch, weise sein zu wollen nach einer un-möglichen Weisheit. Die Kirche hat den Wahnsinn dieser Weisheit ver-urteilt, die seinerzeit eingebildete Einsiedler verbreiten wollten und gegendie die ganze Heilige Schrift und besonders der große Apostel ausruft,

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daß wir „ein Gesetz“ in unserem Leib haben, „das dem Gesetz des Geis-tes widerspricht“ (Röm 7,23).

„Unter uns Christen,“ sagt der große hl. Augustinus (St.G. 14,9),„steht es nach den Heiligen Schriften und nach der gesunden Lehre fest,daß die Bürger der heiligen Stadt Gottes sich fürchten, wünschen, trauernund sich freuen.“ Ja sogar der erhabene König dieser Stadt hat sichgefürchtet, hat Wünsche gehegt, hat sich gefreut, hat gelitten, und soschwer gelitten, daß er weinte, erblaßte, zitterte und Blut schwitzte.Diese Regungen waren allerdings in ihm nicht Leidenschaften gleich denunseren; deshalb wagen auch Hieronymus (zu Mt 5,28 und 26,37) undnach ihm die Theologen sie aus Ehrfurcht vor dem, der sie erlitt, nichtmit dem Namen „Leidenschaften“ (passiones) zu bezeichnen, sondern ge-ben ihnen den ehrfurchtsvollen Namen „propassiones“. Sie wollten damitsagen, daß diese fühlbaren Regungen des Herrn, obwohl keine wirklichenLeidenschaften, ihn doch an ihrer statt bewegten. Er erlitt sie ja nur, soweit es ihm gut schien und wie es ihm gut schien, er hatte sie in seinerHand und beherrschte sie nach Belieben, was wir Sünder nicht tun.Bei uns entstehen nämlich diese Regungen gegen unseren Willen. Wirerleiden und erdulden sie. Bei uns sind sie ungeregelt und fügen derGesundheit und Ordnung unserer Seele oft großen Schaden zu.

4. KapitelDie Liebe beherrscht alle Affekte und LeidenschaftenDie Liebe beherrscht alle Affekte und LeidenschaftenDie Liebe beherrscht alle Affekte und LeidenschaftenDie Liebe beherrscht alle Affekte und LeidenschaftenDie Liebe beherrscht alle Affekte und Leidenschaften

und sogar den Willen, obwohl der Wille auch Gewalt über sie hat. und sogar den Willen, obwohl der Wille auch Gewalt über sie hat. und sogar den Willen, obwohl der Wille auch Gewalt über sie hat. und sogar den Willen, obwohl der Wille auch Gewalt über sie hat. und sogar den Willen, obwohl der Wille auch Gewalt über sie hat.

1. Durch die Liebe finden wir zunächst Gefallen an etwas Gutem, wie wirspäter noch sehen werden; daher geht die Liebe gewiß auch dem Wunschvoraus. Was wünscht man sich denn tatsächlich, als das, was man liebhat? Die Liebe geht auch der Freude voraus; denn wie könnte man amGenuß einer Sache Freude haben, wenn man sie nicht liebte? Sie geht derHoffnung voraus; denn man erhofft sich nur das Gute, das man liebt. Siegeht dem Haß voraus, denn wir hassen das Schlechte nur, weil wir das Gutelieben; das Schlechte ist ja auch nur schlecht, weil es dem Guten entge-gengesetzt ist.

Das Gleiche, Theotimus, ist von allen Leidenschaften und Affekten zusagen, denn sie alle kommen aus der Liebe, ihrer Quelle und Wurzel.

Daher sind die anderen Leidenschaften und Affekte gut oder schlecht,lasterhaft oder tugendhaft, je nachdem die Liebe, aus der sie stammen,

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gut oder schlecht ist; sie prägt ihnen ihre Eigenheiten so stark auf, daß sienichts anderes als diese Liebe selbst zu sein scheinen.

2. St. Augustinus (St. G. 14,7 u. 9) führt alle Leidenschaften undAffekte auf vier zurück, wie Boethius (De consol. 1,7), Cicero (Tusc.Disp. 3,11; 4,6), Virgil (Aen. 6,733) und die meisten antiken Den-ker. „Wenn die Liebe,“ so sagt er, „zum Besitz dessen hinstrebt, was sieliebt, heißt sie Begierde oder Wunsch; hat sie es in ihrem Besitz, soheißt sie Freude, flieht sie das, was ihr entgegengesetzt ist, so heißtsie Furcht, stößt ihr aber dieses von ihr Befürchtete zu und fühlt sie es,so heißt sie Traurigkeit. Daher sind diese Leidenschaften schlecht, wenndie Liebe schlecht ist, aber gut, wenn die Liebe gut ist.“

„Die Bürger der Stadt Gottes,“ sagt er weiter, „fürchten, wünschen,trauern, freuen sich – und weil ihre Liebe in Ordnung ist, so sind esauch ihre Leidenschaften.“ „Die christliche Lehre unterwirft den Geistunserem Gott, damit er ihn führe und ihm helfe. Sie unterwirft demGeist alle diese Leidenschaften, damit er sie zügle und mäßige und sieso der Gerechtigkeit und der Tugend dienen“ (St.G. 9,5). „Gerader Willeist gute Liebe, schlechter Wille ist schlechte Liebe“ (ebd 9,7), das heißtmit einem Wort, Theotimus, die Liebe beherrscht den Willen so stark,daß sie ihn zu dem macht, was sie selbst ist.

Die Frau nimmt gewöhnlich den Stand ihres Mannes an. Ist er vonAdel, so wird sie es auch; ist er König, so wird sie Königin; ist erHerzog, so wird sie Herzogin. Umgekehrt ist es beim Willen: er nimmtdie Eigenschaften der Liebe an, die er sich vermählt.1 Ist diese Liebefleischlich, so wird er es auch; ist sie geistig, so wird auch er geistig. Undda alle Affekte des Verlangens, der Freude, Hoffnung, Furcht und Trau-rigkeit gleichsam Kinder aus dieser Ehe sind, so empfangen sie folglichihre Eigenschaften von der Liebe. Mit einem Wort, Theotimus, der Willewird nur von seinen Affekten bewegt, unter denen die Liebe als ersteTriebfeder und als erster Affekt alles andere in Bewegung setzt undUrsache aller Regungen der Seele ist.

1 Im Französischen ist der Wille weiblichen, die Liebe männlichen Ge-schlechts, im Deutschen umgekehrt. Dies zum Verständnis dieses Verglei-ches, der sich bis zum Ende des Kapitels hinzieht. Der Vergleich hinkt inder deutschen Übersetzung; die Sache selbst ist aber klar. – Im obigenSatz steht im französischen Text: „So ist es beim Willen...“ Unsere Überset-zung mußte lauten: „Umgekehrt...“

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4. Aus all dem folgt aber nicht, daß der Wille nicht mehr überdie Liebe herrscht. Denn der Wille liebt nur, wenn er lieben will, und unterverschiedenen Arten von Liebe, die sich ihm anbieten, kann er nach Be-lieben wählen; sonst gäbe es weder eine verbotene, noch eine geboteneLiebe.

So ist der Wille Herr über die Liebe, wie es einem Mädchen freisteht,sich unter jenen, die sie umwerben, den zu wählen, der ihr am bestengefällt. Das Mädchen verliert durch die Trauung seine Freiheit, gibt seineSelbständigkeit auf, wird dem Manne untertan, den sie gewählt hat, undso Gefangene dessen, den sie gefangen hat. So wird auch der Wille, dersich seine Liebe frei gewählt hat, dieser untertan, sobald er sich für sieentschieden hat.

Die Frau bleibt dem Manne, den sie erkoren, untertan, solange er lebt;stirbt er, so gewinnt sie ihre frühere Freiheit wieder (1 Kor 7,39) undkann einen anderen Mann heiraten. So herrscht auch eine Liebe im Wil-len, solange sie noch in ihm lebt, und der Wille bleibt ihren Regungenunterworfen. Stirbt aber die Liebe, so kann der Wille eine andere Liebewählen.

Aber eine Freiheit besitzt der Wille, die die verheiratete Frau nicht hat.Er kann sich der Liebe entledigen, wann er will. Er braucht nur seinenVerstand auf Beweggründe zu lenken, die ihm die Liebe verekeln, und sichfür einen anderen Gegenstand seiner Liebe entschließen.

5. So müssen wir die Eigenliebe niederringen, soll die Liebe zu Gottin uns leben und herrschen. Können wir sie nicht ganz vernichten, soschwächen wir sie doch; sie wird dann, wenn sie auch noch weiterlebt,doch nicht unsere Herrin sein. Wir können aber auch umgekehrt dieheilige Liebe fallen lassen und uns den Geschöpfen ganz zuwenden –und das ist dieser schändliche Ehebruch, den der göttliche Bräutigamso oft den Sündern vorwirft.

5. KapitelDie Willensregungen.Die Willensregungen.Die Willensregungen.Die Willensregungen.Die Willensregungen.

1. Im geistigen und verstandesmäßigen Begehren, das wir Wille nen-nen, gibt es nicht weniger Regungen als im sinnenhaften oder sinnlichen.Jene nennt man aber gewöhnlich Affekte, diese Leidenschaften.

Philosophen und Heiden haben auf irgendeine Weise Gott, Vaterland,Tugend und Wissenschaft geliebt, Laster gehaßt, Ehren erhofft, waren

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darüber verzweifelt, daß sie dem Tod und der Verleumdung nicht entge-hen konnten, haben Wissen und Seligkeit nach dem Tod begehrt. Siehaben Mut gefaßt, um Schwierigkeiten zu überwinden, die das Tugend-streben mit sich bringt, sie haben den Tadel gefürchtet, größere Fehlerzu meiden und öffentliches Unrecht zu rächen gesucht, waren gegenTyrannen ohne eigennützige Absichten empört.

Alle diese Regungen haben aber ihren Sitz in der Vernunft, da dieSinne und daher auch das sinnliche Begehren unfähig sind, sich diesenGegenständen zuzuwenden. Sie waren also Regungen des geistigen undverstandesmäßigen Verlangens und nicht Leidenschaften des sinnlichenBegehrens.

2. Wie oft haben wir Leidenschaften im sinnlichen Begehren, in derBegierlichkeit, die entgegengesetzt sind den Regungen, die wir zu glei-cher Zeit im vernünftigen Begehren, im Willen fühlen.

St. Hieronymus erzählt von einem jungen Mann, der seine eigene Zun-ge abbiß und dem schlechten Weibe, das ihn verführen wollte, ins Gesichtspie. Offenbarte dieser nicht damit den äußersten Abscheu seines Willens, wäh-rend er zu gleicher Zeit gezwungenerweise im sinnlichen Begehren Wol-lust empfinden mußte?

Wie oft zittern wir vor Angst in den Schwierigkeiten, in die uns derWille hineinführt und verbleiben heißt! Wie oft hassen wir die Lust,in der unser sinnliches Begehren sich gefällt, da wir doch die geistlichenGüter lieben, die ihm mißfallen!

Darin besteht ja der Krieg zwischen Geist und Fleisch, den wir Tagfür Tag fühlen müssen, zwischen unserem äußeren Menschen, der vonden Sinnen, und unserem inneren Menschen, der von der Vernunft ab-hängt, zwischen dem alten Adam, der dem Begehren seiner Eva, seinerBegierlichkeit nachgibt, und dem neuen Adam, der der himmlischen Weis-heit und der geheiligten Vernunft folgt.

3. Die Stoiker leugneten nach St. Augustinus (St.G. 14,8) wohl, daß derWeise Leidenschaften haben könne, sie gaben aber anscheinend zu, daß erEmpfindungen habe, die sie „Eupathien“, d. h. gute Leidenschaften, odernach Cicero „Beständigkeiten“ nannten. Sie sagten, der Weise begehre nicht,sondern er wolle, er juble nicht, sondern er freue sich; er fürchte sichnicht, sondern sei vorsichtig und fürsorglich, so daß er nur für Vernünfti-ges und auch nur vernünftigerweise bewegt werde.

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Deshalb leugneten sie besonders, daß der Weise je traurig sein könne;traurig sei man ja nur über ein zugestoßenes Übel; dem Weisen stoßeaber kein Übel zu, er könne sich nur selber Schaden zufügen.

Sie waren gewiß im Recht, wenn sie in der menschlichen Vernunft„Eupathien“, gute Empfindungen, feststellten; ihr Unrecht war, zu sa-gen, daß es im sinnlichen Begehren keine Leidenschaften gebe unddaß Traurigkeit das Herz des Weisen nicht berühre. Davon abgesehen,daß sie doch sich selber davon verwirren ließen, wie oben (Kap.3) gezeigtwurde, ist es denn möglich, daß die Weisheit uns der Barmherzigkeitberaube, dieser tugendhaften Traurigkeit des Herzens, die uns antreibtden Mitmenschen von einem Übel zu befreien, das er erduldet? Dahernahm auch Epiktet, der anständigste Mensch unter den Heiden, diesenIrrtum nicht an, wie St. Augustinus (St.G. 9,4 u. 5) bezeugt, der auchdarlegt, daß der Gegensatz der Stoiker zu den anderen Philosophen indieser Frage kein bloßes Wortgefecht war.

4. Diese Affekte aber, deren Sitz die vernunftbegabte Seele ist, sindmehr oder minder edel und geistig je nach der Erhabenheit ihres Gegen-standes und der mehr oder minder hohen Geistesstufe, von der sie kom-men.

Manche Affekte entspringen Gedankengängen, die aus der Erfahrungder Sinne kommen. Bei anderen sind Gedanken maßgebend, die ausmenschlichem Wissen stammen, bei anderen sind Glaubensgedankenentscheidend. Endlich gibt es solche, deren Ursprung in der einfachenund innigen Hingabe der Seele an die Wahrheit und an den Willen Got-tes liegt.

Die ersten heißen natürliche Affekte; denn wer wünscht sich nicht na-türlicherweise, gesund zu sein, das Notwendigste an Kleidung und Nah-rung zu haben, sich eines freundlichen und angenehmen Umganges zuerfreuen?

Die zweiten nennt man verstandesmäßige Affekte; sie beruhen ja voll-ständig auf dem geistigen Verstandeswissen, durch das unser Wille ange-trieben wird, Herzensruhe, sittliche Tugenden, wahre Ehre, philosophi-sche Schau ewiger Werte anzustreben.

Die dritte Art von Affekten heißen christliche; sie haben ihren Ur-sprung in Erwägungen, die der Lehre unseres Herrn entstammen, undlassen uns freiwillige Armut, vollkommene Keuschheit, die Paradieses-herrlichkeit lieben.

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Die Affekte der höchsten Stufe nennt man göttliche und übernatürliche;denn Gott selbst legt sie uns in den Geist und sie beziehen sich auf Gottund zielen auf ihn hin, ohne Zutun irgendwelcher Erwägungen oder irgend-eines natürlichen Lichtes. Was wir später (Kap.12) über die Hingabe unddie Empfindungen sagen werden, die im Heiligsten der Seele entstehen,wird uns dies verständlich machen.

Solcher übernatürlicher Affekte gibt es besonders drei: die Liebe desGeistes zu den Schönheiten der Glaubensgeheimnisse, die Liebe zu denwertvollen Gütern, die uns im anderen Leben verheißen sind, und dieLiebe zur hocherhabenen Güte der allheiligen und ewigen Gottheit.

6. Kapitel

VVVVVorherrschaforherrschaforherrschaforherrschaforherrschaft der Gottesliebe über jede andere Liebe.t der Gottesliebe über jede andere Liebe.t der Gottesliebe über jede andere Liebe.t der Gottesliebe über jede andere Liebe.t der Gottesliebe über jede andere Liebe.

1. Der Wille lenkt alle anderen Fähigkeiten des menschlichen Geistes,wird aber selber wieder beherrscht von der Liebe, die ihn zu dem macht,was sie selber ist. Unter allen Arten von Liebe aber führt die Liebezu Gott das Zepter. Die Herrschaft ist mit ihrem Wesen so untrennbarverbunden, sie ist ihr so eigen, daß sie überhaupt zu sein aufhört undzugrundegeht, sobald sie nicht mehr Herrscherin ist.

2. Ismael hatte keinen Anteil am Erbe seines jüngeren Bruders Isaak(Gal 4,30). Esau wurde zum Dienst seines nachgeborenen Bruders be-stimmt (Röm 9,13); dem Josef huldigten nicht nur die Brüder, sondernauch der Vater und sogar die Mutter in der Person Benjamins, wie er esin seinen Jugendträumen vorhergesehen hatte (Gen 37,6–10). Daß diesejüngeren Brüder über die älteren den Vorrang erlangten, ist gewiß nichtohne Geheimnis.

Die göttliche Liebe ist wahrhaftig die jüngste unter allen Empfindun-gen des menschlichen Herzens; denn wie der Apostel sagt, „zuerst ist,was naturhaft, und dann, was geistig ist“ (1 Kor 15,46). Diese nachgebo-rene Liebe erbt aber die Alleinherrschaft; die Eigenliebe ist, wie einstEsau, bestimmt, ihr zu dienen. Nicht nur alle anderen Regungen derSeele, ihre Geschwister sozusagen, huldigen ihr und sind ihr untertan,sondern sogar der Verstand und der Wille, die ihr wie Vater und Muttersind. Alles ist dieser himmlischen Liebe untergeordnet. Sie will nur Köni-gin sein oder nichts. Sie kann nicht leben, ohne zu herrschen, undnicht herrschen, ohne unbeschränkte Herrscherin zu sein.

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3. Isaak, Jakob und Josef waren Kinder der Gnade; denn ihre MütterSara, Rebekka und Rahel, unfruchtbar von Natur, empfingen sie durchdie Huld himmlischer Güte, weshalb sie auch zu Herren ihrer Brüderbestellt wurden. So ward auch die heilige Liebe durch ein Wunder gebo-ren, da der menschliche Wille sie nicht empfangen kann, wenn nicht derHeilige Geist sie in unsere Herzen eingießt. Als übernatürliche Liebemuß sie aber den Vorrang und die Herrschaft über jede Liebe, ja sogar überden Verstand und den Willen haben.

Es gibt wohl noch andere übernatürliche Regungen in der Seele, wieFurcht, Frömmigkeit, Stärke, Hoffnung. Es wurden ja auch Esau undBenjamin von Rahel und Rebekka übernatürlicherweise empfangen. Diegöttliche Liebe ist aber Herrin, Erbin und Gebieterin, da sie ein Kind derVerheißung ist: wurde doch der Himmel den Menschen um ihretwillenverheißen (Gal 4,28).

Das Heil ist dem Glauben gezeigt, der Hoffnung bereitet, aber nur derLiebe geschenkt. Der Glaube zeigt den Weg zum verheißenen Land wie ei-ne Wolken und Feuersäule, das heißt im Hell-Dunkel, die Hoffnungnährt uns mit köstlichem Manna, aber die Liebe führt uns hinein. DerBundeslade gleich sichert sie den Durchgang durch den Jordan, das heißtdurch das Gericht. Sie wird inmitten des Volkes in den himmlischenGefilden verbleiben, die den wahren Israeliten versprochen sind, wo nichtmehr die Wolkensäule des Glaubens Führerin ist und das Manna derHoffnung nicht mehr die Seele nährt.

4. Die heilige Liebe hat ihren Sitz in der höchsten und erhabenstenZone des Geistes, wo sie ihre Lob- und Brandopfer der Gottheit dar-bringt, wie einst Abraham das seine (Gen 22,2) und wie der Herr auf derHöhe des Kalvaria sich selbst als Opfer darbrachte. An solch erhabenerStätte thront die Liebe, damit ihr Volk ihr Gehör und Gehorsam schen-ke; ihr Volk, das heißt alle seelischen Fähigkeiten und Affekte, über die siemit unvergleichlicher Milde herrscht. Denn die Liebe hält keine Sträflingeund keine Sklaven, sondern stellt alles unter ihren Gehorsam mit einerso bezaubernden Kraft, daß zwar nichts so stark ist wie die Liebe, aberauch nichts so liebenswert wie ihre Kraft.

Die Tugenden sind in der Seele, um ihre Regungen zu ordnen; dieLiebe aber, als erste aller Tugenden, leitet und regelt sie alle, nicht nurweil „das erste in jeder Art von Dingen Regel und Maß für alles übrigeist“ (Aristoteles, Physik 4,14), sondern auch weil Gott, der den Menschennach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat, es so will, daß im Men-

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schen wie in ihm selbst alles durch die Liebe und auf die Liebe hin geord-net sei.

7. KapitelAllgemeine Beschreibung der Liebe.Allgemeine Beschreibung der Liebe.Allgemeine Beschreibung der Liebe.Allgemeine Beschreibung der Liebe.Allgemeine Beschreibung der Liebe.

1. So wesentlich ist der Wille auf das Gute ausgerichtet, daß er sich ihmsofort zuwendet, sobald er seiner gewahr wird, um sein Wohlgefallen anihm zu finden, das ja sein ihn stets befriedigender Gegenstand ist. Er istmit ihm so innig verwandt, daß man sogar sein Wesen nur durch dieseBezogenheit auf das Gute erklären kann, wie man auch das Wesen desGuten nur erklären kann durch seine Verbundenheit mit dem Willen.

Ich bitte dich, Theotimus: Was ist denn das Gute? Doch das, was jeder-mann will. Und was ist der Wille anderes als die Fähigkeit, die zu demGuten, oder was man für gut hält, hindrängt und hinstreben läßt?

2. Wenn also der Wille durch die Vermittlung des Verstandes, der ihmdas Gute zeigt, dessen gewahr und bewußt wird, fühlt er sofort Freudeund Gefallen an dieser Begegnung. Und dies erregt ihn und zieht ihn,lieblich aber mächtig, zu diesem liebenswerten Gegenstand hin, um sichmit ihm zu vereinigen, und läßt ihn alle dafür geeigneten Mittel suchen,um diese Vereinigung zu vollziehen.

Der Wille hat also eine sehr innige Beziehung zum Guten. DieserBeziehung zum Guten entspringt das Wohlgefallen, das der Wille emp-findet, wenn er das Gute spürt und es schaut. Weil es ihm gefällt, wirdder Wille zum Guten hin bewegt und gedrängt.

Dieses Bewegtsein des Willens zielt darauf hin, sich mit dem Guten zuvereinigen.

Schließlich sucht der jetzt in Bewegung gekommene und zur Vereini-gung hinstrebende Wille alle geeigneten Mittel, um diese Vereinigungzu erreichen. Das alles umfaßt gewiß die Liebe. Sie ist wie ein schöner Baum,dessen Wurzel die Bezogenheit des Willens auf das Gute ist, dessen Fuß dasWohlgefallen am Guten, der Stamm die Bewegung zum Guten hin, dieÄste all das Streben, Suchen, Bemühen hinzugelangen, die Frucht aberdie Vereinigung mit ihm und sein beglückender Besitz.

So scheint die Liebe aus diesen fünf Wesenselementen zu bestehen,die aber wieder viele andere kleine Einzelheiten einschließen, wie wirnoch sehen werden.

3. Nehmen wir zum Vergleich das Verhalten des Eisens zum Magnet,das man als unbewußte Liebe bezeichnen könnte. Es ist ein gutes Bild

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der fühlbaren und bewußten Liebe, von der wir sprechen. Das Eisen hat eineso innige Beziehung zum Magnet, daß es sich ihm zuwendet, sobald es seineKraft verspürt. Es regt sich, rührt sich in leisen Zuckungen, wie wenn esGefallen am Magnet fände, bewegt sich zum Magnet hin, strebt ihm zuund scheint alle Mittel anwenden zu wollen, um sich mit ihm zu vereini-gen.

Sehen wir nicht an diesem leblosen Wesen alle Einzelheiten einer le-bendigen Liebe schön dargestellt?

Liebe ist doch, Theotimus, eigentlich Wohlgefallen am liebenswertenWesen und Bewegung oder Überströmen des Willens zu ihm hin.

Wohlgefallen ist aber erst der Anfang der Liebe. Das Bewegtseinoder das Hinströmen des Herzens, das sich aus dem Wohlgefallen ergibt, istdie wahre, wesenhafte Liebe. Das eine wie das andere kann man Lie-be nennen, aber in verschiedenem Sinn.

Wie man die Morgendämmerung Tag nennen kann, so kann man auchdas erste Wohlgefallen des Herzens am geliebten Wesen als Liebe be-zeichnen, weil es ja dessen erste Regung ist. Wie man aber eigentlichunter Tag nur die Zeit vom Ende der Morgendämmerung an bis zumSonnenuntergang versteht, so ist auch das eigentliche Wesen der Liebedas Bewegtsein und Überströmen des Herzens, das dem Wohlgefallensofort folgt und in der Vereinigung zur Vollendung kommt.

Mit einem Wort, das Wohlgefallen am Guten ist der erste Aufbruch,die erste Regung, die das Gute im Willen hervorruft. Ihm folgt auf demFuß das Sichhinbewegen, das Hinströmen des Willens, wodurch dieser vor-wärtsstrebt und sich dem geliebten Wesen nähert – und das ist die wahreund eigentliche Liebe.

Sagen wir es so: Dadurch, daß es gefällt, ergreift das Gute das Herz,packt und fesselt es; durch die Liebe aber zieht es das Herz an, reißt esan sich und vereinigt es mit sich. Dadurch, daß es gefällt, lockt es dasHerz an, aus sich herauszutreten, durch die Liebe treibt es aber das Herzan, den Weg zu gehen, die Reise zu unternehmen. Wohlgefallen ist dasErwachen des Herzens, Liebe ist seine Tat; Wohlgefallen bestimmt es, sichzu erheben, Liebe, vorwärtszustreben. Das Herz spannt im Wohlgefallen seineFlügel zum Flug aus, Liebe aber ist sein Flug. Liebe ist also, klar undeindeutig gesagt, Bewegung, Überströmen, Hinstreben des Herzens zumGuten.

4. Mehrere große Theologen haben gemeint, daß Liebe nichts anderes seials Wohlgefallen. Es scheint viel dafür zu sprechen. Tatsächlich hat die

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Liebesregung ihren Ursprung im Wohlgefallen, das das Herz bei der erstenBegegnung mit dem Guten empfindet. Sie läuft schließlich in einem zwei-ten Wohlgefallen aus, das das Herz in der Vereinigung mit dem gelieb-ten Wesen findet. Außerdem verdankt sie ihre Fortdauer dem Wohlgefal-len, ohne das sie nicht sein kann, das ihr Mutter und Amme ist, so daß dieLiebe zugrundegeht, wenn das Wohlgefallen aufhört.

Wie die Biene im Honig geboren wird, sich vom Honig ernährt undnur des Honigs wegen ausfliegt, so entsteht die Liebe aus dem Wohl-gefallen, erhält sich durch das Wohlgefallen und strebt zum Wohl-gefallen hin. Die Schwerkraft setzt Gegenstände in Bewegung, bewegtsie vorwärts und hält sie wieder auf; die Schwerkraft gibt dem Stein denAntrieb, in die Tiefe zu fallen, sobald das Hindernis weg ist; dieselbeSchwerkraft ist Ursache, daß er immer tiefer fällt, und wieder ist esdie Schwerkraft, die ihn zum Stehen und zur Ruhe bringt, sobald er anseinem Ort angekommen ist.

So ist es auch mit dem Wohlgefallen; es setzt den Willen in Bewegung,es treibt ihn weiter an und läßt ihn seine Ruhe im geliebten Wesenfinden, wenn er mit ihm vereinigt ist. Da also diese Liebesregung sovom Wohlgefallen abhängt, sowohl in ihrem Ursprung wie in ihrerFortdauer und Vollendung, und immer und untrennbar mit ihm ver-bunden ist, so ist es nicht zu verwundern, wenn diese großen Den-ker Liebe und Wohlgefallen für dasselbe hielten.

5. Trotzdem ist in Wahrheit zu sagen, daß die Liebe als wirklicheLeidenschaft der Seele nicht bloß einfaches Wohlgefallen sein kann, son-dern in der Willensregung bestehen muß, die ihm entspringt.

Diese Liebesregung aber, vom Wohlgefallen verursacht, dauert fort biszur Vereinigung und zum frohen Besitz.

Handelt es sich daher um ein gegenwärtiges Gut, so drängt die Lie-besregung das Herz zum geliebten Wesen hin, so daß es sich ihm an-schmiegt, sich mit ihm aufs innigste verbindet und vereinigt und so sichseines Besitzes erfreut. Man nennt sie dann „Liebe des Wohlgefallens“,denn kaum ist sie aus dem ersten Wohlgefallen geboren, ist sie schonim zweiten Wohlgefallen vollendet, das ihr durch die Vereinigung mitdem gegenwärtigen geliebten Wesen geschenkt wird.

Zuweilen ist aber das Gute, zu dem das Herz hinstrebt, hinneigt undvon dem es angezogen wird, entfernt, abwesend, oder es liegt in der Zu-kunft, oder die Vereinigung kann nicht so vollkommen sein, wie manes wünscht. Dann wird die Liebesregung, mit der das Herz diesem abwe-

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senden Gegenstand zustrebt, sich ihm nähert und nach ihm sich sehnt,eigentlich „Verlangen“ genannt. Verlangen ist nichts anderes als Sehn-sucht, Begehren, Streben nach etwas, das wir nicht haben, aber dessenBesitz wir uns wünschen.

6. Es gibt auch noch gewisse Liebesregungen zu Dingen, die wir kei-neswegs erwarten und anstreben, so wenn wir sagen: Wäre ich dochschon im Himmel! Oder wäre ich doch ein König! Oder könnte ich dochjünger sein! Hätte ich doch nie gesündigt, und ähnliches. Das sindwohl auch Wünsche, aber unvollkommene; man könnte sie Halbwünschenennen. Tatsächlich drückt man sie nicht so aus wie wirkliche Wünsche.Wenn wir wirklich etwas wünschen, sagen wir: „Ich wünsche es,’’ aber beiso unvollkommenen Wünschen sagen wir: „Ich würde es wünschen, ichmöchte es.“ Wir können wohl sagen: „Ich möchte jung sein,“ aber wirwerden nie sagen: „Ich wünsche, jung zu sein“; – denn das ist ja nichtmöglich.

Einen solchen Halbwunsch nennen die Theologen „velleitas“, das heißteinen Willensansatz ohne Folgen. Der Wille sieht, daß er diesen Gegen-stand nicht erreichen kann, weil er entweder unmöglich oder äußerstschwer erreichbar ist; so stellt er die Bewegung zu ihm hin ab und been-digt sie mit diesem einfachen Wunschaffekt. Es ist, wie wenn er sagenmöchte: Dieses Gute, das ich sehe, das ich aber nicht anstreben kann, wäremir sehr liebenswert. Ich kann es zwar nicht wollen und erhoffen; könnteich aber, so würde ich es wünschen und gerne haben.

So sind solche Wunschansätze eigentlich nur eine geringfügige Liebe, dieman „Liebe einfacher Billigung’’ nennen kann, weil die Seele, ohneetwas zu wollen, diesen Gegenstand gutheißt, und da sie ihn nicht eigent-lich wünschen kann, doch bekennt, daß sie ihn wünschen möchte unddaß er wirklich wünschenswert ist.

7. Das ist noch nicht alles, Theotimus. Es gibt andere noch unvollkom-menere Wünsche, bei denen die Bewegung des Willens zum Guten hinnicht durch die Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit aufgehalten wird,sondern nur durch ihre Unverträglichkeit mit einem anderen stärkerenWunsch oder Willen. Ein Kranker z. B. wünscht Kürbisse oder Melonen zuessen; sie stehen ihm zur Verfügung; er will sie aber doch nicht essen, weiler eine Verschlechterung der Krankheit befürchtet. Man sieht, daß er zweiWünsche hat: den, Kürbis zu essen, und den, gesund zu werden. Weil aberder Wunsch, gesund zu werden, stärker ist, erstickt und überwindet erden anderen, so daß er wirkungslos bleibt.

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Jiftach (Ri 11,30ff) wünschte, daß seine Tochter am Leben bleibe; weildies aber mit dem Wunsch, sein Gelübde zu halten, unvereinbar war, sowollte er, was er nicht wünschte, nämlich seine Tochter opfern, undwünschte, was er nicht wollte, seine Tochter am Leben zu erhalten.

Pilatus (Joh 19,12) und Herodes (Mk 6,26) wünschten, der eine denHeiland, der andere den Vorläufer freizulassen. Weil aber ihre Wünscheunvereinbar waren mit dem Wunsch, den Juden oder dem Kaiser oderHerodias und deren Tochter zu gefallen, waren sie leer und vergeblich.Diese Wünsche sind um so unvollkommener, je wertloser die mit ihnenunvereinbaren Dinge sind, da sie durch so schwache Gegenwünsche da-von aufgehalten und erstickt werden.

So war der Wunsch des Herodes, den hl. Johannes nicht zu töten, nochunvollkommener als der des Pilatus, den Herrn freizugeben, denn dieserfürchtete die Verleumdung und die Wut des Volkes und des Kaisers,jener nur den Ärger einer einzigen Frau.

Solche Wünsche, die aufgehalten werden, nicht weil ihre Erfüllungunmöglich, sondern weil sie mit stärkeren Wünschen unvereinbar sind,nennt man wohl auch Wünsche, aber eitle, erstickte und sinnlose. BeiWünschen nach unmöglichen Dingen sagt man: „Ich wünsche, aber ichkann nicht.“ Bei Wünschen möglicher Dinge: „Ich wünsche, aber ich willnicht.“

8. KapitelWWWWWelcher Arelcher Arelcher Arelcher Arelcher Art ist die innere Beziehung, die Liebe weckt?t ist die innere Beziehung, die Liebe weckt?t ist die innere Beziehung, die Liebe weckt?t ist die innere Beziehung, die Liebe weckt?t ist die innere Beziehung, die Liebe weckt?

1. Wir sagen: Das Auge sieht, das Ohr hört, die Zunge spricht, der Ver-stand erwägt, das Gedächtnis erinnert sich und der Wille liebt. Wir wissenaber doch, daß eigentlich der ganze Mensch diese mannigfachen Tätigkei-ten durch verschiedene Fähigkeiten und Organe ausübt. Der Menschist es also auch, der durch die Fähigkeit, zu lieben, die wir Willen nen-nen, nach einem Gut hinstrebt und sein Wohlgefallen daran findet;der Mensch hat diese starke innere Beziehung zum Guten – und das istQuelle und Ursprung der Liebe.

2. Nun haben jene nicht richtig geurteilt, die meinten, Ähnlichkeit seidie einzige innere Beziehung, die Liebe wecke.

Sieht nicht jedermann, wie die verständigsten Greise kleine Kinderzart und innig lieben und auch wieder von Kindern geliebt werden?Sieht man nicht auch, wie Gelehrte Unwissenden, sofern diese lernen wol-len, und Ärzte ihren Kranken Liebe erweisen?

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Oder wenn wir der leblosen Welt ein Gleichnis entnehmen: Kraft wel-cher Ähnlichkeit strebt denn Eisen zum Magnet hin? Hat ein Magnet nichtgrößere Ähnlichkeit mit einem anderen Magnet oder mit einem anderenStein als mit Eisen, das von ganz anderer Art ist? Jene, die behaupten, daßjede Zusammengehörigkeit auf Ähnlichkeit zurückzuführen ist, versichernzwar, daß Eisen von Eisen und Magnet von Magnet angezogen wird, abersie können nicht erklären, warum der Magnet das Eisen kräftiger anzieht,als Eisen das Eisen. Überdies, welche Ähnlichkeit besteht wohl zwischenKalk und Wasser oder zwischen Wasser und einem Schwamm? Dennochnehmen beide das Wasser äußerst begierig auf und offenbaren damit sozu-sagen eine zwar nicht gefühlte, aber doch außerordentlich starke Liebezu diesem.

Ebenso verhält es sich mit der menschlichen Liebe. Oft ist die Liebezweier Menschen verschiedener Wesensart zueinander viel stärker als dieLiebe solcher, die einander sehr ähnlich sind.

3. Die innere Beziehung also, die Ursache der Liebe ist, besteht nichtimmer in der Ähnlichkeit, sondern vielmehr darin, daß der Liebende zumgeliebten Wesen in einem bestimmten Verhältnis steht, daß sie einanderin gewisser Hinsicht entsprechen, miteinander irgendwie übereinstim-men.

So ist nicht Ähnlichkeit zwischen dem Arzt und dem KrankenUrsache, daß der Kranke den Arzt lieb hat, sondern seine Not, der dasKönnen des Arztes entspricht. Der eine braucht Hilfe, der andere kannsie leisten. Aus demselben Grund liebt auch umgekehrt der Arzt denKranken und der Gelehrte seinen Schüler, weil sie an ihnen ihre Fähig-keiten anwenden können.

Alte Menschen lieben Kinder nicht aus einem Gefühl der Gleichheitheraus, sondern weil durch deren Einfalt, Zartheit und Schwäche ihreeigene Klugheit und Sicherheit mehr hervortritt und in helles Licht ge-rückt wird; und eine solche Unähnlichkeit macht einem doch Freude.Umgekehrt lieben auch Kinder alte Leute, weil diese sich mit ihnen ab-geben und beschäftigen und weil sie dunkel fühlen, daß sie ihrer Führungbedürfen.

Musikakkorde entstehen aus vielen ungleichen Tönen, die aber in ei-nem solchen Verhältnis zueinander stehen, daß sie zusammen einen har-monischen Klang hervorbringen. Verschiedenartige Edelsteine und Blu-men bilden in feinsinniger Zusammenstellung die Schönheit des Ge-schmeides oder des Blumengebindes.

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Ebenso entspringt auch die Liebe nicht immer der Ähnlichkeit oderdem gleichen Empfinden zweier Wesen, sondern der Tatsache, daß dieseeinander entsprechen und zueinander passen und so durch ihre Verbin-dung einander Wertvolles geben und dadurch besser werden können.

Das Haupt gleicht nicht dem Leib, die Hand nicht dem Arm; trotzdemgehören sie so zusammen und passen so gut zueinander, daß sie, mitein-ander verbunden, sich gegenseitig sehr viel nützen. Hätte jedes dieserGlieder eine eigene Seele, so würden sie einander vollkommen lieben;nicht wegen ihrer Ähnlichkeit, die vollständig fehlt, sondern weil sie sogeeignet sind, einander zu ergänzen.

Daher haben auch oft melancholische und heitere, aufbrausende undsanfte Menschen einander so gerne, weil sie fühlen, wie wohltuend sichihre gegenseitige Beeinflussung auswirkt und wie sie dadurch in ihrenGemütsstimmungen maßvoller werden.

4. Tritt aber zu dieser inneren Beziehung noch Ähnlichkeit hinzu, dannwird die Liebe noch viel mächtiger geweckt. Ähnlichkeit ist ja ein wahresBild der Einheit. Man kann hier mehr von Einheit als von Vereinigungsprechen, wenn zwei einander ähnliche Wesen, sich gegenseitig ergän-zend, gemeinsam auf das gleiche Ziel hinstreben.

So ist also die innere Beziehung des Liebenden zum geliebten Wesendie erste Quelle der Liebe. Diese Beziehung besteht aber darin, daß sieeinander ergänzen. Das heißt, ihr Verhältnis zueinander muß so sein,daß sie fähig werden, sich durch ihre Vereinigung Wertvolles mitzuteilen.Dies wird sich aus dem Folgenden noch deutlicher ergeben.

9. KapitelLiebe strebt nach VLiebe strebt nach VLiebe strebt nach VLiebe strebt nach VLiebe strebt nach Vereinigung.ereinigung.ereinigung.ereinigung.ereinigung.

1. Der große König Salomo beschreibt die Liebe zwischen dem himm-lischen Bräutigam und der frommen Seele auf eine so ansprechend lieb-liche Weise, daß dieses göttliche Werk wegen seiner wunderbaren Innig-keit das „Hohelied“ genannt wird. Er führt uns stets die Liebe eineskeuschen Hirten und einer reinen Hirtin vor Augen, um uns ganz sachtezur Betrachtung jener geistlichen Liebe emporzuheben, die dann zwischenGott und uns besteht, wenn unsere Herzensregungen mit den Gnaden-anregungen der göttlichen Majestät übereinstimmen.

Er läßt die Hirtin zuerst sprechen. Gleichsam von Liebe überrascht, ruft sieaus: „Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes“ (Hld 1,1).

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Siehe, Theotimus, wie die Seele (dargestellt durch diese Hirtin) indiesem ersten Wunsch nur ihre Sehnsucht nach geistiger Vereinigung mitihrem Bräutigam ausdrückt. Es ist, wie wenn sie beteuern wollte, daß diesdas einzige Ziel ist, nach dem sie strebt und für das sie lebt und atmet.Was soll denn dieser erste Wunsch: „Er küsse mich mit dem Kuß seinesMundes“ sonst auch sagen wollen?

2. Von jeher drängt es die Menschen natürlicherweise dazu, innigeLiebe, das heißt Herzensvereinigung, durch den Kuß auszudrücken. Unddies nicht ohne Grund. Leidenschaften und sinnliche Regungen, die wirmit den Tieren gemeinsam haben, offenbaren sich in den Augen, denAugenbrauen, auf der Stirn und im Gesichtsausdruck. „Aus dem Gesichterkennt man den Menschen,“ heißt es in der Schrift (Sir 19,29). UndAristoteles sagt, von großen Menschen male man deshalb nur das Ge-sicht, weil das Gesicht zeige, wer wir sind (Probl. 36,1).

Nur durch Worte und folglich durch den Mund äußern wir unsereGedankengänge und Ideen. Diese entstammen dem geistigen Bereich un-serer Seele, der Vernunft, durch die wir uns von den Tieren unterschei-den. – Seine Seele ausgießen, sein Herz ausschütten heißt daher nichtsanderes als reden. „Schüttet eure Herzen vor Gott aus“ (Ps 62,9), ruft derPsalmist aus, das heißt: drückt und sprecht die Gefühle eures Herzensmit Worten aus. – Als die fromme Mutter Samuels ihre Bitten imGebet ausgesprochen hatte (wenn auch so leise, daß die Bewegung ihrerLippen kaum wahrzunehmen war), sagte sie: „Ich habe meine Seele vorGott ausgegossen“ (1 Sam 1,13–15).

So legen sich auch im Kuß Lippe auf Lippe zum Ausdruck des Verlan-gens, seine Seele in die des anderen so vollkommen zu ergießen, daß beidezu einer einzigen verschmelzen.

Von jeher galt daher auch immer und unter den heiligsten Menschender Kuß als Symbol der Liebe und Innigkeit; aus diesem Grund war erauch bei den ersten Christen allgemein üblich, wie der große hl. Paulusbezeugt, der die Römer und Korinther ermahnt: „Grüßt einander mitheiligem Kuß“ (Röm 16,16; 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12). Manche meinen,Judas habe deshalb den Kuß als Zeichen des Verrates gewählt (Mt 26,48),weil der göttliche Erlöser seine Jünger gewöhnlich durch einen Kuß be-grüßte. Ja, er küßte nicht nur seine Jünger, sondern auch die kleinenKinder, die er liebreich in seine Arme nahm (Mk 10,16). So war es beijenem Kind, das ihm Anlaß bot, die Jünger feierlich zur Nächstenliebe

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zu ermahnen (Mt 18,1–10; Mk 9,35), das nach Jansenius (Zu Conc. 70)viele für den hl. Martialis halten.

3. Da also der Kuß das lebendige Zeichen der Herzensvereinigung ist,ruft die Braut, deren ganzes Streben und Verlangen nur der Vereinigungmit ihrem Vielgeliebten gilt, aus: „Er küsse mich mit dem Kuß seinesMundes.“ Ist es nicht, als ob sie damit sagte: Werden die zahllosen Liebes-worte und flammenden Pfeile, die meine Liebe unablässig entsendet, das nie-mals erreichen, wonach meine Seele sich sehnt? Lange schon laufe ichund eile; soll ich denn nie den Preis erringen, nach dem ich mit aller Kraftstrebe: von Herz zu Herz, von Seele zu Seele mit meinem Gott, meinemBräutigam, meinem Leben vereint zu sein? Wann werde ich meine See-le in sein Herz ergießen, wann wird sein Herz in meine Seele einströ-men, wann werden wir selig, vereint, unzertrennlich beisammen leben?

Wenn der Heilige Geist von vollkommener Liebe sprechen will, ge-braucht er meistens die Ausdrücke „Einigung“ und „Vereinigung“. DieMenge der Gläubigen, so sagt der hl. Lukas, „war ein Herz und eineSeele“ (Apg 4,32); der Herr fleht zu seinem Vater, daß alle „eins“ seien(Joh 17,21 f); der hl. Paulus mahnt uns, die Einheit des Geistes durch dieEintracht des Friedens zu bewahren (Eph 4,3). Einheit des Herzens, derSeele und des Geistes bezeichnet also jene vollkommene Liebe, die meh-rere Seelen zu einer einzigen verschmilzt. So lesen wir auch, daß dieSeele Jonatans mit der Davids aufs innigste verbunden war; das heißt, wiedie Schrift hinzufügt, „er liebte David wie seine eigene Seele“ (1 Sam 18,1).

Frankreichs großer Apostel, der hl. Dionysius, schreibt, wobei ersowohl seine eigene Ansicht, als auch die seines heiligen Lehrers aus-spricht, – hundertmal in einem einzigen Kapitel (Kap. 4) seines Buches„Die göttlichen Namen“, daß die Liebe alles einigt, vereinigt, zusammen-faßt, verbindet, sammelt und zur Einheit verschmilzt. Der hl. Gregor vonNazianz (Reden 43,20) und der hl. Augustinus (Bek. 4,6) sagen, daß siemit ihren Freunden nur eine Seele hatten; Aristoteles, der schon damalsdiese Redensart gut heißt, sagt: „Wenn wir ausdrücken wollen, wie sehrwir unsere Freunde lieben, so sagen wir, die Seele jenes Menschen undmeine sind nur eine“ (M. Mor. 2,11).

Der Haß trennt, die Liebe vereint. Das Ziel der Liebe ist also keinanderes als die Vereinigung des Liebenden mit dem geliebten Wesen.

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10. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung, nach der die Liebe strebt, ist geistiger Naturereinigung, nach der die Liebe strebt, ist geistiger Naturereinigung, nach der die Liebe strebt, ist geistiger Naturereinigung, nach der die Liebe strebt, ist geistiger Naturereinigung, nach der die Liebe strebt, ist geistiger Natur.....

1. Es ist wichtig, festzuhalten, daß es natürliche Bande gibt, die aufÄhnlichkeit, Blutsverwandtschaft oder auf Ursache- und Wirkungsbe-ziehungen beruhen. Andere wieder sind an sich nicht naturgegeben; wirkönnen sie daher freiwillige nennen. Denn, wenn sie auch der Naturentsprechen, so verdanken sie doch ihre Entstehung nur unserem Willen.So verbinden Wohltaten den Spender und Empfänger miteinander; inähnlicher Weise verbinden Gespräche, Gesellschaft und ähnliches.

Fußt die Vereinigung auf der Natur, so erweckt sie Liebe, und dieseLiebe führt uns zu einer neuen freiwilligen Verbundenheit, die dienatürliche vertieft.

So drängt natürliche Verbundenheit durch Blutsverwandtschaft Vaterund Sohn, Mutter und Tochter oder Brüder, einander zu lieben, und dieseLiebe wieder führt sie dazu, eines Willens und eines Sinnes zu werden.Diese neue Verbundenheit kann man aber eine freiwillige nennen, weilihre Tätigkeit, obwohl in der Natur begründet, doch frei gewollt ist.Wenn die Liebe durch die Bande der Natur hervorgerufen wird, brauchtes dazu keine anderen Beziehungen als eben diese natürliche Verbunden-heit. Die Natur kommt hier gleichsam dem Willen zuvor und drängt ihn,die von ihr bereits vollzogene Verbundenheit zu billigen, zu lieben undzu vervollkommnen.

Verbindungen aber, die freiwillig eingegangen werden, setzen tatsäch-lich die Liebe voraus. Und doch sind sie auch Ursache der Liebe, derenZiel und einziges Streben wieder diese Liebesverbundenheit ist. Wie alsodie Liebe nach Verbundenheit strebt, so erweitert und verstärkt diesewieder die Liebe. Die Liebe treibt an, das Beisammensein zu suchen, unddieses nährt und steigert oft die Liebe. Die Liebe weckt das Verlangennach ehelicher Vereinigung; diese aber sichert wieder den Bestand unddie Entfaltung der Liebe.

In jeder Hinsicht ist es also wahr, daß die Liebe nach Vereinigungstrebt.

2. Aber welcher Art ist diese Vereinigung, nach der sie strebt? Hastdu nicht bemerkt, Theotimus, daß die Braut im Hohelied wünscht, mitihrem Bräutigam durch einen Kuß vereinigt zu werden? Siehst du nicht,daß der Kuß ein Symbol jener geistigen Vereinigung ist, die

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sich im Ineinanderströmen beider Seelen vollzieht? Gewiß, der ganzeMensch liebt, aber er liebt kraft seines Willens. Daher ist auch das Zielseiner Liebe gleichen Wesens mit seinem Willen. Der Wille ist geistig,daher ist die Vereinigung, nach der er strebt, auch geistig – um somehr, als das Herz, Sitz und Quelle der Liebe, durch die Vereinigung mitkörperhaften Dingen keine Vervollkommnung erfahren, ja sogar ernied-rigt würde.

3. Allerdings, Theotimus, gibt es gewisse Leidenschaften im Menschen,die sich auf der Liebe einnisten gleich Schmarotzerpflanzen auf Bäumen.Sie entstehen inmitten der Liebe und um die Liebe herum, sind aberweder Liebe, noch gehören sie zur Liebe; sie sind vielmehr Auswüchseund wilde Schößlinge an ihr, die sowohl zur Bewahrung wie auch zurVervollkommnung der Liebe unnütz sind, aber sie im Gegenteil sehrschädigen, schwächen und sogar, wenn sie nicht rechtzeitig ausgetilgtwerden, gänzlich zugrunde richten.

Dies aus folgendem Grund:Je größer die Zahl der Tätigkeiten ist, in denen sich unsere Seele aus-

gibt – ob sie nun gleicher oder verschiedener Art sind –, desto geringerwird deren Kraft und Vollkommenheit. Die Leistungsfähigkeit eines be-grenzten Wesens ist eben auch begrenzt. Soll ihre Tätigkeit bei verschie-denen Handlungen eingesetzt werden, so ist es klar, daß jede wenigerdavon hat.

So schenken ja auch die Menschen, die auf vieles bedacht sind, weni-ger Aufmerksamkeit den einzelnen Dingen. Es ist nicht gut möglich, dieZüge eines Antlitzes genau zu betrachten, zugleich gespannt auf dieHarmonie einer schönen Musik hinzuhorchen und gleichzeitig auch nochdie Gestalt und Farbe eines Gegenstandes mit derselben Aufmerksam-keit zu betrachten. Wenn wir mit Liebe über etwas sprechen, könnenwir nicht zugleich unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes hinlenken.

Ich weiß wohl, daß man von Cäsar und Origenes erzählt (Plin. H. nat.7,25), sie seien imstande gewesen, gleichzeitig verschiedenen Dingen ihreAufmerksamkeit zuzuwenden. Jedermann aber gibt zu, daß die Schärfeihrer Aufmerksamkeit für die einzelnen Gegenstände um so geringer war,je größer deren Zahl wurde.

Es ist also ein großer Unterschied zwischen mehr sehen, hören, wissen,und besser sehen, hören, wissen. Wer besser sieht, sieht weniger, undwer mehr sieht, sieht es nicht so gut. Es kommt selten vor, daß jene,die viel wissen, auch ein gründliches Wissen davon haben; denn die

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Denkfähigkeit und Denkkraft, auf mehrere Dinge ausgedehnt, ist nicht sostark und kraftvoll, als wenn sie sich auf die Betrachtung eines einzigenGegenstandes beschränkt. Dasselbe geschieht mit den Liebeskräften.Werden sie von der Seele in verschiedenartigen Liebestätigkeiten verbraucht,so zersplittern sie sich und ihr Lieben wird weniger kraftvoll und vollkom-men sein.

4. Es gibt drei Arten von Liebestätigkeit: Geistliche, verstandesmäßigeund sinnliche. Läßt die Seele ihre Kraft in all diesen drei Arten ausströ-men, so ist ihre Liebe wohl umfassender, aber weniger geballt; strömtdiese aber nur auf eine Art aus, so ist ihre Liebe weniger umfassend, aberum so mehr geballt.

Sehen wir nicht, daß das Feuer, ein Symbol der Liebe, dadurch, daß esseinen Ausweg nur durch eine Mündung der Kanone finden kann, eine sogewaltige Wirkung auslöst – was nicht der Fall wäre, hätte es zwei oderdrei Auswege.

Die Liebe ist ein Akt unseres Willens, der sie nicht nur edel undhochherzig, sondern auch stark, kraftvoll und tätig haben will. Dahermuß sie ihre ganze Kraft und Stärke auf die geistliche Tätigkeit beschrän-ken. Wollte man sie auch auf Tätigkeiten des sinnenhaften und sinnli-chen Seelenbereiches ausdehnen, dann würden die geistigen Tätigkeiten, indenen doch die wesenhafte Liebe besteht, im gleichen Maße geschwächt.

Schon die Philosophen des Altertums kannten zwei Arten von Ekstase:eine, die uns über uns selbst erhebt, die andere, die uns unter unsselbst hinabzieht“ (s.Thomas, I,II,28,8). Damit wollten sie sagen, daß diemenschliche Natur zwischen Engel und Tier steht und etwas vom Engelund vom Tier in sich vereinigt, etwas vom Engel in seinem geistigenWesen, etwas vom Tier in seinem sinnlichen. In des Menschen Hand istes aber gegeben, durch seine Lebensweise und durch ein ständiges Bemü-hen an sich selbst, aus dieser mittleren Stellung zwischen Engel und Tierherauszutreten und auszuscheiden. Wenn er sich geistiger Tätigkeit hin-gibt und sich mit ihr viel abgibt, wird er mehr den Engeln als den Tierenähnlich werden. Gibt er sich aber viel sinnlichen Handlungen hin, sogleitet er aus seiner mittleren Stellung heraus und nähert sich der des Tieres.

Weil nun jedes Heraustreten aus sich selbst „Ekstase“ genannt werdenkann, so wird es eine solche nach der einen wie nach der anderen Richtung hingeben.

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Jene, die, von göttlichen und geistigen Wonnen berührt, ihr Herzvon diesen Empfindungen mitreißen lassen, haben sich wahrhaftig überihren naturgegebenen Stand erhoben; sie treten durch dieses glückselige,aller Sehnsucht würdige Herausgehen aus sich selbst in einen höherenund edleren Stand hinein; sie werden ebensosehr Engel durch ihre seeli-sche Tätigkeit, wie sie Menschen durch ihre wesenhafte Natur sind. Mankann sie darum engelhafte Menschen oder menschliche Engel nennen.

Jene dagegen, die, von sinnlichen Vergnügungen angelockt, ihre Seeledem Genuß sinnlicher Lust hingeben, steigen dadurch aus ihrer mittlerenStellung zum vernunftlosen Tier hinab und verdienen wegen ihrer Hand-lungen ebenso tierisch genannt zu werden, wie sie ihrer Natur nach denNamen „Mensch“ tragen. Unglückselige, die aus sich nur herausgehen, umin eine Lage zu geraten, die ihres naturgegebenen Standes total unwürdigist.

Je größer nun diese Ekstase ist, ob sie uns über uns emporhebt oderunter uns erniedrigt, desto mehr verhindert sie die Seele, zu sich selbstzurückzukehren und in einer dieser Ekstase entgegengesetzten Weisezu handeln. So verlieren jene engelhaften Menschen, die in Gott oderhimmlische Dinge entrückt sind, während der Dauer dieser Ekstase denGebrauch und das Bewußtsein ihrer Sinne, Bewegungen und aller äußer-lichen Handlungen. Um ihre Kraft und Tätigkeit vollständiger undaufmerksamer diesem göttlichen Gegenstand zu widmen, zieht ihre Seelesie von allen anderen Fähigkeiten zurück. Sie rafft sie so ganz zusam-men, um sie auf Gott allein zu richten.

Auf gleiche Weise verlieren auch jene tierischen Menschen, die sinn-licher Lust ergeben sind (besonders jener, die mit diesem allgemeinenNamen bezeichnet wird), ganz und gar den Gebrauch der Vernunft unddes Verstandes sowie jede Aufmerksamkeit darauf. Um die tierische Lustbesser und aufmerksamer verkosten zu können, hat sich ihre erbärmli-che Seele von den geistlichen Tätigkeiten abgewendet, damit sie sichin die bestialischen und tierischen versenken und sich ihnen ganz hinge-ben könne.

So ahmen die ersten in mystischer Weise dem Propheten Elija nach,der auf flammendem Wagen, umgeben von Engeln, entrückt wurde (2Kön 2,11) – die anderen dagegen dem König Nebukadnezzar (Dan 4,30),– der ganz vertierten und wilden Bestien gleich wurde.

5. Nun sage ich, daß die Seele im selben Maß in der Betätigung derhöheren Liebe nachläßt, als sie sich der sinnlichen Liebe ergibt, die sie

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unter sich hinabzieht. Die wahre und wesenhafte Liebe, das heißt ebenjene, die allein den Namen Liebe verdient, wird durch die Vereinigung,nach der die sinnliche Liebe strebt, weder gefördert noch bewahrt, son-dern geschwächt, aufgelöst und gänzlich vernichtet.

Die Ochsen des Ijob pflügten die Erde, während die nutzlosen Eseldie Weide kahl fraßen, die jenen arbeitsamen Tieren gebührte (Ijob1,14). Während der geistige Teil unserer Seele um ehrbare und tugend-hafte Liebe ringt und sie auf einen ihrer würdigen Gegenstand richtet,kommt es oft vor, daß die Sinne und die Fähigkeiten des niederen Teilsder Seele nach der Vereinigung zielen, die ihnen entspricht, die ihreWeide ist. Dies geschieht, obwohl doch Vereinigung nur dem Herzenund dem Geist gebührt, die allein es vermögen, wahre und wesenhafteLiebe zu hegen.

Elischa lehnte alle Geschenke, Gold, Silber und alles andere ab, dasNaaman ihm nach seiner Heilung geben wollte. Er begnügte sich mit derFreude, ihm geholfen zu haben. Gehasi aber, sein treuloser Diener, liefjenem nach, verlangte und nahm gegen den Willen seines Herrn alles,was dieser ausgeschlagen hatte (2 Kön 5,14ff). So schlägt auch die geisti-ge Liebe des Herzens, die in unserer Seele herrscht oder doch herrschensoll, jede Art körperlicher und sinnlicher Vereinigung aus und begnügt sich mitdem einfachen Wohlwollen. Die Kräfte des sinnlichen Seelenteils jedoch,die dem Geist dienen oder doch dienen sollen, verlangen, suchen undnehmen, was die Vernunft verweigert hat, und schicken sich an, ohne derenErlaubnis ihre abscheulichen und erniedrigenden Verbindungen einzu-gehen. Sie entehren so gleichsam die reine Absicht des Geistes, wie Gehasidie seines Herrn, und wenden sich im selben Maße, als die Seele sichdiesen grob-sinnlichen Verbindungen ergibt, von der zarten, geistigenVereinigung des Herzens ab.

Du siehst also, Theotimus, daß diese nur auf sinnliches Gefallen undtierische Leidenschaften gerichteten Verbindungen keineswegs helfen, dieLiebe zu wecken und zu bewahren, sondern ihr ungemein schaden und sie äu-ßerst schwächen.

Als der Blutschänder Amnon, der vor Liebe zu seiner Schwester Tamarverging, schließlich zur sinnlichen, tierischen Vereinigung mit ihr über-gegangen war, schwand in ihm die Liebe des Herzens so sehr dahin, daß erTamar nicht einmal mehr ansehen konnte, sie schmählich hinausstieß unddamit das Recht der Liebe ebenso grausam verletzte, wie er vorher dasGesetz des Blutes schamlos übertreten hatte (2 Sam 13,1–19).

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6. Wenn man verschiedene Gewürzkräuter wie Basilienkraut, Rosma-rin, Majoran, Ysop, Gewürznelken, Zimt, Muskat, Zitronen und Mo-schus untereinander vermengt, aber unversehrt läßt, verbreiten sie durchdie Mischung ihrer Gerüche gewiß einen überaus angenehmen Duft, deraber bei weitem nicht an den heranreicht, den die aus ihnen destillierteFlüssigkeit ausströmt. Die Wohlgerüche dieser Kräuter mischen sichnämlich weit besser, wenn das Körperliche von ihnen abgefallen ist; sieverbinden sich dann zu einem ganz feinen Duft, der den Geruchsinn vielstärker durchdringt, als wenn das Körperhafte noch mit ihnen verbundenwäre.

So kann sich gewiß auch da die Liebe finden, wo außer den geistigenauch noch die sinnlichen Kräfte beteiligt sind, jedoch niemals wird sie sovollkommen sein wie dort, wo Geist und Herz frei von jeder sinnlichenLeidenschaft eine reine und geistige Liebe hegen. Der Wohlgeruch dieserLiebe ist nicht nur lieblicher und edler, sondern auch lebendiger, wirksa-mer und anhaltender.

Freilich gibt es Menschen von so roher, niedriger Gesinnung, daß sieden Wert der Liebe einem Goldstück gleich erachten, das um so besserund wertvoller ist, je größer es ist und je schwerer es wiegt. Sie meinen,die grob-sinnliche Liebe müsse stärker sein, weil sie heftiger und stürmi-scher ist; solider, weil sie roh und irdisch; größer, weil sie fühlbarer undwilder ist.

Aber im Gegenteil! Die Liebe gleicht dem Feuer, dessen Flammen um soheller und schöner sind, je feiner der Brennstoff ist, und das am schnell-sten gelöscht werden kann, wenn man es mit Erde bedeckt und erstickt.So ist es mit der Liebe. Je höher und geistiger ihr Gegenstand ist, destolebendiger, anhaltender und dauerhafter sind ihre Taten. Man kann sieaber auch am sichersten zerstören, wenn man sie zu irdischen und er-niedrigenden Vereinigungen herabwürdigt.

Zwischen geistlichen und sinnlichen Freuden besteht – wie der hl.Gregor (36 Hom in Ev. § 1) sagt – folgender Unterschied: Diese erwek-ken Verlangen, bevor man sie hat, aber Ekel, wenn man sie besitzt;jene erwecken Unlust, bevor man sie besitzt, aber Freude, wenn mansie erlangt hat.

Die rein sinnliche Liebe also, die glaubt, daß durch diese ani-malische Vereinigung mit dem geliebten Wesen ihre Freude an ihm nochgrößer und vollendeter sein wird, ist dann ganz verekelt von dieserVereinigung. Sie muß ja feststellen, daß diese ihre Freude am geliebten

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Wesen zerstört hat, als sie zur Vollendung gebracht werden sollte.Jener große Philosoph (Aristoteles, Probl. 4,6) sagt daher auch, daß fastjedes Tier nach dem Genuß seiner glühendsten und heftigsten körperli-chen Lust traurig, verdrießlich und niedergeschlagen wird. Es gleicht ei-nem Kaufmann, der auf großen Gewinn hoffte und sich nicht nur in sei-nen Hoffnungen betrogen, sondern überdies in große, unvorhergeseheneVerluste verstrickt sieht.

Die geistige Liebe aber findet in der Vereinigung mit dem geliebtenWesen mehr Befriedigung, als sie erwartet hatte. So gefällt sie sich immermehr in ihm; sie verbleibt eins mit ihm dadurch, daß sie sich immerwieder mit ihm vereinigt, und sie vereinigt sich immer wieder mit ihmdadurch, daß sie mit ihm eins bleibt.

11. KapitelDie beiden Bereiche der Seele.Die beiden Bereiche der Seele.Die beiden Bereiche der Seele.Die beiden Bereiche der Seele.Die beiden Bereiche der Seele.

1. Wir haben nur eine Seele, Theotimus, und diese ist unteilbar. Indieser Seele gibt es aber verschiedene Stufen der Vollkommenheit; dennsie ist lebend, empfindend und verstehend. Den verschiedenen Stufenentsprechend besitzt sie auch verschiedene Eigenheiten und Neigungen,durch die sie angetrieben wird, gewisse Dinge zu fliehen oder sich mitihnen zu vereinigen.

Erstens: Der Weinstock liebt sozusagen den Ölbaum, haßt dagegengleichsam gewisse Pflanzen, flieht sie und manchmal schaden sogar erund diese einander. So besteht auch von Natur aus eine gegenseitige Ab-neigung zwischen dem Menschen und der Schlange. Diese Abneigung ist sogroß, daß schon der bloße Speichel eines nüchternen Menschen die Schlan-ge töten kann (Plin., H.n.7,2). Umgekehrt aber haben der Mensch unddas Lamm eine besondere Zuneigung zueinander, die sie gerne beisammensein läßt. Diese Zu- oder Abneigung rührt nicht von der Erfahrung her, daßetwas nützt oder schadet, sondern von einer verborgenen und geheimenEigenheit, die den Menschen bestimmt, gegen manche Dinge Abneigung,zu manchen dagegen Zuneigung zu empfinden.

Zweitens haben wir noch den sinnenhaften Begehrungstrieb, der unsantreibt, einiges zu suchen und anderes zu fliehen. Seine Quelle ist diesinnenhafte Kenntnis. Wir haben ihn mit den Tieren gemeinsam, vondenen auch einige dies, andere jenes haben wollen, je nachdem sie es als

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nützlich oder schädlich erkennen. In diesem Trieb wohnt und von ihmstammt die sinnliche Liebe, die aber nicht Liebe, sondern Begierde heißen soll.

Drittens haben wir als vernünftige Geschöpfe auch einen Willen, durchden wir angeregt werden, nach einem Gut zu streben, das wir als Gutdurch unser Denken erkennen oder auffassen.

2. Nun beobachten wir, daß es in unserer Seele, als vernunftbegabteSeele gesehen, offenbar zwei Vollkommenheitsstufen gibt, die derhl. Augustinus (Zu Ps 145, § 5) und nach ihm alle anderen Kirchen-lehrer den niederen und höheren Seelenteil nennen: Den niederen, dessenGedankengänge und Schlußfolgerungen sich auf die Erkenntnisse undErfahrungen der Sinne stützen, den höheren, der erwägt und Schlußfol-gerungen entsprechend seinen geistigen Erkenntnissen zieht. Dieseberuhen aber nicht auf der sinnenhaften Erfahrung, sondern auf demScharfsinn und auf der Urteilskraft des Geistes.

Der höhere Teil wird gewöhnlich Geist, der niedere Gefühl, Emp-findung und menschliche Vernunft genannt.

Dieser höhere Teil der Seele kann seine Erwägungen, erleuchtet durchein zweifaches Licht, anstellen: Durch das natürliche – so haben die Phi-losophen und Wissenschaftler gearbeitet – oder durch das übernatürliche,wie es alle gläubigen Christen und die Theologen tun, sofern Glaubeund Offenbarung Grundlage ihres Denkens sind. In besonderer Weiseaber folgen jene dem übernatürlichen Licht, deren Geist unter der Lei-tung besonderer Erleuchtungen, Einsprechungen und himmlischer An-regungen steht. Darum erklärt der hl. Augustinus, der höhere Teil derSeele sei jener, durch den wir dem ewigen Gesetz anhangen und bemühtsind, ihm zu gehorchen (zu Ps 145, § 5).

3. Von der äußersten Not seiner Familie bedrängt, ließ Jakob seinengeliebten Benjamin mit seinen Brüdern nach Ägypten ziehen. Wie dieHeilige Schrift berichtet (Gen 43,6–14), tat er dies gegen seinen Willen.Daraus ist ersichtlich, daß Jakob offenbar zwei Willen besaß: einen nie-deren, durch den es ihm leid tat, Benjamin fortziehen zu lassen, und einenhöheren, der ihn beschließen ließ, ihn wegzusenden. Weil er große Freu-de daran hatte, ihn um sich zu sehen, ließ er ihn nur ungern gehenund litt unter der Trennung. Diese Gründe gehören aber demErfahrungs- und Sinnenbereich an, wogegen der Entschluß, ihn trotzdemfortziehen zu lassen, der Erkenntnis einer baldigen, ja bereits heranna-henden Notlage seiner Familie entsprang. Der niedere Teil der Seele wares auch, der Abraham dem Engel, der ihm einen Sohn ankündigte, ant-

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worten ließ: „Glaubt ihr, daß einem Hundertjährigen ein Sohn geborenwerden könne?“ (Gen 17,17). Diese Antwort könnte nach Mißtrauenaussehen, jedoch der höhere Seelenteil „glaubte Gott, und dies wurde ihmzur Gerechtigkeit angerechnet“ (Gen 15,6). Dem niederen Teil nach war ersehr bestürzt (ebd. 22,2), seinen Sohn als Opfer darzubringen, dem höhe-ren nach entschloß er sich jedoch mutig dazu.

4. Täglich machen wir die Erfahrung, daß wir in uns verschiedene,einander widerstrebende Willensregungen haben. Wenn ein Vater sei-nen Sohn an den Hof und zur Ausbildung wegsendet, kann er beimAbschied die Tränen nicht zurückhalten. Dadurch zeigt er, daß der nie-dere Teil seiner Seele der Trennung widerstrebt, obwohl der höhere Teildiese im Interesse der Ausbildung des Sohnes will. Ebenso werden dieEltern, wenn sie auch mit der Heirat ihrer Tochter einverstanden sind,dennoch bei Erteilung des Segens bis zu Tränen gerührt. Das heißt nichtsanderes, als daß der höhere Seelenteil zwar in die Trennung einwilligt,aber der niedere ihr widerstrebt.

Damit ist jedoch nicht gesagt, daß der Mensch zwei Seelen oder zweiNaturen habe, wie die Manichäer meinten. „Nein,“ sagt der hl. Augusti-nus (Bek. 8,10), „wenn der Wille von verschiedenen Reizen angelocktwird, wenn verschiedene Beweggründe auf ihn einwirken und er sonach beiden Seiten gezogen wird, scheint es, als ob er in sich selbstentzweit wäre. Das aber nur solange, bis er schließlich von seiner Frei-heit Gebrauch macht und sich für das eine oder das andere entscheidet.“In diesem Fall gewinnt nämlich der stärkere Wille siegend die Ober-hand und läßt in der Seele nur ein unangenehmes Gefühl zurück, dasdurch den innerlichen Kampf hervorgerufen wurde und das wir „Wider-willen“ nennen.

5. Vor allem gibt uns der Heiland in dieser Hinsicht ein so wunder-bares Beispiel, daß man bei dessen Betrachtung nicht mehr an der Un-terscheidung eines oberen und eines unteren Teiles der Seele zweifelnkann. Welcher Theologe wüßte nicht, daß der Herr vom ersten Augen-blick seiner Empfängnis an im jungfräulichen Leib der allerseligsten Jung-frau sich des Besitzes vollkommener Himmelsseligkeit erfreute? Trotz-dem war er gleichzeitig der Traurigkeit, dem Leid und den Herzensängstenunterworfen. Man darf auch nicht sagen, daß nur sein Leib und der denSinnen unterworfene Teil seiner Seele litt; bezeugt er doch selbst, seineSeele sei betrübt bis in den Tod (Mt 26,38), und das noch bevor seinkörperliches Leiden begann, ja noch ehe er seine Peiniger zu Gesicht be-

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kommen. Nachher betete er, daß der Kelch des Leidens an ihm vorübergehe,daß er davon befreit werde. Damit drückte er offenbar das Wollen des nie-deren Seelenteiles aus. Dieser erging sich in Gedanken über die entsetz-lichen Einzelheiten des ihm bevorstehenden Leidens und malte sie ihm solebhaft aus, daß er den vernünftigen Schluß daraus zog, sie fliehen und weitweg von sich haben zu wollen. Daher sein flehentliches Gebet zum Vater.

Es zeigt sich hier so deutlich, daß der niedere Seelenteil nicht zuverwechseln ist mit dem sinnlichen Seelenbereich, noch der Wille des nie-deren Seelenteils mit dem sinnlichen Begehren. Weder dieses noch jenersind fähig zu einer Bitte oder einem Gebet. Es sind dies Tätigkeiten desGeistes, der allein fähig ist, sich im Gebet zu Gott zu erheben. DieSinne vermögen Gott nicht zu erreichen und können daher auch demBegehren keine Kenntnis von ihm geben.

So hat also der Heiland erwiesen, daß sein Wille, entsprechend demniederen Seelenteil und dessen Erwägungen, dahin neigte, sich Leidenund Mühen zu entziehen. Aber nachher zeigt er, daß seine Seele aucheinen höheren Bereich hatte, in welchem er, dem ewigen Willen und Rat-schluß seines himmlischen Vaters unverbrüchlich anhangend, den Tod frei-willig auf sich nahm. Auf den Widerwillen des niederen Seelenteils nichtachtend, spricht er: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine“(Lk 22,42). Das Wort „mein Wille“ gilt dem Willen des niederen Seelen-teils. Da er dies freiwillig aussprach, bestätigte er damit das Vorhanden-sein eines höheren Willens in ihm.

12. KapitelDie vier Stufen der VDie vier Stufen der VDie vier Stufen der VDie vier Stufen der VDie vier Stufen der Vernunfernunfernunfernunfernunft.t.t.t.t.

1. Der Tempel Salomos hatte drei Vorhöfe. Der erste war für die Hei-den und Fremden bestimmt, die nach Jerusalem kamen, um Gott anzube-ten; im zweiten versammelten sich die Israeliten beiderlei Geschlechts(denn die Trennung der Geschlechter bestand unter Salomo noch nicht);der dritte endlich diente den Priestern und Leviten. Außerdem gab esnoch das Allerheiligste, in das nur der Hohepriester einmal im Jahr ein-treten durfte (Hebr 9,7).

Unser Verstand oder, um es besser zu sagen, unsere Seele, insofernsie vernunftbegabt ist, ist der wahre Tempel des allerhöchsten Gottes, derauf ganz besondere Weise darin wohnt. „Ich suchte dich außer mir“ sagt

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der hl. Augustinus (Bek. 10,27), „und ich fand dich nicht, denn duwarst in mir.“

In diesem mystischen Tempel gibt es auch drei Vorhöfe, nämlichdrei Stufen der Vernunft. Auf der ersten überlegen und urteilen wir nachder Erfahrung der Sinne; auf der zweiten nach den Grundsätzen mensch-licher Wissenschaften; auf der dritten nach dem Glauben.

Außerdem steht über diesen drei Stufen, sie hoch überragend, diehöchste Spitze der Vernunft und geistigen Fassungskraft, die nicht durchdas Licht der Überlegung, noch durch die Vernunft geleitet wird, sonderndurch ein einfaches Schauen des Verstandes und ein einfaches Empfindendes Willens, wodurch der Geist sich der Wahrheit und dem Willen Gotteshingibt und unterwirft.

2. Diese erhabene Höhe, dieser höchste Gipfel, diese höchste Spitzeunserer Seele wird durch das Allerheiligste im Tempel treffend versinn-bildet, und zwar aus folgenden Gründen:

1) Das Licht, das im Allerheiligsten leuchtete, drang nicht durch dieFenster ein. Ebenso empfängt auch die Seelenspitze ihr Licht durch kei-nerlei schlußfolgernde Erwägung.

2) Das Licht kam vielmehr durch die Pforte. Ebenso empfängt dieSeelenspitze all ihr Licht vom Glauben, in dessen Strahlen sie die Schön-heit und Güte des göttlichen Wohlgefallens wahrnimmt und empfindet.

3) Niemand außer dem Hohepriester betrat das Heiligtum. Ebenso hatauch zu jenem Gipfel der Seele die Überlegung keinen Zutritt, sondernnur jenes große, erhabene, alles umfassende Empfinden, daß der göttli-che Wille über alles geliebt, angenommen und umfaßt werden soll, nichtnur in diesem oder jenem Fall, sondern überall ohne Ausnahme, undnicht nur im allgemeinen, für alles, sondern auch im besonderen für jedeAngelegenheit.

4) Der Hohepriester verdunkelte bei seinem Eintritt in das Heiligtumnoch das Licht, das durch die Pforte einfiel. Er warf soviel Räucherwerkauf das Rauchfaß, daß der Qualm das Licht hinderte, durch die Öffnungder Pforte einzudringen. Ebenso wird auf diesem Gipfel der Seele in gewis-ser Hinsicht auch der geistige Blick durch die Entsagung und den Verzichtder Seele „verdunkelt“. Sie ist ja nicht so sehr darauf bedacht, die Schön-heit der Wahrheit und die Wahrheit der Schönheit, die sich ihr zeigt, zuschauen, als sie zu umfangen und anzubeten. Sobald die hocherhabeneWürde des göttlichen Willens sich ihr entschleiert, möchte sie fast dieAugen schließen, um, ohne sich mehr mit ihrer Betrachtung zu befassen,

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ihn um so inniger und vollkommener zu umfangen und durch schran-kenlose Liebe sich ihm auf ewig zu unterwerfen und mit ihm zu ver-einigen.

5) In jenem Allerheiligsten befanden sich die Bundeslade mit denGesetzestafeln, das Manna in einem goldenen Gefäß und der StabAarons, der in einer Nacht Blüten und Früchte getrieben hatte (Hebr 9,4).So befinden sich auch auf dem höchsten Gipfel der Seele erstens derlichtvolle Glaube, dem im Krug verborgenen Manna gleich, der uns jeneMysterien für wahr halten läßt, die wir nicht zu erkennen vermögen. Zwei-tens die kostbare Hoffnung, versinnbildet durch Aarons blühenden undfruchttragenden Zweig, die uns die Verheißung jener Güter erwarten läßt,die wir nicht sehen. Endlich drittens die wonnesame hochheiligste Liebe,dargestellt durch die in ihr enthaltenen Gebote Gottes. Durch die Liebestimmen wir der Vereinigung unseres Geistes mit dem Geist Gottes zu,wenn auch auf kaum fühlbare Weise.

Obwohl nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe ihre göttliche Wirksam-keit auf fast alle Seelenkräfte, auf die geistigen wie auf die sinnenhaften,erstrecken, die sie ihrer rechtmäßigen Gewalt auf heilige Weise unter-werfen, so ist doch die höchste Spitze der Seele ihr besonderer Wohnsitz,ihr wahrer und wesenhafter Aufenthalt. Von hier aus ergießen sie sich,einem glückhaften Quell lebendigen Wassers gleich, in verschiedenen Ar-men und Bächen über alle Bereiche und Fähigkeiten der Seele.

3. Es gibt also, mein Theotimus, im höheren Teil des Geistes zwei Stu-fen. Auf der ersten ergeht man sich in Gedanken, die vom Glauben undübernatürlichen Licht abhängen. Auf der zweiten aber gibt sich die Seeleeinfach dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe hin.

Die Seele des hl. Paulus fühlte sich von zwei verschiedenartigenWünschen gedrängt. Der erste war, vom Körper gelöst zu werden, umbei Jesus im Himmel zu sein, der andere, auf dieser Welt zu bleiben,um für die Bekehrung der Völker zu wirken (Phil 1,23.24). Zweifellosentsprangen beide Wünsche dem höheren Seelenteil, weil sie ja beide in derLiebe wurzelten. Der Entschluß jedoch, dem zweiten Wunsch zu folgen,war nicht die Frucht einer Überlegung, sondern eines einfachen Schauensoder Empfindens des göttlichen Willens. Ihm gab sich dieser große Die-ner Gottes mit der obersten Spitze seiner Seele hin, ungeachtet aller ande-ren Einwände.

4. Wenn aber Glaube, Hoffnung und Liebe sich durch diese heiligeHingabe auf der obersten Seelenspitze bilden, – wie können dann auf

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der niedrigeren Stufe noch Gedankengänge gepflegt werden, die vomGlaubenslicht abhängen?

Dies geht auf ähnliche Weise vor sich wie bei menschlichen Händeln.Wir sehen, daß die Anwälte sich vor Gericht in langen Reden über denTatbestand und die Rechte ihrer Klienten ergehen. Der Gerichtshofoder Senat löst dann durch rechtskräftigen Entscheid alle Schwierigkeiten.Trotzdem diskutieren dann noch Anwälte und Hörer miteinander überdie Gründe, die den Gerichtshof zur Setzung des Urteils mögen bewogenhaben.

Wenn also eigenes Nachdenken und besonders die göttliche Gnadedie Seelenspitze bewogen haben, gleichsam wie durch einen Beschluß, sichhinzugeben und einen Glaubensakt zu setzen, so hört deshalb der Ver-stand nicht auf, immer wieder die Ursachen und Gründe dieses bereitsangenommenen Glaubens zu erwägen. Diese Erörterungen der Theolo-gen gehen auf dem Parkett und vor den Schranken des höheren Seelen-teiles vor sich; die Hingabe aber geschieht auf dem Richterstuhl derhöchsten Spitze des Geistes.

Ich habe diese vier Stufen der Vernunft deshalb ausführlicher er-klären wollen, weil ihre Kenntnis zum Verständnis aller Schriften, dieüber das geistliche Leben handeln, notwendig ist.

13. KapitelDie verschiedenen ArDie verschiedenen ArDie verschiedenen ArDie verschiedenen ArDie verschiedenen Arten der Liebe.ten der Liebe.ten der Liebe.ten der Liebe.ten der Liebe.

1. Man unterscheidet zwei Arten von Liebe: Die „Liebe des Wohlwol-lens“ und die „Liebe des Begehrens“. Diese besteht darin, ein Ding derVorteile wegen zu lieben, die wir von ihm erwarten, jene aber darin,ein Ding um seines Wohles wegen zu lieben. Was ist denn die Liebe desWohlwollens anderes, als das Wohl einer Person zu wollen?

2. Wenn nun derjenige, dem wir Gutes wollen, dies schon besitzt,so besteht unser Wohlwollen darin, daß wir darüber Freude und Zu-friedenheit empfinden. So entsteht die Liebe des Wohlgefallens, die nichtsanderes ist als ein Akt des Willens, sich mit der Freude, Lust und demWohle des geliebten Gegenstandes zu vereinigen. Hat aber jener, demwir Gutes wollen, dies Gute noch nicht, so wünschen wir es ihm.Daraus entsteht die „Liebe des Wunsches“.

3. Bleibt die Liebe des Wohlwollens ohne Gegenliebe, so heißt sieLiebe des einfachen Wohlwollens. Ist das Wohlwollen gegenseitig, so

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erhält es den Namen „Freundschaft“. Dazu aber sind drei Dinge erforder-lich: Freunde müssen einander lieben, müssen ferner um diese gegensei-tige Liebe wissen und vertraut miteinander verkehren.

4. Lieben wir den Freund, ohne ihn aber anderen vorzuziehen, sospricht man von Freundschaft schlechthin. Ziehen wir ihn aber an-deren vor, so handelt es sich um eine „erlesene Zuneigung“, weil wiraus mehreren geliebten Menschen einen auserlesen haben, dem wir mitbesonderer Liebe zugetan sind.

5. Bevorzugen wir einen Freund nicht sehr stark, so sprechen wireinfach von erlesener Zuneigung. Ist aber die Bevorzugung, die wireinem Freund angedeihen lassen, sehr bedeutend, so sprechen wir voneiner „selten großen Liebe“.

6. Läßt die Achtung und Bevorzugung, mit der wir einen Freund aus-zeichnen, ungeachtet ihrer Größe, doch einen Vergleich zu, so spricht man vonganz großer Liebe. Ist aber die Erhabenheit einer Freundschaft mit nichtszu vergleichen, so heißt sie unvergleichliche, über alles erhabene, „allesüberragende Liebe“. Wir bezeichnen sie mit dem lateinischen Wort „Ca-ritas“ und verstehen darunter jene Liebe, die Gott allein gebührt.

In der Tat kommt das Wort „Caritas“ von carus - teuer, womit wir eineganz besondere Hochschätzung, einen hohen Preis, einen großen Wertbezeichnen. Deshalb wird auch das Wort „Caritas“ nur gebraucht, um diehöchste und erhabenste Liebe, die Liebe zu Gott, auszudrücken; ähnlichwie (im Französischen) das Wort „Mensch“ oft nur das männliche Ge-schlecht als das höher gestellte bezeichnet und das Wort „Anbetung“ inder Regel nur Gott als dem höchsten Gegenstand derselben zukommt.

14. KapitelLiebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet werden.Liebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet werden.Liebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet werden.Liebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet werden.Liebe zu Gott (Caritas) soll mit „Liebe“ bezeichnet werden.

1. Nach der Meinung des Origenes (Hom. 1 zum Hld) habe die HeiligeSchrift verhüten wollen, daß der Ausdruck „Liebe“ (Amor) unverständige Gei-ster zu schlechten Gedanken verleite, da dies Wort geeigneter schiene, einesinnliche Leidenschaft als eine geistige Regung der Seele auszudrücken;deshalb habe sie zwei andere, treffendere Worte gewählt: Caritas und Dilectio(erlesene Liebe).

Dagegen zeigt der hl. Augustinus (St.G. 14,7), der den Wortgebrauchder Heiligen Schrift besser kennt, daß der Ausdruck „Liebe“ genau so

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heilig ist wie Dilectio. Beide Worte wurden sowohl für heilige Liebe wiefür sündhafte Leidenschaft gebraucht. Er weist dies an mehreren Stellen derHeiligen Schrift nach.

Der große hl. Dionysius endlich, der die Bedeutung der göttlichenWorte so treffend darzustellen versteht, verteidigt das Wort „Liebe“(Göttl. N. 4). Er lehrt, daß die Gottesgelehrten seiner Zeit, also die Apo-stel und deren Schüler, denn andere hat er nicht gekannt, in göttlichenDingen den Ausdruck „Liebe“ jedem anderen Wort vorzogen. Damitwollten sie dem Volk den Wahn nehmen, daß „Liebe“ nur sinnliches Be-gehren bezeichne. Obwohl sie meinten, daß Amor und Dilectio dasselbesagten, so schien es doch manchen, daß Amor, Liebe, für Gott mehr passeals Dilectio. Deshalb schrieb auch der hl. Ignatius ausdrücklich: Meine„Liebe“ ist gekreuzigt.

2. Wie also jene Theologen der Vorzeit das Wort „Liebe“ auf Gottund göttliche Dinge anzuwenden pflegten, um es vom üblen Geruch derUnreinheit zu befreien, der ihm anhaftete, so verwenden sie auchfür menschliche Zuneigungen mit Vorliebe die Bezeichnung „Dilectio“,mit dem die Vorstellung von etwas Unsauberem nicht verbunden war.

Einer aus ihnen, erzählt Dionysius, sagte: „Deine erlesene Liebe(Dilectio) drang wie Frauenliebe in meine Seele“ (Göttl. N. 4). Weil aberdas Wort Amor (Liebe) in der lateinischen Sprache mehr Feuer, Wirk-samkeit und Aktivität ausdrückt als das Wort Dilectio (Zuneigung), dar-um sagt der berühmteste römische Redner Cicero (Briefe an Brutus, 1,1):„Clodius ist mir besonders zugeneigt (diligit), und um mich noch besserauszudrücken, er liebt mich“ (amat).

Daher wurde auch der Name „Liebe“ als der erhabenste mit vollemRecht der Caritas, der Gottesliebe, als der wirklichsten und höchstenLiebe gegeben. Aus all diesen Gründen und weil ich hauptsächlich vomWesen und der Wirksamkeit dieser höchsten Liebe sprechen wollte, habeich diese kleine Schrift „Abhandlung über die Gottesliebe“ genannt.

15. KapitelDie innere Beziehung zwischen Gott und Mensch.Die innere Beziehung zwischen Gott und Mensch.Die innere Beziehung zwischen Gott und Mensch.Die innere Beziehung zwischen Gott und Mensch.Die innere Beziehung zwischen Gott und Mensch.

1. Sobald der Mensch ein wenig aufmerksam an Gott denkt, fühlt seinHerz eine gewisse beglückende Erregung, die Zeugnis gibt, daß Gott derGott des menschlichen Herzens ist. Unser Verstand fühlt nie größere Be-

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friedigung als im Gedanken an Gott. Die geringste Kenntnis von ihm ist –wie Aristoteles, der Fürst der Philosophen (De part. animal. 1,5) sagt,wertvoller als das tiefste Wissen von allen übrigen Dingen; wie auch derschwächste Sonnenstrahl eine größere Lichtfülle enthält als Mond undSterne zusammen.

Erschrickt unser Herz über irgend einen Vorfall, so nimmt es sogleichseine Zuflucht zu Gott. Damit bekennt es, daß, wenn auch alles ihmübel will, er allein ihm gütig bleibt, und wenn es in Gefahr ist, er alleinals das höchste Gut die Macht hat, es zu erretten und zu schützen.

Diese Freude, die das Herz des Menschen von Natur aus an Gott hat,und dieses Vertrauen zu ihm, können ihre Wurzel nur in jener innerenBeziehung haben, die zwischen der göttlichen Güte und unserer Seelewaltet. Diese Beziehung ist mächtig, aber geheimnisvoll, von allengekannt, aber von wenigen verstanden, nicht zu leugnen, aber doch auchnicht ganz zu ergründen.

2. Wir sind erschaffen nach Gottes Ebenbild und Gleichnis (Gen 1,26).Was heißt dies anderes, als daß unsere Seele in innigster Beziehung zurGöttlichen Majestät steht?

Unsere Seele ist geistig, unteilbar und unsterblich. Sie erkennt, willund will in aller Freiheit. Sie ist fähig zu urteilen, zu überlegen, zuwissen und Tugenden zu besitzen. Damit ist sie gottähnlich. – Sie hatihren Wohnsitz im ganzen Körper und ungeteilt in jedem seiner Teile,wie auch Gott in der ganzen Welt und in jedem ihrer Teile ungeteiltgegenwärtig ist.

Der Mensch erkennt sich selbst und liebt sich durch Akte, die Verstandund Wille hervorbringen; Fähigkeiten, die voneinander verschiedensind. Trotzdem bleiben diese Akte unzertrennlich vereint in der Seeleund in den Fähigkeiten, aus denen sie hervorgehen. So geht auch derSohn vom Vater aus, gleichsam als Ausdruck seines Selbsterkennens, –und der Heilige Geist geht als die wechselseitige Liebe des Vaters zumSohn und des Sohnes zum Vater aus diesen zwei göttlichen Personen aus.Trotz der Verschiedenheit der drei göttlichen Personen bilden sie abereine unzertrennliche Einheit, oder vielmehr, sie sind die gleiche, einzige,einfache und höchst einige, unzertrennliche Gottheit selbst.

3. Gott und Mensch sind sich aber nicht nur ähnlich, sie ergänzen sichauch auf wunderbare Weise, um einander zu vervollkommnen. Gottkann zwar vom Menschen keine Vollkommenheit empfangen, aber sowie der Mensch nur durch die göttliche Güte vervollkommnet werden

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kann, so kann seine göttliche Güte ihre Vollkommenheit, außer an sichselbst, nur an der Menschheit richtig betätigen. Groß ist das Bedürfnisund die Empfänglichkeit des Menschen für das Gute; groß ist die göttli-che Überfülle und die Geneigtheit, daraus mitzuteilen.

Nichts ist der Dürftigkeit willkommener als freigebiger Überfluß, undnichts ist freigebigem Überfluß willkommener als Dürftigkeit und Not.Je reichlicher der Überfluß an Gutem, desto mächtiger die Neigung, sich zuergießen und sich mitzuteilen; je dürftiger der Arme, desto stärker dasVerlangen, zu empfangen, gleich einem leeren Gefäß, das förmlich da-nach verlangt, angefüllt zu werden.

Beglückende und sehnenswerte Begegnung von Überfluß und Dürftig-keit! Es ließe sich kaum sagen, wer mehr Befriedigung empfindet, derÜberfluß des Guten, sich zu ergießen und sich mitzuteilen, oder derMangel und die Dürftigkeit, zu empfangen und anzunehmen, hätte nichtder Herr gesagt: „Es ist seliger zu geben als zu empfangen“ (Apg 20,35).Wo mehr Seligkeit, da auch mehr Befriedigung. So hat also die göttlicheGüte eine größere Freude, ihre Gnaden auszuteilen, als wir, sie zu emp-fangen.

4. Manchmal haben die Mütter einen so reichlichen Überfluß an Milch,daß sie gezwungen sind, ihre Brust irgendeinem Kind zu reichen.Wenn auch das Kindlein die Milch noch so begierig trinkt, so spendet sieihm seine Amme noch begieriger. Das Kind trinkt, vom Bedürfnis ange-trieben, die Mutter stillt es, von ihrer Fülle gedrängt.

Die Braut im Hohelied sehnt sich nach dem Kuß der Vereinigung; sagtsie doch: „Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes“ (Hld 1,1). Be-steht denn, o Vielgeliebte des Vielgeliebten, zwischen dir und dem Bräu-tigam eine so innige Beziehung, daß du zu dieser ersehnten Vereinigunggelangen kannst? Ja, sagt sie: „Gib ihn mir, diesen Kuß der Vereinigung,Vielgeliebter meiner Seele,“ denn „besser ist deine Brust als Wein, duf-tender als köstliche Wohlgerüche“ (Hld 1,1). – Wenn der Wein jung ist,dann gärt er, erhitzt sich selbst durch seine Kraft und Güte und findetdaher nicht mehr Raum genug in den Fässern. Deine Brüste aber sindnoch reicher als der Wein. Unablässig drängen sie dich, die Überfülleihrer Milch zu spenden, um sich zu erleichtern, und sie verbreiten einenanziehenderen Wohlgeruch als alle köstlichen Düfte, gleichsam als such-ten sie ihre Fülle auszugießen und die Kinder deines Herzens zu locken,sich daran zu laben.

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Daher, mein Theotimus, bedarf unsere Armut des göttlichen Überflus-ses wegen ihres Mangels und ihrer Not, der göttliche Überfluß aber be-darf unserer Armut nur wegen der höchst erhabenen Vollkommenheit sei-ner Güte. Diese Güte aber kann nicht vollkommener werden, wenn sie sichmitteilt, sie gewinnt nichts durch ihr Sichergießen nach außen, sie gibtnur. Umgekehrt aber würde unsere Armut beständig Mangel leiden undelend bleiben, käme ihr der Überfluß sich mitteilender göttlicher Füllenicht zu Hilfe.

5. Betrachtet also unsere Seele, daß sie nichts vollkommen befriedigtund nichts auf Erden ihre Aufnahmefähigkeit ausfüllen kann, – erkenntsie, daß ihr Verstand einen unersättlichen Trieb, immer mehr und mehrzu wissen, in sich birgt, daß ihr Wille ein unstillbares Verlangen nachdem Guten, nach Liebe hat, hat sie dann nicht allen Grund, auszu-rufen: „Ach, nicht für diese Welt ward ich erschaffen! Es gibt ein höch-stes Gut, von dem ich abhänge, es gibt einen unendlich großen Werk-meister, der mir den unauslöschlichen Durst nach Erkenntnis und diesesunersättliche Verlangen eingeprägt hat. Zu ihm muß ich streben, zu ihmmich emporschwingen, um mich mit seiner Güte zu vereinigen. Ihmgehöre ich an, ihm bin ich zu eigen.“

Das also ist unsere innerliche Beziehung zu Gott.

16. KapitelWWWWW ir neigen natürlicherir neigen natürlicherir neigen natürlicherir neigen natürlicherir neigen natürlicherweise dazu, Gott über alles zu lieben.weise dazu, Gott über alles zu lieben.weise dazu, Gott über alles zu lieben.weise dazu, Gott über alles zu lieben.weise dazu, Gott über alles zu lieben.

1. Gäbe es Menschen mit jener ursprünglichen Heiligkeit und Gerech-tigkeit, wie sie Adam im Augenblick seiner Erschaffung geschenkt wurde,so würden sie nicht nur die natürliche Neigung haben, Gott über alleszu lieben, sondern sie wären auch natürlicherweise fähig, dieser NeigungFolge zu leisten. Dazu würde der Beistand genügen, den Gott jedemGeschöpf gibt, damit es das seinem Wesen Entsprechende tun könne.

Der göttliche Schöpfer und Beherrscher der Natur reicht ja dem Feuerseine starke Hand, daß es emporflamme, dem Wasser, daß es sich insMeer ergieße, der Erde, daß sie herabsinke und liegen bleibe. Nun hater selbst dem menschlichen Herzen einen natürlichen Drang eingeprägt,nicht nur das Gute im allgemeinen, sondern im besonderen seine göttlicheGüte als bestes und liebenswertestes aller Güter zu lieben. Deshalbwürde es auch die Milde seiner erhabenen Vorsehung erfordern, daß

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er jenen glücklichen Menschen (die Adam gleich wären) die notwendi-ge Hilfe gäbe, damit sie ihrer Neigung folgen könnten.

2. Diese Hilfe wäre dann einerseits „natürlich“ zu nennen, weil sieder Natur entspräche und auf die Liebe zu Gott als dem Schöpfer undBeherrscher der Natur hinzielte.

Andererseits jedoch wäre sie „übernatürlich“, denn sie würde nichteinfach einer menschlichen Natur entsprechen, sondern einer Natur, wieder Adams, die durch die ursprüngliche Gerechtigkeit geschmückt, be-reichert und geadelt wäre. Dies war aber eine übernatürliche Gabe, einebesondere Gunstbezeigung Gottes.

Trotzdem würde die Liebe zu Gott über alles, die der Mensch nur mitHilfe dieses allgemeinen Beistandes hegen würde, eine „natürliche Liebe“ hei-ßen, weil ja die Tugendakte Wert und Namen von ihren Gegenständenund Beweggründen her erhalten. Ihr Gegenstand wäre nämlich Gott, er-kannt durch das bloße Licht der Natur, als Schöpfer, Beherrscher und höch-stes Ziel aller Kreatur, und daher über alles liebenswert und verehrungs-wert auf Grund einer natürlichen Neigung, eines natürlichen Dranges.

3. Obwohl nun unsere Natur die ursprüngliche Gesundheit und Gerad-heit Adams verloren hat und durch die Sünde schwerstens verwundetwurde, blieb uns doch jene heilige Neigung, Gott über alles zu lieben,und jenes natürliche Licht, das uns ihn, die höchste Güte, als über alleDinge liebenswert erkennen läßt. Es ist unmöglich, daß ein Mensch, wenner an Gott, und sei es auch nur durch verstandesmäßige Überlegun-gen, aufmerksam denkt, nicht ein gewisses Aufwallen der Liebe empfin-det, das der geheimnisvolle Naturtrieb in der Tiefe des Herzens hervor-ruft. Diese Liebesregung kommt dem Willen bei der ersten Wahrneh-mung dieses seines ersten und höchsten Gegenstandes zuvor, so daß ersich angetrieben fühlt, in ihm sein Wohlgefallen zu finden.

4. Es ist bei Rebhühnern nicht selten, daß sie anderen die Eier wegneh-men, um sie auszubrüten; entweder weil sie selbst Junge haben wollen,oder weil sie die eigenen Eier nicht von den fremden zu unterscheidenvermögen. Man sagt aber, daß das junge Rebhuhn, das von einer fremdenHenne ausgebrütet und ernährt wurde, beim ersten Ruf seiner Mutter zuihr läuft und bei ihr bleibt. Es folgt hier jenem im Innersten der Naturverborgenen Trieb, der wie schlafend bliebe, würde das Zusammentref-fen mit seinem Gegenstand ihn nicht wecken und das Küchlein so gleich-sam zu seiner ersten Pflicht zurückrufen.

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So verhält es sich auch, Theotimus, mit unserem Herzen. Obgleichunter Körperlichem gewachsen, ernährt und aufgezogen, gleichsam unterden Fittichen der Natur groß geworden, erwacht doch beim ersten Blickauf Gott, bei der ersten Erkenntnis Gottes die natürliche und erste Nei-gung, ihn zu lieben, die bis dahin wie schlafend und unsichtbar war.Gleich einem Funken, der unter der Asche glimmt und zur Flamme wird,wenn er bloßgelegt ist, so bricht dann auch plötzlich diese Neigung her-vor, entzündet den Willen, sobald sie ihn berührt und treibt ihn an, sichzu jener höchsten Liebe aufzuschwingen, die dem über alles erhabenenund ersten Urgrund aller Dinge gebührt.

17. Kapitel

NatürlicherNatürlicherNatürlicherNatürlicherNatürlicherweise sind wir ohnmächtig, Gott über alles zu lieben.weise sind wir ohnmächtig, Gott über alles zu lieben.weise sind wir ohnmächtig, Gott über alles zu lieben.weise sind wir ohnmächtig, Gott über alles zu lieben.weise sind wir ohnmächtig, Gott über alles zu lieben.

1. Kühn und mächtig erhebt sich der Adler in die Luft, seine Sehkraftjedoch übertrifft noch bei weitem die Schwungkraft seiner Fittiche.Sein Blick reicht weit über seine Flügel hinaus. So hat auch unser Herz,von Natur aus zu Gott hingeneigt, weit mehr Klarheit im Verstand,um ihn als höchst liebenswürdig zu erkennen, als Kraft im Willen, ihn zulieben; denn die Sünde hat viel mehr den Willen geschwächt, als sie denVerstand verfinstert hat.

Gewiß, die Empörung des sinnlichen Begehrungstriebes, die wir Begier-lichkeit nennen, verdunkelt den Verstand, aber ihre Verführung undAufwiegelung ist doch hauptsächlich gegen den Willen gerichtet. So kannalso dieser arme, ohnedies schon geschwächte und nun noch von denStürmen der Begierlichkeit bedrängte Wille in der Liebe Gottes nicht sovorwärtsschreiten, als es ihm Vernunft und natürliche Neigung einge-ben. –

2. O Theotimus! Welch schönes Zeugnis einer großen Gotteserkenntnisund Hinneigung zu Gott haben uns die heidnischen Philosophen Sokra-tes, Platon, Trismegistos, Aristoteles, Hippokrates, Epiktet und Senecahinterlassen!

Sokrates, der gepriesenste unter allen, hatte eine tiefe Erkenntnis derEinheit Gottes und eine so große Liebe zu ihm, daß er nach der Meinungmehrerer, wie Augustinus bezeugt (St.G. 8,3), die Moralphilosophie nurdeshalb gelehrt hat, damit er die Herzen läutern und sie so der ErkenntnisGottes als des höchsten und einzigen Gutes fähiger machen könnte. Of-fenbart sich Platon nicht ganz deutlich in seiner berühmten Definition der

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Philosophie und des Philosophen (bei Aug., St. G. 8,9): Philosophieren seinichts anderes, als Gott lieben, und der wahre Philosoph nichts anderesals ein wahrer Liebhaber Gottes? – Was soll ich aber erst von dem großenAristoteles sagen, der mit so viel Nachdruck die Einheit Gottes beweist(Mt 12,10) und an so vielen Stellen mit großer Ehrfurcht von ihm spricht?

Aber, o ewiger Gott! Allen diesen großen Geistern, die eine so tiefeErkenntnis Gottes und eine so große Hinneigung zur Liebe Gottes hatten,fehlte die Entschlossenheit und Kraft, ihn wirklich zu lieben. Durch diesichtbare Kreatur „haben sie den Unsichtbaren Gott erkannt, seine ewigeMacht wie seine Göttlichkeit“, sagt der große Apostel. „Deshalb sindsie nicht zu entschuldigen. Obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihndoch nicht als Gott verehrt, noch ihm gedankt“ (Röm 1,18–21). Sieverherrlichten ihn zwar irgendwie durch Ehrentitel, aber nicht nach Ge-bühr, da ihnen der Mut fehlte, der Abgötterei Einhalt zu gebieten. ImVerkehr mit Götzendienern hielten sie ungerechterweise die erkannteWahrheit als Gefangene in ihrem Herzen zurück und wurden „eitelin ihren Gedanken“ (ebd.), weil sie ihre eigene Ehre und ein bequemes,nutzloses Leben der Ehre Gottes vorzogen.

Theotimus, ist es nicht traurig zu hören, daß der sterbende Sokratesvon Göttern spricht, als gäbe es deren viele? (Aug., St.G.8,12). Er, der sogut wußte, daß nur ein Gott ist? Ist es nicht betrüblich, daß Platon be-fiehlt, mehreren Göttern zu opfern (ebd.), obwohl er überzeugt war, daßes nur einen Gott gibt? Und ist es nicht kläglich, daß MercuriusTrismegistos so feig über die Abschaffung der Abgötterei klagt (Aug.,St.G. 8,23.24), er, der doch an so vielen Stellen seiner Schriften so wun-dervoll von der Gottheit spricht? – Besonders aber wundere ich michüber den armen guten Epiktet, dessen Lehr- und Denksprüche so schönzu lesen sind und ein so deutliches Zeugnis von seiner Begeisterung fürGott ablegen. Man könnte ihn für einen Christen halten, der von einertiefen und heiligen Betrachtung zurückkehrt. Trotzdem erwähnt er beiGelegenheit die Götter wie die anderen Heiden. Warum hatte diesertreffliche Mann, der eine so große Erkenntnis von dem einen Gott undein so feines Empfinden für dessen Güte hatte, nicht so viel heiligen Eiferfür Gottes Ehre, seine Ansichten über etwas so Wichtiges frei und unver-hohlen zu bekennen?

3. Man sieht also, mein Theotimus, daß unsere arme, durch die Sündegeschwächte Natur den Palmbäumen vergleichbar ist, die aus ihrer Hei-mat zu uns gebracht wurden und hier nur kümmerliche Früchte zu tragen

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vermögen. Süße, reife und wohlschmeckende Datteln tragen sie nur inwärmeren Ländern. So bringt auch unser Herz von Natur aus wohl gewis-se Ansätze von Gottesliebe hervor; dazu jedoch, ihn über alle Dingezu lieben, gelangen nur jene Herzen, die von der himmlischen Gnadebelebt und unterstützt werden und im Zustand der heiligen Liebe sind.Und doch besteht darin die eigentliche Reife der Liebe, die ihm, als demhöchsten Gut, gebührt.

Jene geringe und unvollkommene Liebe, deren erste Antriebe die Na-tur selbst empfindet, ist nur ein gewisses Wollen ohne Willen; einWollen, das gerne möchte, aber nicht will; ein unfruchtbares Wollen,das keine wahren Wirkungen hervorbringt; ein gelähmtes Wollen, daswohl das heilbringende Wasser der heiligen Liebe sieht, aber nicht dieKraft hat, sich hineinzustürzen (Joh 5,7). Es ist schließlich die unzeitigeFrucht guten Willens, der aber das Leben, der die hochherzige Kraftfehlt, Gott auch in der Tat allen Dingen vorzuziehen; ein Wollen, vondem der Apostel, in der Person des Sünders sprechend, ausruft: „DerWille zum Guten ist zwar in mir, aber es fehlt am Vollbringen“ (Röm7,18f).

18. KapitelDie natürliche Neigung, Gott zu lieben, ist nicht zwecklos in uns.Die natürliche Neigung, Gott zu lieben, ist nicht zwecklos in uns.Die natürliche Neigung, Gott zu lieben, ist nicht zwecklos in uns.Die natürliche Neigung, Gott zu lieben, ist nicht zwecklos in uns.Die natürliche Neigung, Gott zu lieben, ist nicht zwecklos in uns.

1. Es erhebt sich nun die Frage, warum wir eine natürliche Neigungfühlen, Gott über alles zu lieben, wenn wir doch dieser Neigung in derTat nicht folgen können. Handelt die Natur nicht sinnlos, uns zu einerLiebe anzutreiben, die sie uns nicht geben kann? Warum erregt sie inuns den Durst nach einem so kostbaren Wasser, ohne aber die Machtzu besitzen, ihn zu stillen?

2. O, Theotimus, wie groß ist Gottes Güte gegen uns! Die Treulosigkeit,die wir durch die Sünde begangen haben, verdiente es wohl, daß er uns alleBeweise der Huld und des Wohlwollens wieder entzöge, die er unsererNatur gewährt hatte. Welche Güte erwies er ihr doch, da er ihr das Lichtseines Antlitzes einprägte und unser Herz die Freude verkosten ließ (Ps4,7), sich zur Liebe der göttlichen Güte hingezogen zu fühlen! Hätten dieEngel nicht allen Grund, beim Anblick dieses so tief gesunkenen Men-schen voll Mitleid auszurufen: „Ist dies das Geschöpf von so hoher Schön-heit; ist dies die Ehre der Erde?“ (Klgl 2,15).

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Doch die grenzenlose Huld Gottes konnte am Werk ihrer Hände keineso furchtbare Strenge üben. Sie sah, daß wir Fleisch sind und ein Hauch,der dahinfährt und nicht wiederkehrt (Ps 78,39). Deshalb wollte Gottesherrliches Erbarmen uns nicht ganz verderben, noch das Zeichen derGnade, die wir verloren haben, hinwegnehmen. Wenn wir es sähen undin uns den Antrieb und die Neigung, Gott zu lieben, fühlten, solltees uns ein Ansporn sein, dies auch zu verwirklichen, damit uns niemandgerechterweise sagen könne: „Wer wird uns das Gute zeigen?“ (Ps 4,6).

Können wir auch durch diese natürliche Neigung allein nicht zur Se-ligkeit gelangen, Gott nach Gebühr zu lieben, so spendet Gottes Güteuns doch Hilfe zu weiterem Fortschritt, wenn wir dieser Neigung mitTreue folgen. Entsprächen wir dieser ersten Gnadenhilfe, so würdeuns die väterliche Güte Gottes eine zweite, mächtigere verleihen unduns in aller Milde von Stufe zu Stufe bis zu jener höchsten Liebe führen,zu der unsere natürliche Neigung uns hindrängt. Ist es doch außerZweifel, daß die Güte Gottes dem Menschen, der über weniges getreu ist(Mt 25,21–23) und tut, was er kann, jenen Beistand nicht versagt, derihn immer weiter vorwärts führt.

4. Die natürliche Neigung unserer Herzen, Gott über alles zu lieben,ist also nicht sinnlos. Gott bedient sich ihrer, um sich unser um soliebevoller zu bemächtigen und uns an sich zu ziehen. Wie man kleineVögel an zarten Banden hält, so hält auch er unsere Herzen gleichsam amzarten Band dieser Neigung, durch das er uns anziehen kann, wenn esseiner Barmherzigkeit gefällt, sich unser zu erbarmen. Uns aber istdiese Neigung ein Zeichen und eine Erinnerung an unseren ersten Ur-sprung und unseren Schöpfer. Sie eifert uns an, ihn zu lieben, indem sieuns leise darauf aufmerksam macht, daß wir seiner göttlichen Güte ange-hören.

Große Fürsten pflegen bisweilen den von ihnen gefangenen HirschenHalsbänder mit ihrem Wappen umzuhängen und ihnen dann wieder dieFreiheit zu schenken. Sie sollten jedem, der sie antreffen würde, be-zeugen, daß sie nicht nur von dem Fürsten, dessen Wappen sie trugen,gefangen wurden, sondern auch noch ihm vorbehalten blieben. Auf dieseWeise erkannte man das hohe Alter eines Hirsches, den man laut demZeugnis einiger Geschichtsschreiber 300 Jahre nach dem Tod Caesarsim Wald fing; an seinem Halsband standen nämlich der Wahlspruch Cae-sars und die Worte: „Caesar hat mich freigelassen.“

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In ähnlicher Weise zeigt auch diese Neigung unseres Herzens Freundund Feind an, daß wir nicht nur Eigentum unseres Schöpfers waren, son-dern es sind, obwohl er uns freigelassen und dem Belieben unseres freienWillens überlassen hat, und daß er sich das Recht vorbehalten, wannimmer es seiner heiligen Vorsehung gefällt, uns an sich zu ziehen, umuns zu retten.

Deshalb nennt auch der königliche Prophet diese Neigung nicht nur„Licht“, weil es uns sehen läßt, wohin wir streben sollen, sondern auch„Freude“ und „Jubel“ (Ps 4,7), weil sie uns in unserer Verirrung tröstetund uns die Hoffnung schenkt, daß derjenige, der uns mit seinemSiegel als Zeichen unseres Ursprungs bezeichnet hat, auch vom Verlangen er-füllt ist, uns zu sich zurückzuführen, wenn wir so glücklich sind, uns zuseiner göttlichen Güte wieder heimholen zu lassen.

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ZWEITES BUCHZWEITES BUCHZWEITES BUCHZWEITES BUCHZWEITES BUCH

Geschichte des Ursprungs und der himm-Geschichte des Ursprungs und der himm-Geschichte des Ursprungs und der himm-Geschichte des Ursprungs und der himm-Geschichte des Ursprungs und der himm-lischen Geburlischen Geburlischen Geburlischen Geburlischen Geburt der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.t der göttlichen Liebe.

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1. KapitelDie göttlichen VDie göttlichen VDie göttlichen VDie göttlichen VDie göttlichen Vol lkol lkol lkol lkol lkommenheiten sind nur eineommenheiten sind nur eineommenheiten sind nur eineommenheiten sind nur eineommenheiten sind nur eine

einzige, aber unendliche Veinzige, aber unendliche Veinzige, aber unendliche Veinzige, aber unendliche Veinzige, aber unendliche Vol lkol lkol lkol lkol lkommenheit.ommenheit.ommenheit.ommenheit.ommenheit.

1. Man hält es für ein Vorzeichen nahenden Unwetters, wenn die Sonnebei ihrem Aufgang zuerst rot scheint und sich dann verdunkelt und ver-düstert – oder wenn sie bei ihrem Untergang fahl, glanzlos und farb-los ist.

Theotimus, die Sonne ist weder rot noch schwarz, weder gelb nochgrau, noch grün. Sie, die große Himmelsleuchte, ist diesem Farbenwandelund -wechsel nicht unterworfen. Ihre Farbe ist das urreine, stets sichgleichbleibende Licht, das sich nur durch ein Wunder Gottes verändernkönnte. Wir freilich reden so, weil die Sonne unserem Auge verschieden-farbig erscheint, je nach den verschiedenen Dunstschichten, die zwischenihr und unserem Auge liegen.

2. Auf ähnliche Weise sprechen wir auch von Gott, wie er aus seinemWirken erkennbar ist, und nicht, wie er in sich selbst ist. Ent-sprechend unseren verschiedenen Erwägungen legen wir Gott verschiedeneEigenschaften bei, als ob sich eine große Anzahl verschiedener Vorzügeund Vollkommenheiten in ihm befände.

Betrachten wir ihn als den, der die schlechten Menschen bestraft, sonennen wir ihn gerecht. Schauen wir ihn als den Befreier der Sünder ausihrem Elend, so verkünden wir seine Barmherzigkeit. Denken wir daran,daß er der Schöpfer aller Dinge und der große Wundertäter ist, so sagenwir, er ist allmächtig. Sehen wir ihn, wie er seine Verheißungen er-füllt, dann nennen wir ihn wahrhaftig. Überlegen wir, daß er alles nachbestimmten Gesetzen lenkt, dann ist er für uns allweise, und so fort.Wir sprechen ihm so, je nach der Verschiedenheit seines Wirkens, einegroße Vielfalt von Vollkommenheiten zu.

In Wirklichkeit gibt es aber bei Gott keine Mannigfaltigkeit undkeine Verschiedenheit von Vollkommenheiten, sondern er selbst ist einealleinige, höchst einfache und ganz einzigartig einzige Vollkommenheit.Alles, was in ihm ist, ist nur er selbst. All die Herrlichkeiten, die wir ihmin so mannigfacher Fülle zuschreiben, sind in ihm in höchst einfacherund ganz reiner Einheit.

Die Sonne hat keine all der Farben, die wir von ihr aussagen, sondernist nur ein einziges, sehr klares und über jede Farbe erhabenes Licht,das alle Farben erst sichtbar macht. So hat auch Gott keine der

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Vollkommenheiten, die wir ihm zuschreiben, sondern nur eine einzige,über alle Vollkommenheit erhabene Herrlichkeit, die allem anderen, wasvollkommen ist, Vollkommenheit verleiht.

3. Kein Geschöpf, weder Mensch noch Engel, vermag dieser höchsten,alles andere in seiner einzigen Einheit einschließenden und überragen-den göttlichen Herrlichkeit den ihr gebührenden Namen zu geben. Daherheißt es auch in der Geheimen Offenbarung: „Der Herr hat einen Na-men, den niemand weiß, außer er selbst“ (Offb 19,12). Denn er alleinhat eine vollkommene Kenntnis seiner unbegrenzten Vollkommenheit;deshalb vermag nur er allein es, sie mit einem ihr entsprechenden Namenzu bezeichnen. Die Alten meinten daher auch, niemand sei ein wahrerTheologe als Gott allein, weil außer ihm keiner die unendliche Größeseiner Vollkommenheit ganz erkennen und folglich in Worte fassenkann.

Gott sprach durch den Mund eines Engels zu Simsons Vater, derihn nach seinem Namen fragte: „Weshalb verlangst du meinen Namenzu wissen, der ‚wunderbar‘ ist?“ (Ri 13,18), wie wenn er sagen wollte:„Meinen Namen kann man bewundern, aber keinem Geschöpf ist esgegeben, ihn auszusprechen; alle sollen ihn anbeten, aber nur ich alleinkann ihn begreifen, daher kann auch nur ich allein den mir eigenen Na-men aussprechen, durch den ich mein alles überragendes Wesen in aller Wahr-heit und Einfalt ausdrücke.“

4. Unser Geist ist zu schwach, einen Gedanken zu formen, der eineso unermeßliche Herrlichkeit darzustellen vermöchte; eine Herrlichkeit,die in ihrer höchst einfachen und einzigartigen Vollkommenheit alle an-deren verschiedenartigen Vollkommenheiten auf unendlich hohe, voll-kommene und erhabene, für unseren Geist undenkbare Weise in sichbegreift.

Wir sind daher gezwungen, wenn wir von Gott irgendwie sprechenwollen, unsere Zuflucht zu einer Vielzahl von Worten zu nehmen. Wirsagen: Gott ist gütig, weise, allmächtig, wahrhaftig, gerecht, heilig, un-endlich, unsterblich, unsichtbar. Das ist auch richtig, denn Gott ist dasalles, weil er mehr als das alles ist; das heißt, er ist es auf eine so reine, sounvorstellbar erhabene Weise, daß er in der höchst einfachen Vollkom-menheit seines göttlichen Wesens die Machtfülle, Kraft und Erhabenheitaller Vollkommenheit besitzt.

5. Das Manna war nur eine einzige Speise, aber es enthielt den Ge-schmack und Nährwert aller anderen (Weish 16,20.21). Man hätte sagen

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können, es habe den Geschmack der Zitrone, der Melone, der Traube, der Pflau-me und der Birne. Allerdings wäre man der Wahrheit näher gekommen,hätte man gesagt, es habe nicht so viele, sondern einen einzigen, ihmeigenen Geschmack, der in seiner Einheit alles Angenehme und Köstli-che eines jeden anderen Geschmackes enthalte.

Ein anderer Vergleich: Die Pflanze Dodecatheos, die nach einem Be-richt des Plinius (H.n. 25,4) alle Krankheiten heilt, ist weder Rhabarbernoch Sennesblatt, weder Rose noch Betonie noch Ochsenzungenkraut,sondern nur eine einfache Pflanze, die in der ihr eigenen einzigen Ein-fachheit so viel Heilkraft enthält, wie alle übrigen Arzneipflanzen zu-sammen.

6. O Abgrund göttlicher Vollkommenheiten, wie wunderbar bist du!In einer einzigen Vollkommenheit besitzt du die Erhabenheit allerVollkommenheiten auf eine so einzigartige Weise, daß niemand dieserfassen kann, außer du selbst!

„Viel werden wir von ihm sagen,“ erklärt die Heilige Schrift, „und eswird uns an Worten mangeln.“ Fassen wir es daher kurz zusammen: Erist einfach alles. Wollten wir uns rühmen, wozu würde es uns dienen?Ist doch der Allmächtige über alle sein Werke erhaben. „Lobet denHerrn und preist ihn nach eurem besten Vermögen, denn er ist größer alsalles Lob. Rafft all eure Kräfte zusammen, wenn ihr ihn preist, und wer-det nicht müde; denn nimmermehr werdet ihr ihn begreifen!“ (Sir 43,27–34).

Nein, mein Theotimus, nimmermehr werden wir Gott begreifen kön-nen, der nach den Worten des hl. Johannes „größer ist als unser Herz“ (1Joh 3,20).

Und dennoch: „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ (Ps 150,6),und gebe ihm die erhabensten Namen, die es zu finden vermag. Aberder höchste Lobpreis sei unser Bekenntnis, daß wir nie imstande seinwerden, ihn gebührend zu preisen. Und der erhabenste Name, den wirihm geben können, sei unsere Beteuerung, daß sein Name über alle Na-men erhaben ist (Phil 2,9), daß wir unfähig sind, ihm je einen Namenzu geben, der seiner würdig wäre.

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2. KapitelIn Gott gibt es nur einen einzigen Akt und dieserIn Gott gibt es nur einen einzigen Akt und dieserIn Gott gibt es nur einen einzigen Akt und dieserIn Gott gibt es nur einen einzigen Akt und dieserIn Gott gibt es nur einen einzigen Akt und dieser

ist seine eigene Gottheit.ist seine eigene Gottheit.ist seine eigene Gottheit.ist seine eigene Gottheit.ist seine eigene Gottheit.1. Wir besitzen viele verschiedenartige Fähigkeiten und Kräfte; diese

bringen daher auch eine große Mannigfaltigkeit von Handlungen hervor,deren Ergebnis eine beispiellose Menge von Werken ist.

So sind unsere angeborenen Fähigkeiten – zu sehen, zu hören, zuschmecken, zu berühren, zu bewegen, uns zu ernähren, zu verstehenund zu wollen – ebenso von einander verschieden, wie die erlerntenFähigkeiten – zu gehen, zu reden, zu spielen, zu singen, zu nähen, zuspringen, zu schwimmen. Und genau so verschieden sind auch die Hand-lungen und Werke, die durch diese Fähigkeiten hervorgebracht werden.

2. Bei Gott ist es aber anders. In ihm findet sich nur eine einzige,höchst einfache, unendliche Vollkommenheit und in dieser nur eineganz einzige und ganz lautere Wirklichkeit.

Oder, um es heiliger und richtiger zu sagen: Gott ist nur eine einzigeund zwar erhabenst einzige und allereinzigst erhabene Vollkommenheit.Und diese Vollkommenheit ist eine einzige allerreinst einfache und aller-einfachst reine Wirklichkeit, die stets bleibt und ewig besteht, weil sieeben nichts anderes ist als das göttliche Wesen selber.

3. Wir freilich, die nur schwache Geschöpfe sind, reden von denWerken des Allerhöchsten so, als ob es sich wirklich um eine große An-zahl und Mannigfaltigkeit einzelner Akte handelte, obwohl wir dasGegenteil wissen. Wir können wegen der Schwäche unseres Geistes nichtanders. Wir vermögen ja über alles nur so zu reden, wie wir es verste-hen – und unser Verstehen richtet sich nach dem normalen Gang derDinge um uns herum. Wir sehen, daß in der Regel Werke, die voneinan-der verschieden sind, auch durch verschiedene Tätigkeiten zustande kom-men. Daher scheint es uns bei der Mannigfaltigkeit und Verschieden-heit der erschaffenen Dinge, bei den zahllosen Großtaten der göttlichenAllmacht zunächst, daß diesen verschiedenen Werken auch verschiedeneHandlungen zugrunde liegen, und wir reden dann davon, wie wir es ge-wöhnt sind, von allem zu reden und zu denken. So tun wir uns leichterund verletzen damit auch nicht die Wahrheit. Denn bei Gott gibt es zwarkeine Vielheit der Tätigkeit, sondern nur einen einzigen Akt, der dieGottheit selber ist; doch dieser ist so vollkommen, daß er auf die erha-benste Weise die Kraft und Wirksamkeit aller Akte in sich begreift, diefür die Vielfalt der Wirkungen erforderlich erscheint.

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4. Gott sprach nur ein einziges Wort, aber kraft dieses Wortes warenin einem Augenblick Sonne und Mond da und die zahllose Menge derSterne mit all ihrer Verschiedenheit an Helle, Bewegung und Einfluß. „Ergebot, da wurden sie geschaffen“ (Ps 148,5). Ein einziges Wort Gotteserfüllte die Luft mit Vögeln, das Wasser mit Fischen und ließ die Erde alldie Pflanzen und Tiere hervorbringen, die wir hier schauen. Der Verfasserder Heiligen Schrift berichtet zwar (Gen 1), Gott habe jenes allmächtige Wort„Es werde!“ an den Schöpfungstagen der Welt öfter gesprochen. Er paßt sich sounserer Fassungskraft an; tatsächlich aber war, wollen wir es richtig sagen,dieses Wort ganz einmalig. Daher nennt es David einen Odem oder Hauchdes göttlichen Mundes (Ps 33,6). Das heißt, es ist ein einziger Akt seinesunendlichen Willens, der seine Kraft so machtvoll in die Vielfalt desGeschaffenen ergießt, daß wir ihn wie vervielfacht und vermannigfaltigtsehen und zwar so vielfach, als seine Wirkungen sind, obwohl er in Wirk-lichkeit ein einziger und ganz einfacher Akt ist.

Der hl. Chrysostomus (5. Hom zu Joh § 1) bemerkt daher, daß derglorreiche hl. Johannes mit einem einzigen Ausdruck das sagt, was Mose invielen Sätzen von der Schöpfung der Welt schreibt: „Durch das Wort“ –durch jenes ewige Wort, das der Sohn Gottes selbst ist – „ward allesgemacht, was gemacht ist“ (Joh 1,3).

Mein Theotimus! Dieses höchst einfache und ganz einzige Wort bringtalle Mannigfaltigkeit der Dinge hervor. Obwohl selbst unveränderlich,bewirkt es alle Veränderungen; obwohl unwandelbar, verleiht es allenDingen Aufeinanderfolge, Wechsel und Ordnung, Rang und Zeitenfolge.

5. Zur besseren Verdeutlichung diene ein Vergleich: denken wir unseinen Maler, der ein Bild von der Geburt des Heilands entwirft. – Ichschreibe dies gerade in den Tagen, die diesem heiligen Geheimnis geweihtsind. – Dieser Maler wird also tausende und abertausende Pinselstrichemachen müssen und Tage, ja Wochen und Monate bis zur Vollendungseines Gemäldes brauchen, je nach der Verschiedenheit der darzustellendenPersonen und Gegenstände. Und nun stellen wir uns einen Kupferstich-drucker vor, der ein Blatt auf die Kupferplatte legt, worauf dasselbe Ge-heimnis der Geburt des Herrn eingegraben ist. Durch einen einzigen Druckder Presse wird das Werk vollendet und er kann ein schönes Bild vorlegen,das in ansprechender Weise alles zeigen wird, was zur Darstellung derGeburt des Herrn gehört. Obwohl er nur eine einzige Bewegung gemachthat, weist das Bild dennoch eine große Mannigfaltigkeit an Personen undGegenständen auf, alle voneinander verschieden, jedes an seinem Platz

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und alles richtig gruppiert. Wer nichts von dem Geheimnis dieser Kunstwüßte, wäre sehr erstaunt, daß eine einzige Bewegung eine so vielfältigeWirkung hervorbringen konnte.

Genau so vervielfältigt und verändert die Natur, gleich einem Maler,ihr Wirken je nach der Vielfalt ihrer Werke. Um Großes zu schaffen,bedarf sie langer Zeit. Gott aber rief, gleich jenem Drucker, all die ver-schiedensten Geschöpfe, die je waren, sind und sein werden, durch eineneinzigen Akt seiner Allmacht ins Dasein. Aus seinem ewigen Gedankennahm er gleichsam wie von einer sorgfältig gestochenen Kupferplatte diesewundervolle Mannigfaltigkeit von Personen und Gegenständen, die allein ihrer Ordnung zu bestimmten Zeiten, Zeitaltern und Jahrhundertenaufeinanderfolgen, wie es eben sein sollte.

6. Diese höchste Einheit des göttlichen Aktes steht zwar im Gegensatzzur Verwirrung und Unordnung, nicht aber zur Verschiedenheit undMannigfaltigkeit, die sie im Gegenteil dazu verwendet, den DingenSchönheit zu verleihen. Gott bringt nämlich all die Vielfalt und Ver-schiedenheit in ein bestimmtes Verhältnis zueinander; dadurch begründeter die Ordnung und durch die Ordnung die Einheit des Weltalls, das allegeschaffenen Wesen, sichtbare und unsichtbare umfaßt. Man hatdaher für das Wort „Weltall“ das lateinische Wort „Universum“ geprägt,vielleicht weil alle Verschiedenheit der Geschöpfe zur Einheit gebrachtund sozusagen „uni-diversum“ wird, das heißt: einig und verschieden,Einheit mit Verschiedenheit und Verschiedenheit mit Einheit.

7. Zusammenfassend kann man also sagen, die allerhöchste göttlicheEinheit bewirkt die Verschiedenheit; ihre gleichbleibende Ewigkeit be-wirkt den Wechsel aller Dinge. Die über alle Verschiedenheit und Man-nigfaltigkeit erhabene göttliche vollkommene Einheit birgt ja in sichdas Vermögen, aller Verschiedenheit geschaffener Vollkommenheit dasDasein zu geben und sie hervorzubringen.

Davon gibt die Heilige Schrift Zeugnis. Hier lesen wir, daß Gott imAnfang sprach: „Es werden Lichter an der Feste des Himmels undsie scheiden den Tag von der Nacht, und Zeichen sollen sie sein denZeiten, Jahren und Tagen“ (Gen 1,14). Und so sehen wir noch heute denbeständigen Wechsel der Zeiten und ihre Aufeinanderfolge, die dauern wirdbis ans Ende der Zeiten. „Er gebot, da wurde es geschaffen, Er hat esbeschlossen für alle Ewigkeit!“ (Ps 148,5.6).

Die Kraft dieses alleinigen ewigen Wollens der göttlichen Majestäterstreckt sich von Jahrhundert zu Jahrhundert und bis in alle Ewigkeit

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auf alles, was war, ist und sein wird. Und auch nicht ein Wesen empfängtsein Dasein, es sei denn durch diesen einzigen, höchst einfachen, unwan-delbaren, ewigen Akt Gottes, dem Ehre und Ruhm sei in Ewigkeit. Amen(1 Tim 1,17).

3. KapitelAllgemeines über die göttliche VAllgemeines über die göttliche VAllgemeines über die göttliche VAllgemeines über die göttliche VAllgemeines über die göttliche Vorsehung.orsehung.orsehung.orsehung.orsehung.

1. Mein Theotimus, Gott bedarf keines vielfachen Wirkens, denn er istso vollkommen, daß ein einziger Akt seines allmächtigen Willens genügt,um die Vielfalt seiner Werke hervorzubringen. Wir Sterblichen abermüssen darüber auf eine Weise reden, die unserer geringen Fassungs-kraft angemessen ist.

2. Um also von der göttlichen Vorsehung zu sprechen, lasset uns dasReich des großen Königs Salomo, ein vollendetes Vorbild der Regie-rungskunst, betrachten.

Salomo wußte durch göttliche Eingebung, daß sich der Staat zur Reli-gion wie der Körper zur Seele, und die Religion zum Staat wie die Seelezum Körper verhält. Er überlegte daher, welche Einrichtungen nötig wären, umsowohl die Religion als auch den Staat fest zu begründen.

Um die Religion zu fördern, faßte er den Entschluß, einen Tempel zubauen, und bestimmte im Voraus dessen Länge, Breite und Höhe, dannplante er Hallen, Vorhöfe, Fenster und überlegte, wie groß die Anzahlder Opferpriester, Sänger und übrigen Tempeldiener sein sollte.

Der Staat sollte seinen Mittelpunkt im Königspalast und -hof haben.Dafür bestimmte er die Anzahl der Haushofmeister, der Würdenträgerund der anderen Hofbeamten. Zur Wahrung des Rechtes beschloß er, Rich-ter und andere Beamte einzusetzen. Die äußere und innere Ruhe desLandes sollte mitten im Frieden durch einen mächtigen Kriegsapparatgesichert sein. Daher beabsichtigte er, 250 Offiziere verschiedener Gradeeinzusetzen, 40.000 Pferde zu halten und all die Vorkehrungen zu tref-fen, die uns die Schrift und die Geschichtsschreiber schildern (1 Kön Kap.4 und 5).

Nachdem er so in seinem Geist all die wichtigsten Planungen bis insEinzelne entworfen hatte, die für das Reich notwendig waren, ging erzum Akt der „Vorsehung“ über. Er berechnete alles Notwendige für denTempelbau und die Kosten für den Unterhalt der Tempelbeamten, derköniglichen Angestellten und des Kriegsvolkes, wie er es geplant hatte.

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Er beschloß dann, mit dem König Hieram wegen des nötigen Bauholzes zuverhandeln, mit Peru und Ofir in Handelsbeziehungen zu treten und alleübrigen Vorkehrungen zur Durchführung seines Unternehmens zu tref-fen.

3. Das genügte ihm aber noch nicht. Nach dem Entwurf seines Planes undder Erwägung der besten Mittel, ihn auszuführen, schritt er ans Werk. Sowie er es sich vorgenommen hatte, setzte er alle Amtspersonen ein undsorgte durch eine gute Verwaltung dafür, daß alles Notwendige für ihrenUnterhalt und für die Ausübung ihrer Ämter vorhanden war.

So konnte er kraft seiner weisen Regierungskunst alles ausführen, waser in seinem Geist für die Einsetzung der verschiedenen Amtspersonengeplant hatte, und durch eine tüchtige Verwaltung das verwirklichen,was er vorgesehen hatte. Seine Regierungskunst, die zunächst im richti-gen Planen, Voraussehen oder Vorschauen bestand, wurde jetzt auchin die Tat umgesetzt durch die Bestellung der Amtspersonen und durcheine gute Verwaltung und Führung.

Eine Anordnung ohne Ausführung, in diesem Fall ohne die Einsetzungder Amtspersonen, ist sinnlos. Andererseits ist es unmöglich, Beamteeinzusetzen, ohne vorher alles überlegt und vorgesehen zu haben, was fürihren Unterhalt notwendig ist. So ist also auch ihr Unterhalt, derdurch eine gute Verwaltung besorgt wird, nichts anderes als eine verwirk-lichte „Vorsehung“.

Daher konnte man nicht nur die Planung, sondern auch die Ein-setzung der Beamten und die gute Verwaltung Salomos als „Vorsehung“bezeichnen, wie wir ja auch von jenen, die etwas gut verwalten, sagen, sieseien „umsichtig“.

4. Theotimus, wir reden von göttlichen Dingen nach den Erfahrungen,die wir aus der Betrachtung menschlicher Dinge schöpfen. Wir sagenalso, daß Gott von Ewigkeit her in vollkommenster Weise die „Kunst“besaß, die Welt zu seiner Verherrlichung zu erschaffen.

Daher erwog er zuerst in seinem Geist die vornehmsten Geschöpfe,von denen er wollte, daß sie ihm besonders Ehre erwiesen: die Engel unddie Menschen.

Er ordnete die Engel nach der Mannigfaltigkeit ihrer Ordnungenund Chöre, wie die Heilige Schrift und die Kirchenväter uns lehren,und beschloß, auch die Menschen in jener Mannigfaltigkeit zu erschaffen,die wir sehen. Gleichzeitig erwog er von aller Ewigkeit her auch dieMittel, die den Engeln und Menschen zur Erreichung ihres von ihm be-

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stimmten Zieles dienen sollten. Durch all dies betätigte Gott seine Vor-sehung.

Er begnügte sich jedoch nicht mit dem Planen, sondern schuf tatsächlichEngel und Menschen und spendete und spendet noch immer durch seineLeitung den vernunftbegabten Geschöpfen alles, was sie brauchen, umzur Herrlichkeit zu gelangen.

Kurz gesagt: die allerhöchste Vorsehung ist jener Akt, durch den GottMenschen und Engeln die notwendigen und nützlichen Mittel ver-leihen will, ihr Ziel zu erreichen.

5. Weil aber diese Mittel von verschiedener Art sind, so geben wir auchder Vorsehung verschiedene Namen. Wir sprechen von einer natürlichenund einer übernatürlichen Vorsehung; diese ist entweder eine allgemeine,eine besondere oder eine persönliche Vorsehung.

6. Da ich dich, Theotimus, später ermuntern werde, dich der göttlichenVorsehung ganz zu überlassen, so will ich jetzt noch ein Wort über dienatürliche Vorsehung sagen.

Als Gott die menschliche Natur mit jenen natürlichen Mitteln aus-statten wollte, die ihr notwendig sind, um seine göttliche Güte zu ver-herrlichen, erschuf er um des Menschen willen alle Tiere und Pflanzen.Um dann für die Bedürfnisse der Tiere und Pflanzen zu sorgen, schufer verschiedenartiges Erdreich, verschiedene Jahreszeiten, Quellen, Winde,Regenfälle. Sowohl des Menschen wegen als auch jener Dinge wegen,die zu seinen Diensten stehen, erschuf er die Elemente, den Himmel unddie Gestirne, alles in einer so wunderbaren Ordnung, daß fast alle Ge-schöpfe einander dienen. So tragen uns die Pferde, wir aber pflegensie; die Schafe nähren und kleiden uns, wir aber weiden sie. Die Erde läßtDünste in die Luft aufsteigen, die Luft hingegen spendet der Erde denRegen. Die Hand dient dem Fuß, der Fuß trägt die Hand.

Zu welch leidenschaftlicher Liebe muß doch unser Herz für die aller-höchste Weisheit entflammt werden, wenn wir diese Hinordnung auf-einander, dieses Einanderdienen der Geschöpfe betrachten. Wie innig be-wegt muß doch unser Herz ausrufen: „Deine Vorsehung, o großer,ewiger Vater, leitet alle Dinge!“ (Weish 14,3).

Die Predigten der hl. Basilius und Ambrosius über das Sechstagewerk,die Einführung zum Glaubensbekenntnis des Ludwig von Granada, meh-rere Stellen in den schönen, kleinen Schriften Ludwig Richeome’s werdengut veranlagten Seelen viele Beweggründe geben, die ihnen dafür vonNutzen sein können.

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7. Diese Vorsehung, lieber Theotimus, dehnt sich also auf alles aus,herrscht über alles und führt alles zu ihrer Verherrlichung.

Es gibt zwar unvorhergesehene und unvermutete Ereignisse, jedochsind sie nur für uns unvorhergesehen und unvermutet, nicht aber fürGott, der sie vorhergesehen und zum Wohl der Allgemeinheit bestimmthat. Diese zufälligen Ereignisse entstehen durch das Zusammentreffenmehrerer Ursachen, die keine natürliche Verbindung untereinander ha-ben, sondern jede für sich ihre besonderen Wirkungen hervorbringt.Sobald diese nun zusammentreffen, ergibt sich daraus eine ungewöhnlicheGesamtwirkung, die wir ebensowenig voraussehen konnten, wie dasZusammentreffen der Ursachen.

So war es zum Beispiel vernünftig, daß der Dichter Aeschylus wegenseines Aberglaubens bestraft wurde. Er hatte von einem Wahrsager er-fahren, daß ein Haus auf ihn fallen und ihn erschlagen würde. Daraufhielt er sich, um diesem Schicksal zu entgehen, den ganzen Tag auf demFeld auf. Als er entblößten Hauptes dastand, sah ein Falke, der eine Schild-kröte in den Klauen hielt, den kahlen Kopf des Dichters, hielt ihn für dieSpitze eines Felsen und ließ die Schildkröte auf ihn hinabfallen. So starbAeschylus, erschlagen vom Gehäuse der Schildkröte (Plin. H. n. 1,10).

Dies war allerdings kein Zufall, denn Aeschylus war nicht auf dasFeld gegangen, um dort zu sterben, sondern im Gegenteil, um dem Tod zuentrinnen. Der Falke beabsichtigte auch nicht, das Haupt des Dichters, sonderndie Schale der Schildkröte zu zerschlagen, um deren Fleisch zu fressen.Aber es erfolgte das Gegenteil: Die Schildkröte blieb am Leben,Aeschylus hingegen wurde erschlagen. Uns scheint das alles ein Zufall zusein und noch dazu ein ganz unvermuteter. Die Vorsehung aber, die dasZusammentreffen der Ursachen überschaut, wollte damit ein Werk der Ge-rechtigkeit vollziehen, das den Aberglauben dieses Mannes bestrafen soll-te.

Ebenso ist auch das Schicksal des ägyptischen Josef in seiner Mannig-faltigkeit und wechselnden Gunst höchst wunderbar. Seine Brüder hat-ten ihn verkauft, um ihn zu verderben. Aber wie sehr waren sie er-staunt, ihn in Ägypten als Statthalter des Königs wiederzufinden. Ingroßer Angst zitterten sie vor seiner Rache. Er aber beruhigte sie und sprach:„Nicht so sehr durch euren Anschlag, als durch die göttliche Vorsehungward ich hierhergesandt; Böses hattet ihr im Sinn, aber Gott hat eszum Guten gewendet!“ (Gen 50,15.21).

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Siehe, mein Theotimus, was die Welt Zufall oder unvermutetes Ereig-nis nennt, das nannte Josef eine Fügung der göttlichen Vorsehung, diealle Dinge ordnet und in ihren Dienst stellt.

So verhält es sich mit allem, was auf Erden ist, Mißgeburten nichtausgenommen. Ihr Dasein erhöht die Hochschätzung für alles Vollendeteund Vollkommene, erregt Bewunderung und führt zu guten Gedanken. Siesind in der Welt gleich den Schatten auf einem Gemälde, die ihm mehrLeben und Tiefe verleihen.

4. KapitelDie übernatürliche VDie übernatürliche VDie übernatürliche VDie übernatürliche VDie übernatürliche Vorsehung gegenüber denorsehung gegenüber denorsehung gegenüber denorsehung gegenüber denorsehung gegenüber den

vernunfvernunfvernunfvernunfvernunftbegabten Geschöpfen.tbegabten Geschöpfen.tbegabten Geschöpfen.tbegabten Geschöpfen.tbegabten Geschöpfen.1. Alles, was Gott gewirkt hat, ist für das Heil der Engel und Men-

schen bestimmt.Das ist nun in dieser Hinsicht die Ordnung seiner Vorsehung, soweit

wir sie an der Hand der Heiligen Schrift und aus den Lehren der Väterzu erkennen und mit unseren beschränkten Fähigkeiten zu beschreibenvermögen.

Von Ewigkeit her erkannte Gott, daß es in seiner Macht steht, zahl-lose Geschöpfe verschiedener Eigenschaften und Vollkommenheiten zuerschaffen, denen er sich mitteilen könnte. Er erwog nun, daß unter allenMöglichkeiten, sich mitzuteilen, es keine so innige und erhabene gäbe,als sich so mit einer geschaffenen Natur zu vereinigen, daß diese förm-lich auf die Gottheit gepfropft und ihr einverleibt und so mit ihr eineeinzige Person würde.

Daher beschloß die göttliche Güte, die von selber und durch sichselbst zur Mitteilung drängt, eine solche Vereinigung mit einem Ge-schöpf einzugehen. Wie von Ewigkeit her in wesenhafter Mitteilungder Vater seine unendliche und unteilbare Gottheit dem Sohn durchZeugung mitteilt und Vater und Sohn ihre eigene und einzige Gottheitdem Heiligen Geist mitteilen, der von ihnen ausgeht, so wollte Gott auch,daß seine erhabene Güte einem Geschöpf in ganz vollkommener Weisemitgeteilt würde. Unter Beibehaltung der Naturen, der göttlichen undgeschöpflichen, samt deren Eigenschaften, sollten beide so innig mitein-ander verbunden werden, daß sie nur eine einzige Person bildeten.

2. Unter allen Geschöpfen, denen Gottes erhabene Allmacht das Da-sein zu schenken vermöchte, gefiel es ihm, die menschliche Natur zu er-wählen, die denn auch tatsächlich mit der Person des Gottessohnes verei-

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nigt wurde. So wurde sie zur erhabenen, unsagbaren Ehre der personhaftenVereinigung mit der göttlichen Majestät bestimmt und damit zum erhaben-sten Besitz der Schätze ihrer unendlichen Herrlichkeit bis in alle Ewig-keit.

3. Da nun Gott der hochheiligen Menschheit unseres Erlösers dieseAuszeichnung zugedacht hatte, so beschloß er, die Mitteilung seinerGüte nicht auf die Person seines vielgeliebten Sohnes allein zu beschrän-ken, sondern um seinetwillen sie auf viele andere Geschöpfe ausströmenzu lassen.

Aus der Masse der zahllos möglichen Geschöpfe, die er hervorbringenkonnte, wählte und schuf er die Engel und Menschen gleichsam dazu,seinem Sohn Gesellschaft zu leisten, seine Gnade und seine Herrlichkeitzu teilen und ihn in alle Ewigkeit anzubeten und zu preisen.

4. Gott sah nun verschiedene Möglichkeiten, die Menschheit seinesSohnes zu schaffen, so daß er ein wirklicher Mensch würde. Er konnteLeib und Seele aus dem Nichts erschaffen; er konnte den Leib aus einemfrüher bestehenden Stoff bilden, wie es bei Adam und Eva geschah; erkonnte ihn auf dem gewöhnlichen Weg der Zeugung durch Mann undFrau zur Welt kommen lassen.

Schließlich sah Gott, daß sein Sohn auch auf dem Weg einer außer-gewöhnlichen Zeugung durch eine Frau ohne Mann Mensch werdenkonnte, und er beschloß, daß es auf diese Weise geschehen sollte. Ausallen Frauen aber, die er dazu auserwählen konnte, erkor er die hochge-benedeite Jungfrau, Unsere liebe Frau, durch die unser Erlöser nicht nurMensch, sondern ein Glied des menschlichen Geschlechtes werden sollte.

5. Außerdem beschloß die Vorsehung Gottes, alle übrigen Dinge, na-türliche wie übernatürliche, Unseres Herrn wegen ins Dasein zu rufen,damit Menschen und Engel ihm dienen und so Teilhaber seiner Herr-lichkeit werden könnten. Obgleich Gott Engel und Menschen mit frei-em Willen erschaffen wollte, mit der Freiheit, das Gute oder das Bösezu wählen, so erschuf er sie gleichwohl in ursprünglicher Gerechtigkeit,gleichsam zum Zeugnis, daß seine Güte sie für das Gute und für dieHerrlichkeit bestimmt habe. Diese Gerechtigkeit bestand in einer wonne-vollen Liebe, die sie zur ewigen Glückseligkeit bereit machte, hinlenkteund hinführte.

6. Weil aber die allerhöchste Weisheit beschlossen hatte, diese Liebeso mit dem Willen der Geschöpfe zu verbinden, daß die Liebe demWillen nicht Gewalt antun, sondern volle Freiheit lassen sollte, sah er

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auch voraus, daß ein Teil der Engel, allerdings ein geringerer Teil, dieseLiebe freiwillig preisgeben, und infolgedessen ihre Herrlichkeit verlierenwürde.

Die Sünde der Engel konnte nur ein ausdrücklicher Bosheitsakt sein,ohne vorhergegangene Versuchung und ohne einen anderen milderndenUmstand. Außerdem sah Gott voraus, daß der größere Teil der Engeltreu im Dienste des Heilands bleiben würde. Daher wollte er, der in derErschaffung der Engel seine Barmherzigkeit überreich verherrlicht hat-te, nun auch seine Gerechtigkeit verherrlichen und beschloß deshalb imIngrimm seines gerechten Zorns, die unglückselige Schar dieser Treulo-sen auf ewig zu verstoßen, sie, die in der Vermessenheit ihres Aufruhrsihn so schändlich verlassen hatten.

7. Ebenso sah Gott voraus, daß der erste Mensch seine Freiheit miß-brauchen, die Gnade und damit auch die Herrlichkeit verlieren würde. Ge-gen den Menschen wollte aber Gott nicht mit gleicher Strenge wie gegendie gefallenen Engel vorgehen. Er hatte doch die menschliche Natur er-koren, aus ihr ein Wesen mit seiner Gottheit aufs innigste zu vereinen.Er sah ihre Schwäche, einem Wind gleich, der da weht und nicht wieder-kehrt (Ps 78,39), also im Wehen vergeht.

Er zog auch in Betracht die Überlistung des ersten Menschen durchSatan und die Größe der Versuchung, der er erlag. Er sah, daß dasganze Menschengeschlecht durch die Schuld eines Einzigen dem Verderbengeweiht war. So erbarmte er sich unserer Natur und beschloß, ihr Ver-zeihung zu gewähren.

8. Damit aber die Milde seines Erbarmens nicht des Glanzes seinerGerechtigkeit entbehrte, beschloß er die Rettung des Menschen auf demWeg eines gestrengen Loskaufes. Dies konnte nur durch seinen Sohn ge-schehen. Daher sollte dieser die Menschen erlösen, und nicht nur durcheine Tat der Liebe – obwohl eine solche hinreichend gewesen wäre, zahl-lose Millionen Welten zu erlösen, sondern durch ein ganzes Lebenvoll Liebe und Leid bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8). Ersollte Teilnehmer unserer Armseligkeit werden, um uns zu Teilhabern sei-ner Herrlichkeit zu erheben.

So hat Gott die Reichtümer seiner Güte durch die Erlösung geoffenbart(Röm 2,4; 9,23), die reichlich, übervoll, überfließend, ganz herrlich undübergroß uns alle notwendigen Mittel erwarb und gleichsam wiederer-oberte, damit wir zur Herrlichkeit gelangen, so daß keiner sich je be-klagen könnte, daß die göttliche Barmherzigkeit ihm fehlte.

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5. KapitelDie himmlische VDie himmlische VDie himmlische VDie himmlische VDie himmlische Vorsehung hat den Menschen eineorsehung hat den Menschen eineorsehung hat den Menschen eineorsehung hat den Menschen eineorsehung hat den Menschen eine

überreiche Erlösung geschenkt.überreiche Erlösung geschenkt.überreiche Erlösung geschenkt.überreiche Erlösung geschenkt.überreiche Erlösung geschenkt.

1. Wenn wir sagen, Theotimus, Gott habe dies zuerst und jenes nachhergewollt und so eine gewisse Ordnung in seinen Willensakten eingehalten,so ist dies in dem Sinn zu verstehen, wie wir ihn in einem früheren Kapi-tel erklärt haben (s. Kap. 2). Das heißt also: Obwohl alles Erkennen undWollen Gottes sich in einem einzigen und ganz einfachen Akt vollzieht, soist darin doch der Verschiedenheit der Dinge, deren Rangordnung undAbhängigkeit voneinander Rechnung getragen, so, als ob es im Erkennenund Wollen Gottes verschiedene Akte gegeben hätte.

2. Zu einem sinnvollen Willen gehört es, beim Wollen mehrererGegenstände den vorzugsweise und vor allen anderen zu lieben, der ammeisten liebenswert ist. Daraus folgt notwendigerweise, daß die göttlicheVorsehung beim Entwurf ihres ewigen Schöpfungsplanes unseren Erlöserals den ihrer Liebe würdigsten Gegenstand zuerst und vor allem wollte undliebte, und nach ihm, der Ordnung gemäß, alle übrigen Geschöpfe, wobeisich hier das Maß der Liebe nach dem Maß ihrer Bestimmung für seinenDienst, seine Ehre und Verherrlichung richtete.

Alles ward daher für diesen göttlichen Menschen geschaffen. Des-halb wurde er auch der „Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15)genannt, den Gottes Majestät „im Anbeginn ihrer Wege“ besaß, noch ehesie einem Geschöpf Dasein verliehen hatte (Spr 8,22). „Er ward im An-fang und vor allen Zeiten“ (Sir 24,9), „denn in ihm wurde alles erschaf-fen... er ist vor allem und alles hat in ihm Bestand; er ist das Haupt derKirche und hat in allem und überall den Vorrang“ (Kol 1, 16.18).

Man pflanzt einen Weinstock nur der Frucht wegen. Die Frucht ist alsodas Ersterwünschte und -erstrebte, wenngleich Blätter und Blüten ihrvorausgehen. So war auch der Heiland der Erste in Gottes heiligenAbsichten und in der ewigen Planung, nach der die göttliche Vorsehungdie Geschöpfe hervorbringen wollte.

Dieser ersehnenswerten Frucht wegen wurde der Weinberg des Welt-alls gepflanzt und die Folge der Geschlechter bestimmt, die gleich Blät-tern und Blüten ihm vorausgehen sollten als geeignete Vorläufer und Vor-bereitung für jene Frucht, die die Braut im Hohelied lobpreist und derensüßer Saft Gott und Menschen erfreut (Hld 1,13, Ri 9,13).

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3. Wer, mein Theotimus, könnte daher noch an der unerschöpflichenFülle der Heilsmittel zweifeln, da wir ja einen so erhabenen Heilandbesitzen, im Hinblick auf den wir erschaffen und durch dessen Verdienstewir erlöst wurden? Denn er starb für alle, weil alle tot waren (2 Kor 5,14,15). Sein Erbarmen, die Menschheit zu erlösen, war mächtiger, alsdas Gift der Sünde Adams wirksam war, sie zu verderben. Gottes Barmher-zigkeit wurde durch die Sünde Adams nicht besiegt – im Gegenteil! Siewurde nur um so mehr herausgefordert und in die Schranken gerufen.

Der Anblick ihrer Gegnerin (der Sünde) entfachte in ihr einen be-seligenden und liebestrunkenen Widerspruch und Kampfgeist. Sie er-neuerte förmlich und riß sozusagen all ihre Kräfte zusammen, um denSieg über die Gegnerin davonzutragen, und hat dort die Gnade über-fließen lassen, wo die Bosheit nur zu reichlich floß (Röm 5,20), weshalbauch die Kirche in heiliger, überschwenglicher Bewunderung am Kar-samstag ausruft: „O Sünde Adams, wahrlich notwendig, um durch JesuTod getilgt zu werden! O glückselige Schuld, die es verdiente, einen solchenund so großen Erlöser zu erhalten!“

Mit vollem Recht, Theotimus, können wir daher mit dem alten Grie-chen sagen: „Wir wären verloren, wären wir nicht verloren gewesen.“ Un-ser Verlust brachte Gewinn, denn die menschliche Natur hat in der Tatmehr Gnade durch die Erlösung des göttlichen Heilands empfangen, als siedurch Adams Unschuld, wäre er in ihr geblieben, je hätte erhalten können.

4. Wohl sind Krankheiten, Tod, Leiden, Empörung der Sinne und an-dere Übel tiefe Spuren der Strenge, die die göttliche Vorsehung inmittenihrer gnadenvollen Barmherzigkeit zurücklassen wollte. Doch findet diealles überragende himmlische Liebe Gefallen daran, diese Drangsale jenen,die sie lieben, zu ihrem Besten zu wenden (Röm 8,28). Sie läßt aus LeidGeduld erstehen, aus Todesgewißheit Weltüberwindung und aus dem An-sturm der Begierlichkeit Tausende von Siegen.

Wenn der Regenbogen den Dornstrauch Aspalathus berührt, macht erihn duftender als Lilien. Ebenso macht auch die Erlösung des göttlichenHeilands, wenn sie unsere Natur berührt, diese weit wertvoller und lie-benswerter, als die Unschuld im Urzustand gewesen wäre. „Im Himmelwird mehr Freude sein über einen Sünder, der Buße tut, als über 99Gerechte, die der Buße nicht bedürfen“ (Lk 15,7). So ist der Stand derErlösung hundertmal mehr wert als der Stand der Unschuld.

Besprengt mit dem Blut des göttlichen Erlösers mittels des Kreuzes-opfers, wurden wir unvergleichlich leuchtender weiß als durch den

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Schnee der Unschuld (Ps 51,9). Gleich Naaman gingen wir reiner undsauberer aus dem Fluß des Heiles hervor (2 Kön 5,14), als wenn wir nieaussätzig gewesen wären.

So sollte die göttliche Majestät, wie sie es uns befohlen hat, nicht vomBösen überwunden werden, sondern sie sollte vielmehr das Böse durchdas Gute überwinden (Röm 12,21). Gleich einem milden und heiligenÖl sollte ihre Barmherzigkeit über dem Gericht stehen (Jak 2,13) undihre Erbarmungen all ihre Werke überragen (Ps 145,9).

6. KapitelEinige besondere GnadenerEinige besondere GnadenerEinige besondere GnadenerEinige besondere GnadenerEinige besondere Gnadenerweise der Vweise der Vweise der Vweise der Vweise der Vorsehungorsehungorsehungorsehungorsehung

in der Erlösung der Menschen.in der Erlösung der Menschen.in der Erlösung der Menschen.in der Erlösung der Menschen.in der Erlösung der Menschen.

1. Zwar offenbart Gott ganz wunderbar den unfaßlichen Reichtumseiner Allmacht in der großen Mannigfaltigkeit der Dinge, die in derNatur zu sehen sind; jedoch weit herrlicher läßt er die unendlichen Schätzeseiner Güte in der Mannigfaltigkeit der Gnadengaben aufscheinen. Esgenügte ihm nämlich nicht, Theotimus, im Übermaß seiner Barmher-zigkeit dem Menschengeschlecht eine allgemeine Erlösung angedeihen zu las-sen, durch die jeder gerettet werden kann. Nein, er wendet sie auch auf soverschiedene Weise den Menschen zu, daß seine Freigebigkeit in dieserMannigfaltigkeit erglänzt und diese Mannigfaltigkeit wieder seiner Frei-gebigkeit Schönheit verleiht.

2. Vor allem bedachte er seine hochheilige Mutter mit einem Gnaden-vorzug, wie er der Liebe eines allweisen, allmächtigen und allgütigenSohnes entsprach, der sich eine Mutter nach seinem Wohlgefallen berei-ten wollte. Daher wollte er, daß seine Erlösung ihr zugewendet würde gleicheinem vorbeugenden Heilmittel, damit der Strom der Sünde, der seineWogen von Geschlecht zu Geschlecht fortwälzte, sie nicht erreichte. Sowurde sie in ganz erhabener Weise erlöst. Als die reißenden Wasser derErbsünde ihre unseligen Fluten über die Empfängnis Unserer Lieben Fraumit der gleichen Wildheit wie über alle Töchter Adams zu ergießen droh-ten, konnten sie doch nicht weiter; sie mußten still stehen wie ehedemder Jordan zur Zeit Josuas (Jos 3,16.17) und aus dem gleichen Grund.Der Jordan hielt seine Wogen zurück aus Ehrfurcht vor der Bundeslade,die durchziehen sollte. Ebenso hielt die Erbsünde das Weiterströmenihrer Fluten auf aus Ehrfurcht und Furcht vor der Gegenwart des wahrhaf-tigen Tabernakels des ewigen Bundes.

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So hielt Gott von seiner glorreichen Mutter alle Knechtschaft fern (Ps126,1) und beschenkte sie mit der Glückseligkeit zweier Zustände dermenschlichen Natur. Sie besaß die vom ersten Adam verlorene Unschuldund erfreute sich in erhabenster Weise der Erlösung, die der zweite Adamihr erwarb. Gleich einem erlesenen Garten, der die Frucht des Lebenshervorbringen sollte, ward sie dann übersät mit Blüten aller Vollkommen-heit. Der Sohn der ewigen Liebe schmückte seine Mutter mit goldenemGewand, verbrämt in mannigfacher Schönheit, damit sie die Königin zuseiner Rechten, die Erste der Auserwählten sei (Ps 45,10), im seligenBesitz der Wonne der „göttlichen Rechten“ (Ps 16,11).

So wurde also diese hochgebenedeite, ihrem Sohn ganz vorbehalteneMutter nicht nur von der Verdammnis, sondern auch von jeder Gefahrder Verdammnis erlöst. Er sicherte ihr auch noch die Gnade und dieFülle der Gnaden, so daß sie einer leuchtenden Morgenröte glich, die vonihrem Anbruch an dauernd an Klarheit wächst bis zum vollen Tag (Hld 6,10;Spr 4,18).

O wunderbare Erlösung, Meisterwerk des Erlösers und erste allerErlösungen, durch die des Sohnes kindlich liebendes Herz seiner Muttermit Segnungen seiner Liebe zuvorkam (Ps 21,4) und sie nicht nur gleichden Engeln vor der Sünde, sondern auch vor jeder Gefahr zu sündigen,vor allen Ablenkungen und Hemmungen in der Übung der heiligenLiebe bewahrte! Daher beteuert er auch, daß unter allen seinen Auser-wählten diese Mutter seine einzigartige „Taube“, seine ganz vollkom-mene, seine ganz unvergleichlich Inniggeliebte sei (Hld 6,8; 7,6).

3. Gott plante dann noch besondere Gunstbezeugungen für einige weni-ge Menschen, die er vor der Gefahr der Verdammnis bewahren wollte. Esist gewiß von Johannes dem Täufer und wahrscheinlich von Jeremia undnoch einigen anderen. Die göttliche Vorsehung suchte sie schon im Mutter-leib heim und verlieh ihnen schon von da ab die Gnadenbeharrlichkeit,damit sie in der göttlichen Liebe fest blieben, wenngleich sie noch Hem-mungen und läßlichen Sünden unterworfen waren, die wohl der Vollkommen-heit der Liebe, nicht aber dieser selbst entgegen sind.

Solche Seelen sind im Vergleich zu anderen Königinnen ähnlich, fürimmer gekrönt mit heiliger Liebe. Sie kommen in der Liebe des Heilandsgleich nach seiner hochgebenedeiten Mutter, der Königin über alle Kö-niginnen; Königin, weil sie nicht nur mit der Liebe, sondern mit derVollkommenheit der Liebe gekrönt ist und, was noch mehr ist, gekrönt

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von ihrem eigenen Sohn, dem erhabensten Gegenstand der Liebe, daKinder doch Kronen ihrer Väter und Mütter sind (Spr 17,6).

4. Andere Seelen wieder sollten nach Gottes Zulassung der Gefahrausgesetzt sein, zwar nicht das Heil, aber seine Liebe für eine Zeitspannezu verlieren. Gott ließ sogar zu, daß sie seine Liebe wirklich verloren; ersicherte ihnen nicht die Liebe für ihr ganzes Leben zu, sondern nur fürdas Ende und eine gewisse Zeit zuvor. Dazu gehörten die Apostel, derProphet David, Magdalena und viele andere, die nicht immer imBesitz der göttlichen Liebe waren, jedoch einmal aufrichtig bekehrt (Lk 22,32),bis zu ihrem Tod in der Gnade gefestigt blieben. Sie waren zwar nochUnvollkommenheiten unterworfen, aber doch vor jeder Todsünde be-wahrt und daher auch vor der Gefahr, die Liebe zu verlieren.

Sie glichen heiligen Freundinnen des himmlischen Bräutigams, ge-schmückt mit dem hochzeitlichen Gewand seiner hochheiligen Liebe. Ge-krönt jedoch waren sie nicht, denn die Krone ist ein Schmuck, der nurdem Haupt als dem ersten und vorzüglichsten Teil des Menschen ge-bührt. Da nun der erste Teil des Lebens bei diesen Seelen der Liebezu irdischen Dingen unterworfen war, können sie nicht die Krone derhimmlischen Liebe tragen, wohl aber das hochzeitliche Gewand, das siezur bräutlichen Verbindung mit dem himmlischen Bräutigam und zurTeilnahme an seiner himmlischen Wonne auf ewig befähigt.

7. KapitelDie MannigfaltigkDie MannigfaltigkDie MannigfaltigkDie MannigfaltigkDie Mannigfaltigkeit der Gnadengaben.eit der Gnadengaben.eit der Gnadengaben.eit der Gnadengaben.eit der Gnadengaben.

WWWWWunderbare Offenbarunderbare Offenbarunderbare Offenbarunderbare Offenbarunderbare Offenbarung der göttlichen Vung der göttlichen Vung der göttlichen Vung der göttlichen Vung der göttlichen Vorsehung.orsehung.orsehung.orsehung.orsehung.

1. So hatte also die ewige Vorsehung der Königin aller Königinnen undeinzigartig vollkommenen Mutter der schönen Liebe (Sir 24,24) eineunvergleichliche Gunst bezeugt.

Sie hatte auch noch besondere Gnadengaben für andere Seelen bereit.Dann aber ergoß die höchste Güte eine Fülle von Gnaden und Segnun-

gen über das ganze Menschengeschlecht und über die Engel, die allen zu-gute kommen sollte, gleich einem Regen, der Gute und Böse beschenkt(Mt 5,45), gleich einem Licht, das jeden erleuchtet, der in diese Weltkommt (Joh 1,9), oder gleich dem Samen, der nicht nur auf gutes Erd-reich fällt, sondern auch mitten auf den Weg, ja in Dornen und auf steini-gen Grund (Mt 3,3–8). Niemand kann sich daher vor seinem Erlöserentschuldigen (Röm 1,20), wenn er diese überreiche Erlösung nicht zuseinem Heil verwendet.

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2. So hat sich, Theotimus, diese reiche Fülle von Gnaden auf diegesamte Menschennatur ergossen. Wir sind uns alle darin gleich, daßeine reiche Fülle von Segnungen uns allen angeboten wird. Jedoch ist dieVielfalt der Gnadengaben andererseits wieder so groß, daß sich nichtsagen läßt, was wunderbarer ist: die Größe all der Gnaden in solcherMannigfaltigkeit oder die Mannigfaltigkeit in solcher Größe.

Wer könnte bestreiten, daß den Christen größere und wirksamere Heils-mittel zur Verfügung stehen als den Heiden? Oder, daß manche Völkeroder Städte mit Seelenhirten gesegnet sind, die kraft ihrer Fähigkeitenreichlichere Früchte erzielen als andere an anderen Orten?

Man kann nicht leugnen, daß diese äußerlichen Mittel eine beson-dere Gunst der göttlichen Vorsehung darstellen; man kann auch nichtdaran zweifeln, daß sie zum Heil und zur Vollkommenheit der Seelenbeitragen. Es wäre Undankbarkeit gegen die Güte Gottes, es stünde auchim Widerspruch mit der Erfahrung, die zeigt, daß, wo äußere Mittelreichlich vorhanden sind, die inneren Gnaden größere und tiefergehendeWirkungen erzielen.

Man wird niemals zwei Menschen treffen, die sich an natürlichenGaben vollkommen ähnlich sind; ebenso findet man auch nicht zweiMenschen, die sich an übernatürlichen Gaben vollkommen gleichen.

3. Die Engel empfingen die Gnade gemäß ihrer verschiedenen Natur,wie der hl. Augustinus (St.G. 11,9.16; 12,9) und der hl. Thomas (I, 62,6)versichern. Nun aber sind alle Engel von verschiedener Art, oder wenig-stens hat jeder besondere Eigenschaften, da sie alle voneinander verschie-den sind. Soviel Engel es gibt, so verschieden sind daher ihre Gnaden-gaben.

4. Bei den Menschen richten sich zwar die Gnadengaben nicht nach derVerschiedenheit der Natur, jedoch gefällt es der Güte unseres Gottes, ihreFreude, ja sozusagen ihr Ergötzen im Hervorbringen von Gnaden zufinden; Gnaden von unendlicher Mannigfaltigkeit, die durch ihre Viel-falt die Erlösung und göttliche Barmherzigkeit in ihrer leuchtenden Schön-heit aufscheinen lassen. Deshalb singt auch die Kirche am Fest einesjeden heiligen Bekenners und Bischofs: „Keiner war gefunden, der ihmgleich war“ (Sir 44,20).

Wie im Himmel „niemand den neuen Namen weiß, als nur der, der ihnempfängt“ (Offb 2,17), wie jeder Heilige einen neuen, nur für ihn alleinbestimmten Namen erhält, der seinen neuen Zustand, der Stufe seiner

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Glorie entspricht, so empfängt auch schon auf Erden jeder Mensch eineihm eigene Gnade, so daß alle Gnaden unter sich verschieden sind.

Der Herr vergleicht daher seine Gnade mit Perlen (Mt 13,45), weil jedePerle, wie Plinius (H.n.1,9) sagt, so einzig in ihren Eigenschaften ist, daß man niezwei findet, die einander vollkommen gleichen. Und so wie ein Sternvom anderen an Klarheit verschieden ist (1 Kor 15,41), so werden auchdie Menschen im Stand der Glorie voneinander ganz verschieden sein,ein offenkundiges Zeichen, daß sie es schon vorher im Zustand der Gnadewaren.

Diese Mannigfaltigkeit in der Gnade oder diese Gnade in der Mannig-faltigkeit bewirkt eine überaus heilige Schönheit und eine wundersameliebliche Harmonie, die das ganze himmlische Jerusalem mit Wonneerfüllt.

5. Hüten wir uns aber, zu untersuchen, warum die höchste Weisheitlieber diesem als einem anderen besondere Gnaden spendete oder warumsich Gott an einem Ort freigebiger zeigt als an einem anderen. Nein,mein Theotimus, erlaube dir nie diese Art von Neugierde! Jeder von unshat hinreichend, ja überschwenglich alles Nötige, um sein Heil zu er-langen. Welchen Grund könnte man also haben, sich zu beklagen, wennes dem Allerhöchsten gefällt, seine Gnaden dem einen in reichlicheremMaß als dem anderen zu verleihen?

Würde man nicht lachen über einen, dem es einfiele zu fragen, warumGott die Melone größer als die Erdbeere, die Lilie größer als das Veil-chen schuf? Warum der Rosmarinstrauch nicht eine Rose, die Nelke nichteine Ringelblume ist, warum der Pfau schöner ist als die Fledermaus,warum die Feige süß, die Zitrone säuerlich ist? Würde man ihm nichtsagen: Du armer Mensch, die Schönheit der Welt erfordert ja gerade dieMannigfaltigkeit. Deshalb müssen die einzelnen Dinge mit verschiede-nen und ungleichen Vollkommenheiten bedacht sein und keines darf demanderen gleichen; es muß kleine und große, süße und saure, schönere undminder schöne Dinge geben.

Bei den übernatürlichen Gnaden ist es nicht anders. Jeder hat seineeigene Gnade, „der eine so, der andere so“ (1 Kor 7,7), spricht der Heili-ge Geist. Es wäre sträfliche Ehrfurchtslosigkeit, wollte man erforschen,warum Petrus nicht die Gnade des Paulus erhielt und Paulus nicht dieGnade des Petrus; warum Antonius nicht Athanasius und Athanasiusnicht Hieronymus war. Die Antwort auf solche Fragen könnte nur lauten:Weil die Kirche einem Garten vergleichbar ist, geschmückt mit der Lieb-

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lichkeit unzähliger Blumen, die sich alle in Größe, Farbe, Duft und Schön-heit voneinander unterscheiden; doch hat jede ihre Kostbarkeit, ihreAnmut, ihre Farbenpracht und alle zusammen bilden durch die Vereini-gung ihrer Mannigfaltigkeit die Vollendung einer höchst ansprechendenSchönheit.

8. KapitelWie sehr Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben.Wie sehr Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben.Wie sehr Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben.Wie sehr Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben.Wie sehr Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben.

1. Obwohl die Erlösung jeder Seele anders zugewendet wird, so istdoch die Liebe das Universalmittel unseres Heiles; allem muß sie beige-mischt sein, nichts ist heilbringend ohne sie (s. Gottesl. 10.Buch, 1.Kap.u. 11.Buch).

Der Cherub hielt am Eingang zum Paradies ein flammendes Schwertin der Hand, zum Zeichen, daß niemand in das himmlische Paradies ein-dringen könne, der nicht vom Schwert der Liebe durchbohrt sei (Gen3,24). – Deshalb verlangt unser gütiger Jesus, der uns mit seinem kostba-ren Blut erkauft hat, mit unendlicher Sehnsucht danach, daß wir ihnlieben und so ewig selig werden; und er verlangt danach, uns seligzu sehen, auf daß wir ihn ewig lieben. Zielt doch seine Liebe nach unse-rem Heil, unser Heil aber nach seiner Liebe.

2. „Höre,“ spricht er, „ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu sen-den, und was will ich anderes, als daß es brenne?“ (Lk 12,49). Und umuns die Glut dieses Verlangens noch mehr zu offenbaren, trägt er unsdiese Liebe mit folgenden wunderbaren Worten auf: „Du sollst denHerrn deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzenSeele, aus deinem ganzen Gemüt und aus allen deinen Kräften. Dies istdas erste und größte Gebot“ (Mt 22,37). Wahrhaftiger Gott, Theotimus,mit welcher Liebe verlangt doch das göttliche Herz nach unserer Liebe!

Wäre es nicht schon genug gewesen, wenn Gott uns nur erlaubt hätte, ihnzu lieben, so wie Laban dem Jakob erlaubte, seine schöne Rahel zu liebenund sie durch seinen Dienst bei ihm zu gewinnen? Aber nein, das genügteihm nicht. Laut verkündet er seine leidenschaftliche Liebe zu uns und be-fiehlt uns, ihn nach unserem ganzen Vermögen zu lieben, damit weder derAbgrund zwischen seiner Majestät und unserer Armseligkeit, noch irgendein anderer Vorwand uns abhalte, ihn zu lieben.

Dadurch bezeugt Gott aber auch, Theotimus, daß er uns die natürlicheNeigung, ihn zu lieben, nicht sinnlos beließ. Sie sollte nicht untätig bleiben;

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Gott drängt durch dieses allgemeine Gebot darauf, daß diese Neigungihre Verwirklichung finde. Damit aber dieses Gebot befolgt werden könne,unterläßt es Gott bei keinem Menschen, ihm alle zu diesem Zweck erfor-derlichen Mittel in reichem Maß zur Verfügung zu stellen.

3. Die Sonne überströmt alles mit ihrer belebenden Wärme und spendetjedem die nötige Kraft, Früchte zu bringen, so als liebte sie alle Dinge aufErden. Genau so belebt auch die göttliche Güte alle Seelen und ermutigtdie Herzen zur Liebe. Nicht einer kann ihrer Glut entrinnen (Ps 19,7).„Die ewige Weisheit“ spricht Salomo, „predigt öffentlich; sie läßt ihre Stim-me auf den Plätzen erschallen, sie ruft und ruft mit lauter Stimme vorallem Volk; sie läßt sich an den Toren der Stadt vernehmen und spricht also:Wie lange, ihr Kinder, wollt ihr das Kindischsein lieben? Wie lange wollendie Unverständigen verlangen, was ihnen schadet, und die Toren die Weis-heit hassen? Bekehrt euch und wendet euch auf diese Warnung hin mirzu; seht, ich werde euch meinen Geist offenbaren und meine Worte euchkundtun“ (Spr 1,20.23).

Und dieselbe göttliche Weisheit spricht durch den Mund des ProphetenEzechiel (33,10.11): „Keiner sage, ich bin in Sünden verstrickt, wie kannich wieder aufleben? Denn so spricht der Herr: Ich lebe und so wahr ichlebe, will ich den Tod des Sünders nicht, sondern daß er von seinem Wegumkehre und lebe.“ Leben heißt aber bei Gott nichts anderes als lieben.„Wer nicht liebt, der bleibt im Tod“ (1 Joh 3,14). Siehst du also, Theotimus,ob Gott danach verlangt, daß wir ihn lieben?

Aber noch nicht genug, daß er sein sehnsüchtiges Verlangen nach Lie-be öffentlich verkündet, damit jeder Mensch an seiner liebevollen Einla-dung teilhaben könne – er geht sogar von Tür zu Tür, klopft an und be-teuert, daß er bei jedem, der ihm auftut, einkehren und Gastmahl mit ihmhalten, jede Art Gnade und Wohlwollen ihm erzeigen wird (Offb 3,20). Wasaber will dies anders heißen, Theotimus, als daß Gott uns nicht nur dienotwendigen und hinreichenden Mittel gewährt, ihn zu lieben und da-durch selig zu werden, sondern vielmehr seine Hilfe in solchem Überflußund mit solch großzügiger Freigebigkeit spendet, wie man sie von derüberreichen Güte, die ihm eigen ist, erwarten muß?

Der große Apostel spricht zum verstockten Sünder: „Mißachtest dudie Reichtümer der Güte, Geduld und Langmut Gottes? Weißt du nicht,daß Gottes Güte dich zur Umkehr bringen will? Aber mit deinem Starr-sinn und deinem unbußfertigen Herzen häufst du dir Zorn auf für denTag des Zorns“ (Röm 2,4.5). – Mein lieber Theotimus, Gott wendet also

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nicht nur hinreichende Mittel an, die verstockten Sünder zu bekehren,sondern er bietet die Reichtümer seiner Güte dazu auf.

Der Apostel stellt hier, wie du siehst, die Reichtümer der göttlichenGüte der gehäuften Bosheit im unbußfertigen Herzen gegenüber. Er sagt,das bösartige Herz sei so reich an Schlechtigkeit, daß es sogar dieReichtümer der göttlichen Güte verachtet, durch die Gott es zur Umkehrbewegen will. Und beachte: der Verstockte verachtet nicht einfach die Reich-tümer der Güte Gottes, sondern die Reichtümer, die zur Umkehr lockenund die man nicht gut verkennen kann.

5. Diese reiche, überschwengliche Fülle von Mitteln, die Gott den Sün-dern reicht, um sie zu seiner Liebe zu bewegen, scheint fast überall in derHeiligen Schrift auf.

Schau doch diesen göttlichen Liebenden an der Tür: er klopft nicht nuran, sondern er verweilt dort, um zu klopfen. Er ruft der Seele zu: „Auf,meine Vielgeliebte, erhebe dich und eile!“ Er legt seine Hand an dasSchloß und versucht, ob er es nicht öffnen könne (Hld 1,10; 5,4). – Wenner auf den Plätzen predigt, dann ist es kein einfaches Predigen, sondernein lautes, ein dauerndes Schreien (Spr 1,20). Wenn er ausruft, mansolle sich bekehren, dann scheint er es nie genug wiederholt zu haben:„Bekehre dich, bekehre dich, tu Buße, kehre zu mir zurück und du wirstleben! Warum sollst du sterben, du Haus Israel?“ (Ez 18,30.32; 33,11).

Nichts also unterläßt dieser göttliche Erlöser, um uns zu offenbaren,daß seine Erbarmungen noch über seine Werke gehen (Ps 145,9), daßseine Barmherzigkeit weiter reicht als seine Gerichte (Jak 2,13), daß seineErlösung überreich (Ps 130,7), seine Liebe unendlich ist; daß er, wie derApostel (1 Tim 2,4) sagt, reich an Erbarmen ist und daher will, daß alleMenschen selig werden und keiner verloren gehe.

9. KapitelWie Gottes ewige Liebe unserem Herzen mit ihrer EingebungWie Gottes ewige Liebe unserem Herzen mit ihrer EingebungWie Gottes ewige Liebe unserem Herzen mit ihrer EingebungWie Gottes ewige Liebe unserem Herzen mit ihrer EingebungWie Gottes ewige Liebe unserem Herzen mit ihrer Eingebung

zuvorkommt, damit wir ihn lieben.zuvorkommt, damit wir ihn lieben.zuvorkommt, damit wir ihn lieben.zuvorkommt, damit wir ihn lieben.zuvorkommt, damit wir ihn lieben.

1. „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, deshalb habe ich dichaus Erbarmen an mich gezogen und abermals will ich dich aufbauen und duwirst aufgebaut werden, Jungfrau Israel!“ (Jer 31,3.4).

Dies sind Worte Gottes. Sie enthalten die Versicherung, daß der Erlö-ser, wenn er in die Welt kommt, ein neues Reich in seiner Kirche errich-

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ten wird, die dann seine jungfräuliche Braut, das wahre geistliche Israelsein soll.

Wie du siehst, Theotimus, hat er uns erlöst nicht etwa irgendwelcherVerdienste von Werken wegen, die wir vollbracht hätten, sondern ausreinem Erbarmen (Tit 3,5). Diese von Ewigkeit her dauernde Liebe hatdie göttliche Vorsehung gedrängt, uns an sich zu ziehen. Hätte der Vateruns nicht „gezogen“, so wären wir niemals zu seinem Sohn, unseremErlöser, und damit auch niemals zum Heil gelangt (Joh 6,44).

2. Aristoteles spricht (Hist. an. 1,1) von gewissen Vögeln, er nenntsie „Apoden“ oder „Fußlose“, deren Beine so kurz und deren Füßeso schwach sind, daß sie sich ihrer nicht bedienen können; es ist, wiewenn sie überhaupt keine hätten. Sinken diese Vögel einmal zur Erdeherab, so bleiben sie dort wie gefangen liegen und sind nicht imstande,sich zum Flug zu erheben. Da sie Beine und Füße nicht gebrauchenkönnen, vermögen sie sich nicht in die Luft zu erheben. Sie kauern amBoden und gehen zugrunde, falls nicht ein günstiger Wind ihrem Unver-mögen zu Hilfe kommt, sie erfaßt und in die Luft hinaufwirbelt, wie er esauch sonst noch mit anderem macht. Wenn sie dann dem Antrieb und demSchwung, den ihnen der Wind gibt, entsprechen und ihre Flügel gebrau-chen, dann hilft ihnen der Wind noch weiter und treibt sie immer mehr zumFlug voran.

3. Mein Theotimus, die Engel sind jenen Vögeln ähnlich, die manwegen ihrer Schönheit „Paradiesvögel“ nennt und die man noch nieauf der Erde, es sei denn tot, gesehen hat. Kaum hatten jene himmlischenGeister die göttliche Liebe preisgegeben und sich der Eigenliebe überlas-sen, als sie auch schon wie tot hinabstürzten und in der Hölle begrabenwurden. Denn so wie der Tod die Menschen auf ewig von diesemsterblichen Leben trennt, so trennte der Sturz die Engel auf ewig vomewigen Leben.

4. Wir Menschen aber gleichen den Apoden. Wenn uns das Unheilwiderfährt, daß wir Gott beleidigen und von den Höhen heiliger Gottes-liebe auf die Erde herabsinken, um Geschöpfen anzuhangen, so sterbenwir zwar, aber nicht eines gänzlichen Todes. Es bleibt uns noch einwenig Bewegungsfähigkeit und dazu noch Beine und Füße, d. h. einigeschwache Affekte, durch die wir kleine Versuche zustande bringen, Gottzu lieben. Aber das alles ist so schwach, daß wir unser Herz weder vonder Sünde losreißen, noch uns zur heiligen Liebe aufschwingen können,die wir Erbärmliche treulos und eigenwillig aufgegeben haben.

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5. Wir verdienten gewiß, von Gott verlassen zu bleiben, da wir unsso treulos von ihm abwandten. Seine ewige Liebe gestattet aber seiner Gerech-tigkeit nicht, oft von dieser Strafe Gebrauch zu machen, sondern sie erregtsein Mitleid und drängt ihn, uns aus unserem Unglück herauszuholen.Dies geschieht durch seine heilige Eingebung, die gleich dem günstigenWind, der die Apoden hebt, unsere Herzen mit sanfter Gewalt ergreift underschüttert, unsere Gedanken nach oben lenkt und unsere Empfindun-gen in die Höhen göttlicher Liebe emporhebt.

6. Dieser erste Aufschwung oder Antrieb, den Gott unserem Herzenschenkt, um es zu seinem Wohl anzuspornen, geht zwar in uns vor sich,aber nicht durch uns. Er kommt plötzlich, ohne daß wir auch nur darangedacht hätten oder denken könnten. Aus uns und durch uns sind wirja außerstande, auch nur irgendeinen Gedanken zu unserem Heil zu ha-ben. Unser ganzes Können kommt vielmehr von Gott (2 Kor 3,5), deruns nicht nur liebte, ehe wir waren, sondern auch damit wir wurden undheilig werden sollten (Eph 1,4). Deshalb kommt er uns auch mit denSegnungen seiner väterlichen Güte (Ps 21,4) zuvor, um unser Herz zurReue und Umkehr zu drängen.

Betrachte, Theotimus, den armen Apostelfürsten, wie er in jener trau-rigen Leidensnacht seines Meisters ganz in seine Sünde verstrickt warund so wenig an Reue dachte, als hätte er seinen göttlichen Heiland niegekannt. Gleich einem jener Apoden lag er am Boden und hätte sichniemals mehr erhoben, wenn nicht das Krähen des Hahnes, ein Werkzeugder göttlichen Vorsehung, sein Ohr getroffen und der liebreiche Blickseines Erlösers gleich einem Liebespfeil sein steinernes Herz verwundethätte. So machte er ihn zu einer Quelle reichlichen Wassers, ähnlichdem Felsen, den Mose in der Wüste mit einem Stab berührt hatte (Lk22,55.62).

Betrachte abermals diesen heiligen Apostel, wie er im Kerker schläft, inden Herodes ihn hatte werfen lassen. Mit Ketten gefesselt liegt er alsMärtyrer da. Und doch ist er auch hier ein Symbol für jenen armen Men-schen, der als Gefangener und Sklave Satans in seiner Sünde schläft. Ach,wer wird ihm Rettung bringen? Der Engel steigt vom Himmel herab,stößt diesen großen heiligen Gefangenen in die Seite, weckt ihn und for-dert ihn auf, sich zu erheben (Apg 12,6.7).

7. So kommt auch die heilige Einsprechung gleich einem Engel vomHimmel, berührt das Herz des Sünders und drängt ihn, sich von derSünde zu erheben.

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Ist es also nicht doch wahr, mein lieber Theotimus, daß diese ersteErregung und Erschütterung, die die Seele empfindet, wenn Gott sie durchsein liebendes Zuvorkommen aufweckt, wenn er sie antreibt, die Sünde zulassen und sich zu ihm hinzuwenden, daß also diese Erschütterung undauch das Erwachen in uns, für uns, aber nicht durch uns geschieht? Wirwachen auf, aber nicht von selbst. Göttliches Eingreifen hat uns gewecktund, um uns aufzuwecken, hat er uns geschüttelt und gerüttelt.

„Ich schlief,“ spricht die Braut im Hohelied (5,2), „aber mein Bräuti-gam, d. h. mein Herz wachte. Siehe, hier ist er, er weckt mich auf, er ruftmich mit dem Namen unserer Liebe, an seiner Stimme erkenne ich, daßer es ist.“

Plötzlich und unvermutet ruft und weckt uns Gott auf durch die Kraftseiner heiligsten Eingebung. Wir selbst tun bei diesem ersten Anfanghimmlischer Gnaden nichts, sondern empfinden nur die Erschütterung,die Gott, wie der hl. Bernhard sagt, wohl in uns, aber ohne uns wirkt(Von Gnade u. Freiheit 14).

10. KapitelWWWWWir weisen ofir weisen ofir weisen ofir weisen ofir weisen oft die Einsprechung zurück undt die Einsprechung zurück undt die Einsprechung zurück undt die Einsprechung zurück undt die Einsprechung zurück und

verververververweigern Gott unsere Liebe.weigern Gott unsere Liebe.weigern Gott unsere Liebe.weigern Gott unsere Liebe.weigern Gott unsere Liebe.

1. „Wehe dir, Chorazin, wehe dir, Betsaida, denn wären zu Tyrus undSidon die Wunder geschehen, die in dir geschahen, so hätten sie längst inSack und Asche Buße getan.“ Dies sind die Worte des Heilands (Mt11,21).

So höre doch, ich bitte dich, Theotimus: Die Einwohner von Chorazinund Betsaida wurden in der wahren Religion unterwiesen und empfingengroße Gnaden, daß diese selbst Heiden bekehrt hätten, und sie bliebendoch verstockt. Sie wollten diese Gnaden nicht benützen, sondern ver-warfen deren heiliges Licht in einer überaus sträflichen Empörung.

Gewiß, am Tag des Gerichtes werden die Bewohner von Ninive und dieKönigin von Saba gegen die Juden auftreten und sie überführen, daß sieVerdammung verdienen, denn Ninive hat sich von der Abgötterei und demHeidentum auf die Stimme des Propheten Jona bekehrt und Buße getan;die Königin von Saba hat trotz drückender Regierungsgeschäfte die wei-te Reise zu Salomo unternommen, als sie von dessen großer Weisheitvernahm. Sie ließ alles stehen, um ihn zu hören (Mt 12,41.42). Die Judenhingegen blieben verstockten Herzens und widerstanden der ihnen ange-botenen Gnade, obwohl sie die göttliche Weisheit des Heilands der Welt,

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jenes wahren „Salomo“, mit eigenen Ohren hörten, seine Wundertaten miteigenen Augen schauten und seine Wohltaten und Tugenden gleichsam miteigenen Händen greifen konnten.

2. Sieh also wieder, Theotimus: jene, die weniger Antriebe von Gottempfingen, werden zur Buße hingezogen; und jene, die größere Gnadenerhielten, bleiben verstockt; jene, die weniger Ursache haben zu kommen, ge-hen in die Schule der Ewigen Weisheit und jene, die mehr Grund dazuhätten, verharren in ihrem Wahn.

So wird also das Urteil beim letzten Gericht dadurch zustandekommen,daß die Haltung der einen, die trotz gleicher oder größerer Gnadender Barmherzigkeit Gottes ihre Einwilligung versagten, verglichen wirdmit der Haltung der anderen, die mit den gleichen oder weit geringerenGnaden der göttlichen Einsprechung nachkamen und sich entschlossen,Buße zu tun. Dies ist die Meinung aller Kirchenlehrer. Wie könnte mansonst den Unbußfertigen mit Recht ihre Unbußfertigkeit vorwerfen,indem man sie mit jenen vergleicht, die sich bekehrt haben?

Der Herr spricht sich darüber deutlich aus und alle Christen haben esso verstanden, daß beim Jüngsten Gericht die Juden durch einen Vergleichmit den Niniviten verurteilt werden, weil jene viele Gnaden empfingen,aber keine Liebe hegten, viel Hilfe erhielten, aber keine Reue empfan-den, während die Niniviten bei weniger Gnade viel Liebe bezeugten, beiweniger Hilfe ernsthaft Buße taten.

3. Der große hl. Augustinus spricht mit großer Klarheit über dieseWahrheiten (St.G. 12,6.9). Zwar hat er dort mehr die Engel im Auge,läßt aber das gleiche für die Menschen gelten. – Zunächst stellt er im 6.Kap. zwei Menschen einander gegenüber, die an Wert und an allemeinander gleichen und von der gleichen Versuchung geplagt werden. Ernimmt nun an, daß der eine Widerstand leistet und der andere der Ver-suchung nachgibt. Dann zeigt er im 9. Kapitel, daß die Engel alle imStand der Liebe erschaffen wurden, und setzt als wahrscheinlich voraus,daß auch das Maß der Gnade und Liebe in allen gleich war. Und nunstellt er die Frage, wieso die einen im Guten beharrten und so sehrdarin zunahmen, daß sie bis zur Glorie gelangten, die anderen aberdas Gute preisgaben und der Bosheit bis zur Verdammnis erlagen? Erantwortet, man könne nichts anderes dazu sagen, als daß die einen durchdie Gnade des Schöpfers in der keuschen Liebe verharrten, die sie beiihrer Erschaffung empfangen hatten, die anderen aber aus Guten, diesie waren, nur durch ihren eigenen Willen Böse wurden.

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4. Wenn es jedoch wahr ist, was der hl. Thomas überaus schön beweist(I,62,6), daß das Maß der Gnade in den Engeln je nach der Verschieden-heit ihrer natürlichen Gaben auch verschieden ist, dann hätten allerdingsdie Serafim eine unvergleichlich erhabenere Gnade erhalten als die ein-fachen Engel der letzten Ordnung. Wie kam es aber dann, daß einige derSerafim, darunter nach der Meinung der Kirchenväter wahrscheinlichauch der erste von ihnen, gefallen sind, während eine zahllose Mengeanderer Engel niederer Ordnung, daher geringerer Natur und Gnade, sowunderbar und mutig ausharrten?

Woher kam es, daß Luzifer, dieser an Natur und Gnade so erhabeneEngel fiel, hingegen eine große Zahl Engel niederer Ordnung in derTreue beharrten? Gewiß müssen jene, die fest blieben, alles Lob dafürGott geben, der sie in seiner Barmherzigkeit erschuf und im Gutenbewahrte; Luzifer aber und alle seine Anhänger, wem können sie wohlihren Sturz zuschreiben, wenn nicht, wie der hl. Augustinus bemerkt,ihrem eigenen Willen, da sie kraft ihrer Freiheit die göttliche Gnadepreisgaben, die ihnen so liebreich zuvorgekommen war?

„Wie bist du vom Himmel gefallen, o großer Luzifer, der du gleichder Morgenröte in jener unsichtbaren Welt aufgingst“ (Jes 14,12), „vondeinem Ursprung an schon umkleidet mit Liebe, die wie ein schönerMorgen bis in den vollen Tag der ewigen Glorie wachsen sollte!“(Spr 4,18).

Die Gnade hat dir nicht gefehlt, du hattest entsprechend deinem na-türlichen Wesen die herrlichste von allen. Aber du hast der Gnade ge-fehlt. Gott hat dir nicht das Wirken seiner Liebe entzogen. Du aberhast seiner Liebe dein Mitwirken versagt. Niemals hätte dich Gott ver-worfen, hättest nicht du seine Liebe verworfen.

5. O unendlich guter Gott! Du verläßt nur jene, die Dich verlassen.Niemals entziehst Du uns Deine Gaben, außer wir ziehen unsere Herzenvon Dir zurück.

Wir entwenden Gott gleichsam seine Gaben, wenn wir uns dasVerdienst der Seligkeit zuschreiben, aber wir entehren auch seine Barm-herzigkeit, wenn wir sagen, daß sie uns je gefehlt habe. Wir beleidigenseine Freigebigkeit, wenn wir uns nicht zu seinen Wohltaten bekennen,aber wir lästern seine Güte, wenn wir behaupten, daß ihr Beistand und ihre Hilfeuns gefehlt. Kurz gesagt, der Ruf Gottes tönt laut und vernehmlich an unserOhr: „Dein Verderben kommt von dir, o Israel, und nur bei mir ist Hilfefür dich!“ (Hos 13,9).

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11. KapitelEs liegt nicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einenEs liegt nicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einenEs liegt nicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einenEs liegt nicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einenEs liegt nicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einen

hohen Grad der Liebe besitzen.hohen Grad der Liebe besitzen.hohen Grad der Liebe besitzen.hohen Grad der Liebe besitzen.hohen Grad der Liebe besitzen.

1. O Gott, Theotimus, nähmen wir die himmlischen Einsprechungendem ganzen Umfang ihrer Kraft nach auf, welch große und schnelleFortschritte würden wir in der Heiligkeit erzielen! Eine Quelle mag noch sostark fließen, sie kann einen Garten doch nur entsprechend dem Durch-messer der Leitungen, die ihm das Wasser zuführen, begießen. So umflutet auchder Heilige Geist, gleich einer Quelle lebendigen Wassers unser Herz,um in uns seine Gnade zu ergießen; er will aber, daß sie nur mit derfreiwilligen Zustimmung unseres Willens einströme. Daher wird er sieuns nur nach dem Maß seines Wohlgefallens und unserer eigenen Emp-fänglichkeit und Mitwirkung spenden. So lehrt auch das heilige Konzil vonTrient, das auch, wie ich meine, wegen dieser notwendigen Übereinstim-mung unseres Willens mit der Gnade, von einer freiwilligen Annahmespricht (6.Sitzung, 5.Kap u. can. 4.5).

2. In diesem Sinn ermahnt uns der hl. Paulus, die Gnaden Gottes nichtvergeblich zu empfangen (2 Kor 6,1). Ein Kranker würde eine Arzneinehmen und doch nicht nehmen, das heißt, sie unnützer- und unfrucht-barerweise empfangen, nähme er sie nur in die Hand, ohne sie einzu-nehmen. So empfangen auch wir die Gnade Gottes vergeblich, wenn wirsie nur bis zur Pforte des Herzens gelangen, aber nicht zur Einwilligungdes Herzens einlassen. Auf diese Weise empfangen wir sie, ohne sie zuempfangen, d. h. fruchtlos, da es ja nichts ist, eine göttliche Gnaden-regung nur zu empfinden, ihr aber nicht zuzustimmen.

3. Hätte ein Kranker die Arznei nicht nur in der Hand gehalten, son-dern sie auch eingenommen, aber nur zum Teil, so könnte sie auch nichtihre ganze Wirkung in ihm hervorbringen. So ist es auch, wenn Gott unseine starke und mächtige Einsprechung sendet, damit wir uns seiner hei-ligen Liebe hingeben, wir aber nicht vollständig einwilligen. Sie wird unsnur in dem Maße nützen, als wir die Einwilligung geben. Zuweilen treibtuns Gott an, vieles für ihn zu unternehmen, wir aber willigen nichtganz ein, sondern nur zum Teil; wir verhalten uns wie jene Menschen imEvangelium, die bei der Einladung des Herrn, ihm zu folgen, zuerst nochanderes tun wollten; der eine seinen Vater begraben, der andere von sei-ner Familie Abschied nehmen (Lk 9,59.61).

4. Solange die arme Witwe leere Gefäße hatte, ging das Öl nicht aus,dessen wunderbare Vermehrung Elischa erbeten hatte. Als diese aber

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fehlten, um es aufzunehmen, versiegte seine Fülle (2 Kön 4,1.6). In demMaß, als unser Herz sich weitet, oder richtiger gesagt, in dem Maß, als essich aufschließen und weiten läßt, in dem Maß, als es die „Leere“ seinerEinwilligung der göttlichen Barmherzigkeit nicht verweigert, wird diesenicht aufhören, in unser Herz ihre heiligen Gnadenanregungen zu ergie-ßen, die fortwährend zunehmen und uns stets an heiliger Liebe zuneh-men lassen. Gibt es aber keine „Leere“ mehr in uns, geben wir nicht mehrunsere Einwilligung, so hält der göttliche Gnadenstrom inne.

5. Woher kommt es also, daß wir in der Gottesliebe noch nicht so weitsind wie ein hl. Augustinus, ein hl. Franziskus, eine hl. Katharina vonGenua, eine hl. Franziska? Es kommt daher, Theotimus, daß Gott unsnicht die Gnade dazu verlieh. Und warum verlieh er uns nicht die Gnade?Weil wir seinen heiligen Einsprechungen nicht nach Gebühr entsprachen.Und warum entsprachen wir ihnen nicht? Weil wir, die wir ja frei sind,unsere Freiheit mißbrauchten. Warum aber mißbrauchten wir unsere Frei-heit? Theotimus, hier dürfen wir nicht mehr weiter vordringen, dennnach den Worten des hl. Augustinus entspringt die Verderbtheit unseresWillens nicht irgendeiner Ursache, sondern dem Versagen jener Ursache,die die Sünde begeht (De lib. arb. 1,2). Man darf auch nicht meinen,man könne einen Grund für den Fehler angeben, den man bei der Sündebegeht, denn der Fehler wäre nicht Sünde, wenn er nicht grundlos ge-schähe.

6. Der fromme Bruder Rufinus erhielt in einer Vision Kenntnis vonder Glorie, zu der der große hl. Franziskus durch seine Demut gelangensollte. Darauf fragte er ihn: „Vater, ich bitte dich, sage mir aufrichtig, wasdu über dich selbst denkst.“ Und der Heilige antwortete ihm: „Ich haltemich gewiß für den größten Sünder auf Erden, der dem Herrn amschlechtesten dient.“ Rufinus erwiderte, wie er denn so etwas in Wahr-heit vor seinem Gewissen sagen könne, da doch so viele andere augen-scheinlich viele große Sünden begehen, von denen er doch, Gott sei Dank,bewahrt wurde. Franziskus antwortete: „Wenn Gott diese anderen, von de-nen du sprichst, mit der gleichen Barmherzigkeit bevorzugt hätte wie mich, sobin ich überzeugt, wie böse sie auch jetzt sein mögen, sie wären viel dankba-rer für die Gnaden Gottes gewesen als ich und hätten ihm eifriger ge-dient; und wenn Gott mich verließe, so würde ich mehr Böses bege-hen als jeder andere“ (Chron. Fr. Min. 1,10 c. 68).

So sprach ein Mensch, der fast kein Mensch mehr, sondern ein Seraf aufErden war. Gewiß ließ ihn seine Demut so reden, aber er hielt es für

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unbedingt wahr, daß von zwei Sündern, denen die gleiche Gnade mit dergleichen Barmherzigkeit erwiesen wäre, der eine sie nutzbringender an-wenden könnte als der andere.

Dieser Ausspruch des großen Lehrers der Heiligkeit, der in der Schuledes Kreuzes erzogen und ernährt, nur göttliche Einsprechungen atmete, istmir wie ein Orakel. Deswegen haben auch die frömmsten Christen, dienach ihm kamen, diesen Ausspruch des Heiligen gelobt und wiederholt.Viele sind der Ansicht, daß der große Apostel Paulus dasselbe sagen woll-te, als er sich als den ersten der Sünder bezeichnete (1 Tim 1,15). 7. Dieselige Mutter Theresia von Jesus, eine gewiß ganz engelhafte Jungfrau, sagtbei der Besprechung des „Gebetes der Ruhe“ Folgendes: „Es gibt mancheSeelen, die bis zu diesem Zustand gelangen; diejenigen jedoch, die nochweiter gelangen, sind von geringer Zahl. Den Grund dafür weiß ich nicht;so viel aber ist gewiß, daß es nicht an Gott liegt, denn da die göttlicheMajestät uns hilft und die Gnade verleiht, daß wir bis zu jenem Zustandgelangen, so halte ich für gewiß, daß sie noch mehr tun würde, wenn esnicht an uns fehlte und wir ihr nicht Hindernisse in den Weg legten.“Schauen wir darum sehr auf unseren Fortschritt in der Liebe, die wir Gottschulden, denn seine Liebe zu uns wird uns nie im Stich lassen.

12. KapitelDie göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit,Die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit,Die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit,Die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit,Die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit,

ihnen zu folgen oder sie abzulehnen.ihnen zu folgen oder sie abzulehnen.ihnen zu folgen oder sie abzulehnen.ihnen zu folgen oder sie abzulehnen.ihnen zu folgen oder sie abzulehnen.

1. Ich will hier, mein lieber Theotimus, nicht von den Wundern derGnade sprechen, die fast in einem Augenblick Wölfe in Hirten, Felsenin Wasser und Verfolger in Prediger umgewandelt haben. Ich übergehefür jetzt den allmächtigen Ruf und den heilig-gewalttätigen Antrieb, wo-mit Gott zuweilen in einem Augenblick auserwählte Seelen aus demAbgrund der Sünde zu den Höhen der Gnade emporhob und in ihnengleichsam eine moralische und geistliche Wesenswandlung vollzog, z. B.beim großen Apostel Paulus, der aus dem Verfolger Saulus in einemAugenblick Paulus, ein Gefäß der Auserwählung (Apg 9,15) wurde.

Diese Menschen nehmen eine Ausnahmestellung ein, denn es hat Gottgefallen, nicht nur seine Liebe in ihre Seelen zu ergießen, sondern sieförmlich damit zu überschwemmen. Nicht nur eine strömende und frei-gebige Liebe war bei ihnen am Werk, sondern man muß wohl sagen,daß seine Liebe bei ihnen verschwenderisch und überflutend war.

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2. Die göttliche Gerechtigkeit verhängt über uns in dieser WeltStrafen, die wir kaum merken und wahrnehmen, weil sie gewöhnlicherArt sind. Zuweilen jedoch läßt sie den abgründigen Fluten strengerZüchtigungen freie Bahn, damit wir die Strenge ihres Unwillens er-kennen und fürchten.

Auf gleiche Weise verfährt die göttliche Barmherzigkeit. Sie bekehrtund begnadet die Seelen gewöhnlich in so milder, zarter und sanfter Weise,daß man ihr Wirken kaum wahrnimmt. Zuweilen aber tritt auch diesegöttliche Güte aus ihren Schranken. Wie ein angeschwollener Fluß dieEbene überschwemmt, so ergießt sich aus ihr ein so ungestümer, wennauch liebreicher Strom von Gnaden, daß sie in einem Augenblick eineSeele mit Segnungen ganz durchtränkt und überschüttet, um so den Reich-tum ihrer Liebe zu offenbaren. Wie also die göttliche Gerechtigkeit in derRegel auf dem gewöhnlichen, zuweilen aber auch auf einem außerge-wöhnlichen Weg vorgeht, so äußert die göttliche Barmherzigkeit ihre Freige-bigkeit den meisten Menschen gegenüber auf gewöhnliche Weise; siewendet aber auch bei einigen außergewöhnliche Mittel an.

3. Welches sind nun die Bande, womit die göttliche Vorsehung unse-re Herzen gewöhnlich an sich zieht? Jene, die sie selbst kennzeichnete,als sie die von ihr angewandten Mittel beschrieb, um das Volk Israel ausÄgypten und der Wüste in das Land der Verheißung zu führen: „Mitmenschlichen Banden zog ich sie, mit Fesseln der Liebe und Freund-schaft“ (Hos 11,4). Gewiß, Theotimus, Gott zieht uns nicht mit eisernenFesseln an sich wie Stiere oder Büffel, sondern er wirbt um uns, er locktuns liebevoll an sich durch zarte und heilige Einsprechungen. Das sindBande Adams und der Menschlichkeit, sie entsprechen der Beschaffenheitdes menschlichen Herzens, das von Natur aus frei ist.

Freude und Lust sind die eigentlichen Bande des menschlichen Wil-lens. „Man zeige einem Kind Nüsse,“ sagt der hl. Augustinus, „und eswird in Liebe angezogen durch ein Band, das nicht den Leib, sonderndas Herz fesselt“ (zu Joh Kap.26 § 5).

Sieh, wie der himmlische Vater uns an sich zieht. Wenn er uns belehrt,läßt er uns Freude daran empfinden; er tut uns keinen Zwang an. Er wirftin unsere Herzen frohe und freudige geistliche Empfindungen, sozusagenals heilige Lockmittel, durch die er uns liebevoll anzieht, die Schönheitseiner Lehre aufzunehmen und zu verkosten.

4. So wird also, liebster Theotimus, unsere Freiheit durch die Gnadekeineswegs vergewaltigt oder zu etwas gezwungen. Wie allmächtig auch

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die Kraft der barmherzigen Hand Gottes ist, die die Seele mit so vielenEinsprechungen, Anregungen und Lockungen rührt, umhüllt und fesselt,der menschliche Wille bleibt doch stets vollkommen frei, ohne einemäußeren oder inneren Zwang zu unterliegen.

Die Gnade erfaßt ja unsere Herzen so sachte und zieht sie so liebevoll ansich, daß sie in keiner Weise die Freiheit des Willens trübt. Sie be-rührt machtvoll, zugleich aber so zart das, was unseren Geist bewegt, daßunsere Freiheit keinen Zwang erleidet. Die Gnade besitzt Kräfte, nichtum von unseren Herzen etwas zu erzwingen, sondern um sie liebevollanzulocken. Ihr wohnt heilige Gewalt inne, uns nicht zu vergewaltigen,sondern unsere Freiheit zu einer liebenden zu gestalten. Sie wirkt kraft-voll, aber zugleich so mild, daß unser Wille unter ihrer so machtvollenTätigkeit nicht erdrückt wird. Sie drängt uns, unterdrückt aber nicht un-ser freies Handeln, so daß wir, bei all ihrem kraftvollen Wirken,ihren Regungen zustimmen oder widerstehen können, wie es uns gefällt.

5. Aber ebenso bewundernswert wie wahrhaftig ist die Tatsache, daß un-ser Wille, wenn er einem Zug der Gnade folgt und dem göttlichen Antriebzustimmt, es ebenso in aller Freiheit tut, wie er ihr in aller FreiheitWiderstand leistet, wenn er der Gnade widerstrebt. Allerdings hängtdie Zustimmung zur Gnade weit mehr von dieser als von unseremWillen ab, während der Widerstand gegen die Gnade nur dem Willenallein zuzuschreiben ist.

Mit solch liebenswerter Milde handhabt Gott unser Herz, mit solchemGeschick teilt er uns seine Kraft mit, ohne unsere Freiheit aufzuheben,und beschenkt uns mit dem Wirken seiner Macht, ohne das Wirkenunseres Wollens zu hemmen; dergestalt paßt er seine Macht seinerMilde an, daß in allem, was das Gute betrifft, seine Macht uns mildedas Können schenkt und seine Milde machtvoll die Freiheit unseresWollens aufrechthält.

6. „Wenn du die Gabe Gottes erkenntest,“ sprach der Heiland zurSamariterin (Joh 4,10), „und wer der ist, der zu dir spricht: gib mirzu trinken, so würdest du ihn vielleicht gebeten haben und er hättedir lebendiges Wasser gegeben.“

Sieh doch, Theotimus, wie der Heiland hier von seinen Lockungenspricht. Wenn du die Gabe Gottes erkenntest – so dürfte der Sinnseiner Worte sein, – so würdest du dich zweifellos angeregt und an-gezogen fühlen, das Wasser des ewigen Lebens zu verlangen und viel-leicht würdest du tatsächlich darum bitten. Es ist, wie wenn er sagen

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wollte, es stünde in deiner Macht und du würdest dazu angeregt, abernicht genötigt und gezwungen, sondern „vielleicht würdest du darumbitten“; denn es bliebe dir die Freiheit, darum zu bitten oder nicht zubitten. Dies sind die Worte unseres Heilands nach der gewöhnlichenAusgabe und nach Auslegung des hl. Augustinus (zu Joh 15 § 12).

Kurz: „Wer behaupten wollte, unser freier Wille wirke nicht mit,wenn wir einer Gnadenanregung folgen, mit der uns Gott zuvorkommt,oder er habe nicht die Fähigkeit, die Gnade zu verwerfen und ihr dieZustimmung zu verweigern,“ der würde sowohl der ganzen HeiligenSchrift als auch der Lehre aller Kirchenväter und der Erfahrung wider-sprechen; außerdem wäre er nach den Beschlüssen des Konzils von Tri-ent exkommuniziert (6.Sitzung can.4).

7. Wenn es aber nun heißt, daß wir die himmlische Einspre-chung und die göttlichen Gnadenanregungen zurückweisen können, so istdamit nicht gesagt, daß es in unserer Macht steht, Gott zu hindern, daßer weiterhin zu unseren Herzen spricht und uns Anregungen zumGuten ins Herz hineinwirft. Es geschieht dies ja, wie wir schon früherbemerkt haben, „in uns“ und „ohne uns“, es sind Gnaden, die unserwiesen werden, noch ehe wir an sie dachten. Gott weckt uns, währendwir schlafen; wir erwachen daher, ohne daß wir vorher an das Aufwachendenken konnten.

Dagegen hängt das Aufstehen oder Nicht-Aufstehen von uns ab;denn obwohl uns Gott ohne unser Zutun geweckt hat, so will er unsdoch nicht ohne uns aufrichten. Es heißt aber dem Erwachen Widerstandleisten, wenn man nicht aufsteht, sondern wieder einschläft; denn manweckt uns ja nur deshalb, damit wir aufstehen.

Wir können nicht verhindern, daß Gottes Gnadenanregung uns drängtund aufrüttelt. Drängen wir sie jedoch in demselben Maß zurück, als sieuns vorwärts drängt, folgen wir also ihrer Anregung nicht, dann wi-derstehen wir ihr.

Wenn auch der Wind die Apoden erfaßt und emporhebt, so wird er sienur dann weitertragen, wenn sie ihre Flügel ausbreiten; dadurch wirken siemit, sie schweben und fliegen in der Luft, in die sie hinaufgehoben wur-den. Werden sie aber durch lockendes Grün, das sie unten sehen, angezo-gen oder sind sie durch ihr langes Liegen auf dem Erdboden steif gewor-den, halten daher ihre Flügel zusammengefaltet und lassen sich wiederherabfallen, so haben sie wohl den Anstoß des Windes empfangen, aberumsonst, da sie sich seiner nicht bedient haben.

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Theotimus, die Gnadenanregungen kommen uns zuvor und machensich bemerkbar, ehe wir noch an sie denken können; haben wir jedocheinmal ihre Gegenwart gefühlt, so steht es bei uns, ihnen beizustimmen,mitzuwirken und ihnen zu folgen oder ihnen die Zustimmung zu verwei-gern und sie abzuweisen. Ohne unser Zutun machen sie sich uns fühlbar,aber unsere Einwilligung bewirken sie nicht ohne unser Zutun.

13. KapitelErste Empfindungen der Liebe, die Gottes Lockungen in derErste Empfindungen der Liebe, die Gottes Lockungen in derErste Empfindungen der Liebe, die Gottes Lockungen in derErste Empfindungen der Liebe, die Gottes Lockungen in derErste Empfindungen der Liebe, die Gottes Lockungen in der

Seele wecken, bevor sie den Glauben hat.Seele wecken, bevor sie den Glauben hat.Seele wecken, bevor sie den Glauben hat.Seele wecken, bevor sie den Glauben hat.Seele wecken, bevor sie den Glauben hat.

1. Der Wind, der die Apoden emporhebt, erfaßt zuerst ihre Federn;durch ihr geringes Gewicht sind sie für sein Einwirken empfänglicher.Damit bewegt er auch die Fittiche, daß sie sich weiten und entfalten;nun kann er den ganzen Vogel erfassen und in die Luft erheben. Ver-bindet dieser nun, wenn er so gehoben wurde, seine eigenen Bewegungenmit denen des Windes, so wird der gleiche Wind, der ihm den Auftriebgegeben, ihm immer mehr helfen, weiterzufliegen.

Mein lieber Theotimus, wenn also die Eingebung gleich einem heili-gen Wehen uns in die Höhen göttlicher Liebe erheben will, so beginntsie bei unserem Willen; sie rüttelt ihn wach, weitet und entfaltet durchhimmlische Lust seine natürlichen Neigungen zum Guten so sehr, daßdiese Neigungen ihr die Möglichkeit bieten, unseren Geist zu erfassen;dies geschieht, wie schon erwähnt, „in uns“ aber „ohne uns“, denn diegöttliche Güte ist es, die uns zuvorkommt.

2. Fühlt nun unser Geist, dem die Gnade in solch heiliger Weisezuvorkam, die Schwingen seiner Neigung durch dieses göttliche Wehenbewegt, entfaltet, ausgebreitet, angetrieben und gehoben, und gibt er ihmdann eine wenn auch noch so geringe Zustimmung, o Theotimus, welcheSeligkeit! Dieselbe Eingebung und Gnade, die uns erfaßt hat, wird ihreTätigkeit mit unserer Einwilligung vereinen, unsere schwachen Bewegun-gen durch die Kraft der ihren beseelen, unser armseliges Mitwirkendurch die Macht ihrer Wirkung beleben und uns von Stufe zu Stufe derLiebe hinaufhelfen, führen und uns auf diesem Höhenweg begleiten, biszu jenem Akt hochheiligen Glaubens, der für unsere Bekehrung erfor-derlich ist.

3. Wahrhaftiger Gott, Theotimus! Welchen Trost empfindet die Seelebei der Betrachtung jener heiligen Weise, in welcher der Heilige Geistdie ersten Strahlen und Empfindungen seines Lichtes sowie seine leben-

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spendende Wärme in unsere Herzen ergießt. O Jesus! Was ist das doch für einebeglückende Wonne, die himmlische Liebe, jene Sonne aller Tugendenzu schauen, wie sie ganz sachte, in einem Fortschreiten, das sich kaumbemerkbar macht, über eine Seele allmählich ihre Klarheit ergießtund nicht abläßt, bis sie diese mit dem Strahlenglanz ihrer Gegenwartganz überflutet und mit der vollendeten Schönheit des hellen Tages be-schenkt hat.

O wie freudig, wie schön, lieblich und freundlich ist doch diese Mor-gendämmerung! Aber es ist doch wahr, daß sie noch nicht der volleTag ist, oder wenn man sie Tag nennen will, so ist sie ein beginnen-der Tag, ein werdender Tag, eher die Kindheit des Tages als der Tagselbst.

Und ebenso sind auch zweifellos jene Liebesregungen, die dem zuunserer Rechtfertigung erforderlichen Glauben vorangehen, noch keineeigentliche, sondern erst eine beginnende und unvollkommene Liebe. Essind die ersten grünen Knospen, welche die von der himmlischen Sonneerwärmte Seele gleich einem mystischen Baum im Frühling hervorbringt,eher fruchtverheißend als schon eigentliche Frucht.

4. Der hl. Pachomius, damals noch ein ganz junger Krieger und ohneWissen von Gott, folgte der Fahne des Kaisers Konstantin im Krieggegen den Tyrannen Maxentius. Seine Truppe bezog ein Lager in einerKleinstadt unweit Theben; das ganze Heer hatte sehr unter dem Mangelan Lebensmitteln zu leiden. Als die Leute in der Umgebung, die glück-licherweise Christen und daher liebevoll und hilfsbereit gegen den Näch-sten waren, davon hörten, sorgten sie eilig für die Bedürfnisse der Sol-daten, und das mit so viel Umsicht, Freundlichkeit und Liebe, daß Pa-chomius von Bewunderung erfüllt war. Auf seine Frage, was denn dasfür ein gütiges und liebenswürdiges Volk sei, sagte man ihm, es seienChristen; und als er sich weiter nach ihrem Leben erkundigte, erfuhrer, daß sie an Jesus Christus, den Eingeborenen Sohn Gottes, glaubtenund jedermann Gutes erwiesen, in der festen Hoffnung, einst von Gottselbst dafür reichlich belohnt zu werden.

Siehst du, Theotimus, Pachomius war zwar von guter Gemütsart, schliefaber damals noch den Schlaf des Unglaubens. Da steht Gott vor derPforte seines Herzens, ruft ihn gleichsam leise durch das Beispiel dieserChristen, weckt ihn und schenkt ihm ein erstes Empfinden der Lebens-wärme seiner Liebe. Kaum hatte er nämlich, wie ich soeben gesagt, von demliebevollen Gesetz des Heilands reden gehört, da ward er von einem neuen

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Licht und einer inneren Freude ganz erfüllt, zog sich etwas zurück underging sich in Gedanken darüber. Dann erhob er die Hände zum Himmelund brach mit einem tiefen Seufzer in die Worte aus: „Herr Gott, der DuHimmel und Erde geschaffen, wenn Du Dich würdigst, Deine Augen aufmeine Niedrigkeit und Not zu richten und mich Deine Gottheit erkennenzu lassen, so verspreche ich, Dir zu dienen und mein ganzes Leben hin-durch Deine Gebote zu befolgen.“ Seit diesem Gebet und Versprechenwuchs die Liebe zum wahren Guten und zur Frömmigkeit so sehr in ihm,daß er niemals mehr aufhörte, tausende und abertausende Tugendakte zuverrichten.

5. Bei diesem Beispiel muß ich unwillkürlich an eine Nachtigall den-ken, die, bei der ersten Morgenröte erwachend, sich zu schütteln und zustrecken beginnt, ihr Gefieder entspannt und, von Ast zu Ast hüpfend, all-mählich ihr wundersames Singen anhebt. Hast du nicht bemerkt, wie dasgute Beispiel jener liebevollen Christen den späteren Heiligen Pachomiusmit einem Schlag aufrüttelte und aufweckte? Sein Erstaunen und seineBewunderung waren doch nichts anderes als sein Erwachen. So wie dieSonne die Erde mit einem Strahl ihres klaren Lichtes trifft, so wurde erauch vom Strahl der Gnade getroffen und von großer geistiger Freudeerfüllt.

Um diese Gnade aufmerksamer und leichter aufnehmen und verkostenzu können, schüttelt er alles Zerstreuende von sich ab, sucht die Einsam-keit auf, um sich besinnen zu können, erhebt dann Herz und Hände zumHimmel, wohin die Gnade ihn zieht, beginnt die Schwingen seiner Emp-findungen zu entfalten und stimmt, schwebend zwischen Mißtrauen ge-gen sich selbst und Vertrauen auf Gott, die demutsvoll liebende Weiseseines Bekehrungsliedes an, durch das er bezeugt, daß er bereits deneinen Gott anerkennt, den Schöpfer Himmels und der Erde, bekenntaber gleichzeitig, daß er von diesem Gott noch nicht genug weiß, um ihmin der rechten Weise zu dienen. Daher bittet er inbrünstig um tieferesWissen, um zum vollkommenen Dienst der göttlichen Majestät zu gelan-gen.

6. Sieh aber, Theotimus, wie sachte Gott die Gnade seiner Eingebungallmählich in jenen Menschen stärkt, die ihr zustimmen, und sie gleich-sam wie auf einer Jakobsleiter von Stufe zu Stufe zu sich hinaufzieht.

Wie zieht er sie aber an sich? Das Erste, wodurch er uns zuvorkommtund uns weckt, geschieht durch ihn „in uns“ und „ohne uns“; allesandere geschieht durch ihn auch „in uns“, aber nicht mehr „ohne uns“.

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„Zieh mich“, spricht die Braut im Hohelied (1,3) und will damit sagen:Beginne als erster, denn ich vermag nicht von selbst zu erwachen, ich ver-mag mich nicht zu rühren, wenn du mir nicht Bewegung verleihst. Hast dumich aber in Bewegung versetzt, o viellieber Bräutigam meiner Seele, dannwerden wir beide laufen, du wirst vor mir einherlaufen und mich nachzie-hen und ich werde dir folgen, indem ich deinen Lockungen zustimme.

Niemand aber meine, du zögest mich wie eine Sklavin oder wie einenleblosen Karren hinter dir her. Nein, du „lockst mich mit dem süßenDuft deiner Salbungen“ (Hld 1,3) und so folge ich dir, nicht so sehr, weildu mich ziehst, als weil du mich lockst. Mächtig sind deine Lockungen,aber sie zwingen nicht, denn ihre ganze Kraft liegt in ihrer Lieblichkeit.Wohlgerüche haben ja keine andere Anziehungskraft als ihren lieblichenDuft; könnte aber Lieblichkeit anders locken als lieblich und wohltu-end?

14. KapitelEmpfindungen göttlicher Liebe, die mit demEmpfindungen göttlicher Liebe, die mit demEmpfindungen göttlicher Liebe, die mit demEmpfindungen göttlicher Liebe, die mit demEmpfindungen göttlicher Liebe, die mit dem

Glauben empfangen werden.Glauben empfangen werden.Glauben empfangen werden.Glauben empfangen werden.Glauben empfangen werden.

1. Wenn Gott uns den Glauben schenkt, so kehrt er in unsere Seele einund spricht zu unserem Geist nicht auf dem Weg von Überlegungen, son-dern durch göttliche Eingebung. Er stellt unserem Verstand alles, waswir glauben sollen, so liebenswert dar, daß der Wille großes Gefallendaran findet und den Verstand bewegt, der Wahrheit ohne Zweifel undMißtrauen zuzustimmen und sie anzunehmen.

2. Das aber ist das Wunderbare dabei: Gott legt unserer Seele dieGeheimnisse des Glaubens unter Dunkelheit und Finsternis vor, so daßwir jene Wahrheiten nicht sehen, sondern nur ahnen. Es ist so ähnlichwie mit der Sonne, die wir auch nicht sehen können, wenn die Erdevon Nebel bedeckt ist. Wir bemerken nur dort, wo sie am Firmamentsteht, eine größere Helligkeit, sehen sie also sozusagen, ohne sie zu se-hen. Einerseits sehen wir sie nämlich nicht so klar, daß wir sagen könn-ten, wir sähen sie, andererseits sehen wir sie nicht so wenig, daßwir sagen könnten, wir sähen sie nicht; es ist also mehr ein Ahnenals ein Sehen.

Trotzdem aber verschafft sich dieses in unserem Geist nicht durchüberzeugende Überlegungen und offenkundige Beweise, sondern allein

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durch seine anziehende Gegenwart entstandene Hell-Dunkel des Glaubens inunserem Verstand mit solcher Autorität Glauben und Gehorsam, daßdie Gewißheit, die es uns von der Wahrheit gibt, jede andere irdischeGewißheit übertrifft. Es unterwirft so ganz und gar unseren Geist und allseine Überlegungen, daß diese im Vergleich zu ihm keine Bedeutunghaben.

3. Mein Gott, Theotimus, werde ich mich wohl richtig ausdrückenkönnen? Der Glaube ist jener große Freund unserer Seele, der den sichihrer Klarheit und sicheren Ergebnisse rühmenden menschlichen Wissen-schaften mit der Braut im Hohelied erwidern kann: „Schwarz bin ich, aberschön“ (Hld 1,4). O du menschliches Denken, erworbenes Wissen,„schwarz“ bin ich, denn um mich ist das Dunkel der einfachen Offen-barungen, deren Wahrheitsgehalt nicht durchsichtig ist. Sie lassen mich„schwarz“ erscheinen, so daß ich fast nicht zu erkennen bin. Aber dochbin ich „schön“ in mir selber wegen meiner unendlichen Gewißheit.Könnten die Augen der Sterblichen mich schauen, wie ich meiner Naturnach bin, so fänden sie mich „ganz schön“ (Hld 4,7).

Aber muß ich nicht wirklich unendlich liebenswert sein? Die großenDunkelheiten und Nebelschleier, inmitten derer ich nicht gesehen, son-dern nur geahnt werden kann, vermögen nicht zu hindern, daß ich vollAnmut bin. So anmutig bin ich, daß der menschliche Geist mich über allesliebt, die Vielzahl aller anderen Erkenntnisse durchbricht, um mir Raumzu schaffen und mich auf den höchsten Thron seines Palastes zu setzenals König, als Gesetzgeber aller wissenschaftlichen Erkenntnis, als Herr-scher über alle Schlüsse der Vernunft, ja auch über alles menschliche Emp-finden.

Wahrlich, Theotimus, die Führer des israelitischen Heeres legten ihreGewänder ab, türmten sie aufeinander, um damit gleichsam einen Kö-nigsthron zu bauen, auf den sie Jehu setzten und zum König ausriefen (2Kön 9,13). So verhält es sich auch mit dem Glauben. Bei seinem Kom-men läßt der menschliche Geist all seine Gedankengänge und Beweisefallen, unterwirft sie dem Glauben und schafft ihm damit einen Thron,auf dem er ihn als König anerkennt und in überaus großer Freude aus-ruft: „Es lebe der Glaube!“

4. Fromme Erörterungen und Beweise, Wunder und alle Vorzüge derchristlichen Religion machen diese zwar höchst glaubwürdig und erkenn-bar. Aber daß sie auch tatsächlich geglaubt und anerkannt wird, dasbewirkt nur der Glaube. Er erreicht es, daß die Schönheit seiner Wahrheit

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geliebt wird und daß die Wahrheit seiner Schönheit geglaubt wird. Diesgeschieht durch die Freude, die er im Willen verbreitet, und die Gewiß-heit, die er dem Verstand mitteilt.

Die Juden sahen die Wunder des Heilands, hörten seine erhabene Leh-re und verblieben doch im Unglauben (Joh 9,41), weil sie nicht in derVerfassung waren, den Glauben aufzunehmen. Die Bosheit und Bitterkeitihrer Herzen machte sie unempfindlich für die Milde und Lieblichkeitdes Glaubens. Sie sahen wohl die Kraft der Beweise, aber deren liebens-wertem Ergebnis gegenüber blieben ihre Herzen kalt und deshalb gaben siesich auch der Wahrheit nicht hin. Der Glaubensakt aber besteht gerade indieser Hingabe unseres Geistes, der das freundliche Licht der Wahrheitaufgenommen hat und ihr zustimmt mit ruhiger aber zugleich machtvollstarker Gewißheit und Sicherheit, die er der Autorität der ihm geschenk-ten Offenbarung entnimmt.

5. Du hast sicher schon gehört, Theotimus, daß man in den allge-meinen Konzilien große Diskussionen und Untersuchungen anstellt unddurch Reden, Begründungen und theologische Beweise die Wahrheit zuerkennen sucht. Sind aber einmal die strittigen Punkte genugsam erörtert,so beschließen, entscheiden und bestimmen die Väter, d. h. die Bischöfeund im besonderen der Papst als Oberhaupt der Bischöfe. Damit ist dieEntscheidung gefallen und alle halten sich an sie und geben ihre volleZustimmung, nicht der Gründe und Untersuchungen wegen, sondern kraftder Autorität des Heiligen Geistes. Dieser steht den Kirchenversammlun-gen in unsichtbarer Weise vor und urteilt, beschließt und entscheidetdurch den Mund seiner Diener, der von ihm eingesetzten Hirten (Apg20,28) der Christenheit.

Untersuchungen und Besprechungen gehen in der Vorhalle der Kirchevor sich, wo die Gelehrten das Wort haben. Die Entscheidungen aber unddie Annahme wird nur im innersten Heiligtum vollzogen, wo der HeiligeGeist, die Seele der Kirche, durch den Mund ihrer Oberhäupter spricht,wie es der Herr verheißen (Lk 10,16).

Nehmen wir einen Vergleich: Der Strauß legt in Libyen seine Eier inden Sand, ausgebrütet aber werden sie von der Sonne allein. So tragenauch die Gelehrten durch ihre Untersuchungen und Darlegungen dieWahrheit vor, jedoch nur die Sonne der Gerechtigkeit vermag mit ihrenStrahlen ihnen Gewißheit und Annahme zu verleihen.

6. Zusammenfassend kann man, Theotimus, also sagen: jene Sicherheit,die der menschliche Geist in den geoffenbarten Wahrheiten und

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Glaubensgeheimnissen empfängt, beginnt damit, daß die Schönheit undAnmut der Wahrheit im Willen ein liebevolles Gefühl des Wohlgefal-lens auslöst, so daß schließlich der Glaube einen ersten Anfang derLiebe einschließt, die unser Herz für Göttliches empfindet.

15. KapitelDas große Liebesempfinden, das wir durch dieDas große Liebesempfinden, das wir durch dieDas große Liebesempfinden, das wir durch dieDas große Liebesempfinden, das wir durch dieDas große Liebesempfinden, das wir durch die

heilige Hoffnung empfangen. heilige Hoffnung empfangen. heilige Hoffnung empfangen. heilige Hoffnung empfangen. heilige Hoffnung empfangen.

1. Wenn wir den Strahlen der Mittagssonne ausgesetzt sind und kaumihre Helle geschaut haben, so fühlen wir schon ihre Wärme. Ebensoist es auch beim Glaubenslicht. Kaum wirft es den Glanz seiner Wahrheitin unseren Verstand, so empfindet unser Wille sofort die heilige Wärmehimmlischer Liebe.

Der Glaube läßt uns mit untrüglicher Gewißheit erkennen, daß Gottist, daß er unendlich gut ist, daß er sich mit uns vereinigen kann, daßer es nicht nur kann, sondern auch will, ja so sehr will, daß er inunsagbarer Liebe uns alle notwendigen Mittel bereitet hat, um zur Selig-keit unsterblicher Glorie zu gelangen.

Nun haben wir alle eine natürliche Neigung für das höchste Gut; da-rum ist im Innersten unseres Herzens ein drängendes Verlangen danachund eine beständige Unruhe, ohne daß es auf irgend eine Weise zurRuhe gelangen und aufhören könnte zu bezeugen, daß ihm die voll-ständige Befriedigung und die echte Zufriedenheit fehlt.

Hat aber der heilige Glaube unserem Geist einmal den erhabenenGegenstand seiner natürlichen Neigung geoffenbart, dann, o wahrerGott, Theotimus, welche Freude, welcher Jubel, welch frohes Erbeben inunserer ganzen Seele! Voll Bewunderung ruft sie beim Anblick einerso unbeschreiblichen Schönheit aus: „Wie schön bist du, o wie schön,du mein Vielgeliebter!“ (Hld 1,16; 4,1).

2. Eleasar suchte eine Braut für den Sohn seines Herrn Abraham, waraber sehr besorgt, ob er wohl eine so anmutige und schöne finden würde,wie er es wünschte. Aber dann fand er sie am Brunnen, sah, wie über-aus schön und von welch vollendeter Liebenswürdigkeit sie war – undschließlich wurde sie ihm als Isaaks Braut zugesagt. Mit welch unver-gleichlich freudigem Dank betete er da zu Gott und pries seine Güte(Gen 24).

So strebt auch das Menschenherz durch seine natürliche Neigung aufseinen Gott hin, ohne aber recht zu wissen, wie er ist. Findet es ihn

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aber am Born des Glaubens und sieht ihn so gut, so schön, so lieb undgütig gegen alle, so bereit, sich als höchstes Gut allen hinzugeben, die eswollen, – o Gott, welche Freude, welch heiliges Verlangen, sich aufewig im Geist mit dieser unvergleichlich liebenswürdigen Güte zu verei-nigen! „Ich fand endlich, den ich suchte,“ spricht die ergriffene Seele,„und wie beglückt bin ich nun!“ (Hld 3,4).

Als Jakob die schöne Rahel gesehen und ihr den heiligen Kuß gegeben hatte,vergoß er Tränen vor überaus großer Freude (Gen 29,9.11). So vergehtauch unser armes Herz vor Liebe, wenn es Gott gefunden und den erstenKuß des heiligen Glaubens von ihm erhalten hat; es zerfließt in beglücken-der Liebe zum unendlichen Gut, das es zuerst in dieser erhabenen Schön-heit sieht.

3. Wir werden manchmal plötzlich von freudigen Empfindungenüberrascht, die anscheinend keine äußere Ursache haben. Oft sind diesVorgefühle einer großen bevorstehenden Freude. Einige meinen, un-ser Schutzengel flöße uns diese Vorahnungen ein, da er das uns bevorste-hende Gut voraussieht, so wie er ja auch Furcht und Schrecken in unshervorruft, wenn uns große Gefahren drohen, damit wir Gott anrufenund auf der Hut seien.

Kommt dann das angekündigte Gut, so nimmt unser Herz es begeistertauf; es erinnert sich dann an die Freude, die es vorher empfunden hat,ohne einen Grund dafür zu sehen. Es weiß nun, daß diese Empfindungensozusagen Vorläufer der jetzt empfangenen Freude waren.

So, mein Theotimus, fühlte auch unser Herz in sich so lange Zeitdiese Neigung nach dem höchsten Gut, ohne eigentlich zu wissen, wemdieses Empfinden galt. Hat es ihm aber der Glaube gezeigt, so siehtdas Herz sogleich, daß die Seele nach ihm verlangte, daß sein Geist essuchte, daß seine Neigung ihm galt. Gewiß, ob wir es wollen oder nicht,unser Herz strebt nach dem höchsten Gut.

4. Was aber ist dieses höchste Gut? Wir gleichen den guten Athenerndie dem wahren Gott Opfer darbrachten, der aber für sie ein unbekannterGott war (Apg 17,23), bis endlich der große Weltapostel ihnen dieKenntnis von ihm brachte.

So strebt und sehnt sich auch unser Herz, getragen von einem geheim-nisvollen Trieb in all seinen Handlungen nach Glückseligkeit, sucht sieüberall, gleichsam hin- und hertastend, ohne zu wissen, wo sie wohnt,noch worin sie besteht, bis der Glaube sie ihm zeigt und ihm ihre unend-lichen Herrlichkeiten beschreibt.

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Und hat es endlich jenen so lange gesuchten Schatz gefunden, welchgroßen Frieden fühlt dann dies arme Herz, welche Freude, welch lieben-des Wohlgefallen an ihm! „Ich fand ihn, den meine Seele suchte“ (Hld3,4), ohne ihn zu kennen. Warum wußte ich nicht, wonach ich mich ei-gentlich sehnte, da doch alles, wonach ich strebte, mir keine Befriedigunggewähren konnte. Ich wußte ja nicht, wonach ich mich eigentlich sehnte. Ichwollte lieben, wußte aber nicht, was ich lieben sollte. Und da mein Su-chen nicht die echte Liebe fand, so war mein Leben ein echtes, mir aber dunklesSehnen. Es war wohl in mir ein gewisses Ahnen von Liebe, stark genug,um in mir Sehnsucht danach zu wecken. Aber das Empfinden für dieGüte, die ich lieben sollte, reichte nicht hin, um wirklich zu lieben.

16. KapitelWie die Liebe in der Hoffnung tätig ist.Wie die Liebe in der Hoffnung tätig ist.Wie die Liebe in der Hoffnung tätig ist.Wie die Liebe in der Hoffnung tätig ist.Wie die Liebe in der Hoffnung tätig ist.

1. Wenn der menschliche Geist ernsthaft erwägt, was der Glaube ihmvom höchsten Gut sagt, wird der Wille sogleich von einem außerordent-lichen Wohlgefallen an ihm erfaßt. Da er es aber noch nicht besitzt, er-weckt es in ihm eine heiße Sehnsucht nach seiner Gegenwart. Von dieserSehnsucht ergriffen, ruft die Seele mit der Braut im Hohelied aus: „Erküsse mich mit dem Kuß seines Mundes“ (Hld 1,1).

Gott ist es, nach dem ich verlange,Gott ist es, den mein Herz ersehnt (Ps 62,2).

Ist dem Falken die Haube abgenommen worden und sieht er die Beute,so schwingt er sich sogleich zum Flug auf; wird er aber zurückgehalten, soschlägt er mit großem Ungestüm um sich. So ist es auch mit uns. Hatder Glaube den Schleier der Unwissenheit gehoben und uns das höchsteGut gezeigt, das wir aber noch nicht besitzen können, weil die Bandedieses sterblichen Lebens uns daran hindern, dann, Theotimus, sehnenwir uns danach und rufen mit dem Psalmisten aus:

„So wie der Hirsch sich nach der Wasserquelle sehnt,so sehnt meine Seele sich nach Dir, o Gott.Mein Geist dürstet nach Gott, dem Starken und Lebenspender. –Wann wird es sein, daß ich sein Antlitz sehe?Bei Tag und bei Nacht waren Tränen mein Brot;da man mir ständig zurief: ‚Wo ist dein Gott?‘“ (Ps 41,1.3).

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2. Diese Sehnsucht ist völlig gerechtfertigt, denn wer sollte nicht nacheinem solch erstrebenswerten Gut Verlangen tragen? Sie wäre aber ver-geblich, ja sie würde zur beständigen Herzensqual, wären wir nichtsicher, sie einst stillen zu können. Was hätte auch jener getan, der be-teuerte, „Tränen“ wären sein „Brot bei Tag und bei Nacht“, weil seinGott sich ihm nicht zeigte und seine Feinde immer höhnisch fragten,wo denn sein Gott sei? Was hätte er getan ohne die Hoffnung, einstjenes Gut zu besitzen, nach dem er so sehnlich verlangte?

Weinend und krank von Liebe geht die Braut (Hld 5,8) umher, da sieihren Vielgeliebten nicht so schnell findet. Ihre Liebe zu ihm hatte inihr die Sehnsucht erweckt, die Sehnsucht wieder bewirkte, daß sie ihn mitFeuereifer suchte und dieser Feuereifer machte sie so krank, daß ihr ar-mes Herz wie vernichtet und ausgebrannt worden wäre, hätte sie nichtdie Hoffnung gehabt, das zu finden, wonach sie mit solcher Inbrunstsuchte.

3. So verursachen also die Mühen der Liebessehnsucht in unseremGeist Unruhe und ein tiefes Leid. Damit uns dadurch aber nicht Kraftund Mut genommen und wir nicht in Verzweiflung gestürzt werden,gibt uns jenes höchste Gut, das in uns diese glühende Sehnsucht weckt,durch die unzähligen Verheißungen seiner Offenbarung und durch in-nere Einsprechungen die Versicherung, daß wir das Ziel unserer Sehn-sucht sehr leicht erreichen können, wenn wir nur die Mittel gebrauchenwollen, die es dafür vorbereitet hat und uns anbietet.

Es geschieht aber nun das Merkwürdige, daß diese göttlichen Ver-heißungen wohl die Ursache unserer Sehnsucht noch verstärken, indem Maße aber, als sie die Ursache verstärken, ihre Wirkungen zerstö-ren und vernichten. Ja, Theotimus, durch die Verheißung, daß der Him-mel für uns bestimmt ist, erhöht Gott also einerseits unser Verlangendanach, aber er schwächt und zerstört gleichzeitig auch die Ängstlichkeit undUnruhe, die dieses Verlangen in uns erzeugt, so daß unsere Herzen durchdie göttlichen Verheißungen eine friedvolle, bleibende Ruhe empfan-gen; und dies ist die Wurzel der hochheiligen Tugend, die wir Hoffnungnennen.

4. Der Wille erhält also vom Glauben die Sicherheit, daß er sich desBesitzes des höchsten Gutes erfreuen wird, wenn er die dafür bestimm-ten Mittel gut benützt. So erweckt er denn zwei Tugendakte: durch deneinen erwartet er von Gott den Besitz seiner erhabenen Güte, durch denanderen sehnt er sich und strebt nach diesem heiligen Ziel.

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Zwischen Hoffen und Streben besteht aber folgender Unterschied: Wirerhoffen Dinge, wenn wir erwarten, sie durch die Hilfe anderer zu er-langen; wir streben aber nach Dingen, wenn wir sie mit eigenen Mittelnaus uns selbst zu erreichen suchen. Wir gelangen in erster Linie undhauptsächlich durch die besondere Huld, Gnade und BarmherzigkeitGottes in den seligen Besitz des höchsten Gutes, das Gott selbst ist;trotzdem will aber die göttliche Barmherzigkeit, daß wir mit seiner Gütemitwirken und mit der Schwäche unserer Einwilligung zur Stärke seinerGnade einen Beitrag leisten.

So ist also unser Hoffen irgendwie vom Streben begleitet; wir hoffennicht vollständig, ohne zu streben, und wir streben niemals, ohne auchzu hoffen – wobei jedoch die Hoffnung immer den Vorrang hat. Sie fußtja auf der göttlichen Gnade, ohne die wir nicht einmal imstande sind,an unser höchstes Gut so zu denken (2 Kor 3,5), wie es notwendig ist, umzu ihm zu gelangen. Daher können wir auch nie dorthin so streben,wie es erforderlich ist, um es zu erreichen.

5. Das Streben ist also ein Sprößling der Hoffnung, wie unser Mit-wirken ein Sprößling der Gnade ist. So wie jene, die hoffen wollen,ohne zu streben, als feig und nachlässig verworfen werden, so sindjene vermessen, frech und hochmütig, die streben wollen, ohne zu hof-fen. Wird aber die Hoffnung vom Streben begleitet, streben wir also,hoffend und hoffen wir strebend, dann, lieber Theotimus, wandelt sichdie Hoffnung durch das Streben in einen mutigen Entschluß, das Strebenaber durch die Hoffnung in ein demütiges Verlangen, und wir hoffenund streben dann, so wie uns Gott dazu anregt. Beides aber hat seineWurzel in jener sehnsüchtigen Liebe nach unserem höchsten Gut, dasum so inniger geliebt wird, je zuversichtlicher man es erhofft.

Man kann sogar sagen, die Hoffnung sei nichts anderes als ein lieben-des Wohlgefallen an der Erwartung und an dem Verlangen nach demhöchsten Gut.

6. Alles daran, Theotimus, ist Liebe! Sobald mir der Glaube das höch-ste Gut gezeigt hat, liebte ich es; weil ich noch nicht in seinem Besitzwar, sehnte ich mich danach; weil ich wußte, daß es sich mir schenkenwürde, liebte ich es noch inniger und sehnte mich noch mehr danach; istdoch seine Güte um so mehr wert, geliebt und ersehnt zu werden, je mehrsie bereit ist, sich mitzuteilen.

In dieser fortschreitenden Entwicklung wandelt also die Liebe ihr Wün-schen in Hoffnung, Sehnsucht und Erwartung um, so daß die Hoffnung

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erwartende und sich sehnende Liebe ist. Weil aber das höchste Gut, das dieHoffnung erwartet, Gott ist und weil sie es auch nur von Gott erwar-tet, auf den und durch den sie hofft, nach dem und durch den siestrebt, da also diese heilige Tugend der Hoffnung in jeder Hinsicht aufGott hinzielt, ist sie eine göttliche und theologische Tugend.

17. KapitelDie Liebe der Hoffnung ist wohl sehr werDie Liebe der Hoffnung ist wohl sehr werDie Liebe der Hoffnung ist wohl sehr werDie Liebe der Hoffnung ist wohl sehr werDie Liebe der Hoffnung ist wohl sehr wertvoll,tvoll,tvoll,tvoll,tvoll,

aber doch noch unvollkommen.aber doch noch unvollkommen.aber doch noch unvollkommen.aber doch noch unvollkommen.aber doch noch unvollkommen.

1. Die Liebe, mein Theotimus, die wir in der Hoffnung hegen, zieltwohl auf Gott hin, kehrt aber wieder zu uns zurück. Sie schaut wohlauf die göttliche Güte, berücksichtigt aber unseren Nutzen; sie strebt wohlauf diese höchste Vollkommenheit hin, erstrebt aber unsere Befriedi-gung. Das heißt, sie führt uns nicht deshalb zu Gott, weil er über allesgut in sich selbst ist, sondern weil er über alles gut gegen uns ist. Dusiehst also, in dieser Liebe steckt etwas vom Unsrigen und von unsselbst; sie ist wohl Liebe, aber Liebe des Begehrens, Liebe, die etwas fürsich haben will.

2. Damit soll aber nicht gesagt sein, diese Liebe sei so sehr unszugekehrt, daß Gott nur um unser selbst willen geliebt wäre. O Gott,nein! Die Seele, die Gott nur aus Liebe zu sich selbst liebte und folglichihren eigenen Nutzen als das Ziel der Gottesliebe im Auge hätte, be-ginge ein großes Sakrileg!

Eine Frau, die ihren Mann nur aus Liebe zu seinem Diener liebte,würde ihren Ehemann wie einen Diener und den Diener wie ihrenEhemann lieben. Und eine Seele, die Gott nur liebt aus Liebe zu sichselbst, liebt sich selbst so, wie sie Gott lieben sollte, und Gott, wie siesich selbst lieben müßte.

Es besteht aber ein großer Unterschied zwischen den Worten: „Ichliebe Gott des Guten wegen, das ich von ihm erwarte“ und den Worten:„Ich liebe Gott nur des Guten wegen, das ich von ihm erwarte.“ Ebensoist es etwas anderes zu sagen: „Ich liebe Gott für mich“, als: „Ich liebeGott aus Liebe zu mir“. Im ersten Fall will ich sagen: „Ich liebe es, Gottzu besitzen, ich freue mich, daß Gott mein Anteil und mein höchstesGut ist.“ Das ist heilige Liebe, die die Braut im Hohelied wohl hundert-mal mit heißer Inbrunst ausrufen läßt: „Mein Geliebter ist ganz meinund ich bin ganz sein. Er gehört mir und ich ihm“ (Hld 2,16 6,2; 7,10

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usw.). Gott jedoch aus Liebe zu sich selbst lieben, würde heißen, dieSelbstliebe sei das Ziel der Gottesliebe, so daß die Gottesliebe von derSelbstliebe abhängig, ihr untergeordnet und niedriger als sie wäre, waseiner beispiellosen Gotteslästerung gleichkäme.

3. So ist also die Liebe, die wir Hoffnung nennen, wohl eine Liebe desBegehrens, jedoch eines heiligen, wohlgeordneten Begehrens, das nichtdarauf gerichtet ist, Gott zu uns und zum eigenen Nutzen gleichsam her-abzuziehen, sondern uns mit ihm, unserer ewigen Glückseligkeit zu ver-einigen. Gewiß, wir lieben uns in dieser Liebe zugleich mit Gott, dochohne uns in dieser Liebe den Vorrang einzuräumen oder uns Gott gleich-zusetzen. Unsere Selbstliebe ist vermengt mit der Gottesliebe, die Liebe zuGott aber hat das Übergewicht. Die Selbstliebe ist wohl da, aber nur alseinfacher Beweggrund, nicht als Hauptziel; unser Interesse spielt auch mit,aber Gott hat den Vorrang.

Gewiß, Theotimus, wenn wir Gott als unser höchstes Gut lieben, dannlieben wir ihn doch ohne Zweifel einer Eigenschaft wegen, durch diewir nicht Gott auf uns, sondern uns auf ihn beziehen. Nicht wir sind seinZiel, sein Verlangen, seine Vollkommenheit, sondern er ist das unsere; –nicht er gehört uns, sondern wir gehören ihm; nicht er hängt von unsab, sondern wir von ihm. Kurz gesagt, in seiner Eigenschaft als höchstesGut, als das wir ihn lieben, empfängt Gott in keiner Weise etwas vonuns, wohl aber wir alles von ihm. Er läßt an uns seinen Überfluß undseine Güte walten, während wir unsere Armut und Dürftigkeit einsetzen.

Gott als höchstes Gut lieben, heißt ihm mit unserer Liebe Ehre undEhrfurcht erweisen, heißt bekennen, daß er unsere Vollkommenheit,unsere Ruhestätte und unser Ziel ist; jenes Ziel, in dessen Besitz unsereganze Seligkeit besteht.

4. Es gibt Güter, deren man sich bedient, indem man sie gebraucht.Solcher Art sind Sklaven, Diener, Pferde, Kleider usw. Die Liebe zu ihnen isteine Liebe bloßen Begehrens, denn man liebt sie nur, weil sie nützlich sind.

Ferner gibt es Güter, deren wir uns erfreuen, aber so, daß Besitzund Freude gegenseitig und auf beiden Seiten gleichmäßig sind, wie esbei unseren Freunden der Fall ist. Wir lieben sie wohl mit einer Liebe desBegehrens, weil ihre Freundschaft uns Freude bereitet; – aber es ist einrechtmäßiges, gutes Begehren, durch das sie uns angehören und wir glei-cherweise ihnen.

Endlich gibt es eine dritte Art von Gütern, die uns gehören undderen wir uns erfreuen, aber so, daß wir uns von ihnen abhängig fühlen,

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von ihnen etwas haben und ihnen untergeben sind. Hierher gehört dasWohlwollen unserer Hirten, Fürsten, Väter, Mütter oder ihre Gegenwartund Gunst. Wir haben auch zu ihnen eine Liebe des Begehrens – liebenwir sie ja nicht deswegen, weil sie Fürsten, Hirten, Väter und Mütter sind,sondern weil sie unsere Fürsten, unsere Hirten, unsere Väter und Müttersind.

Dieses Begehren oder diese eigennützige Liebe ist verbunden mit Ehr-erbietung, Hochachtung und Ehrfurcht. Nicht deshalb lieben wir ja unsere El-tern, weil sie uns, sondern weil wir ihnen angehören.

5. In dieser Weise lieben und begehren wir auch Gott in der Tugend derHoffnung. Wir lieben ihn nicht, damit er unser höchstes Gut sei, sondernweil wir sein Eigentum sind; nicht als ob er unseretwegen da wäre, son-dern weil wir seinetwegen da sind.

Beachte dazu, Theotimus, der Grund, warum wir lieben, das heißt,warum wir unser Herz der Liebe zu dem begehrten Gut zuwenden, liegt beidieser Liebe darin, daß es unser Gut ist.

6. Ausmaß und Umfang dieser Liebe hängen aber von der Höhe undWürde des Gutes ab, das wir lieben.

Wir lieben unsere Wohltäter, weil sie eben unsere Wohltäter sind;wir lieben sie aber mehr oder weniger, je nachdem sie uns mehr oderweniger Wohltaten erwiesen haben.

Warum also, mein Theotimus, lieben wir Gott mit einer Liebe des Be-gehrens? Ohne Zweifel, weil er für uns ein Gut bedeutet. Aber warumlieben wir ihn aufs höchste? Weil er unser höchstes Gut ist.

Wenn ich nun sage, daß wir Gott aufs höchste lieben, dann sage ichdamit nicht, daß wir ihn mit der höchsten Liebe lieben, denn die höchsteLiebe liegt nur in der Tugend der göttlichen Liebe, in der „Caritas“. In derTugend der Hoffnung ist die Liebe noch unvollkommen, denn sie liebtdie unendliche Güte nicht, weil sie die unendliche Güte an sich ist, sondernweil sie es für uns ist.

Weil es aber in dieser Art von Liebe keinen höheren Beweggrund gibt,als jenen, der der Betrachtung des höchsten Gutes entstammt, so sagenwir, daß wir auch kraft dieses Beweggrundes Gott über alles lieben. Durchdiese Liebe ist freilich, wenn sie allein bleibt, niemand imstande, die Gebo-te Gottes zu erfüllen und das ewige Leben zu erlangen. Sie ist ja eine Liebe,die mehr Empfindungen als Wirkungen nach sich zieht, es sei denn, siewird von der wahren Gottesliebe begleitet.

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18. KapitelDie Liebe in der Buße. VDie Liebe in der Buße. VDie Liebe in der Buße. VDie Liebe in der Buße. VDie Liebe in der Buße. Verschiedene Arerschiedene Arerschiedene Arerschiedene Arerschiedene Arten von Buße.ten von Buße.ten von Buße.ten von Buße.ten von Buße.

1. Unter Buße im allgemeinen versteht man jene Reue, durch welcheman die begangenen Sünden verwirft und verabscheut und sich zugleichvornimmt, das Unrecht und die Beleidigung so weit als möglich demge-genüber wieder gut zu machen, gegen den man gesündigt hat.

Ich habe in den Begriff der Buße den Vorsatz hineingenommen, dieBeleidigung wieder gutzumachen. Denn die Reue verabscheut nicht ge-nügend das Übel, wenn sie seine Hauptwirkung, die Beleidigung unddas Unrecht freiwillig fortbestehen läßt. Dies geschieht aber, wenn siedie Möglichkeit hat, dies wieder irgendwie gutzumachen, es aber nichttut.

2. Ich will hier nicht von der Reue mancher Heiden sprechen, die nachTertullian (De poen. 1) wohl den Anschein von Reue hatte, aber so ver-kehrt und unsinnig war, daß es sie zuweilen sogar reute, Gutes getanzu haben. Ich will nur von der Tugend der Buße sprechen, die verschiede-ner Art ist, je nach ihren verschiedenen Beweggründen.

Es gibt eine rein natürliche und menschliche Bußgesinnung. Von dieserArt war z. B. jene Alexanders des Großen, der seinen Freund Clitus ge-tötet hatte und dann – wie Cicero berichtet (Tusc. 4,37) – so sehr vonReue gepackt wurde, daß er Hungers sterben wollte; auch die Reue desAlcibiades gehört hierher, der von Sokrates (nach Augustinus – St.G.14,8) der Torheit überwiesen, aus Traurigkeit und Kummer bitterlichweinte, weil er nicht war, wie er sein sollte.

Aristoteles (Eth. Nic. 7,7) kennt diese Art von Buße und versichert,daß der Unbeherrschte, der sich bewußt allen Lüsten hingibt, unverbes-serlich sei, weil er keine Reue kenne; wo es aber keine Reue gebe, gebees auch keine Heilung. Seneca, Plutarch und die Pythagoräer, die so sehrdie Gewissenserforschung empfehlen, haben zweifellos verstanden, daßes eine Reue gibt; vor allem Seneca, der so lebhaft von der Unruhespricht, die der Seele Gewissensbisse bereitet; und der weise Epiktet,der so gut die Vorwürfe beschreibt, die wir uns selber machen müssen,daß man es fast nicht besser sagen kann!

3. Es gibt dann noch eine andere Art von Bußgesinnung, die zwar auchauf dem Boden einer natürlichen Sittlichkeit wächst, aber doch göttlichgenannt werden kann, insofern ihr die natürliche Erkenntnis zugrundeliegt, Gott durch die Sünde beleidigt zu haben.

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Tatsächlich haben mehrere Philosophen erkannt, daß man der Gottheit durchein tugendhaftes Leben gefällt und sie daher durch ein lasterhaftes Lebenbeleidigt. Der edle Epiktet, der wünschte, als Christ zu sterben, und des-sen Wunsch auch wahrscheinlich in Erfüllung gegangen ist, sagte, er wäreglücklich, wenn er bei seinem Tod die Hände zu Gott erheben und spre-chen könnte: „O Herr, so viel an mir lag, habe ich Dir keine Unehreangetan.“ Er will auch, daß jeder wahre Philosoph Gott diesen be-wunderungswerten Eid leiste: der göttlichen Majestät nie ungehorsam zusein, ferner nie zu tadeln oder zu benörgeln, was auch immer auf Grundgöttlicher Anordnung geschehe, sich auch darüber in keiner Weise zubeklagen. An einer anderen Stelle lehrt er, daß Gott und unser Engelbei allen unseren Werken zugegen seien.

Du siehst also wohl, Theotimus, daß sogar dieser Philosoph, obwohlHeide, richtig erkannte, daß Gott durch die Sünde beleidigt und durchdie Tugend geehrt wird; deshalb wollte er auch, daß man die Sündebereue; er stellt sogar die Forderung auf, jeden Abend das Gewissen zuerforschen, wozu er und Pythagoras mahnten:

„Hast du Böses getan, tadle dich ernst!Hast du Gutes getan, sei zufrieden!“4. Diese Art Reue wird durch eine natürliche Gotteserkenntnis und

-liebe hervorgerufen, sie gehört daher in das Gebiet der bloß natürlichenReligion. Weil aber die bloße Vernunft die Philosophen mehr zur Er-kenntnis als zur Liebe Gottes führte, so verherrlichten sie Gott nichtentsprechend der Kenntnis, die sie von ihm hatten (Röm 1,21). Die Naturspendete mehr Licht, zu erkennen, wie sehr Gott durch die Sünde belei-digt werde, als Liebesglut, diese Beleidigung so zu bereuen, daß sie zurWiedergutmachung für die Beleidigung Gottes führte.

Obschon nun einige heidnische Weise eine Art von religiöser Bußekannten, so war diese Erkenntnis doch so selten und so wenig klar, daßsogar die Stoiker, die damals als die tugendhaftesten unter ihnen gal-ten, den Satz aufstellten: „Der Weise wird niemals traurig“ – eineBehauptung, die der Vernunft ebenso widerspricht, wie jene andere, vonihr abgeleitete Behauptung: „Der Weise sündigt nie,“ der Erfahrung wi-derspricht.

5. Wir können uns also, mein lieber Theotimus, sagen, daß die Bußeeine durchaus christliche Tugend ist. Denn die Heiden kannten sie kaum,den Christen aber ist sie so wesentlich, daß sie einen Hauptbestandteilder Lehre des Evangeliums bildet. Diese sagt ja: „Wer behauptet, er habe

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keine Sünde, ist ein Tor“ (1 Joh 1,8.10), und wer glaubt, er könne ohneBuße Genugtuung leisten, ist in irrigem Wahn befangen. Ist doch dieMahnung der Mahnungen unseres Herrn: „Tut Buße!“ (Mt 3,2; 4,17).

6. Hier nun eine kurze Schilderung des Wachstums in dieser Tugend:Zunächst gelangen wir zu einer tiefen Erkenntnis, daß wir, soweit es anuns ist, durch die Sünde Gott beleidigen, weil wir ihn verachten, verun-ehren, ihm ungehorsam sind und uns gegen ihn empören, – und weil Gottwirklich durch die Sünde beleidigt, erzürnt, verachtet wird, da er ja dasBöse verabscheut, verwirft und verdammt.

Dieser wahrheitsgemäßen Erkenntnis entspringen mehrere Beweggrün-de, die entweder alle zusammen oder einzeln uns zur Reue führen kön-nen.

Manchmal erwägen wir, daß Gott den Sündern eine strenge Strafe inder Hölle bestimmt hat und daß sie auf ewig von der Seligkeit im Him-mel ausgeschlossen werden, denn diese steht nur den guten Menschenoffen. Da die Sehnsucht nach dem Himmel gut ist, so ist es auch dieFurcht, den Himmel zu verlieren. Noch mehr: da das Verlangen nachdem Himmel durchaus achtungswert ist, so ist auch die Furcht vor derHölle gut und löblich. Wer sollte denn einen so großen Verlust und einesolche Strafe nicht fürchten? Diese doppelte Furcht, deren eine knechtlichund die andere eine Mietlingsfurcht ist, bewegt uns heftig zur Reue überunsere Sünden, die diese Furcht verursachen. Deshalb wird sie auch inder Heiligen Schrift unzählige Male eingeschärft.

7. Ein andermal betrachten wir wieder die Häßlichkeit und Bosheit derSünde. Wir erinnern uns dabei, daß der Glaube uns lehrt, wie sehrdurch die Sünde unsere Ebenbildlichkeit mit Gott beschmutzt und ent-stellt, wie die Würde unseres Geistes entehrt wird und wir uns zu denvernunftlosen Tieren erniedrigen. Ferner, daß wir durch die Sünde un-sere Pflichten gegen den Schöpfer verletzt, das hohe Gut der Gemein-schaft mit den Engeln verscherzt und uns bösen Geistern zugesellt haben,ja ihnen hörig geworden sind. Endlich besinnen wir uns, wie sehr wirdurch die Sünde Sklaven der Leidenschaften werden, die vernunftgemäßeOrdnung umwerfen und unsere Schutzengel beleidigen, denen wir sovieles verdanken.

8. Es kann auch sein, daß wir zur Reue durch die Schönheit der Tu-gend bewegt werden, die uns so viel Wertvolles gibt, wie die Sündeuns Übel verursacht. Wir werden auch dazu angeregt durch das Beispielder Heiligen. Wer könnte je die unvergleichlichen Bußwerke einer hl.

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Maria Magdalena, Maria von Ägypten oder der frommen Büßer jenesKlosters betrachten, das den Beinamen „Kerker“ führte und vom hl. Jo-hannes Climacus beschrieben wurde, ohne tiefe Reue über seine Sündenzu empfinden? Das bloße Lesen seiner Geschichte muß doch jeden dazubringen, der nicht völlig abgestumpft ist.

19. KapitelBuße ohne Liebe ist noch unvollkommen.Buße ohne Liebe ist noch unvollkommen.Buße ohne Liebe ist noch unvollkommen.Buße ohne Liebe ist noch unvollkommen.Buße ohne Liebe ist noch unvollkommen.

1. Alle diese Beweggründe lehrt uns der Glaube und die christlicheReligion. Daher ist auch die daraus folgende Reue höchst wertvoll, wenn-gleich noch unvollkommen.

Sie ist in Wahrheit wertvoll. Die Heilige Schrift und die Kirche würdenuns mit solchen Motiven nicht zur Reue auffordern, wenn die daraus ent-springende Buße nicht gut wäre. Außerdem ist es klar ersichtlich, daß esganz vernünftig ist, aus diesen Beweggründen heraus seine Sünden zubereuen, ja, daß es fast unmöglich ist, seine Sünden nicht zu bereuen,wenn man sie aufmerksam überdenkt.

Sie ist aber trotzdem unvollkommen, weil ihr das Motiv der Gottes-liebe noch fehlt. Siehst du nicht, Theotimus, daß all dieses Bereuennur den eigenen Nutzen, das eigene Glück, die Schönheit der Seele,ihre Ehre und Würde, mit einem Wort, die Liebe zu uns selbst imAuge hat, wenn auch in durchaus rechtmäßiger, gerechter und geordneterWeise?

Verstehe mich hier aber wohl: Ich sage nicht, daß all dieses Bereu-en die Liebe Gottes verwirft, sondern nur, daß es die Gottesliebe nichtumfaßt; es stößt sie nicht zurück, enthält sie aber auch nicht; es ist ihrnicht entgegengesetzt, aber es ist noch ohne sie; es schließt sie nicht aus,aber auch nicht ein.

2. Der Wille, der das Gute anstrebt, ist sehr gut. Strebt er aber nurdas Gute an und verwirft gleichzeitig das Bessere, so ist er doch offenbarungeordnet, nicht weil er das Gute anstrebt, sondern weil er das Bessereverwirft. So ist z. B. der Vorsatz, heute Almosen zu geben, gut. Der Vor-satz aber, nur heute Almosen zu geben, wäre schlecht, weil er dasBessere ausschließt, nämlich heute und morgen und immer Almosen zugeben, wo es möglich ist.

Niemand kann leugnen, daß es ganz sicher gut ist, seine Sündenzu bereuen, um der Höllenpein zu entgehen und den Himmel zu erlan-

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gen. Aber es wäre offenbar eine große Sünde, niemals seine Sünden auseinem anderen Grund bereuen zu wollen. Hier würde das Bessere ab-sichtlich ausgeschlossen, das in der Reue aus Liebe zu Gott besteht. Wo istder Vater, der es seinem Sohn nicht übel nähme, wollte dieser ihm zwardienen, jedoch nie mit Liebe und aus Liebe.

Der Anfang guter Dinge ist gut; ihr Fortschritt besser, ihre Vollendungsehr gut. Die Bezeichnung „gut“ kommt dem Anfang zu, insofern erein „Anfang“ ist, und dem Fortschritt, insofern er ein Fortschritt ist.Wollte man aber das Werk mit dem Anfang oder Fortschritt beendigen,so hieße dies, die Ordnung auf den Kopf stellen. So ist z. B. das Kindseingut, aber immer ein Kind bleiben, wäre schlecht, das „hundertjährigeKind“ (Jes 65,20) wird verachtet. – Zu lernen beginnen ist löblich, jedochwidersinnig wäre es, wollte man in der Absicht beginnen, nie weitereFortschritte zu machen.

So sind also die Furcht und alle anderen Motive zur Reue, von denenwir gesprochen haben, gut für den Anfang christlicher Weisheit, der inder Buße besteht. Wollte aber jemand absichtlich nicht fortschreiten, umzur Vollkommenheit wahrer Reue und Buße zu gelangen, die in derLiebe besteht, so würde er aufs höchste denjenigen beleidigen, deralles für seine Liebe als das Ziel aller Dinge bestimmt hat.

3. Aus all dem ziehe ich folgenden Schluß: Die Reue, die die LiebeGottes ausschließt, ist teuflisch; sie gleicht jener der Verdammten in derHölle. Die Reue hingegen, die zwar die Liebe Gottes nicht ausschließt,aber auch noch nicht einschließt, ist zwar gut und wünschenswert, abernoch unvollkommen. Sie genügt zum Heil erst, wenn sie bis zur Gottes-liebe vorgestoßen ist und sich mit ihr verschmolzen hat.

Deshalb sagt ja der Apostel: „Gäbe ich auch meinen Leib den Flammenpreis und all meine Habe den Armen, hätte aber die Liebe nicht, so wäreich nichts“ (1 Kor 13,3).

So können also auch wir in Wahrheit sagen: Wäre unsere Reue sogroß, daß sie uns Tränen erpreßte und unser Herz von Leid durchbohrtwäre – ohne die heilige Gottesliebe nützt uns das alles nichts für dasewige Leben.

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20. KapitelWie Liebe und Schmerz bei der Reue miteinander verschmelzen.Wie Liebe und Schmerz bei der Reue miteinander verschmelzen.Wie Liebe und Schmerz bei der Reue miteinander verschmelzen.Wie Liebe und Schmerz bei der Reue miteinander verschmelzen.Wie Liebe und Schmerz bei der Reue miteinander verschmelzen.

1. So viel mir bekannt ist, verwandelt die Natur niemals Feuer in Was-ser, obwohl verschiedene Arten von Wasser sich in Feuer verwandeln. Wirlesen jedoch im zweiten Buch der Makkabäer (1,19–20), daß Gott ein-mal das Wunder wirkte und Feuer in Wasser verwandelte. Als zur Zeitdes Zidkija die Kinder Israels in die babylonische Gefangenschaft abge-führt wurden, verbargen die Priester auf den Rat des Propheten Jeremiadas heilige Feuer im ausgetrockneten Brunnen eines Tales. Bei ihrer Rück-kehr suchten die Nachkommen, gestützt auf die Andeutungen ihrer Väter,nach dem Feuer und fanden es in dickflüssiges Wasser umgewandelt. AufBefehl des Nehemia goß man es auf das heilige Opfer und siehe, kaumhatten es die Sonnenstrahlen berührt, verwandelte es sich wieder in eingewaltiges Feuer.

Theotimus, Gott legt zuweilen ins tiefste Innere unseres Herzensinmitten von Kummer und Leid inniger Reue das heilige Feuer seinerLiebe. Diese Liebe erfährt ihre erste Umwandlung in das Wasser derReuetränen, welche wiederum durch eine zweite Umwandlung sich ineinen weit größeren Liebesbrand verwandeln. So liebte jene berühmte,liebende Büßerin zuerst den Heiland, ihre Liebe verwandelte sich inTränen und diese wurden zu einer so tiefen und erhabenen Liebe, daßder Herr zu ihr sprach: „Ihr wird viel vergeben werden, weil sie vielgeliebt hat“ (Lk 7,47).

2. Es ist bekannt, daß Wein sich durch Feuer in eine Flüssigkeit ver-wandelt, die in verschiedenen Sprachen „Lebenswasser“ genannt wird.Man nennt sie auch „Branntwein“, weil sie leicht entbrennt und den Brandnährt. In ähnlicher Weise bringt auch die liebende Betrachtung der be-leidigten, über alles liebenswerten göttlichen Güte die Wasser heiligerReue hervor und diesen Wassern entspringt wiederum das Feuer göttli-cher Liebe. Man kann es als brennendes Lebenswasser bezeichnen – Was-ser, weil die Buße ihrem Wesen nach nichts anderes ist als wahres Miß-fallen, wirklicher Schmerz und echte Reue – brennendes Wasser, weil esdoch in sich die Kraft und Eigenart der Liebe trägt. Stammt es doch auseinem Liebesmotiv und vermag daher übernatürliches Leben zu spenden.

Die vollkommene Buße hat also zwei verschiedene Wirkungen: Kraftihres Reueschmerzes und ihres Abscheues vor der Sünde trennt sie uns

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von ihr und von dem Geschöpf, an das uns die irdische Lust gefesselthatte; aber kraft des Liebesmotives, das ihre Wurzel ist, versöhnt undvereinigt sie uns mit unserem Gott, von dem wir uns durch Mißachtungseiner Gebote getrennt hatten. Insofern sie uns daher als Reue von derSünde entfernt, insofern vereinigt sie uns als Liebe mit Gott.

3. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die vollkommene Liebe zuGott, das heißt jene Liebe, die Gott allem anderen, was nicht er ist, vorzieht,immer der Reue vorausgeht, aber auch nicht, daß die Reue immer dieserLiebe vorausgeht. Trifft dies auch zuweilen zu, so kommt es dochauch vor, daß zugleich mit der Geburt der göttlichen Liebe in unserenHerzen auch die Geburt der Bußgesinnung in der Liebe erfolgt. Ebensokommt es vor, daß mit dem Auftreten der Reue in unserem Geist dieLiebe in der Reue mit auftritt.

4. Als Jakob geboren wurde, faßte er seinen Zwillingsbruder Esaubeim Fuß (Gen 25,25), damit ihre beiden Geburten nicht nur schnellaufeinander folgten, sondern auch ineinander verklammert und mitein-ander verknüpft wären. So wird auch die Buße, die ähnlich wie Esauwegen ihres Schmerzes und ihrer Zerknirschung hart und rauh anmutet,zuerst geboren. Gleich Jakob aber hält die sanfte und anmutige Gotteslie-be sie beim „Fuß“ in einer so innigen Verkettung, daß beide nur einund denselben Ursprung haben, denn das Ende der Geburt der Reue istder Anfang der Geburt vollkommener Liebe.

Wie also Esau zuerst geboren wurde, so erscheint auch die Reue ge-wöhnlich vor der Liebe. Wie aber Jakob, obwohl der Zweitgeborene, demErstgeborenen bald vorstand, so unterwirft auch die zweitgeborene Liebebald die Reue und wandelt sie in Freude um.

Theotimus, ich bitte dich, betrachte Maria Magdalena, wie sie in ihremLiebesschmerz weinend ausruft: „Sie haben meinen Herrn hinwegge-nommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (Joh 20,13).Da sie ihn aber unter Seufzern und Tränen gefunden hat, hält sie ihn inLiebe fest und will ihn nicht mehr lassen.

Die unvollkommene Liebe fragt und verlangt nach dem Herrn; dieBuße sucht und findet ihn; die vollkommene Liebe aber hält ihn fest unddrückt ihn an sich.

In Äthiopien findet man gewisse Edelsteine, die von Natur aus nurein sehr blasses Feuer haben. Legt man sie aber in Weinessig, dann fun-keln sie in wunderbarem Licht (Plin.H.n. 37,7). Ähnlich verhält es sichauch mit jener Liebe, die der Reue vorangeht. Sie ist gewöhnlich unvoll-

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kommen, aber, eingetaucht in die Schärfe der Buße, erstarkt sie und wirddann zu einer ganz großen Liebe.

5. Es kommt sogar vor, daß auch eine vollkommene Reue nur die Kraftund Eigenschaft der Liebe enthält, nicht aber auch ihre eigentliche Tätig-keit.

Du wirst mich nun fragen, welche Kraft und Eigenschaft der Liebe dieReue besitzen kann, wenn sie nicht deren Tätigkeit hat.

Theotimus, der Beweggrund vollkommener Reue ist die Güte Gottes,deren Beleidigung uns schmerzt. Dieser Beweggrund ist aber nur inso-fern Beweggrund, als er bewegt und Bewegung verursacht. Die Bewegungaber, die die göttliche Güte im Herzen verursacht, das diese Güte erwägt,kann nur eine Liebesregung, das heißt eine Bewegung zur Vereinigunghin sein. Wenn also auch die eigentliche Tätigkeit der Liebe in derechten Reue nicht aufscheint, so empfängt sie doch immer deren Antriebund ihre einigende Eigenart, durch die sie uns mit der göttlichen Gütevereinigt und verbindet.

Sag mir, bitte, ist es nicht dem Magnet eigen, Eisen anzuziehen undsich ihm anzuschmiegen? Dabei sehen wir aber, daß auch das Eisenanderes Eisen anzuziehen vermag, wenn es vorher mit dem Magnet be-strichen wurde. Ohne also selbst Magnet zu sein, noch auch dessenNatur empfangen zu haben, hat das Eisen dessen Kraft und Eigenart; esvermag, wie der Magnet anzuziehen und an sich haften zu lassen.So besitzt auch die vollkommene Reue zwar nicht die eigentliche Tätigkeitder Liebe, aber wenn sie vom Liebesmotiv berührt wird, hat sie derenKraft und Eigenart, nämlich den Antrieb zur Vereinigung, die unsereHerzen zum göttlichen Willen hinführt und an ihn heftet.

6. Nun wirst du aber fragen: Worin besteht der Unterschied zwischendiesem Antrieb zur Vereinigung in der Buße und der eigentlichen Tätig-keit der Liebe? Theotimus, die Tätigkeit der Liebe besteht wohl im Hin-streben nach Vereinigung, die im Wohlgefallen wurzelt, während dasHinstreben nach Vereinigung, das sich in der Buße findet, nicht auf demWeg des Wohlgefallens, sondern des Mißfallens, der Reue, der Genug-tuung, der Wiederversöhnung vor sich geht.

Insofern also dieses Hinstreben vereinigt, hat es die Eigenart derLiebe, insofern es bitter und schmerzlich ist, die Eigenart der Buße. Mitanderen Worten: es ist seiner Natur nach eine wahre Reue der Buße,jedoch eine Regung, der die Kraft und die vereinigende Eigenart derLiebe innewohnt.

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Der Theriakwein heißt nicht so, weil er etwa Theriak enthielte, – erenthält nämlich nicht eine Spur davon – sondern nur, weil er die Kraftund Wirkung des Theriaks gegen allerlei Gifte dann besitzt, wenn dieRebe in Theriak eingetaucht wurde. Ähnlich ist es auch bei der Buße. Man darfsich nicht wundern, daß, wie es in der Heiligen Schrift heißt, die BußeSünden tilgt, Seelen erlöst, sie Gott angenehm macht und rechtfertigt,sämtlich Wirkungen der Liebe und anscheinend nur ihr zuzuschreiben.Wenn auch sogar der vollkommenen Reue die Liebe selbst nicht immerinnewohnt, so sind doch immer ihre Kraft und Eigenart in ihr. Diesehaben sich ja in sie ergossen, weil ihr Beweggrund die Liebe war.

7. Ebensowenig ist es verwunderlich, daß die Kraft der Liebe in derReue geboren wird, noch ehe die Liebe selbst in ihr gebildet ist. WennSonnenstrahlen auf ein Spiegelglas fallen, wird die Hitze, die eine Kraftund natürliche Eigenschaft des Feuers ist, allmählich so stark, daß siezu verbrennen beginnt, bevor sie Feuer hervorgebracht hat, bzw. bevorman solches wahrnehmen konnte.

Ähnlich verhält es sich mit dem Wirken des Heiligen Geistes. Er wirftin unseren Verstand die Erkenntnis von der Größe der Sünde, die docheine Beleidigung dieser erhabenen Güte ist. Diese Erkenntnis spiegelt sichin unserem Willen wider, womit ein allmähliches, aber kraftvolles Wachs-tum der Reue gegeben ist, verbunden mit einer gewissen Erwärmung desHerzens und einer starken Sehnsucht, wieder in Gnade bei Gott zu sein.Diese innerlichen Regungen entwickeln sich dermaßen, daß sie die Seelen ent-flammen und mit Gott vereinigen, sogar bevor die eigentliche Liebe ganzdurchgebildet ist.

Die Liebe allerdings entzündet sich wie ein heiliges Feuer in ebendiesem Augenblick, so daß die Reue wohl nie das Herz entflammen undmit Gott, seiner letzten Vollendung, vereinigen wird, ohne schon ganzin Liebesglut und Liebesflamme verwandelt zu sein, so daß das Ende dereinen zum Beginn der anderen wird.

Vielmehr liegt das Ende der Reue im Beginn der Liebe, so wie derFuß Esaus in der Hand Jakobs war. Als seine Geburt ihrem Ende zuging,begann die Geburt Jakobs; das Ende der Geburt des ersten war verbun-den, verkettet und, was noch mehr ist, umgeben von der beginnendenGeburt des zweiten.

So ist es auch mit dem Beginn der vollkommenen Liebe. Sie folgt nichtnur dem Ende der Reue auf dem Fuß, sondern hält sich an sie, verknüpftsich mit ihr, oder um es mit einem Wort zu sagen, der Beginn der Liebe

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verschmilzt ganz innig mit der Reue, wenn sie ihren Höhepunkt erreichthat. Wenn nun die Reue so mit der Liebe verschmolzen ist, verdient sieuns das ewige Leben.

8. Diese liebende Reue äußert sich gewöhnlich durch Stoßgebete undHerzenserhebungen zu Gott, ähnlich jenen der Büßer der Heiligen Schrift:„Ich bin Dein, o mein Gott, rette mich“ (Ps 119,94). „Erbarme Dichmeiner, o Herr, denn auf Dich vertraut meine Seele“ (Ps 57,2). „Rettemich, Herr, denn die Wasser überfluten meine Seele“ (Ps 69,2). „Haltemich gleich einem Deiner Knechte“ (Lk 15,19). „Herr sei mir armen Sün-der gnädig“ (Lk 18,13).

Einige Lehrer sagen nicht ohne Berechtigung, daß das Gebet recht-fertigt, denn das reuige Beten oder die betende Reue erhebt die Seelezu Gott, vereinigt sie mit ihm und erlangt so zweifellos Verzeihung kraftder heiligen Liebe, die diese heilige Regung verursacht.

Wir sollten deshalb immer viele Stoßgebetlein dieser Art bereit habenals Ausdruck unserer liebenden Reue und der Sehnsucht nach Versöhnungmit Gott. Wir hoffen, diese zu erlangen, wenn wir unsere Not vor demHerrn aussprechen (Ps 142,2) und unsere Herzen in sein erbarmungs-volles Herz ergießen, das sie gnädig aufnehmen wird.

21. KapitelDie liebevollen Lockungen des Herrn helfen und begleiten unsDie liebevollen Lockungen des Herrn helfen und begleiten unsDie liebevollen Lockungen des Herrn helfen und begleiten unsDie liebevollen Lockungen des Herrn helfen und begleiten unsDie liebevollen Lockungen des Herrn helfen und begleiten uns

bis zum Glauben und zur Liebe.bis zum Glauben und zur Liebe.bis zum Glauben und zur Liebe.bis zum Glauben und zur Liebe.bis zum Glauben und zur Liebe.

1. Zwischen dem ersten Erwachen von der Sünde oder vom Unglaubenbis zum endgültigen Entschluß, vollkommen zu glauben, liegt oft einelange Zeit. Während derselben ist es gut, zu beten, wie es etwa der hl.Pachomius tat, von dem früher die Rede war, oder der Vater jenes armenBesessenen, der, wie uns der hl. Markus (9,23) berichtet, zwar beteuerte,daß er glaube, das heißt, daß er zu glauben beginne, aber dann docherkannte, daß sein Glaube nicht stark genug sei, und daher ausrief:„Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben.“ Er wollte damit sagen: ichbin zwar nicht mehr wie früher in der dunklen Nacht des Unglaubens,denn schon treffen die Strahlen des Glaubens den Horizont meiner Seele; dochglaube ich nicht, wie ich glauben sollte, denn mein Erkennen ist schwachund von Finsternissen verdunkelt. Hilf mir daher, o mein Herr!

Deshalb spricht auch der hl. Augustinus ganz feierlich jenes denk-würdige Wort: „Höre doch, o Mensch, und vernimm: Fühlst du dich

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nicht von Gott gezogen, dann bete, damit du gezogen werdest!“ (zuJoh 26, § 2). Er hat hier aber nicht jene erste Regung im Auge, die Gott„in uns, ohne uns“ bewirkt, wenn er uns aus dem Schlaf der Sündeaufrüttelt und aufweckt. Wie könnten wir auch um dieses Aufweckenbitten, da doch niemand beten kann, bevor er wach ist. – Vielmehr sprichter vom Entschluß, den der Mensch faßt, gläubig zu sein, und meint mitden Worten „gezogen werden“ nichts anderes als „Glauben haben“. Des-halb ermahnt er auch jene, die sich zum Glauben an Gott angezogenfühlen, um die Gabe des Glaubens zu bitten.

2. Wohl niemand dürfte besser als der hl. Augustinus die Schwierigkeitenkennen, mit denen der Mensch gewöhnlich zu kämpfen hat, um sich vonjener ersten Reinigung, die Gott in uns bewirkt, bis zum vollkommenenGlaubensentschluß durchzuringen. Trotz vieler Lockungen der Gnade, trotzder Worte des großen hl. Ambrosius, trotz seiner Unterredungen mitPontitianus und tausenderlei anderer Mittel, verschob er doch seineBekehrung von Tag zu Tag (s. Bek 8). So viel Mühe kostete es ihn, einenEntschluß zu fassen, daß man auf ihn wohl treffender als auf irgend je-mand anderen seine eigenen Worte anwenden könnte: „O Augustinus,wenn du nicht von Gott gezogen bist und nicht glaubst, so bete, damit dugezogen werdest und glaubst.“

3. Der Herr lockt unsere Herzen durch geistige Freuden an, die unsseine himmlische Lehre beglückend und anziehend erscheinen lassen. Sei-ne Güte will unseren Willen in Bewegung setzen, ihn durch diese freund-lichen Fesseln festhalten und zur vollständigen Glaubenshingabe und -zustimmung hinziehen.

Aber wie Gott uns seine Güte durch heilige Einsprechungen erweist,so hört auch unser Feind nicht auf, seine Schlechtigkeit durch Versuchun-gen zu betätigen. Wir bleiben aber frei, den himmlischen Lockungen zufolgen oder sie zurückzuweisen.

Das Tridentinische Konzil hat (6.Sitzung can.4) ausdrücklich entschie-den: „Wer behauptet, der freie Wille des Menschen wirke, wenn er vonGott bewegt und geweckt wird, zu seiner Bereitung und Zurüstung fürden Empfang der Rechtfertigung in nichts mit, indem er dem weckendenund rufenden Gott zustimmt, auch könne er, selbst wenn er wollte, nichtwidersprechen, der sei ausgeschlossen“ und von der Kirche verworfen.

4. Wenn wir die Gnade der göttlichen Liebe nicht zurückweisen, sobreitet sie sich in unserer Seele immer mehr aus, bis diese ganz umge-

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wandelt ist. Sie gleicht großen Flüssen, die sich in eine frei vor ihnenliegende Ebene ergießen und darin sich immer mehr und mehr ausbreiten.

Wenn nun die göttliche Eingebung uns zum Glauben hingezogen hatund in uns keinem Widerstand begegnet, so zieht sie uns auch zur Bußeund zur Liebe hin.

So erging es dem Apostel Petrus. Wie ein Apode lag er auf demBoden. Da hebt ihn die göttliche Eingebung auf, die ihm durch den Blickseines Meisters geschenkt wurde (Lk 22,61). Er läßt sich in aller Freiheitvom milden Wehen des Heiligen Geistes vorwärts bewegen und tragen.Er blickt in diese heilbringenden Augen, die ihn aufgeweckt haben, liestdarin gleich wie im Buch des Lebens das liebevolle Anerbieten der Ver-zeihung, die ihm Gottes Güte schenken will. Er glaubt nun wieder hoffenzu dürfen, entfernt sich vom Vorhof, betrachtet das Grauenhafte seinerSünde und verabscheut sie, weint, stöhnt, wirft sein zerknirschtes Herz zuFüßen der göttlichen Barmherzigkeit nieder, bittet um Vergebung und faßtden Vorsatz einer unwandelbaren Treue gegen Gott. Durch diesen Fort-schritt in den seelischen Regungen gelangt er schließlich unter der stän-digen Führung, Unterstützung und mit der Hilfe der Gnade zur heiligenSündenvergebung, da er so von Gnade zu Gnade vorwärts schreitet, nachdem Wort des hl. Prosper: Ohne Gnade läuft man nicht zur Gnade (Deingratis 2,562).

5. Um diesen Punkt zu beschließen, sage ich also: Wenn die Seeledie ersten Lockungen der zuvorkommenden Gnade fühlt, wenn sie sichihrem beglückenden Einfluß überläßt und dann gleichsam aus einer tie-fen Ohnmacht erwacht, beginnt sie zu beten und ruft: „O mein Vielge-liebter, du Freund meiner Seele, ich bitte dich, ziehe mich an dich! Stützemich durch die Kraft deines Armes, sonst vermag ich nicht zu gehen.Ziehst du mich aber nach dir, dann werden wir beide laufen: du, der dumir durch den Wohlgeruch deiner Düfte hilfst, und ich, der ich deinerHilfe mit meiner schwachen Zustimmung antworte. Deine lieblichenDüfte werden mich stärken und erquicken, bis der Balsam deines heili-gen Namens, das heißt die heilbringende Salbung meiner Rechtfertigungsich über mich ergossen hat“ (Hld 1,2.3).

Sieh, mein Theotimus, die Seele würde nicht bitten, wäre sie nichtbereits geweckt; kaum aber ist sie es und fühlt die göttlichen Lockungen, sofleht sie, noch weiter angezogen zu werden. Hat ihre Bitte Erhörunggefunden, dann läuft sie; sie würde aber nicht laufen, belebten nichtjene kostbaren Wohlgerüche himmlischer Gnade, die sie anziehen und

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durch die man sie anzieht, ihr Herz durch die Kraft ihres kostbaren Duf-tes. Da sie nun schneller läuft und ihrem himmlischen Bräutigam näherkommt, fühlt sie noch beglückender die Wonnen, die er verbreitet, bis ersich endlich gleich einem Balsam in ihr Herz ergießt. In freudiger Überra-schung über dieses nicht so schnell erhoffte und unerwartete Glück ruft siedann aus: „O mein Vielgeliebter, wie ein Balsam hast du dich in meinHerz ergossen! Fürwahr, es ist kein Wunder, daß die jungen Seelen dichlieben!“ (Hld 1,5).

6. In dieser Weise, liebster Theotimus, kehrt die göttliche Eingebungbei uns ein und kommt uns zuvor, indem sie den Willen zur heiligenLiebe bewegt. Weisen wir sie nicht zurück, dann begleitet sie uns undumhüllt uns, um uns anzuspornen und immer weiter vorwärts zu drän-gen. Lassen wir nicht von ihr, dann läßt sie auch nicht von uns, bis sieuns in den Hafen der göttlichen Liebe gebracht hat.

Sie erweist uns also denselben dreifachen Dienst, den einst der Erz-engel Rafael seinem geliebten Tobias erwiesen hat. Sie führt uns auf die-ser ganzen Reise heiliger Buße, sie schützt uns vor den Gefahren und vorden Angriffen Satans und tröstet, belebt und stärkt uns in unseren Schwie-rigkeiten.

22. KapitelKKKKKu ru ru ru ru rze Beschreibung der Gottesliebe.ze Beschreibung der Gottesliebe.ze Beschreibung der Gottesliebe.ze Beschreibung der Gottesliebe.ze Beschreibung der Gottesliebe.

1. Sieh nun, mein lieber Theotimus, wie Gott die Seele nach und nachmit unaussprechlicher Zartheit aus dem Ägypterland der Sünde heraus-führt, sie von Liebe zu Liebe geleitet, gleichsam von einer Wohnstättezur anderen, bis er sie hineingeführt in das Land der Verheißung, dasheißt in die hochheilige Gottesliebe.

2. Diese ist, um es mit einem Wort zu sagen, Freundschaft mit Gott.Es ist keine Liebe, die etwas haben will, denn durch die Gottesliebe lie-ben wir Gott um der Liebe seiner selbst willen, in Anbetracht seinerüberaus liebenswerten Güte.

3. Diese Freundschaft ist eine echte Freundschaft, weil sie gegenseitigist. Von Ewigkeit her liebte Gott jede Seele, die ihn je liebte, gegen-wärtig liebt oder einmal lieben wird (1 Joh 4,10). Sie ist aber auch erklärtund bewußt gegenseitig. Gott weiß doch, daß wir ihn lieben, da er selbstuns die Liebe schenkt. Auch wir wissen um seine Liebe zu uns, da er sielaut verkündet hat und wir alles Gute, das wir haben, als echte Wirkun-gen seines Wohlwollens erkennen. Schließlich sind wir in ständiger Ver-

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bindung mit ihm, der ohne Unterlaß zu unserem Herzen durchEinsprechungen, Lockungen und heilige Regungen spricht. Er hört nie auf,uns Gutes zu tun, und gibt uns zahllose Beweise seiner innigsten Zuneigung,indem er uns seine Geheimnisse wie vertrauten Freunden offenbart (Joh15,15).

Schließlich treibt er seine heiligen liebevollen Beziehungen zu uns aufdie Spitze, indem er sich uns als Speise im hochheiligsten Altarssakramentschenkt.

Wir aber besprechen uns mit ihm jederzeit, so oft wir wollen, im heiligenGebet, da wir all unser Leben, unsere Bewegung und unser Sein nichtnur mit ihm haben, sondern in ihm und durch ihn (Apg 17,28).

4. Diese Freundschaft mit Gott ist mehr als eine einfache Freund-schaft, es ist eine Freundschaft auserlesener Art, weil wir uns ja Gottauserlesen, den wir mit einer Liebe sondergleichen lieben wollen. „AusTausenden ist er erwählt“ (Hld 5,10), sagt die Braut im Hohelied und willdamit sagen, aus allen. Diese Liebe ist also nicht nur eine besonders ausge-zeichnete, sondern eine unvergleichliche Liebe, da sie zugleich Gottes Voll-kommenheit so verehrt und hochschätzt, daß alle andere Hochachtung undVerehrung vor dieser schwindet und jede andere Liebe keine echte Liebe istim Vergleich zu dieser Liebe, oder wenn sie echte Liebe ist, so ist dieGottesliebe unendlich mehr als Liebe.

5. Daraus folgt, Theotimus, daß weder Menschen noch Engel diesewahre Liebe zu Gott aus sich hervorzubringen vermögen, sondern daßallein der Heilige Geist sie verleiht, indem er sie in unsere Herzenergießt (Röm 5,5). So wie unsere Seele, die zwar dem Körper das Lebengibt, aber in ihm nicht ihren Ursprung hat, sondern kraft Gottes na-türlicher Vorsehung unserem Körper eingegossen wird, so entstammtauch die Liebe, die unserem Herzen Leben spendet, nicht diesem, sondern strömtin unser Herz als himmlische Gabe, kraft der übernatürlichen Vorse-hung seiner göttlichen Majestät.

Wir sprechen deshalb von einer übernatürlichen Freundschaft derSeele mit Gott, weil sie sich auf Gott bezieht und ihn zum Ziel hat, nichtder natürlichen Kenntnis nach, die wir von seiner Güte haben, sondernder übernatürlichen nach, die uns der Glaube vermittelt.

6. Darum thront sie auch im Verein mit Glaube und Hoffnung auf derhöchsten Spitze unseres Geistes. Gleich einer Königin voll Majestät hatsie ihren Sitz im Willen, wie auf einem Thron, von dem aus sie die Zart-

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heit und Wärme ihrer Innigkeit über die ganze Seele verbreitet und siedadurch ganz schön, anmutig und göttlicher Güte liebenswert macht.

Ist die Seele ein Königreich, dessen König der Heilige Geist ist, so istdie Liebe die Königin, die in goldenem, verbrämtem Gewand zu seinerRechten sitzt (Ps 45,10). Ist die Seele eine Königin, Braut des großenhimmlischen Königs, so ist die Liebe die Krone, die königlich ihr Hauptschmückt. Ist aber die Seele zugleich mit ihrem Leib eine Welt im Klei-nen, so ist die Liebe die Sonne, die alles schmückt, alles erwärmt undalles belebt.

So ist also die göttliche Liebe, die Caritas, eine Liebe der Freundschaft,eine Freundschaft ganz besonderer Vorliebe, eine Vorliebe unvergleichli-cher, über alles erhabener und übernatürlicher Bevorzugung. Sie gleichteiner Sonne, die die ganze Seele mit ihren Strahlen verschönt, die in allengeistigen Fähigkeiten gegenwärtig ist, um sie vollkommen zu machen, inallen Kräften, um sie zu ordnen. Ihr Thron aber ist im Willen, um dort zuherrschen und ihn zu bestimmen, ihren Gott über alles zu lieben.

O wie glückselig ist die Seele, in welche diese heilige Liebe sich er-gossen hat: Alle Güter erhält sie zugleich mit ihr (Weish 7,11).

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DRITTES BUCHDRITTES BUCHDRITTES BUCHDRITTES BUCHDRITTES BUCH

FFFFFororororortschritt und Vtschritt und Vtschritt und Vtschritt und Vtschritt und Vollendung der Liebe.ollendung der Liebe.ollendung der Liebe.ollendung der Liebe.ollendung der Liebe.

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1. Kapitel

Die heilige Liebe kann in jedem stets vermehrDie heilige Liebe kann in jedem stets vermehrDie heilige Liebe kann in jedem stets vermehrDie heilige Liebe kann in jedem stets vermehrDie heilige Liebe kann in jedem stets vermehrt werden.t werden.t werden.t werden.t werden.

1. Das heilige Konzil von Trient (6. Sitzg. can. 10.) versichert uns, daßdie Freunde Gottes „von Tugend zu Tugend“ schreiten (Ps 84,8), von Tag zuTag erneuert werden (2 Kor 4,16), d. h. durch gute Werke in der Ge-rechtigkeit wachsen, die sie durch göttliche Gnade empfangen haben, undmehr und mehr gerechtfertigt werden. So heißt es ja in den heiligen Schrif-ten: „Wer gerecht ist, werde noch gerechter, und wer heilig ist, noch hei-liger“ (Offb 22,11). „Zweifle nicht daran, daß du gerechtfertigt werdest biszum Tod“ (Sir 18,22). „Die Wege des Gerechten sind wie ein glänzendesLicht, das zunimmt und wächst bis zum vollen Tag“ (Spr 4,18). Undweiter: „In aller Wahrhaftigkeit wollen wir in Liebe wachsen in allem inden hinein, der unser Haupt ist, Jesus Christus“ (Eph 4,15). Und end-lich: „Ich bitte euch, daß eure Liebe immer mehr und mehr wachse“(Phil 1,9). Dies alles sind Stellen der Heiligen Schrift und zwar aus denPsalmen, aus Johannes, Jesus Sirach und Paulus.

Ich kenne kein Tier, das unbegrenzt und andauernd wachsen kann,außer dem Krokodil, das sehr klein zur Welt kommt und wächst, solangees lebt (Vinzenz v. Beauvais, Spec. nat. 1,17). Deshalb ist es ein echtesSinnbild der Guten wie der Bösen. Sagt doch der große König David:„Der Hochmut derer, die Gott hassen, steigt immer höher“ (Ps 74,23).Und Paulus: „Die Guten wachsen wie der anbrechende Tag von Herr-lichkeit zu Herrlichkeit“ (2 Kor 3,18).

2. Im gleichen Zustand lange zu verharren, ist unmöglich. Wer in diesemGeschäft nicht gewinnt, der verliert; wer auf dieser Leiter nicht hinaufsteigt,der steigt hinab; wer in diesem Kampf nicht Sieger ist, der wird besiegt. Wirleben inmitten der Gefahren des Kampfes, den unsere Feinde gegen uns füh-ren. Widerstehen wir nicht, so unterliegen wir. Widerstehen aber heißtüberwinden und überwinden heißt siegen. Der hl. Bernhard sagt (254.Brief an Quarinus): „Vom Menschen heißt es in besonderer Weise, erbleibe nie im gleichen Zustand (Ijob 14,2); entweder muß er vorwärts-schreiten oder zurückweichen.“ „Alle laufen, aber nur einer erlangt denPreis. Lauft daher so, daß ihr ihn erlangt“ (1 Kor 9,24).

3. Was könnte es für einen Preis geben außer Jesus Christus? Wiewerdet ihr ihn jedoch erreichen, wenn ihr ihm nicht nachfolgt? Folgt ihrihm aber nach, dann werdet ihr beständig vorwärtsschreiten, ja eilen,

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denn er blieb nie stehen, sondern setzte den Lauf seiner Liebe und seinesGehorsams fort bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8).

So geh denn, sagt der hl. Bernhard, geh, sage ich, mit ihm, geh, meinlieber Theotimus, und kenne keine anderen Grenzen als die deines Le-bens. Solange dieses dauert, eile dem Heiland nach! Eile aber eifrig undhurtig; denn was würde es dir nützen, ihm nachzufolgen, wenn du nichtdas Glück hättest, ihn zu erreichen?

4. Hören wir noch den Propheten: „Mein Herz habe ich geneigt ge-macht, auf ewig Dein Gesetz zu erfüllen“ (Ps 119,112). Also nicht nureine Zeit lang, sondern immer und für ewige Zeiten will er das Gesetzdes Herrn erfüllen, darum wird ihm auch ewiger Lohn werden. „Seligjene, die da rein und fleckenlos sind und im Gesetz des Herrn wandeln“(Ps 119,1). „Unselig jene, die voll Schuld sind und nicht im Gesetz desHerrn wandeln“ (Ps 119,21).

Nur ein Teufel konnte sagen: „Auf dem Nordabhang des Berges wer-de ich sitzen“ (Jes 14,13). O Elender, sitzen willst du? Weißt du dennnicht, daß du auf dem Weg bist? Auf dem Weg sitzt man nicht, sondernman muß voranschreiten. So sehr ist der Weg zum Gehen bestimmt, daßman für Gehen auch seinen „Weg machen“ sagt. Darum sprach Gott auchzu einem seiner großen Freunde: „Wandle vor mir und sei vollkommen“(Gen 17,1).

5. Wahre Tugend kennt keine Grenzen, sie schreitet immer voran.Ganz besonders aber die heilige Liebe, die ja die Tugend der Tugendenist. Fände sie ein Herz mit unendlicher Aufnahmefähigkeit, würde siesich ins Unendliche steigern, da ja ihr Gegenstand (Gott) ein unendlicherist. Denn nichts kann sie hindern, unendlich zu sein, als die Beschaffen-heit des Willens, der sie aufnimmt und durch sie tätig sein soll. Wiekein Mensch Gott so sehen kann, wie er wirklich ist, so kann ihn auchniemand so lieben, wie er liebenswert ist. Gäbe es ein Herz, dasGott mit einer Liebe anhangen könnte, die der göttlichen Güte eben-bürtig wäre, so müßte es einen Willen haben, der unendlich gut ist. Einsolcher kann aber nur in Gott sein.

6. Die heilige Liebe kann also in uns ohne Ende vervollkommnetwerden, ohne jedoch je unendlich werden zu können. Sie kann mehr undmehr und immer mehr gesteigert werden, nie aber unbegrenzt. Gottes Geistkann unseren Geist erhöhen und an die verschiedensten übernatürlichenHandlungen heranbringen, wie es ihm gefällt, solange es nicht unendlichesind. Denn zwischen kleinen und großen Dingen, mögen sie auch überaus

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groß sein, gibt es immer ein Größenverhältnis, vorausgesetzt, daß dasÄußerste des äußerst Großen nicht unendlich ist. Nie aber gibt es einGrößenverhältnis zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. Woll-te man hier auch eines aufstellen, so müßte man entweder das Endlichezum Unendlichen erhöhen oder das Unendliche zum Endlichen er-niedrigen. Beides ist aber unmöglich.

Das ist so wahr, daß die Liebe, die der Heiland als Mensch besaß,zwar hoch erhaben war über alle Liebe, die Engel und Menschen sicherdenken können, aber doch nicht unendlich in ihrem Wesen und vonsich aus, sondern nur in Anbetracht seiner Würde und seiner Verdienste,weil sie die Liebe einer unendlich erhabenen Person war, einer göttlichenPerson, die der ewige Sohn des allmächtigen Vaters ist.

Es ist jedoch ein großer göttlicher Gunsterweis für unsere Seelen, daß sieimmer und immer mehr an Liebe zu ihrem Gott zunehmen können,solange sie leben. „Sie schreiten von Kraft zu Kraft“ (Ps 83,8).

2. KapitelWWWWW ie leicht der Herr das Wie leicht der Herr das Wie leicht der Herr das Wie leicht der Herr das Wie leicht der Herr das Wachsen der Liebe gemacht.achsen der Liebe gemacht.achsen der Liebe gemacht.achsen der Liebe gemacht.achsen der Liebe gemacht.

1. Siehst du, Theotimus, dieses Glas Wasser oder dieses Stück Brot,das eine fromme Seele aus Liebe zu Gott einem Armen reicht – es istdamit gewiß noch wenig getan und es ist nach menschlichem Urteil kaumder Erwähnung wert. Gott aber belohnt es und verleiht der Seele Wachs-tum in der Liebe (Mk 9,40).

Auch die Ziegenhaare, die man im Alten Bund im Tempel darbrachte,wurden als ein Gott wohlgefälliges Opfer aufgenommen (Ex 35,26). Sosind auch kleine Handlungen, wenn sie aus der Liebe hervorgehen, Gottangenehm und gereichen uns zum Verdienst. So wie im fruchtbaren Arabi-en nicht nur die aromatischen Gewächse, sondern auch alle anderen PflanzenWohlgerüche verbreiten, weil sie diesem gesegneten Boden entsprießen(Plin.H.n. 1,12), so strömen auch in einer liebenden Seele nicht nur diegroßartigen, sondern auch die geringfügigen Werke den Duft heiligerLiebe aus, lassen ihn gleichsam vor Gottes Majestät verströmen, der des-halb die Liebe noch vermehrt.

2. Ich betone, daß Gott es ist, der in einer Seele die Liebe vermehrt.Denn nicht aus eigener Kraft treibt diese Königin der Tugenden,einem Baum gleich, ihre Äste. Da sie neben Glaube und Hoffnung ihren

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Ursprung in der göttlichen Güte hat, erhält sie auch von dort ihr Wachs-tum und ihre Vollendung, den Bienen gleich, die im Honig gezeugt, auchvom Honig sich nähren.

Die Perlen werden nach der Meinung alter Naturforscher nicht nur imTau geboren, sondern auch durch ihn genährt. Deshalb öffnet die Perl-mutter ihre Schalen gegen den Himmel, gleichsam als wollte sie von dortTautropfen erbetteln, die die Luft eines kühlen Morgens herabzuträufelnpflegt. So sollen auch wir, die wir von der göttlichen Güte Glaube,Hoffnung und Liebe empfangen haben, unsere Herzen dorthin wenden undgeöffnet halten, um die Beharrlichkeit und Vermehrung dieser Tugendenzu erflehen. Daher läßt uns denn auch unsere heilige Mutter, die Kirche,beten: „Herr, vermehre in uns den Glauben, die Hoffnung und dieLiebe“ (13. Sonntag nach Pfingsten). Sie folgt hier dem Beispiel de-rer, die zum Heiland sagten: „Herr, vermehre in uns den Glauben!“ (Lk17,5; Mk 9,23), und der Überzeugung des hl. Paulus, der versichert, daßGott allein die Macht hat, uns Gnaden im Überfluß zu spenden (2 Kor9,8).

3. Gott ist es also, der das Wachstum der Liebe in uns bewirkt, jenach dem Gebrauch, den wir von seiner Gnade machen, dem Aus-spruch der Heiligen Schrift zufolge: „Wer hat,“ d. h. wer die empfangeneGnade gut gebraucht – „dem wird gegeben werden, auf daß er im Über-fluß habe“ (Mt 13,12). So wird der Mahnung des Heilands entsprochen:„Sammelt euch Schätze für den Himmel“ (Mt 6,20), wie wenn er sagenwollte: Fügt zu euren guten Werken immer neue hinzu, denn Fasten,Gebet und Almosen sind jene Kostbarkeiten, aus denen euer Schatz be-stehen soll.

Die zwei Groschen der armen Witwe hatten einen hohen Wert vor Gott(Lk 21,1.4); auch durch Anhäufung von kleinen Geldstücken wird derSchatz größer und wertvoller. So sind auch die geringsten guten Werke,auch wenn sie etwas lässig und nicht mit voller Liebeskraft verrichtetwerden, Gott angenehm und haben ihren Wert bei ihm. Da ihre Kraftgeringer ist als die der schon vorhandenen Liebe, könnten sie ihr an sichnichts hinzufügen. Gottes Vorsehung aber schätzt sie, – und weil seineGüte sie annimmt, werden sie auch in dieser Welt sogleich durch Ver-mehrung der Liebe und in der anderen durch größere Herrlichkeit belohnt.

4. Das Kostbarste, Theotimus, was die Bienen erzeugen, ist wohl derHonig, doch ist auch das Wachs, das sie bereiten, von Wert und sehr

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nützlich. So soll auch ein liebendes Herz mit großem Eifer kostbareWerke vollbringen, damit dadurch seine Liebe kräftiger vermehrt werde;bringt es jedoch nur geringere Werke hervor, so werden auch diesenicht ohne Belohnung sein. Gott wird auch sie annehmen und dieses Herzdafür noch ein wenig mehr lieben.

Nun liebt aber Gott eine Seele, die die heilige Liebe besitzt, nicht nochmehr, ohne ihr auch wieder mehr Liebe zu schenken, da ja unsere Liebezu ihm die eigentliche und besondere Wirkung seiner Liebe zu uns ist.

Je aufmerksamer wir unser Bild in einem Spiegel betrachten, destoaufmerksamer schaut dasselbe auch uns an, und je liebevoller Gott unsereSeele, sein Ebenbild und Gleichnis, anblickt, desto aufmerksamer undinniger blickt auch unsere Seele ihn an und entspricht so nach demMaß ihrer geringen Kraft jedem Mehr an göttlicher Liebe, die diese un-endliche Güte ihr schenkte.

5. In diesem Sinn erklärt das Konzil von Trient (6.Sitzg. can.24):„Wenn jemand sagt, daß die empfangene Rechtfertigung durch guteWerke nicht erhalten und vor Gott nicht vermehrt werde, sondern viel-mehr die guten Werke nur Früchte und Zeichen der erlangten Rechtferti-gung, nicht aber die Ursache ihrer Vermehrung seien, so sei er aus derKirche ausgeschlossen.“

Du siehst also, Theotimus, daß unsere Rechtfertigung, die ein Werkder Liebe ist, durch gute Werke vermehrt wird und zwar, dies ist be-merkenswert, durch alle guten Werke, ohne Ausnahme. Denn, wie derhl. Bernhard bei einer anderen Gelegenheit sagt (De cons. 2,8): „Da, wonichts unterschieden wird, wird auch nichts ausgenommen.“ Da also dasheilige Konzil von guten Werken im allgemeinen und ohne Ausnahmespricht, so gibt es zu erkennen, daß nicht nur große und mit Eifer verrich-tete, sondern auch kleine und schwache Werke die heilige Liebe vermeh-ren, die großen allerdings in größerem, die kleinen in viel geringeremAusmaß.

So groß ist die Liebe, die Gott zu unseren Seelen trägt, so groß seinVerlangen, daß auch wir ihn stets mehr lieben mögen. Seine göttlicheGüte lenkt alles zu unserem Nutzen, zu unserem Vorteil; alles, was wirtun, so armselig und schwach es auch sein mag, läßt er zu unseremBesten gereichen.

6. Bei den sittlichen Tugenden ist es anders. Geringe Werke, d. h.Werke, die nicht dem Tugendakt entsprechen, der einer Seele geradeeigen ist, vermehren die betreffende Tugend nicht, können sie sogar

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schwächen. Freigebigkeit schwindet, wenn sie nur Geringfügiges schenkt,sie wird Engherzigkeit. Bei den Tugenden aber, die ihren Ursprung in derBarmherzigkeit Gottes haben, besonders bei der Liebe, tragen alle gutenWerke zu deren Wachstum bei. Das darf nicht verwundern, denn es istselbstverständlich, daß bei der heiligen Liebe, der Königin aller Tugenden,alles gleich liebenswert und kostbar ist, mag es nun klein oder groß sein.Es verhält sich hier so wie mit dem Balsamstrauch, dem edelsten unterallen Gewürzbäumen, der sowohl in seinen Blättern als auch in seinerRinde Wohlgeruch spendet. Könnte die Liebe je etwas anderes hervor-bringen, was nicht liebenswert wäre und nicht auf Liebe hinzielte?

3. KapitelForForForForFortschritte in der Liebe.tschritte in der Liebe.tschritte in der Liebe.tschritte in der Liebe.tschritte in der Liebe.

1. Theotimus, wir wollen ein Gleichnis zu Hilfe nehmen, da dieseLehrweise dem allerhöchsten Meister der Liebe, von der wir sprechen,so angenehm war.

Ein edler und mächtiger König vermählt sich mit einer überaus liebens-würdigen jungen Fürstin und führt sie in ein einsames Gemach, um sichmit ihr vertraulich zu unterreden. Kaum hat er damit begonnen, dasieht er sie plötzlich bleich werden und in Ohnmacht fallen. Groß istnun sein Schrecken und sein Schmerz! Da er seine junge Gattin mehrliebt als sein eigenes Leben, ist er selbst einer Ohnmacht nahe. Aber diegleiche Liebe, die sein Herz mit so tiefem Schmerz erfüllt, gibt ihm dieKraft, ihr zu helfen und alles ins Werk zu setzen, seine geliebte Gemah-lin aus der Ohnmacht zu erwecken. Er öffnet rasch einen nahen Wand-schrank, entnimmt ihm eine sehr kostbare herzstärkende Medizin, öffnetgewaltsam den geschlossenen Mund, flößt ihr die Medizin ein und be-sprengt überdies noch ihr Gesicht damit, reibt ihre Schläfen und Hände,bis es ihm endlich gelingt, sie zum Bewußtsein zu bringen. Nun hebt ersie liebevoll auf und hilft ihr durch abermalige Stärkung auf die Füße,so daß sie nun auf ihn gestützt gehen kann; ohne die Hilfe seines Armesginge es noch nicht. Schließlich reicht er ihr ein so wirksames und wert-volles Herzmittel, daß sie ihre früheren Kräfte vollständig wiedererlangt.Nun geht sie wieder allein, ihr Gemahl braucht sie nicht mehr so fest zustützen; er hält aber noch ihre Hand in der seinen und seinen Armunter ihrem. So führt er sie, hilft ihr und erweist ihr noch weiterseine Liebe.

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2. Man kann hier vier Liebesdienste des jungen Fürsten unterscheiden:1) Er zeigt sich liebevoll besorgt um seine Gemahlin; 2) er gibt ihr im-

mer noch kleine Stärkungen; 3) er ist immer bereit, sie zu stützen, wennsie wieder schwach werden sollte; 4) er hilft ihr über unebene und rauheStellen des Weges hinweg und stützt sie, wenn es bergauf geht oder wennsie schneller gehen will. Mit dieser zärtlichen Fürsorge umgibt er sie biszum Anbruch der Nacht und verläßt sie erst, bis man sie zu Bett gebrachthat.

3. Die Seele des Gerechten ist die Braut unseres Herrn. Weil aber eineSeele nur dann gerecht ist, wenn sie sich im Stande der heiligen Liebebefindet, so ist sie auch nur dann eine Braut des Herrn, wenn sie zuvoreingeführt wurde in jenes Gemach voll lieblichen Wohlgeruches, vondem im Hohelied die Rede ist (Hld 1,3). Begeht nun eine Seele, der diese Ehrezuteil war, eine Sünde, so fällt sie in eine geistliche Ohnmacht. Und dieserUnfall kommt wirklich unvermutet. Denn wer könnte sich vorstellen,daß ein Geschöpf seinen Schöpfer, der zugleich sein allerhöchstes Gutist, um so geringer Dinge willen, wie die Lockungen zur Sünde, verlassenwill? Das setzt sogar den Himmel in Erstaunen; ja wäre Gott Leiden-schaften unterworfen, so würde er darüber zusammenbrechen, wie er ja inseinem irdischen Leben am Kreuz starb, um uns loszukaufen.

4. Sieht nun der Herr eine Seele, die in die Sünde gefallen ist, so istes zwar nicht mehr erforderlich, daß er aus Liebe zu uns erneut sterbe,aber er eilt herbei, der Seele zu helfen, und öffnet mit unbeschreiblicherErbarmung die Pforten ihres Herzen durch Empfindungen und Mahnun-gen des Gewissens. Diese läßt er aus verschiedenen Erkenntnissen undRegungen entspringen und flößt sie der Seele gleich wohlriechenden undherzstärkenden Mitteln ein, um sie wieder zum Bewußtsein, d. h. zumGuten zurückzuführen.

Dies alles, mein Theotimus, wirkt Gott „in uns“, „ohne uns“ durchseine unendliche Güte, die uns mit zarter Liebe zuvorkommt (Ps 21,3).Käme sie uns nicht zuvor, so würde die Seele sich nicht aus derSünde erheben können und verloren gehen – gleich wie jene Fürstin ohnedie Hilfe ihres Gemahls in ihrer Ohnmacht gestorben wäre. Willigt nundie Seele nach diesem Antrieb in die Anregungen der Gnade ein, gibt siealso ihre Zustimmung der zuvorkommenden Eingebung und nimmtsie die für sie notwendigen Heilmittel an, die Gott ihr reicht, dann wirder sie auch weiterhin stärken und sie durch die verschiedensten Regun-

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gen des Glaubens, der Hoffnung und der Buße zur völligen Genesungund geistlichen Gesundheit führen, die nichts anderes ist als die Liebe.

Solange Gott eine Seele erst zu jenen Tugenden führen muß, die auf dieLiebe vorbereiten, führt er sie nicht nur, sondern er stützt sie und zwar inder Weise, daß, während sie wohl geht, so gut sie kann, er sie doch dabeiträgt und ihr andauernd hilft. Und man kann eigentlich nicht recht unter-scheiden, ob die Seele geht oder ob sie getragen wird. Sie wird nämlichnicht so getragen, daß ihre eigene Tätigkeit des Gehens ausgeschaltetwäre, jedoch könnte sie andererseits keinen Schritt selbständig machen,würde sie nicht gleichzeitig getragen. Mit Recht kann daher eine solcheSeele mit dem Apostel ausrufen: „Ich gehe, doch nicht ich, sondern dieGnade Gottes mit mir“ (1 Kor 15,10).

5. Gelangt aber eine Seele durch die Heilkraft der Liebe, die der Heilige Geistihr als kostbares Heilmittel ins Herz gelegt hat, zur vollständigen geistli-chen Gesundheit, dann kann sie allein stehen und gehen, aber kraft derGesundheit und heiligen Stärke, die die Liebe ihr gibt. Wenn sie also jetztallein gehen kann, dann muß sie doch alle Ehre dafür Gott geben, der ihreine so starke und kraftvolle Gesundheit verliehen. Denn ob der HeiligeGeist uns durch seine Eingebungen kräftigt, ob er uns durch die Liebe,die er in uns ergießt, stützt, ob er uns hilfreich aufrichtet und trägt oderunsere Herzen durch die Gabe einer innigen und starken Liebe belebt, – im-mer und überall leben, gehen und wirken wir nur in ihm und durch ihn(Apg 17,28).

Die Liebe, die unseren Herzen eingegossen ist (Röm 5,5), macht unsalso fähig, vor Gott zu wandeln und auf dem Weg des Heiles fortzuschrei-ten; Gott aber, der der Seele diese Liebe geschenkt hat, läßt ihr trotzdemseinen Beistand angedeihen und reicht ihr unausgesetzt seine hilfreicheHand.

So offenbart er 1) immer mehr die Zärtlichkeit seiner Liebe zu ihr,2) ist er immer daran, sie mehr und mehr anzuspornen, 3) unterstützt ersie gegen die gefährlichen Neigungen und schlechten Gewohnheiten, dieihr als Folgen früherer Sünden anhaften, 4) endlich festigt er sie und vertei-digt sie gegen die Versuchungen.

Ist es nicht oft so, Theotimus, daß man gesunde und kräftige Men-schen antreiben muß, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu gebrauchen, daßman sie sozusagen bei der Hand nehmen und zur Arbeit führen muß?So hat uns auch Gott die Liebe geschenkt und mit ihr Kraft und Mittel,auf dem Weg der Vollkommenheit vorwärts zu kommen, und trotzdem

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gestattet ihm seine Liebe nicht, uns allein zu lassen. Sie treibt ihn viel-mehr an, sich mit uns auf den Weg zu machen; sie drängt ihn, uns zudrängen und eifert sein Herz an, das unsere anzueifern und anzuspornen,daß es die heilige Liebe, die er uns gegeben, gut verwerte. So erneuert siedurch ihre Einsprechungen die Mahnungen des hl. Paulus: „Seht zu, daß ihrdie Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt!“ (2 Kor 6,1). „Solange ihrnoch Zeit habt, tut alles Gute“ (Gal 6,10). „Lauft, damit ihr den Preiserringt“ (1 Kor 9,24). – Wir sollten uns oft vorstellen, daß Gott an unsereHerzen jenes Wort richtet, das er einst zu Abraham gesprochen hat:„Wandle vor mir und sei vollkommen“ (Gen 17,1).

6. In schwierigen und außergewöhnlichen Situationen bedarf aber dieSeele in besonderer Weise göttlichen Beistandes, auch wenn sie imBesitz der heiligen Liebe ist. Ist diese auch noch so gering, so macht siedie Seele doch genügend geneigt und ich denke, auch stark genug, diezum Heil notwendigen Werke zu vollbringen. Will jedoch unser Herznach erhabenen und außergewöhnlichen Taten streben und sie unterneh-men, so bedarf es der mächtigen Hand ihres himmlischen Bräutigams,damit er es dazu antreibe, stärke und immer wieder aufrichte. Auch dieFürstin unserer Parabel vermochte ja nicht, eine Höhe zu ersteigen oderschnell zu laufen ohne die kräftige Hilfe und Stütze ihres Gemahls.

Als der hl. Antonius und der hl. Simeon, der Säulensteher, sich ent-schlossen, ein so erhabenes Leben in der Einsamkeit zu führen, warensie sicher im Stand der Gnade und der göttlichen Liebe. Ebenso die ande-ren Heiligen, die Großes vollbrachten, die Mutter Theresia, als sie das Ge-lübde des besonderen Gehorsams ablegte, der hl. Franziskus und der hl.Ludwig, als sie zur Ausbreitung des Reiches Gottes die Reise übers Meerunternahmen, der hl. Franz Xaver, als er sein Leben der Bekehrungder Inder widmete, der hl. Karl Borromäus, als er sich dem Dienst derPestkranken hingab, und endlich der hl. Paulinus, als er sich selbst alsSklave verkaufen ließ, um den Sohn einer armen Witwe von der Skla-verei zu erretten. Trotzdem hätten diese Heiligen jene kühnen und hoch-herzigen Taten nie vollbracht, hätte nicht Gott zur Liebe, die sie bereitsin ihren Herzen trugen, noch Einsprechungen, Aufmunterungen, Lichtund Kraft in besonderer Weise hinzugefügt, wodurch er sie zu diesenaußerordentlichen Unternehmungen geistlicher Tapferkeit antrieb.

Sieh doch den reichen Jüngling, von dem es im Evangelium heißt,daß ihn der Herr liebte (Mk 10,17.22), der daher auch im Besitz derheiligen Liebe war. Trotzdem kam es ihm nicht in den Sinn, seine Güter zu

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verkaufen und den Erlös unter die Armen zu verteilen, um dann seinemgöttlichen Meister nachzufolgen. Als dieser ihm den Rat dazu gab, fühlteer nicht den Mut, danach zu handeln.

Zu solch großen Werken, Theotimus, bedürfen wir eben nicht nurder göttlichen Anregung, sondern auch der Kräftigung, um das auszufüh-ren, wozu wir angeregt werden. Genau so unbedingt notwendig ist unseine besondere himmlische Hilfe auch bei großen Anfechtungen und au-ßergewöhnlichen Versuchungen.

7. Deshalb empfiehlt uns auch die heilige Kirche oft zu beten: „OHerr, erwecke unsere Herzen!“ (Gebet 2. Adventsonntag) „Durch DeineEingebungen komme unseren Handlungen zuvor, o Gott, und begleitesie mit Deiner Hilfe“ (5. Gebet am Quatembersamstag der Fastenzeit).„Herr, eile mir zu helfen“ (Ps 70,2). Durch solche und ähnliche Gebetewollen wir um die Gnade flehen, ungewöhnliche und hervorragende Wer-ke zu vollbringen, aber auch die gewöhnlichen öfter und eifriger zu tun, beigeringfügigeren Versuchungen mit größerer Festigkeit Widerstand zuleisten und bei schwereren mit mehr Tapferkeit zu kämpfen.

8. Der hl. Antonius wurde einst von einem furchtbaren Haufen höl-lischer Dämonen überfallen. Als er unter unaussprechlicher Qual undPein lange Zeit hindurch ihren Anschlägen widerstanden hatte, sah er,wie sich das Dach seiner Zelle öffnete und ein Strahl himmlischen Lichtesauf ihn fiel. Augenblicklich wurde dadurch jene finstere schwarze Rottehöllischer Feinde verscheucht und Antonius fühlte sich auch von allenSchlägen geheilt, die er im Kampf empfangen hatte. Das Bewußtseineiner besonderen Gegenwart Gottes bemächtigte sich seiner und den Blickzu jenem Licht nach oben wendend rief er aus: „Wo warst Du denn,o gütigster Jesus? Wo warst Du? Warum bist Du mir nicht schon amBeginn meines Kampfes beigestanden, um meiner Not abzuhelfen?“ EineStimme von oben antwortete ihm: „Antonius, wohl war ich hier, aber ichwartete auf den Ausgang des Kampfes. Weil du so tapfer und mutig gestrit-ten hast, werde ich dir immer beistehen“ (Athanasius, Leben des hl. Antonius,§ 10).

Worin bestand aber die Tapferkeit und der Mut dieses großen geistli-chen Kriegers? Er selbst erklärte es einst, als er von einem Dämon ange-fochten wurde, der sich „Geist der Unzucht“ nannte. Nach mehreren an-deren Worten voll heroischer Standhaftigkeit begann der große Heilige den7. Vers des 118. Psalms zu singen:

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Der Herr ist mit mir, ich fürchte mich nicht.Was mag schon ein Mensch mir antun?Der Herr ist mit mir, er ist mein Beschützer,ich werde meine Feinde beschämt sehen.

Auch der hl. Katharina von Siena offenbarte der Herr, daß er wieein Feldherr in seiner Festung in ihrem Herzen geweilt hatte, als sie miteiner furchtbaren Anfechtung zu kämpfen hatte. Er sagte, er sei es gewe-sen, der sie verteidigt hatte, und ohne seine Hilfe wäre sie im Kampfunterlegen. So verhält es sich mit allen großen Versuchungen und Stür-men. Wir können wohl wie der Patriarch Jakob sagen: „Der Engel ist es,der uns vor jedem Unheil beschützt“ (Gen 48,16); und mit dem großenKönig David singen (Ps 22,1.2):

„Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir mangeln.Auf grünenden Auen läßt er mich lagern,zu stillen Wassern führt er mich hin,erquickt meine Seele...“

Daher wollen wir diesen Aufruf, diese Bitte wiederholen (Ps 23,6.7):„Deine Huld begleitet mich all meine Lebenstage:so darf ich wohnen immerdar im Hause des Herrn.“

4. KapitelDie heilige BeharrlichkDie heilige BeharrlichkDie heilige BeharrlichkDie heilige BeharrlichkDie heilige Beharrlichkeit in der göttlichen Liebe.eit in der göttlichen Liebe.eit in der göttlichen Liebe.eit in der göttlichen Liebe.eit in der göttlichen Liebe.

1. Wenn eine besorgte Mutter mit ihrem kleinen Kind ausgeht, so hilftsie ihm und stützt es, wie das Kind es braucht. Auf ebenen, ungefährli-chen Wegen läßt sie das Kind einige Schritte allein gehen, dann nimmtsie es wieder an der Hand und hält es fest oder nimmt es auf denArm und trägt es. So verfährt auch der Herr mit unserer Seele. Unaufhör-lich ist er um jene besorgt, die seine Kinder, d. h. im Besitz der heiligenLiebe sind. Bald läßt er sie gleichsam vor sich hergehen, ihnen bei Schwie-rigkeiten die Hand reichend, bald trägt er sie durch Müh und Leid hin-durch, die ihnen sonst unerträglich wären.

Dies will er uns durch den Mund des Propheten Jesaja offenbaren, der daspricht: „Ich bin dein Gott; ich halte dich an der Hand und sage dir:Fürchte dich nicht, ich helfe dir“ (41,13). Daher müssen wir mit star-kem Mut ein ganz großes Vertrauen auf Gott und seine Hilfe fassen.Wenn wir seiner Gnade nicht untreu sind, wird er in uns das gute Werkder Heiligung vollenden, wie er es auch begonnen hat (Phil 1,6). Er wird

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nach den Worten des Konzils von Trient das „Wollen und Vollbringen inuns bewirken“ (6.Sitzg. can. 13).

2. In dieser Führung unserer Seelen durch die zärtliche Güte Gottesvon der ersten Einführung in die Liebe bis zu deren Vollendung inder Todesstunde besteht die große Gabe der Beharrlichkeit, an die derHeiland die überaus große Gnade der ewigen Glorie bindet gemäß sei-nen Worten: „Wer ausharrt bis ans Ende, wird selig werden“ (Mt 10,22).

Diese Gabe ist nämlich nichts anderes als die Gesamtheit und die Auf-einanderfolge der verschiedenen Unterstützungen und Hilfen, durch diewir in der Liebe Gottes bis zum Ende ausharren – so wie ja auch dasErziehen, Aufziehen und Ernähren eines Kindes nichts anderes ist alsein vielfaches Umsorgen, Helfen, Pflegen und alles Sonstige, was dasKind braucht und was ihm andauernd geboten werden muß, bis es dasAlter erreicht hat, in dem es das alles nicht mehr benötigt.

3. Diese Folge von göttlichen Hilfen und Unterstützungen ist abernicht die gleiche bei all denen, die ausharren. Sie ist sehr kurz bei deneinen, so bei jenen, die sich knapp vor dem Tod bekehren, z. B. beimrechten Schächer oder bei dem Soldaten, der, durch die Standhaftigkeit deshl. Jakobus bezwungen, sich auf der Stelle zu dessen Glauben bekannteund ein Gefährte seines Martertodes wurde. Ähnlich war es auch bei jenemglücklichen Wächter der 40 Märtyrer zu Sebaste. Als er sah, wie einervon ihnen den Mut verlor und der Märtyrerpalme verlustig ging, trat ersofort an dessen Stelle und wurde in allerkürzester Zeit Christ, Märtyrerund glorreicher Heiliger zugleich. Oder denken wir an jenen Notar, vondem im Leben des hl. Antonius von Padua die Rede ist: obwohl er seinLeben lang ein Bösewicht war, starb er doch als Märtyrer.

Endlich gehören hierher alle jene, von denen wir gelesen oder die wirselber gekannt haben, und die nach einem schlechten Leben doch soglücklich waren, gut zu sterben. Diese alle bedürfen nicht vieler Gnaden-hilfen, denn durch die Bekehrungsgnade und die ihnen dadurch einge-gossene Liebe sind sie imstande, eine so kurze Zeit in der Liebe zu ver-harren, außer es käme noch eine ungewöhnlich schwere Versuchung übersie. Bei ihnen ist ja das Eigentümliche, daß sie ohne Schiffahrt in denHafen gelangen, daß ihre Pilgerfahrt gleichsam aus einem einzigen Sprungbesteht. Durch Gottes allmächtige Barmherzigkeit tun sie diesen Sprung in soglücklicher Weise, daß sie über ihre Feinde triumphieren, noch ehe dieseeinen Kampf wahrgenommen. Es scheint, als würde bei diesen Men-

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schen Bekehrung und Beharrlichkeit fast ein und dasselbe sein. Oder ummich genauer auszudrücken: Die göttliche Gnade, die sie ihr Ziel gleich-sam mit einem Anlauf erreichen läßt, sollte nicht eigentlich Beharrlich-keit heißen; da sie deren Stelle aber der Wirkung nach vertritt, indem siedas Heil verleiht, können wir sie doch Gnade der Beharrlichkeit nennen.

4. Bei anderen Menschen hingegen umfaßt die Beharrlichkeit eine gro-ße Zeitspanne. Denken wir nur an die Prophetin Hanna, den heiligenEvangelisten Johannes, den heiligen Einsiedler Paulus, den hl. Romualdund den hl. Franz von Paula. Sie alle bedurften vieler und verschiedenar-tigster Gnadenhilfen, je nach den Schwierigkeiten und der Dauer ihrer irdi-schen Pilgerfahrt.

Die Beharrlichkeit ist aber auf alle Fälle die wünschenswerteste Gabe,die wir in diesem Leben erhoffen können und zwar von Gott allein, vonihm, der nach dem Ausspruch der heiligen Kirchenversammlung (6.Sitzg.can. 13) allein den zu festigen vermag, der steht, und den aufrichten kann,der daran ist zu fallen. Deshalb sollen wir auch nie aufhören, um dieseGabe zu bitten und die Mittel zu gebrauchen, durch die wir sie nach Got-tes Weisung erlangen, nämlich Gebet, Fasten und Almosen, Sakramenten-empfang, Verkehr mit guten Menschen, Anhören und Lesen der Heili-gen Schrift.

5. Weil nun die Gabe des Gebetes und der Frömmigkeit allen jenenfreigebig verliehen wird, die guten Willens sind, den göttlichen Gnaden-anregungen treu entsprechen zu wollen, so steht es in unserer Macht aus-zuharren. Damit will ich aber natürlich nicht sagen, daß die Beharrlichkeitihren Ursprung in unserem Vermögen hat – sie ist ja ein äußerst kostbaresGeschenk der göttlichen Barmherzigkeit, der sie entspringt. Ich meine viel-mehr nur, daß sie nicht aus unserem Können stammt, aber in unser Kön-nen gelegt wird durch unser Wollen, das unzweifelhaft in unserem Kön-nen liegt. Denn wenn auch die göttliche Gnade uns nötig ist, um aushar-ren zu wollen, so liegt doch dieses Wollen in unserem Können, denn diehimmlische Gnade fehlt nie unserem Wollen, solange unserem Könnennicht unser Wollen fehlt. Daher können wir nach der Meinung des hl.Bernhard alle mit dem hl. Paulus sagen: „Weder Tod noch Leben, wederEngel noch Mächte, – weder Höhe noch Tiefe, noch irgend ein Geschöpf kannuns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christus Jesus, unseremHerrn“ (Röm 8, 38).

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In der Tat, kein Geschöpf kann uns die heilige Liebe entreißen, nur wirselber können sie aus eigenem Willen aufgeben und fallen lassen. Nur umdiesen haben wir daher in dieser Hinsicht Befürchtungen zu hegen.

6. Deshalb müssen wir, liebster Theotimus, nach den Ermahnungen desheiligen Konzils (6.Sitzg. can. 13) unsere ganze Hoffnung auf Gott setzen.Er wird das Werk unserer Heiligung, das er begonnen, auch vollenden (Phil1,6), vorausgesetzt, daß wir seinem Gnadenwirken gegenüber nicht ver-sagen. Man darf doch nicht denken, daß derjenige, der zu dem Gelähm-ten sprach: „Gehe hin und sündige fortan nicht mehr“ (Joh 5,14), ihmdann nicht auch die Hilfe gegeben, das meiden zu können, was er ihm zuwollen verboten hat. Gewiß würde Gott die Gläubigen nie mahnen aus-zuharren, wenn er nicht auch bereit wäre, jedem dazu das Können zuschenken. „Sei getreu bis in den Tod und ich will dir die Krone desLebens geben,“ so sprach er zum Bischof von Smyrna (Offb 2,10). „Seidwachsam, steht fest im Glauben, handelt männlich und seid stark.Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1 Kor 16,13.14). „Lauft so, daß ihrden Preis erringt“ (ebd. 9,24).

Mit dem König David müssen wir also Gott oft um die Gabe der Be-harrlichkeit bitten und hoffen, daß er sie uns verleihen wird:

„Verwirf mich nicht, o Herr, wenn ich Greis geworden;wenn meine Kraft vermindert wird, verlaß mich nicht“ (Ps 71,9).

5. KapitelDas Glück, in der göttlichen Liebe zu sterben, istDas Glück, in der göttlichen Liebe zu sterben, istDas Glück, in der göttlichen Liebe zu sterben, istDas Glück, in der göttlichen Liebe zu sterben, istDas Glück, in der göttlichen Liebe zu sterben, ist

eine besondere Gabe Gottes.eine besondere Gabe Gottes.eine besondere Gabe Gottes.eine besondere Gabe Gottes.eine besondere Gabe Gottes.

1. Hat nun der himmlische König die Seele, die er liebt, bis zumEnde dieses Lebens geführt und geleitet, so steht er ihr auch noch imseligen Sterben bei und führt sie ein in das Brautgemach ewiger Glorie,die die kostbare Frucht heiliger Beharrlichkeit ist.

Lieber Theotimus, wenn eine solche Seele, von der Liebe zu ihremgöttlichen Bräutigam ganz hingerissen, all die unzähligen Gnaden undsonstigen Hilfen überschaut, mit denen ihr Gott in der Zeit ihrer Pilger-schaft zur Seite gestanden, mit denen er ihrem eigenen Tun stets zuvor-kam, mit welcher Innigkeit küßt sie dann seine gütige Hand, die sieauf ihrem Weg lenkte, stützte und trug. Sie bekennt, daß sie von ihm, vonihrem göttlichen Heiland, all ihre Seligkeit empfangen hat, da er doch alles

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für sie tat, was sich der große Patriarch Jakob für seine Reise ersehnte, alser die Himmelsleiter gesehen (Gen 28,20).

O Herr, ruft sie dann aus, Du warst mit mir und hast mich auf dem Wegbeschützt, auf dem ich kam, hast mir das Brot Deiner Sakramente alsNahrung gespendet; mit dem hochzeitlichen Gewand der Liebe hast Dumich gekleidet und mich endlich in Dein Haus geführt, in den AufenthaltDeiner Glorie, o mein ewiger Vater! Herr, mein Gott, was soll ich nunanders als feierlich bekennen, daß Du mein Gott bist von Ewigkeit zuEwigkeit? Amen.

„Du nahmst mich bei der Handund führtest mich nach Deinem Willen.Du nahmst mich auf in Ehren“ (Ps 73,24).

2. In dieser Weise geht also unsere Wanderung ins ewige Leben vorsich, für die Gottes Vorsehung von Ewigkeit her die Vielheit, Vielfaltund Aufeinanderfolge der dafür notwendigen Gnaden wie auch ihreAbhängigkeit voneinander bestimmt hat.

Zunächst war es sein wahrhaftiger Wille, daß auch nach Adams Fallalle Menschen selig werden (1 Tim 2,4). Diese Seligkeit aber sollten sie ineiner Weise und durch Mittel erlangen, die ihrer mit freiem Willen be-gabten Natur entsprächen. Mit anderen Worten: Gott wollte das ewigeHeil all jener, welche zu den Gnaden und Liebeserweisen, die er ihnenin dieser Absicht vorbereiten, anbieten und schenken würde, ihre Zu-stimmung geben wollten.

Von all diesen Liebeserweisen sollte nun die Berufung die erstesein, und sie sollte unsere Freiheit so sehr wahren, daß wir sie nachunserem Belieben annehmen oder abweisen könnten.

Jenen Menschen, von denen er voraussah, daß sie diese annehmen wür-den, wollte er die heiligen Regungen der Reue mitteilen.

Folgten sie diesen Regungen, so sollten sie nach seinem Ratschlußvon ihm die heilige Liebe empfangen. Den Seelen aber, die sich imBesitz seiner Liebe befänden, beschloß er, die nötigen Hilfen zur Beharr-lichkeit, und wenn sie diese göttlichen Hilfen gut gebrauchten, die Gna-de der Beharrlichkeit bis ans Ende und die glorreiche Glückseligkeitseiner ewigen Liebe zu schenken.

3. Wir können uns also von der Ordnung Rechenschaft geben, nach derdie göttliche Vorsehung in allem wirkt, was unser Heil betrifft, wenn

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wir von der ersten Wirkung bis zur letzten hinabsteigen, von der Fruchtdieses schönen Baumes, unserer Glorie, bis zur Wurzel, dem Erlösungswerkdes Heilands.

Die göttliche Gnade schenkt ja die Seligkeit auf die Verdienste hin, dieVerdienste auf die Liebe hin, die Liebe auf die Reue hin, die Reue auf denGehorsam hin, mit dem wir der göttlichen Berufung gefolgt sind, undschließlich die Berufung auf die Erlösung durch Christus hin.

Auf die Erlösung stützt sich also die mystische Leiter Jakobs, die bis inden Himmel reicht, da sie im liebevollen Herzen unseres himmlischenVaters als dem Ruheplatz und in der Verherrlichung seiner Auserwähltenendet. Aber ihren Anfang nimmt sie auf Erden, da sie sozusagen hinein-gepflanzt ist in die Seitenwunde des Heilands, der dafür auf Kalvarialitt und starb.

Für diese gottgewollte Aufeinanderfolge von Wirkungen, die von derVorsehung ausgehen, für diese von Gottes ewigem Willen bestimmteAbhängigkeit der einen von der anderen zeugt die heilige Kirche, wennsie in der Vorrede eines ihrer feierlichsten Gebete so zu Gott spricht:„Allmächtiger, ewiger Gott, Herr der Lebenden und Toten! Du erbarmstdich aller, von denen Du weißt, daß sie durch Glauben und WerkeDein sein werden...“ (3. Gebet an den Fastensonntagen). – Damit be-kennt sie, daß die ewige Seligkeit, Krone und Frucht der göttlichenBarmherzigkeit gegen die Menschen, nur für solche bestimmt ist, von de-nen die Ewige Weisheit vorhergesehen hat, daß sie ihrer Berufung gehor-chen und dadurch zu einem lebendigen, in der Liebe sich auswirkendenGlauben gelangen werden (Gal 5,6).

4. Von der Erlösung durch den Heiland hängen also letztlich alldiese Wirkungen ab. Er hat sie uns nach der ganzen Strenge der Ge-rechtigkeit verdient. Er hat für uns Genugtuung geleistet und so alleForderungen einer strengen Gerechtigkeit durch seinen Liebesgehorsambis zum Tod, ja bis zum Kreuzestod erfüllt (Phil 2,8). Dieser ist also dieWurzel aller Gnaden, die wir empfangen, da wir als geistliche Reiser aufihn, den Stamm, gepfropft sind.

Wenn wir so, auf ihn gepfropft, in ihm bleiben, werden wir durch dasGnadenleben, das er uns schenkt, die Frucht der Glorie tragen, dieuns bereitet ist. Sind wir aber geknickten Sprößlingen und Reisern gleich,unterbrechen wir durch unseren Widerstand das Strömen der göttlichenGnade und halten damit die weitere Aufeinanderfolge der göttlichenGnadenwirkungen auf, so darf es uns nicht wundernehmen, wenn man

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uns ganz wegschneidet und als unnütze Zweige ins Feuer wirft (Joh 15,5.6;Röm 11,17ff).

5. Ohne Zweifel bereitet Gott den Himmel nur denen, von welchen ervorhergesehen, daß sie zu den Seinigen gehören werden. Seien wir also „sein“,Theotimus, durch Glaube und Werke und er wird „unser“ sein durchseine Herrlichkeit. Es liegt nun an uns, ob wir „sein“ sind; denn wennes auch eine Gottesgabe ist, Gott anzugehören, so ist es doch eine Gabe, dieGott nie einem Menschen versagt, sondern vielmehr allen anbietet, um siedenen zu verleihen, die sie bereitwilligen Herzens annehmen wollen.

O sieh doch, ich bitte dich, Theotimus, wie innig heiß Gott danachverlangt, daß wir „sein“ seien, da er dafür ganz „unser“ wurde und unsdafür sein Sterben und sein Leben schenkte. Er gab uns sein Leben,uns vom ewigen Tod zu erretten, er gab uns sein Sterben, um uns dieFreuden des ewigen Lebens zu schenken.

Bleiben wir also im Frieden und dienen wir Gott, damit wir schon hierin diesem sterblichen Leben „sein“ seien und noch mehr im ewigen.

6. KapitelWir können in diesem sterblichen Leben nicht zur vollkommenenWir können in diesem sterblichen Leben nicht zur vollkommenenWir können in diesem sterblichen Leben nicht zur vollkommenenWir können in diesem sterblichen Leben nicht zur vollkommenenWir können in diesem sterblichen Leben nicht zur vollkommenen

Liebesvereinigung mit Gott gelangen.Liebesvereinigung mit Gott gelangen.Liebesvereinigung mit Gott gelangen.Liebesvereinigung mit Gott gelangen.Liebesvereinigung mit Gott gelangen.

1. Unaufhaltsam strömen die Flüsse dahin und kehren, wie der Weise sagt(Koh 1,7), zur Stätte zurück, woher sie ihren Ausgang nahmen. Das Meer,die Stätte ihrer Geburt, ist auch die Stätte ihrer Ruhe. All ihr Bewegenzielt nur dahin, sich mit ihrem Ursprung zu vereinigen. „Für Dich, oGott,“ ruft der hl. Augustinus aus, „hast Du mein Herz erschaffen; unru-hig ist es daher, bis es ruht in Dir“ (Bek. I,1). „Was habe ich im Himmel undwas auf Erden außer Dir, o Gott? Denn Du, o Herr, bist der Gott meinesHerzens und mein Anteil in Ewigkeit“ (Ps 73,25.26). Diese Vereinigungmit Gott, nach der unser Herz sich sehnt, kann aber in diesem irdischenLeben nicht zur Vollkommenheit gelangen. Hier kann unsere Liebe nurbeginnen, vollendet wird sie erst in der Ewigkeit.

2. Mit großem Zartsinn sagt die Braut im Hohelied: „Ich fand ihnendlich, den meine Seele liebt, ich halte ihn fest und will ihn nimmerlassen, bis ich ihn einführe in das Haus meiner Mutter, in das Gemachderjenigen, die mich gebar“ (Hld 3,4). Sie findet ihn also, ihren Vielge-liebten, denn durch tausende lieber Aufmerksamkeiten läßt er sie seine

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Gegenwart fühlen. Sie hält ihn fest, denn dieses Gefühl seiner Nähe wecktstarke Liebesregungen, durch die sie ihn an sich zieht und umfängt. Undfeierlich beteuert sie, ihn nie mehr lassen zu wollen.

Wahrhaftig, nie mehr! Denn ihre Liebesregungen werden zu Entschlüs-sen für alle Ewigkeit. Trotzdem will sie ihn erst dann mit bräutlichemKuß küssen, bis sie im Haus ihrer Mutter (Hld 8,1.2), d. h. im himmli-schen Jerusalem (Gal 4,26) mit ihm vereint ist.

3. Sieh aber, Theotimus, wie die Braut an nichts Geringeres denkt, alsihren Vielgeliebten nach ihrem Gutdünken wie einen Sklaven ihrer Lie-be festzuhalten. Sie meint, über ihn nach Belieben verfügen und ihn ein-führen zu können in das beseligende Gemach ihrer Mutter. Und doch ist siees, die durch ihn eingeführt werden muß, gleich Rebekka, die von ihremgeliebten Isaak in das Gemach Saras, seiner Mutter, geleitet wurde (Gen24,67).

Ist das Herz von Liebesleidenschaft entflammt, so maßt es sich immerin etwa Rechte über den an, den es liebt. Der Bräutigam gesteht ja, siehabe ihm das Herz geraubt und ihn mit einem einzigen Haar ihres Haup-tes an sich gefesselt (Hld 4,9), so daß er der Gefangene ihrer Liebe ist.

4. Diese vollkommene Vereinigung der Seele mit Gott wird abererst im Himmel stattfinden, wo nach der Offenbarung des hl. Johannes(19,7.9) das Hochzeitsmahl mit dem Lamm gefeiert wird. Demnach ist sieBraut und Verlobte des unbefleckten Lammes (1 Petr 1,19) schon in die-sem vergänglichen Leben, aber noch nicht Vermählte. Verlöbnis undVersprechen hat man sich gegeben, die Hochzeit aber ist hinausgeschoben, da-her hat die Seele immer die Freiheit, das Verlöbnis aufzuheben, obwohl siedazu niemals einen Grund hat. Denn unser geliebter Bräutigam verläßtuns nie, außer wir zwingen ihn dazu durch unsere Untreue, d. h. durch dieZurücknahme unseres Treueschwures. Sind wir aber einmal im Himmelals Vermählte des göttlichen Lammes, dann ist das Band, das uns mit unse-rem höchsten Gut vereinigt, ewig und unzertrennlich.

5. Freilich, Theotimus, gibt uns der göttliche Bräutigam jetzt schon, dawir noch in der Erwartung des feierlichen Kusses unzertrennlicher Ver-einigung in der himmlischen Herrlichkeit stehen, oft den Liebeskuß durchtausendfache Empfindungen seiner liebreichen Gegenwart. Küßte er dieSeele nicht, so würde sie nicht angezogen und auch nicht dem Duft derSalben des Bräutigams nacheilen (Hld 1,1.3). Deshalb sagt auch der he-bräische Text und mit ihm die griechische Übersetzung in aller Einfalt:

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„Er küßte mich mit den Küssen seines Mundes“ (Hld 1,1). Weil aberdiese im Vergleich zur Glorie geringen göttlichen Liebkosungen nur Vor-bereitungen und Schattenbilder jenes ewigen Vermählungskusses in derEwigkeit sind, so faßt die ehrwürdige lateinische Übersetzung (Vulgata)die Küsse der Gnade in dem einen Kuß der Glorie zusammen und drücktdie Sehnsucht der Braut mit folgenden Worten aus: „Er küßte mich miteinem Kuß seines Mundes,“ gleichsam als wollte sie sagen, unter allenLiebkosungen, die der Geliebte meines Herzens oder das Herz meinerSeele mir bereitet hat, verlange und strebe ich einzig allein nach jenemerhabenen Kuß der Vermählung, der ewig dauert und der einzige Kuß ist,der diesen Namen wirklich verdient, weil alle anderen Liebesbezeigungenmehr Vorboten jener künftigen Vereinigung mit dem göttlichen Bräuti-gam als diese selbst sind.

7. KapitelDie Liebe der Heiligen auf Erden kann ebenso groß, ja nochDie Liebe der Heiligen auf Erden kann ebenso groß, ja nochDie Liebe der Heiligen auf Erden kann ebenso groß, ja nochDie Liebe der Heiligen auf Erden kann ebenso groß, ja nochDie Liebe der Heiligen auf Erden kann ebenso groß, ja noch

größer sein als jene der Seligen im Himmel.größer sein als jene der Seligen im Himmel.größer sein als jene der Seligen im Himmel.größer sein als jene der Seligen im Himmel.größer sein als jene der Seligen im Himmel.

1. Jene glücklichen Seelen, die nach den Mühen und Gefahren diesessterblichen Lebens in den Hafen der Ewigkeit gelangen, erreichen dortdie letzte und höchste Stufe der Liebe, die sie erklimmen können. Siewird ihnen als Belohnung für ihre Verdienste verliehen und diese Beloh-nung ist nach den Worten des Herrn (Lk 6,38) nicht nur ein gutes, son-dern ein überreiches, gerütteltes, aufgehäuftes, überquellendes Maß.

Die Liebe, die als Lohn erteilt wird, ist also immer unvergleichlichgrößer als jene, die verliehen wurde, um diesen Lohn zu verdienen.Daher wird jede einzelne Seele im Himmel mehr Liebe besitzen, als sieje auf Erden besaß, und die geringste Tat der Liebe im ewigen Lebenwird unvergleichlich kostbarer und größer sein als die Tat der größtenLiebe, die in diesem gebrechlichen Leben je gewirkt wird, wurde oderwerden könnte.

2. Im Himmel liebt man unablässig, ohne die geringste Unterbre-chung, während hier selbst die größten Heiligen von den Bedürfnissenund Anforderungen dieses sterblichen Lebens hin und her gezogen,tyrannisiert und gezwungen werden, zahllose Ablenkungen zu erleiden,die sie oft von der Ausübung der heiligen Liebe abhalten.

Theotimus, im Himmel ist das liebende Aufmerken der Heiligen aufGott stark, beständig, unverletzlich und kann weder aufhören noch

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nachlassen. Ihre Absicht ist immer rein und lauter, d. h. frei von allenniedrigen Nebenabsichten. Mit einem Wort: Unveränderlich und unver-gleichlich wird unsere Seligkeit sein, Gott von Angesicht zu Angesichtzu schauen.

Wer könnte die Annehmlichkeit einer Schiffahrt, wenn man überhauptvon „Annehmlichkeit“ sprechen kann, mit all ihren Gefahren, Ängstenund ihrer Unsicherheit, vergleichen mit der Geborgenheit eines königli-chen Palastes, wo alles Wünschenswerte zur Verfügung steht, ja jederWunsch übertroffen ist von all dem Köstlichen, das geboten wird?

So ist auch viel mehr Seligkeit, Wonne und Vollkommenheit in derAusübung heiliger Liebe bei den Himmelsbewohnern als unter den Pil-gern auf dieser armseligen Erde.

3. Und doch hat es Menschen gegeben, die schon während ihres irdi-schen Lebens den großen Gnadenvorzug besaßen, daß ihre Liebe jeneso mancher Heiligen im Himmel weit übertraf. Es spricht doch alles dafür,daß die Liebe des großen hl. Johannes, der Apostel und anderer apostoli-scher Männer schon in diesem Leben größer war als z. B. jene der kleinenKinder, die nach empfangener Taufe sterben und die ewige Seligkeit er-langen.

Für gewöhnlich sind sicher Hirten nicht so tapfer wie Soldaten. Davidjedoch, der junge Hirte, fand zwar, als er zum Heer der Israeliten kam,daß alle im Gebrauch der Waffen geschickter waren als er, aber dannwar er doch tapferer als alle im Heer Israels (1 Sam 17,38.39). So ist auchgewöhnlich die Liebe der Menschen hier auf Erden nicht größer als dieder Unsterblichen, und doch kam es zuweilen vor, daß Menschen in derÜbung der Liebe zwar den Unsterblichen nachstanden, ihnen aber vorauswaren in der Hingabe und Haltung der Liebe.

Nehmen wir dafür ein Beispiel: Vergleicht man ein glühendes Eisenmit einer brennenden Lampe, so wird man finden, das Eisen sei feu-riger und brennender, die Lampe aber habe die größere Flamme undgebe mehr Licht. Ähnliches kann man auch sagen, wenn man ein Neu-getauftes im Himmel mit dem hl. Johannes im Gefängnis oder mitPaulus in den Fesseln vergleicht. Das Kind im Himmel besitzt mehrKlarheit und Licht im Verstand, mehr Flamme und Liebesübung imWillen, während St. Johannes und St. Paulus auf Erden durch eine stär-kere Glut in ihrer Liebeshingabe und eine wärmere Innigkeit in ihrererlesenen Liebesfreundschaft ausgezeichnet waren.

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8. KapitelDie unvergleichliche Liebe der Mutter Gottes,Die unvergleichliche Liebe der Mutter Gottes,Die unvergleichliche Liebe der Mutter Gottes,Die unvergleichliche Liebe der Mutter Gottes,Die unvergleichliche Liebe der Mutter Gottes,

Unserer Lieben Frau.Unserer Lieben Frau.Unserer Lieben Frau.Unserer Lieben Frau.Unserer Lieben Frau.

1. In allem aber und überall will ich bei Vergleichen, die ich anstelle,niemals die allerseligste Jungfrau und Mutter, Unsere Liebe Frau, miteinschließen. O Gott, keineswegs, sie ist ja die Tochter der unvergleich-lichen Liebe, die ganz einzige Taube, die ganz vollkommene Braut(Hld 6,8).

Von dieser himmlischen Königin kann ich nur aus der Tiefe meinesHerzens diesen liebevollen, aber ganz wahren Gedanken aussprechen, daßihre Liebe wenigstens gegen das Ende ihres Lebens die der höchstenSerafim weit übertraf. „Denn wenn auch viele Töchter Reichtümer auf-gehäuft haben, sie hat sie alle übertroffen“ (Spr 31,29). Alle Heiligen undEngel werden mit den Sternen des Himmels verglichen und der erste unterihnen mit dem schönsten Stern (1 Kor 15,41; Jes 14,12), sie aber ist schönwie der Mond. Sie ist die Auserwählte, sie ragt unter allen Heiligen her-vor wie die Sonne unter den Gestirnen (Hld 6,9).

Und mehr noch! So wie die Liebeshingabe dieser „Mutter der schönenLiebe“ an Vollkommenheit die Liebe aller Himmelsbewohner übertrifft,so glaube ich, hat sie diese auch in der Ausübung der Liebe übertroffenund zwar sogar, als sie noch auf Erden weilte. Weil sie nach dem Glau-ben der Kirche (Konzil von Trient, 6.Sitzg. can. 23) nie auch nur diegeringste läßliche Sünde beging, gab es in ihr keinen Wankelmut, kei-nen Aufenthalt im Fortschreiten ihrer Liebe, sondern einen ständigenAufstieg von Liebe zu Liebe. Der Stachel der Begierlichkeit war ihr fremdund es konnte die Liebe gleich dem König Salomo friedlich in ihrer Seeleherrschen und all ihre Werke nach Wunsch vollbringen.

Die jungfräuliche Reinheit ihres Leibes und ihrer Seele war würde-voller und ehrfurchtgebietender als die der Engel. Deshalb ging ihrGeist ungeteilt und unbeschwert, wie der hl. Paulus sagt, ganz im Den-ken an Göttliches auf, im Sorgen, wie es Gott gefalle (s. 1 Kor 7,32.34).Endlich aber, was mußte es sein um die unter allen drängendste, glü-hendste und tätigste Mutterliebe, um diese unermüdliche, unersättlicheLiebe! Was mußte sie im Herzen einer solchen Mutter für das Herz ei-nes solchen Sohnes wirken!

2. Wende nicht dagegen ein, ich bitte dich, daß diese gebenedeiteJungfrau doch auch dem Schlaf unterworfen war. Nein, Theotimus, sag

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nur das nicht! Siehst du denn nicht, daß ihr Schlaf ein Schlaf der Liebe ist?Deshalb bittet auch der Bräutigam, sie ja schlafen zu lassen, soviel es ihrgefällt. „Ich beschwöre euch,“ so spricht er (Hld 8,4), „weckt nicht meineVielgeliebte, bis sie selbst es will.“ Ja, Theotimus, diese himmlische Königinergab sich dem Schlaf aus Liebe, da sie ihrem kostbaren Leib die Ruhenur gönnte, damit er sich kräftige und dadurch seinem Schöpfer nachhernoch vollkommener diene.

Und das ist wahrhaftig ein ausgezeichneter Akt der Liebe, denn dieLiebe Gottes verpflichtet uns, wie der hl. Augustinus sagt (Christl. LehreI,25), auch dazu, unseren Leib richtig zu lieben, da wir ihn zur Ausübungguter Werke brauchen, er außerdem zu unserer Person gehört und einstAnteil an der ewigen Seligkeit haben wird. Jeder Christ soll seinen Leiblieben als ein lebendiges Ebenbild des Leibes des fleischgewordenenErlösers, demselben Stamm entsprossen wie er und daher mit ihm durchdie Bande der Verwandtschaft, ja Blutsbrüderschaft verbunden, noch dazuund besonders, nachdem wir diese Verbundenheit erneuert haben durchden wirklichen Empfang des göttlichen Leibes unseres Erlösers im heilig-sten Altarssakrament und wir uns durch Taufe, Firmung und andere Sa-kramente der göttlichen Güte hingegeben und geweiht haben.

Mit welcher Ehrfurcht aber mußte erst die allerseligste Jungfrau ihrenjungfräulichen Leib lieben! Nicht nur, weil er ganz makellos, gütig, demütig, dergöttlichen Liebe gehorsam und von heiliger Anmut umflossen war, son-dern viel mehr noch, weil er die lebendige Quelle des Leibes unseresHeilands war und daher ihm in unvergleichlicher Weise ganz angehörte.Daher konnte sie wohl sagen, wenn sie sich zur Ruhe begab: So ruhe denn,du Zelt des Bundes, du Arche der Heiligkeit, Thron der Gottheit; erholedich von deiner Müdigkeit und erneuere in dieser milden Ruhe deineKräfte!

3. Überdies mußt du aber noch etwas bedenken, Theotimus: Du weißt,daß böse Träume, die durch sündhafte Gedanken während des Tages her-vorgerufen wurden, in gewisser Hinsicht auch Sünden sind als Folgenund Nachwirkungen vorhergegangener Schlechtigkeit. In gleicher Weisekann man sagen, daß Träume als Nachwirkungen heiliger Liebesaffektedes Vortages auch Tugendakte und heilig genannt werden können. Wiefreut es den hl. Chrysostomus, seine große Liebe zum Volk ausdrücken zuhören, da er ausruft: „Während das Bedürfnis des Schlafes unsere Augen-lider schwer macht, hält die herrische Gewalt der Liebe zu euch dieAugen des Geistes offen. Oft scheint es mir mitten im Schlaf, als rede ich

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zu euch, denn die Seele pflegt im Schlaf das traumhaft zu sehen, womit siesich bei Tag beschäftigt hat. So sehe ich euch also mit den Augen der Liebe,wenn ich euch mit den Augen meines Leibes nicht sehen kann“ (10., heute 1.Homilie von der Buße).

Was mögen wohl die Träume dieser hochheiligen Mutter gewesen sein,als sie schlief, während ihr Herz wachte (Hld 5,2)? War es ihr nicht, oJesus, als ruhtest Du noch in ihrem Schoß, oder als trüge sie Dich anihrer Brust? Wie unsagbar tief mußte wohl ihre Wonne dabei gewesen sein!Vielleicht war es ihr auch manchmal, als ruhe sie, gleich einer weißen, inder Spalte eines Felsens verborgenen Taube (Hld 2,14), in der Seitenwundeihres göttlichen Sohnes, so wie auch er einst wie ein Lämmlein aufihrem Schoß ruhte. So war also ihr Schlaf einer Ekstase gleich, was dieTätigkeit des Geistes betraf, während er für ihren Leib eine wohltuendeErquickung und Erholung war.

Sollte es aber geschehen sein, daß sich ihr im Traum, ähnlich wie demPatriarchen Josef (Gen 37,5.10), ihre künftige Herrlichkeit zeigte; daß siesah, wie sie einst im Himmel mit der Sonne bekleidet, von Sternen ge-krönt, den Mond unter ihren Füßen (Offb 12,1), d. h. von der Herrlichkeitihres Sohnes ganz eingehüllt, gekrönt mit den Verdiensten der Heiligenund die ganze Welt zu ihren Füßen haben würde; oder daß sie, ähnlichwie Jakob (Gen 28,12.13) die Erlösungstat in ihrem Geschehen und inihren Auswirkungen voraussehen durfte – Theotimus, welche Himmels-wonne wird dann wohl ihr Herz erfüllt haben! Welche Zwiegesprächemit ihrem geliebten Kind, welche Wonne und Freude allseits!

Ich will damit aber nicht gesagt haben, Theotimus, daß diese so ein-zigartig auserwählte Seele der gebenedeiten Jungfrau während des Schla-fes des Gebrauchs der Vernunft beraubt gewesen wäre. Manche meinenja sogar, daß Salomo in jenem sowohl schönen als wahren Traum, in demer die Gabe seiner unvergleichlichen Weisheit erbat und erhielt, im vollenBesitz seines freien Willens war. Als Beweis dafür nimmt man die er-leuchteten Worte, die er sprach, die kluge Wahl, die er traf, und das schö-ne Gebet, das er an Gott richtete, alles das ohne eine Spur von Unge-reimtheit oder Geistesverwirrung. Um wie viel wahrscheinlicher ist es da-her, daß die Mutter des wahren Salomo während des Schlafes den Ge-brauch ihrer Vernunft behielt, läßt doch Salomo selbst sie sprechen: „Ichschlafe, aber mein Herz wacht“ (Hld 5,2).

Sicher war es ein noch größeres Wunder, daß Johannes schon imMutterleib seinen Geist gebrauchen konnte. Wie können wir ein geringe-

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res Wunder jener verweigern, der Gott mehr Gunsterweise erteilte alsallen übrigen Geschöpfen zusammen?

4. Kurz gesagt: So wie der Asbest durch die ihm eigene Kraft das Feuerbewahrt, von dem er einmal erfaßt wurde (s. Aug. St. G. 23,5), so bewahrteauch das Herz der jungfräulichen Mutter das heilige Feuer der Liebe, das ihrSohn in ihr entflammt hatte; allerdings mit dem Unterschied, daß dasFeuer des Asbests zwar nicht ausgelöscht, aber auch nicht verstärkt werdenkann, die Liebesflammen der allerseligsten Jungfrau dagegen weder erlö-schen, noch abnehmen, noch gleichbleiben konnten, sondern nicht auf-hörten, sich immer mehr in unerhörtem Maße zu steigern bis in denHimmel, den Ort ihres Ursprungs.

So sehr ist es wahr, daß diese Mutter die „Mutter der schönen Liebe“(Sir 24,24) ist; d. h. daß sie die liebenswerteste wie die liebendste, wie diegeliebteste Mutter ihres einzigen Sohnes ist, der ebenso der liebens-werteste, liebendste und geliebteste Sohn dieser einzigen Mutter ist.

9. KapitelVVVVVorrede zur Abhandlung über die Vorrede zur Abhandlung über die Vorrede zur Abhandlung über die Vorrede zur Abhandlung über die Vorrede zur Abhandlung über die Vereinigung der Seligen desereinigung der Seligen desereinigung der Seligen desereinigung der Seligen desereinigung der Seligen des

Himmels mit Gott.Himmels mit Gott.Himmels mit Gott.Himmels mit Gott.Himmels mit Gott.

1. Die triumphierende Liebe der Seligen im Himmel besteht in derendgültigen, unwandelbaren und ewigen Vereinigung der Seelen mit ih-rem Gott. Was ist aber nun diese Vereinigung?

Je angenehmer und vortrefflicher sich ein Gegenstand unseren Sinnendarbietet, desto ungestümer und gieriger geben sie sich seinem Genußhin. Je schöner, je angenehmer anzusehen, je lichtvoller etwas vor unsist, desto gieriger und schärfer betrachtet es das Auge; und je angeneh-mer und wohlklingender Stimmen oder musikalische Aufführungen sind,desto aufmerksamer hört das Ohr zu.

So tut jeder Gegenstand dem Sinn, der ihm entspricht, eine starke,wenn auch sanfte Gewalt an, und diese Gewalt ist desto mehr oderminder stark, je mehr oder minder hervorragend der Gegenstand ist.Voraussetzung bleibt immer, daß er der Aufnahmefähigkeit des jeweili-gen Sinnes angepaßt ist. Das Auge z. B. erfreut sich wohl am Licht,dessen Übermaß empfindet es aber als unerträglich; es kann deshalbauch nicht direkt in die Sonne schauen. Und das Ohr wird verletzt undbeleidigt durch eine Musik, mag sie noch so schön sein, wenn sie zu lautoder zu nahe ist.

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2. Nun ist der Gegenstand unseres Erkenntnisvermögens die Wahrheit.Seine ganze Freude und Befriedigung besteht daher darin, die Wahrheitüber die Dinge zu entdecken und zu erkennen; und je erhabener dieWahrheiten sind, desto freudiger und aufmerksamer gibt sich unserVerstand ihrer Betrachtung hin.

Wie sehr, Theotimus, freuten sich doch die Philosophen des Altertums,die so viele Wahrheiten in der Natur entdeckten! Jede andere Lust schienihnen gering, verglichen mit ihrer Liebe zur Weisheit, um deretwillen sieEhrenstellen, Reichtümern, ja manchmal ihrer Heimat entsagten. Einer vonihnen riß sich sogar mit ruhiger Überlegung die Augen aus und verzich-tete so für immer auf die Freude am schönen und wohltuenden körperli-chen Licht, um sich ungestört mittels des geistigen Lichtes der Betrachtungder Wahrheit widmen zu können. So lesen wir von Demokrit (AulusGell. Noctes Att. 10,17).

Daraus können wir entnehmen, wieviel Freude es bereitet, die Wahr-heit zu erkennen. Aristoteles sagte daher oft, daß das Glück und dieSeligkeit des Menschen in der Weisheit und die Weisheit in der Kenntniserhabener Wahrheiten bestehe (Ethica ad Nicom. 1,13; 10,6 ff).

3. Wenn aber unser Geist, über das natürliche Licht des Verstandes er-hoben, die heiligen Wahrheiten des Glaubens zu schauen beginnt, o Gott,Theotimus, welch ein Jubel! Die Seele vergeht vor Freude, wenn sie dasWort ihres himmlischen Bräutigams vernimmt, in dem für sie mehr Se-ligkeit und Süße liegt als im Honig aller menschlichen Wissenschaften(Ps 119,103).

Gott hat allem Geschaffenen seine Spuren und Fußstapfen eingedrückt;daher ist die Erkenntnis, die uns die Geschöpfe von seiner göttlichenMajestät vermitteln, gleichsam nur ein Blick auf seine Füße, während derGlaube, mit dieser Erkenntnis verglichen, ein Schauen des Antlitzes sei-ner göttlichen Majestät ist. Wir sehen es zwar noch nicht im vollenMittagsglanz der Glorie, aber doch wie im Aufgehen des Morgenlichtes,ähnlich wie es Jakob bei der Jabbokfurt geschah. Als er dort mit demEngel rang, den er im schwachen Schimmer der Morgendämmerung kaumsehen konnte, rief er trotzdem voll Entzücken über dessen Anblick aus:„Ich habe den Herrn von Angesicht zu Angesicht gesehen und meiner Seeleist Heil widerfahren“ (Gen 32,24.30).

O wie wunderbar ist das heilige Licht des Glaubens! Mit untrügli-cher Gewißheit zeigt es uns nicht nur die Entstehungsgeschichte der Ge-schöpfe und ihre wahre Bestimmung, sondern auch die ewige Geburt des

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großen und erhabenen göttlichen Wortes, für das und durch das alleserschaffen ward (Joh 1,3; Kol 1,16), und das mit dem Vater und dem Hei-ligen Geist ein alleiniger Gott ist, höchst einzig, höchst anbetungswürdigund gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

„Ach,“ sagte der hl. Hieronymus seinem geliebten Paulinus, „der ge-lehrte Platon wußte davon nichts und auch Demosthenes war es unbe-kannt“ (53. Br. § 4).

„Wie süß sind Deine Worte meinem Gaumen; süßer als Honig sind siemeinem Mund,“ sagt der königliche Prophet (Ps 119,103). Und die Jünger vonEmmaus, ergriffen von den Liebesflammen, die das Wort des Glaubens inihnen entfacht hatte, riefen aus: „Brannte nicht unser Herz, während er aufdem Weg mit uns redete und uns die Schrift aufschloß?“ (Lk 24,32).

4. Wenn die göttlichen Wahrheiten schon im schwachen Licht des Glau-bens so beglückend sind, o Gott, wie wird es erst sein, wenn wir sieim Mittagslicht der Glorie schauen werden!

Die Königin von Saba verließ alles und zog aus, um Salomo zusehen, dessen glänzender Ruf bis zu ihr gedrungen war. Als sie ihndann reden hörte und die wundervolle Weisheit erkennen konnte, die sichin all seinen Worten offenbarte, erfaßte sie ein tiefes Staunen. Beinaheaußer sich vor Bewunderung, beteuerte sie, daß alles, was sie von SalomosWeisheit sagen gehört, nicht die Hälfte dessen sei, was sie nun mit ihreneigenen Augen und durch ihre eigene Erfahrung kennengelernt (1 Kön10,1.7).

Wie schön und anziehend sind die Wahrheiten des Glaubens, die wirdurch Hören vernommen haben! Kommen wir aber einst ins himmlischeJerusalem und schauen dort den großen Salomo, den König der Glorie,der auf dem Thron seiner Weisheit sitzend uns die ewigen Wunder undGeheimnisse seiner erhabenen Wahrheit so unerhört klar und lichtvollenthüllt, daß unser Geist das, was er auf Erden geglaubt, dann gleich-sam vor sich ausgebreitet sieht – dann, liebster Theotimus, welches Entzük-ken! Welche Ekstasen! Welche Bewunderung! Welche Liebe! Welche Se-ligkeit!

Nein, nie – so werden wir in diesem Übermaß unserer Wonne ausru-fen – nie hätten wir zu ahnen vermocht, daß wir einmal so beglückendeWahrheiten sehen würden. Wir haben gewiß alles geglaubt, was manuns von deiner ewigen Glorie, o große Gottesstadt (Ps 87,2), verkündet hat; abernie und nimmer vermochten wir uns vorzustellen, wie unendlich tief dieAbgründe deiner Wonnen sind.

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10. KapitelVVVVVorausgehende Sehnsucht wird die Vorausgehende Sehnsucht wird die Vorausgehende Sehnsucht wird die Vorausgehende Sehnsucht wird die Vorausgehende Sehnsucht wird die Vereinigung derereinigung derereinigung derereinigung derereinigung der

Seligen mit Gott gewaltig verstärken.Seligen mit Gott gewaltig verstärken.Seligen mit Gott gewaltig verstärken.Seligen mit Gott gewaltig verstärken.Seligen mit Gott gewaltig verstärken.

1. Sehnsucht, die dem frohen Besitz vorausgeht, schärft und verfei-nert die Empfindung, die damit verbunden ist. Je drängender und mäch-tiger das Verlangen danach ist, desto größer ist dann Freude und Seligkeitdes Besitzes.

O Jesus! Mein lieber Theotimus, welche Freude für das menschlicheHerz, Gottes Antlitz schauen zu dürfen: Gottes Antlitz, Gegenstand un-serer Sehnsucht, ja alleinigen Verlangens unserer Seelen! Unser Herzerleidet einen Durst, der durch irdische Freuden nicht gestillt werdenkann. Auch die größten Freuden, die höchst geschätzten und am meistenersehnten, befriedigen nicht, wenn sie mäßig genommen werden; sind sieaber äußerst heftig, dann ersticken sie uns. Und doch will man sie nurganz heftig, aber dann werden sie maßlos, unerträglich und schädlich.

2. Man kann vor Freude ebenso sterben wie vor Leid; Freude bewirktsogar eher unseren Untergang als Traurigkeit.

Als Alexander der Große die ganze Welt sozusagen verschlungenhatte oder noch zu verschlingen hoffte, da hörte er eines Tages einenunbedeutenden Menschen sagen, daß es noch andere Welten gebe. Ale-xander, den die Welt den Großen nannte, begann dann, dümmer als einkleines Kind, das wegen eines verweigerten Apfels weint, heiße Tränenzu vergießen, weil er sah, wie aussichtslos es wäre, die anderen Welten zuerobern, nachdem er diese noch nicht in festem Besitz hatte (Plutarch,De Tranquill. Animi, 4.Kap.).

Dieser Mann, dem die Welt zu Füßen lag wie noch keinem Menschen,ist davon so wenig befriedigt, daß er vor Traurigkeit weint, weil er an-dere Welten nicht in seine Gewalt bekommen kann, von denen ihm einelender Schwätzer etwas vorgemacht hatte. Sag mir, ich bitte dich, Theoti-mus, zeigt das nicht, daß der Durst seines Herzens in diesem Lebennicht gestillt werden kann und daß diese Welt nicht genügt, es zu be-friedigen?

3. O wunderbare, aber so liebenswerte Unruhe des menschlichen Her-zens! O meine Seele, sei immer ohne Rast und Ruhe auf dieser Erde,bis du die frischen Wasser des unsterblichen Lebens und den höchstheiligen Gott findest, die allein es vermögen, deinen Durst zu löschenund deine ganze Sehnsucht zu stillen.

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Stelle dir doch, Theotimus, mit dem Psalmisten (42,1) den Hirsch vor,wie er von der Meute gehetzt, außer Atem und fast zusammengebrochen,sich gierig in das Wasser stürzt, nach dem er gelechzt hat, hineintauchtund sich förmlich darin wälzt, als ob er sich im Wasser auflösen und zuWasser werden wollte, um dessen Kühle ganz in sich aufzunehmen.

4. O wie innig wird die Vereinigung unseres Herzens mit Gott einstim Himmel sein, wenn wir nach langer, in dieser Welt nie gestillterSehnsucht nach dem wahren Gut, dessen lebendige und machtvolle Quellefinden werden.

Hast du je ein hungriges Kindlein gesehen, wie es sich eng an dieBrust der Mutter schmiegt und wie gierig es den süßen, so ersehntenLabetrunk auszupressen sucht? Man möchte meinen, es wolle sich ganzin die Brust der Mutter vergraben oder diesen süßen Quell ganz in sichhineintrinken.

So ist es auch mit unserer Seele. Wenn sie, vergehend vor Durst nachdem wahren Gut, dessen unerschöpfliche Quelle im Schoß der Gottheitvor sich sieht, o Gott, welch heiliges und beglückendes Feuer, sich andiese alle Güte spendende Brust zu werfen und ganz eins mit ihr zu sein,sich ganz in sie zu versenken oder sie ganz in uns aufzunehmen!

11. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung der seligen Geister mit Gott inereinigung der seligen Geister mit Gott inereinigung der seligen Geister mit Gott inereinigung der seligen Geister mit Gott inereinigung der seligen Geister mit Gott in

der Schau der Gottheit.der Schau der Gottheit.der Schau der Gottheit.der Schau der Gottheit.der Schau der Gottheit.

1. Wenn wir einen Gegenstand ansehen, so vereinigt sich dieser nichtselber mit unseren Augen, sondern er sendet ihnen nur eine gewisseVorstellung oder Abbildung von sich zu, das die Philosophen „sinnen-haftes Abbild“ nennen, mittels dessen wir ihn schauen. Und wenn wirmit dem Geist etwas betrachten oder erfassen, so vereinigt sich das, waswir erfassen, mit unserem Verstand auch nur mittels einer anderen Vor-stellung und Abbildung, die ganz zart und geistig ist und die die Philoso-phen „verstandesmäßiges Abbild“ nennen.

Aber auf wie vielen Umwegen und nach wie vielen Veränderungengelangen diese „Abbilder“ zu unserem Verstand!

Sie kommen an uns heran durch die äußeren Sinne, die sie dem in-neren Sinn weitergeben. Von da gelangen sie zur Vorstellungskraft, vondieser zur tätigen Erkenntniskraft und kommen endlich zur aufnehmen-den Erkenntnisfähigkeit. So werden sie vielfach gesiebt und abgefeilt, da-

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durch geläutert, verfeinert und vergeistigt und wandeln sich von sinnen-haften Abbildern zu verstandesmäßigen um.

2. Auf diese Weise sehen und verstehen wir, Theotimus, alles, was wir indiesem sterblichen Leben sehen und verstehen, sogar die Gegenstände unse-res Glaubens. So wie ein Spiegel nicht den Gegenstand selbst enthält, dessenBild man in ihm sieht, sondern nur dessen Darstellung und Abbild, – wiedas Auge, das darauf fällt, sich wieder ein Bild dieses Abbildes schafft, soenthält auch das Wort des Glaubens nicht die Gegenstände des Glau-bens, sondern es stellt sie einfach dar. Und diese Darstellung göttlicherDinge, die das Wort des Glaubens in sich faßt, bringt nun wieder eineandere Vorstellung hervor, die unser Verstand mit Hilfe der göttlichenGnade aufnimmt und behält. An ihr findet unser Wille sein Gefallenund umfängt sie, weil sie ihm als höchst verehrungswürdige, nützliche,anziehende und sehr wertvolle Wahrheit erscheint. Mit anderen Worten:die Wahrheiten, die im Wort Gottes enthalten sind, werden dem Ver-stand so dargestellt, wie sich äußere Gegenstände dem Auge in einemSpiegel zeigen. Deshalb sagt auch der Apostel (1 Kor 13,12), glauben seiwie in einem Spiegel schauen.

3. Im Himmel aber – o Theotimus, welche Gnade! – wird sich dieGottheit selber mit unserem Verstand ohne das Mittel eines Abbildesoder einer Vorstellung vereinigen. Sie wird sich selbst unserer Erkennt-niskraft einprägen und mit ihr unmittelbar eins sein; sie wird ihr so ge-genwärtig sein, daß diese intime Gegenwart Vorstellung und Bild ersetzt.

O Gott, welche Wonne für den menschlichen Verstand, auf ewig mitseinem erhabenen Gegenstand vereinigt zu sein, so daß er nicht dessenVorstellung, sondern seine Gegenwart, nicht dessen Bild, sondern das ei-genste Wesen seiner göttlichen Wahrheit und Majestät in sich aufnimmt!Wir werden als glückselige Kinder Gottes die große Ehre genießen, vonGottes ureigenster Wesenheit genährt zu werden. Unsere Seele nimmtsie durch die Erkenntniskraft in sich auf, wie der Mund die Nahrung.

4. Eine liebende Mutter begnügt sich nicht damit, ihr Kind mit ihrerMilch, die etwas von der Substanz ihres Leibes ist, zu ernähren, sie willauch selbst ihm die Brust reichen, damit es nicht durch ein Löffelchen oderein sonstiges Werkzeug, sondern an ihrem Leib und durch ihren Leibdiese von ihr selbst empfange. Ihr mütterlicher Leib soll sowohl Nahrungwie Weg zur Nahrung für ihr liebes Kindlein sein. So begnügt sich auchGott, unser Vater, nicht damit, daß seine Wesenheit in unserem Verstandaufgenommen werde und wir so seine Gottheit schauen. Seine unendliche

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Liebe treibt ihn an, selber seine Wesenheit mit unserem Geist so innigzu einen, daß wir sie nicht mehr in einem Bild oder in einer Vorstellungsehen, sondern in ihr selbst und durch sie selbst.

Seine ewige, väterliche Wesenheit wird so zugleich Erkenntnisgegen-stand und Erkenntnismittel für uns sein. Auf wunderbare Weise werdendann die göttlichen Verheißungen in Erfüllung gehen: „Ich werde sie in dieWüste führen, mit meiner Milch nähren und zu ihren Herzen sprechen“(Hos 2,14). „Freut euch mit Jerusalem und frohlockt in ihm alle, die ihres liebt; seid mit ihm fröhlich in Freuden alle, die ihr trauert darüber.Trinkt euch satt an seiner trostreichen Brust! Schlürft, labt euch an seinerHerrlichkeit Fülle... Ihr sollt davon euch sättigen. Auf Armen wirdman euch tragen, auf den Knien liebkosen“ (Jes 66,10.12).

5. Diese Glückseligkeit, Theotimus, ist endlos. Sie wurde uns nicht nurverheißen, sondern wir erhielten schon ein Unterpfand im allerheiligstenAltarssakrament, dem immerwährenden Gastmahl der göttlichen Gnade.In ihm erhalten wir ja sein Blut in seinem Fleisch und sein Fleisch in seinemBlut. Sein Blut wird durch sein Fleisch, seine Wesenheit durch seineWesenheit selbst unserem leiblichen Mund geschenkt.

Daraus sollen wir erkennen, daß Gott im Gastmahl der ewigen Glo-rie seine göttliche Wesenheit auf gleiche Weise uns schenken will. Hierwird uns diese Gunst zwar wirklich zuteil, jedoch verschleiert unter denGestalten von Brot und Wein; im Himmel aber wird sich uns Gott ent-schleiert geben, wir werden ihn von Angesicht zu Angesicht schauen, sowie er ist (1 Kor 13,12; 1 Joh 3,2).

12. KapitelDie ewige VDie ewige VDie ewige VDie ewige VDie ewige Vereinigung der seligen Geister mit Gottereinigung der seligen Geister mit Gottereinigung der seligen Geister mit Gottereinigung der seligen Geister mit Gottereinigung der seligen Geister mit Gott

in der Schau der ewigen Geburin der Schau der ewigen Geburin der Schau der ewigen Geburin der Schau der ewigen Geburin der Schau der ewigen Geburt des göttlichen Sohnes.t des göttlichen Sohnes.t des göttlichen Sohnes.t des göttlichen Sohnes.t des göttlichen Sohnes.

O heiliger und göttlicher Geist, ewige Liebe des Vaters und des Sohnes,sei meiner Kindlichkeit gnädig!

1. Unser Geist wird also Gott schauen, Theotimus; er wird Gott vonAngesicht zu Angesicht schauen. Er wird die ureigenste göttliche We-senheit betrachten, die ihm wirklich und wahrhaftig gegenwärtig seinwird, und in ihr seine unendlichen Schönheiten, seine Allmacht, Allgüte,Allweisheit, Allgerechtigkeit und alles übrige der Unergründlichkeitgöttlicher Vollkommenheiten.

Der Verstand wird also in einer ganz klaren Schau jenes unendlichenErkennens seiner eigenen Schönheit inne werden, das der Vater von

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Ewigkeit her hatte und zu dessen Ausdruck er in sich selbst ewig „dasWort“ aussprach und sagte, dieses ganz einzige und ganz unendlicheWort, das, weil es alle Vollkommenheit des Vaters in sich faßt unddarstellt, mit ihm nur ein und derselbe ganz einzige Gott sein kann,ohne Teilung und Trennung.

Diese ewige und wunderbare Zeugung des göttlichen Wortes werdenwir also schauen. Wir werden sehen, wie der Sohn als das getreueBild des Vaters, als seine lebendige Ähnlichkeit von ihm von Ewigkeither geboren wird, – als sein Bild und seine lebendige, natürliche Ähn-lichkeit, die nichts Zufälliges, nichts Äußerliches darstellt, da in Gottalles Wesenheit ohne Zufälligkeit, alles Innerlichkeit ohne Äußerlichkeitist, – als sein Bild aber, das das eigene Wesen des Vaters offenbart aufeine so lebendige, natürliche, wesenhafte und substantielle Art, daß esnichts anderes sein kann als derselbe Gott mit ihm, ohne Unterschiedund Verschiedenheit im Wesen und in der Substanz, durch nichts anderesverschieden als durch das Personsein.

2. Wie könnte auch der Sohn Gottes, das wahre, wahrhaftig lebendigeund wahrhaftig natürliche Abbild des Vaters sein, Ähnlichkeit undDarstellung der unendlichen Schönheit und Wesenheit des Vaters (Hebr 1,3),stellte er nicht die unendlichen Vollkommenheiten dieses Vaters auf unend-liche, lebendige und naturhafte Weise dar? Wie aber könnte er unendlicheVollkommenheiten auf unendliche Weise darstellen, ohne unendlich voll-kommen zu sein, – und wie könnte er unendlich vollkommen sein,wenn er nicht Gott wäre; und wie könnte er Gott sein, wäre er nicht einund derselbe Gott mit dem Vater?

Dieser Sohn also, unendliches Abbild und Darstellung eines unend-lichen Vaters, ist ein alleiniger, ganz einziger und ganz unendlicherGott mit seinem Vater, ohne daß es einen Unterschied im Wesen zwi-schen ihnen gibt, sondern nur die Verschiedenheit in den Personen. Wiediese Verschiedenheit in den Personen ganz und gar erforderlich ist, soist sie auch hinreichend, um zu bewirken, daß der Vater spreche und derSohn das ausgesprochene Wort sei; daß der Vater rede und der Sohn dieAussage sei; daß der Vater sich ausdrücke und der Sohn das Bild, dieÄhnlichkeit, der Ausdruck des Vaters sei; kurz gesagt: daß der Vater Vaterund der Sohn Sohn sei, zwei verschiedene Personen in einer alleinigenWesenheit und Gottheit.

3. So ist Gott der Alleinige, doch nicht einsam, denn alleinig ist erin seiner ganz einzigen und ganz einfachen Gottheit, jedoch ist er nicht

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einsam, da er Vater und Sohn in zwei Personen ist. O Theotimus, Theo-timus! Welche Freude, welcher Jubel, diese ewige Geburt des göttlichenWortes zu schauen, die im Vollglanz der Heiligen (Ps 110,4) vor sichgeht, sie schauend zu feiern und feiernd zu schauen.

4. Der hl. Bernhard weilte einst, als er noch ein kleiner Knabe war undzu Chatillon an der Seine wohnte (Vita Ia, 1. Buch 2, §4), in der Kircheund wartete auf den Beginn der Christmette. Inzwischen befiel ihn einleiser Schlummer und er sah im Geist in einer sehr deutlichen und klarenVision, wie der Sohn Gottes, der im reinsten Schoß seiner Mutter sich mitder menschlichen Natur vermählt hatte und ein kleines Kind geworden, jung-fräulich aus ihrem heiligen Schoß geboren wurde und wie er in namenloserDemut und Liebe und zugleich in himmlischer Majestät erschien, gleicheinem Bräutigam, der in königlicher Haltung frohgemut sein Brautgemachverläßt (Ps 19,6). Dieses Gesicht erfüllte das liebevolle Herz des kleinenBernhard mit so großer Freude, mit solchem Jubel und so inniger geistli-cher Wonne, daß die Erinnerung daran sein ganzes Leben lang nachzitterte.Seit jener Weihnacht entnahm er allen göttlichen Geheimnissen den Honigwonnevoller göttlicher Freuden, aber Weihnachten brachte ihm stets be-sondere Seligkeit und er predigte immer mit unsagbarer Begeisterungvon der Geburt seines Meisters.

5. Wenn schon eine sinnliche und bildhafte Vision der zeitlichen undmenschlichen Geburt des Sohnes Gottes, da er als Mensch von einerFrau, jungfräulich von einer Jungfrau zur Welt kam, das Herz diesesKindes so sehr zu entzücken und zu erfreuen vermochte, wie wird es erstsein, wenn wir in der Glorie, erleuchtet durch selige Klarheit, dieses ewi-ge Geborenwerden sehen, durch das der Sohn göttlich und ewig hervor-geht als „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahrenGott“ (Symb. Nicaen.). Unser Geist wird sich dann in unfaßbarem Ent-zücken mit Gott vereinigen und in unwandelbarer Aufmerksamkeit mitihm auf ewig vereinigt bleiben.

13. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung der Seligen mit Gott in der Schauereinigung der Seligen mit Gott in der Schauereinigung der Seligen mit Gott in der Schauereinigung der Seligen mit Gott in der Schauereinigung der Seligen mit Gott in der Schau

des Herdes Herdes Herdes Herdes Hervorgehens des Heiligen Geistes.vorgehens des Heiligen Geistes.vorgehens des Heiligen Geistes.vorgehens des Heiligen Geistes.vorgehens des Heiligen Geistes.

1. Der Ewige Vater sieht also, wie die unendliche Vollkommenheit undSchönheit seines Wesens in seinem göttlichen Sohn so lebendig, we-senhaft und wirklich ausgedrückt ist, – und der Sohn sieht wieder, wieseine Wesenheit, Vollkommenheit und Schönheit ursprünglich in seinem

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Vater als deren Urquell und Ursprung liegt. – Ist es da denkbar, daßVater und Sohn einander nicht mit einer unendlichen Liebe lieben, da dochihr Wille, mit dem sie sich lieben, und ihre Vollkommenheit, um derent-willen sie sich lieben, in dem einen wie in dem anderen unendlich sind?

2. Findet Liebe uns ungleich, so macht sie uns gleich; findet sie uns nichtvereint, so vereinigt sie uns. Vater und Sohn aber sind einander nicht nurgleich und aufs innigste miteinander verbunden, sondern auch ein unddieselbe Gottheit, ein und dieselbe Vollkommenheit, ein und dieselbe Wesenheitund Einheit. Mit welch inniger Liebe müssen sie daher einander umfan-gen!

Ihre Liebe ist aber nicht so wie jene vernunftbegabter Geschöpfe zu-einander oder zu ihrem Schöpfer. Diese äußert sich auf die mannigfal-tigste Art und Weise und immer wieder durch verschiedene Handlungen,Seufzer, durch Liebesworte, durch das Beisammensein, durch Akte derVerbundenheit, die aufeinander folgen und so das Fortbestehen derLiebe bei allem beglückenden Wechsel geistiger Regungen sichern. Da-gegen ist die göttliche Liebe des Ewigen Vaters zu seinem Eingeborenenein einziger Hauch, gegenseitig gehaucht vom Vater und Sohn, die aufdiese Weise vereint und verbunden bleiben.

Ja, mein Theotimus, da die Vollkommenheit des Vaters und desSohnes nur eine alleinige, beiden höchst einzige, dem einen und demanderen gemeinsame Vollkommenheit ist, so kann auch die Liebe zudieser Vollkommenheit nur eine einzige Liebe sein. Wenn es auch zweiPersonen sind, die lieben, der Vater und der Sohn, so ist doch nur ihrealleinige, ganz einzige, ihnen gemeinsame Vollkommenheit der Gegen-stand ihrer Liebe und es ist nur ihr ganz einziger Wille, der liebt. Daherist auch nur eine Liebe da, die sich in einem einzigen Liebeshauch er-gießt.

Der Vater haucht diese Liebe und der Sohn haucht sie. Der Vater hauchtdiese Liebe nur mit dem gleichen Willen und wegen derselben Vollkom-menheit, die gleicherweise und ganz einzig in ihm und in seinem Sohn ist.Der Sohn wiederum haucht diesen Liebeshauch nur derselben Vollkom-menheit wegen und mit demselben Willen. Daher ist auch dieser Liebes-hauch nur ein einziger, ein einziger Geist von zwei Hauchenden ausge-hend.

3. Und dieser Hauch muß unendlich sein; Vater und Sohn, die diesenHauch hervorbringen, haben ja ein unendliches Wesen und einen unend-lichen Willen, mit dem sie hauchen; die Vollkommenheit, deretwegen sie

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lieben, ist unendlich; so kann auch der Liebeshauch nur unendlich sein.Da er aber nicht unendlich sein kann, ohne Gott zu sein, so folgt daraus,daß der vom Vater und Sohn gehauchte Geist wahrer Gott ist. Da es abernur einen Gott geben kann, so ist der Heilige Geist der eine wahreGott mit dem Vater und dem Sohn.

4. Nun ist aber diese Liebe ein Akt, der vom Vater und vom Sohnwechselseitig ausgeht; daher kann sie weder der Vater, noch der Sohnsein, von denen sie ja ausgeht, obwohl sie dieselbe Vollkommenheit undWesenheit des Vaters und des Sohnes hat. Sie muß also eine drittegöttliche Person sein, die mit dem Vater und dem Sohn ein einzigerGott sein muß. Und da diese Liebe durch einen geistigen Hauch hervorge-bracht ist, so wird sie der Heilige Geist genannt.

5. Denke daran, Theotimus, mit welcher Begeisterung der König Daviddie innige Freundschaft der Diener Gottes schildert: „Wie gut und lieb-lich ist es, wenn Brüder beisammen wohnen! Wie Salböl auf demHaupt, das herniederfließt auf den Bart, auf Aarons Bart, und weiter-fließt auf den Saum seines Kleides“ (Ps 133,1.3). Wenn schon menschli-che Freundschaft so schön und liebenswert ist und solch lieblichen Duftjenen spendet, die sie betrachten, wie unsagbar schön wird es erst sein,mein vielgeliebter Theotimus, das heilige, ewige gegenseitige Sichliebendes Vaters und des ewigen Sohnes zu schauen.

Der hl. Gregor von Nazianz (43. Pr. § 22) erzählt, daß die Innigkeit derFreundschaft zwischen ihm und dem hl. Basilius in ganz Griechenland geprie-sen wurde, und Tertullian (Ap. 39) bezeugt, daß die mehr als brüder-liche Liebe zwischen den ersten Christen von den Heiden bewundertwurde.

Was wird das erst für ein Fest und was für eine Freude im Himmelsein! Mit welchen Lob und Segenswünschen wird diese ewige underhabene Freundschaft vom Vater und Sohn gefeiert, wie wird siebewundert und geliebt werden! Was kann es wohl Schöneres und Lie-benswerteres geben als die Freundschaft! Welche Freundschaft könnteaber verglichen werden mit jener unendlichen Freundschaft, die zwischenVater und Sohn herrscht, die derselbe ganz einzige Gott mit ihnen ist?

Unser Herz wird in einen Abgrund von Liebe versenkt werden vorBewunderung der Schönheit und Innigkeit der Liebe, mit der der EwigeVater und sein unbegreiflich unendlicher Sohn einander göttlich undewig lieben.

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14. KapitelDas Licht der Glorie dient bei den seligen GeisternDas Licht der Glorie dient bei den seligen GeisternDas Licht der Glorie dient bei den seligen GeisternDas Licht der Glorie dient bei den seligen GeisternDas Licht der Glorie dient bei den seligen Geistern

im Himmel zur Vim Himmel zur Vim Himmel zur Vim Himmel zur Vim Himmel zur Vereinigung mit Gott.ereinigung mit Gott.ereinigung mit Gott.ereinigung mit Gott.ereinigung mit Gott.

1. Unsere geschöpfliche Erkenntniskraft wird also im Himmel Gottschauen ohne das Mittel eines Bildes oder einer Vorstellung, jedochnicht, ohne durch ein wunderbares Licht zur erhabenen Schau eines soherrlichen und glanzvollen Gegenstandes bereitet, erhöht und gesteigert zuwerden.

So wie die Sehkraft der Eule zwar hinreicht, um das schwache Lichteiner sternenhellen Nacht zu schauen, nicht aber die Helle des Mittags,weil ihre schwachen und trüben Augen das grelle Licht nicht vertragen,so hat auch unser Verstand genug Kraft, natürliche Wahrheiten durchSchlußfolgern und übernatürliche Wahrheiten durch das Licht des Glau-bens zu schauen; aber bis zur Schau der göttlichen Wesenheit in ihrselbst vermag er weder durch das natürliche Licht noch durch das Glau-benslicht zu gelangen.

2. Darum hat die Ewige Weisheit in ihrer Güte es so angeordnet,(Weish 8,1), daß sie ihr Wesen nicht unmittelbar mit unserem Ver-stand vereinigt, ohne unseren Geist zuerst vorbereitet, gestärkt und fä-hig gemacht zu haben, eine so erhabene und zu unseren natürlichen Le-bensbedingungen in keinem Verhältnis stehende Schau, wie es die Schauder Gottheit ist, zu ermöglichen.

Die Sonne, die unter den natürlichen Dingen der erhabenste Gegen-stand für unsere Augen ist, zeigt sich uns auch nicht unmittelbar, sondernsie sendet ihre Strahlen, durch die wir sie sehen können, so daß wir sienur mittels ihres Lichtes sehen. Doch ist zwischen den Strahlen der Sonneund dem Licht, das Gott unserer Erkenntniskraft im Himmel geben wird,ein wesentlicher Unterschied. Die Strahlen der Sonne vermehren dieSehkraft des Auges nicht, wenn es schwach und unfähig ist, zu sehen; imGegenteil, sie blenden es und schwächen noch mehr die schon armseligeSehkraft. Das heilige Glorienlicht dagegen findet eine Erkenntniskraft vor,die ungeeignet und unfähig ist, die Gottheit zu schauen; es erhöht, stärktund vervollkommnet sie nun dermaßen, daß sie dann durch ein unfaß-bares Wunder den Abgrund göttlicher Lichtfülle geraden und unverwand-ten Blickes sehen und betrachten kann, ohne von der unendlichen Größeseines Lichtglanzes geblendet oder geschwächt zu werden.

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Wie uns also Gott das Licht der Vernunft verlieh und wir dadurch ihnals den Urheber der Natur zu erkennen vermögen; wie er uns ferner dasLicht des Glaubens schenkte, wodurch wir ihn als Quelle der Gnadesehen, so wird er uns auch das Licht der Glorie verleihen, wodurch wirihn als Quelle der Seligkeit und des ewigen Lebens unmittelbar schauenwerden.

3. Nicht aus der Ferne, Theotimus, werden wir diese Quelle der Se-ligkeit sehen, wie jetzt im Glauben. Nein! Wir werden, in diese Quellehineingetaucht und versenkt, sie kraft des Lichtes der Glorie schauen.

Nach einem Bericht des Plinius (Hist. nat. 2,103) sollen die Taucher,die auf dem Meeresgrund nach Perlen suchen, Öl in den Mund nehmen unddieses dann in das Wasser ergießen, damit sie besser sehen. Theotimus,wenn die glückliche Seele in den Ozean der göttlichen Wesenheit hinein-getaucht ist, dann wird Gott in ihrem Geist das heilige Licht der Glorieausbreiten, das ihm die Abgründe dieses unzugänglichen Lichtes (1 Tim6,16) aufhellen wird, damit wir durch das helle Glorienlicht die Lichtfül-le Gottes zu schauen vermögen. „Bei Dir ist die Quelle des Lebens und inDeinem Licht schauen wir das Licht“ (Ps 36,10).

15. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung der Seligen mit Gott wird verschiedene Grade haben.ereinigung der Seligen mit Gott wird verschiedene Grade haben.ereinigung der Seligen mit Gott wird verschiedene Grade haben.ereinigung der Seligen mit Gott wird verschiedene Grade haben.ereinigung der Seligen mit Gott wird verschiedene Grade haben.

1. Dieses Glorienlicht, Theotimus, wird nun den Seligen das Maß ihrerSchau und Beschauung geben. Je mehr oder weniger wir von diesemheiligen Glanz empfangen, desto mehr oder weniger klar und daherbeglückt werden wir die heilige Gottheit schauen. Ist sie so von uns inverschiedener Weise gesehen, so wird sie uns auch in verschiedener Wei-se mit der Herrlichkeit beschenken.

2. Gewiß schauen im Himmel alle Gottes ganze Wesenheit, doch kei-ner von ihnen und auch nicht alle zusammen sehen sie und vermögen siein ihrer ganzen Unermeßlichkeit zu schauen. Nein, Theotimus, Gott ist inganz einziger Weise eins und in ganz einfacher Weise unteilbar; daherkann er nicht geschaut werden, ohne daß man ihn ganz sieht. Aber er istzugleich unendlich, d. h. ohne Grenze, Maß und Ende in seiner Vollkom-menheit; daher gibt es niemand außer ihm selbst, der fähig wäre, dieUnendlichkeit seiner Vollkommenheit zu umfassen und zu durchdrin-gen, die unendlich wesenhaft und wesenhaft unendlich ist.

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3. Das geschaffene Sonnenlicht, das begrenzt und endlich ist, wird vonallen, die es schauen, wohl ganz gesehen. Trotzdem wird es weder voneinem Einzelnen noch von allen zusammen seinem ganzen Umfang nachwahrgenommen. So verhält es sich mit fast allen unseren Sinnen. Wennmehrere eine schöne Musik hören, so hören sie zwar alle ganz, jedochmehr oder minder gut, mit größerem oder geringerem Genuß, je nach derZartheit des Gehörs. Das Manna (Weish 16,20 ff) wurde von allen, die esaßen, als wohlschmeckend empfunden, aber in verschiedener Weise, nachder Verschiedenheit des Geschmackes. Den ganzen Umfang seines Wohl-geschmackes aber vermochte niemand auszuschöpfen, da es mehr Ver-schiedenheiten im Geschmack hatte, als es deren unter den Israelitengab.

4. Theotimus, wir werden im Himmel die ganze Gottheit schauenund uns ihrer erfreuen; aber weder ein einzelner Seliger noch allezusammen werden sie in ihrer Gänze erfassen und ausschöpfen können.Gottes Unendlichkeit umfaßt immer unendlich mehr Vollkommenheiten,als wir Aufnahmefähigkeit besitzen. Es wird uns eine unendliche Freudesein, zu wissen, daß Gott zwar alle Sehnsucht unseres Herzens stillt unddaß dessen Fassungskraft voll ausgefüllt ist durch den seligen Besitz desunendlichen Gutes, das Gott ist; – zugleich aber zu wissen, daß es indieser Unendlichkeit noch unendliche Vollkommenheiten zu sehen undselig zu besitzen gibt, die nur Gottes Majestät weiß und sieht, da sie al-lein sich selbst vollständig begreift.

5. Den Fischen gehören die unbegrenzten Weiten des Ozeans und dochhat kein Fisch und haben nicht einmal alle Fische zusammen jeden Strandgesehen und ihre Schuppen in allen Wassern der Meere gebadet. Die Vögeltummeln sich nach Herzenslust in den Weiten der Luft und doch hat keinVogel und haben nicht einmal alle Vögel zusammen das gesamte Luft-meer mit ihrem Flügelschlag durchquert und sind in seine höchsten Schich-ten gedrungen.

Theotimus, so werden sich unsere Seelen nach Herzenslust in Erfüllungall ihrer Sehnsucht in den Tiefen des göttlichen Ozeans, in den Höhengöttlicher Weiten bewegen und es wird ewig unsere Freude sein, zu sehen,wie diese Höhen so unendlich weit und diese Ozeane so unendlich großsind, daß wir sie nie in ihrer ganzen Unendlichkeit genießen können. Eswird uns freuen, daß bei allem restlosen und vorbehaltlosen seligen Besitzdes unendlichen Abgrunds der Gottheit doch niemals die Seligkeit die-

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ser Unendlichkeit gleich sein wird, da diese immer über unsere Fas-sungskraft unendlich erhaben bleiben wird.

6. Durch zwei Wirklichkeiten werden die seligen Geister im Himmelvor Bewunderung hingerissen: Die erste ist die unendliche SchönheitGottes, die sie schauen, die andere ist der Abgrund von Unendlichkeit,den es noch in dieser selben Schönheit zu schauen gäbe.

O mein Gott, wie wunderbar ist das, was sie schauen! Aber wie weitwunderbarer ist das, was sie nicht schauen! Da aber Gottes Schönheit, diesie schauen, unendlich ist, vermag sie vollständig sie zu sättigen und überalle Maßen zu beglücken! Sie begnügen sich damit, sich ihrer zu erfreuenin der Rangstufe, die ihnen Gottes gütige Vorsehung zugewiesen hat. DieErkenntnis, daß sie den Gegenstand ihrer Liebe nicht total in Besitz habenund auch nicht haben können, wird so in ihnen zur liebevollen Bewunde-rung. Es ist ihnen höchste Freude, zu sehen, daß die von ihnen geliebteSchönheit so unendlich groß ist, daß sie ganz nur durch sich selbst erkanntwerden kann; denn darin besteht die Göttlichkeit dieser unendlichen Schön-heit und die Schönheit dieser unendlichen Gottheit.

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VIERTES BUCHVIERTES BUCHVIERTES BUCHVIERTES BUCHVIERTES BUCH

VVVVVerererererfall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.fall und Untergang der Liebe.

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1. Kapitel

Wir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in diesemWir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in diesemWir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in diesemWir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in diesemWir können die Gottesliebe verlieren, solange wir in diesemsterblichen Leben sind.sterblichen Leben sind.sterblichen Leben sind.sterblichen Leben sind.sterblichen Leben sind.

1. Ich spreche hier nicht für jene begnadeten und auserwählten Seelen, dieGott durch eine besondere Gnade in seiner Liebe so sehr festhält undstärkt, daß sie außer Gefahr sind, sie jemals zu verlieren. Meine Ausfüh-rungen gelten vielmehr für die große Mehrzahl der Sterblichen, denen derHeilige Geist zuruft: „Wer steht, sehe zu, daß er nicht falle“ (1 Kor10,12). – „Bewahre, was du hast“ (Offb 3,11). – „Seid sorgfältig dar-auf bedacht, eure Berufung durch gute Werke zu sichern“ (2 Petr 1,10).Ihnen gibt er auch folgendes Gebet ein: „Verwirf mich nicht vor DeinemAngesicht und nimm Deinen Heiligen Geist nicht von mir“ (Ps 51,13);und „Führe uns nicht in Versuchung“ (Mt 6,13).

2. Mit heiliger Furcht und Zittern (Phil 2,12) sollen sie also ihrHeil wirken und bedenken, daß sie nicht unerschütterlicher und nichtbeständiger in der Bewahrung der Gottesliebe sind als der Engel Luzifermit seinem Anhang und Judas, die die Liebe, die sie empfingen, wiederverloren und durch den Verlust der Liebe auch selber ewig zugrundegingen.

Zweifeln nicht auch viele am ewigen Heile Salomos, der sich von dieserLiebe, in der er einst stand, abgewendet hat? Sind die meisten Menschenfester und beständiger als Adam und Eva, David und Petrus, die dochKinder des Heiles waren und dann doch, wenn auch für kurze Zeit, vondieser Liebe abgefallen sind, ohne die es kein Heil gibt? Wer kann wohl,Theotimus, sicher sein, in dieser Schiffahrt des irdischen Lebens dieGottesliebe zu bewahren, da doch auf der Erde und im Himmel so vielemit solch unvergleichlicher Würde bekleidete Engel und Menschen sofurchtbaren Schiffbruch erlitten haben?

3. Aber, ewiger Gott, wie ist es denn nur möglich, daß eine Seele, dieim Besitz der Gottesliebe ist, sie wieder verlieren kann? Wo Liebeist, widersteht sie doch der Sünde. Wie ist es denn möglich, daß Sünde daeinkehrt, wo Liebe waltet? Ist denn nicht die Liebe „stark wie der Todund im Kampf so hart wie die Hölle?“ (Hld 8,6). Wie können dieMächte des Todes und der Hölle, d. h. die Sünden, die göttliche Liebeüberwinden, die ihnen an Kraft zumindest gleich ist und jedenfalls darinüberlegen, daß sie reiche Hilfe empfängt und das Recht für sich hat? Wiekann es geschehen, daß ein vernünftiger Mensch, der einmal die Seligkeit

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der göttlichen Liebe verkostet hat, freiwillig die bitteren Wasser der Be-leidigung Gottes schlürft? (Ex 15,23).

Kinder haben, wenn sie mit Milch, Butter und Honig ernährt wurden,Abscheu vor Absinth und allem Bitteren; sie weinen und kommen einerOhnmacht nahe, wenn sie so etwas kosten sollen. Wie kann aber, o Gott,eine Seele, die einmal mit der Güte ihres Schöpfers innig verbundenwar, diese Güte preisgeben um eines hinfälligen Geschöpfes wegen? (Röm8,20).

In der Tat, mein lieber Theotimus, die Himmel selbst entsetzen sich,ihre Pforten erbeben vor Schaudern (Jer 2,12); die Engel des Friedens(Jes 33,7) sind außer sich vor Staunen über das unsagbare Elend desmenschlichen Herzens, das ein so liebenswertes Gut verläßt, um sokläglichen Dingen anzuhangen.

4. Hast du schon diese merkwürdige Sache gesehen, die wohl jeder-mann kennt, aber nicht erklären kann? Sticht man ein vollgefülltesWeinfaß an, so fließt kein Wein aus, wenn man ihm nicht von obenher Luft macht. Sticht man aber ein schon zum Teil entleertes Faß an,so fließt es sofort aus.

So ist es auch mit unserer Seele. Wenn sie in diesem sterblichen Lebenauch die göttliche Liebe in reichem Maß besitzt, so ist sie dennoch nie sosehr davon erfüllt, daß sie diese nicht durch eine Versuchung verlierenkönnte. Im Himmel aber wird die beglückende Schönheit Gottes unserganzes Erkennen so fesseln und die Wonnen der Liebe Gottes werdenunseren ganzen Willen so sättigen, daß nichts in unserer Seele seinwird, was nicht von der Größe seiner Liebe ausgefüllt ist.

Dort im Himmel kann nichts mehr, mag es auch bis zum Herzenvordringen, uns auch nur den geringsten Tropfen des köstlichen Trun-kes göttlicher Liebe entziehen oder zum Ausfließen bringen. Ihm –wie dem Wein im Faß – Luft von oben zuzuführen, d. h. den Verstandzu hintergehen oder zu überrumpeln, wird auch nicht möglich sein, dennda er im Besitz der höchsten Wahrheit ist, wird er sich von ihr nichtabbringen lassen.

Wenn der Wein gereinigt und die Hefe entfernt ist, kann er leichtaufgehoben werden, ohne zu verderben; ist er aber noch mit Hefe ver-mengt, dann besteht große Gefahr, daß er trübe wird und verdirbt.Ähnlich ist es auch mit uns. Solange wir in diesem irdischen Leben sind,tragen wir immer die „Hefe“ von tausenderlei Stimmungen und Armse-ligkeiten mit uns herum. Daher besteht große Gefahr, daß unsere Liebe

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ihren Gegenstand wechselt und trübe wird. Im Himmel aber, wo wir beijenem festlichen Mahl, von dem Jesaja (25,6) schreibt, ganz geläuterten,reinen Wein trinken werden, sind wir nicht mehr dem Wechsel un-terworfen, sondern bleiben unzertrennlich mit unserem höchsten Gutdurch die Liebe vereint.

Hier in diesem Leben, im Halbdunkel des anbrechenden Tages müssenwir fürchten, statt dem Bräutigam irgend etwas anderem zu begegnenund seinem trügerischen Werben zu erliegen. Erst wenn wir ihn einmaldort oben gefunden haben, wo er im Mittag (Hld 1,6) seiner Glorie ruhtund sich ihrer erfreut, können wir nicht mehr getäuscht werden. SeinLicht leuchtet zu hell und seine Liebe fesselt uns mit zu innigen Banden,als daß wir uns davon losreißen könnten.

5. Wir gleichen der Koralle, die am Meeresgrund als grünliches, bieg-sames, schwaches Sträuchlein wächst, jedoch hart wie Stein wird und sichin ein lebhaftes Rot verfärbt, sobald man es aus dem Meer zieht (nachPlinius, Hist. nat. 32,11).

Auch wir, die wir ins Meer dieser Welt hineingeboren sind und nochdort verweilen, ändern uns so leicht und sind so biegsam unter jedemEinfluß. Wir neigen uns einmal nach rechts zur göttlichen Liebe hin undbald darauf wieder nach links zur irdischen Liebe, je nachdem die gött-liche Einsprechung oder die Versuchung ein williges Ohr findet. Sind wiraber einmal dieser Sterblichkeit entrückt, so wird sich das blasse Grünunserer zaghaften Hoffnung in das tiefe Rot gesicherter Seligkeit wan-deln; wir werden aufhören, hin und her zu schwanken, und unveränderlichin der ewigen Liebe verharren.

Es ist unmöglich, Gott zu schauen und ihn nicht zu lieben. Hierauf dieser Welt aber, wo wir Gott nicht sehen, sondern ihn nur durchdie Schatten des Glaubens wie in einem Spiegel (1 Kor 13,12) ahnendwahrnehmen, ist unsere Erkenntnis nicht so groß, daß sie nicht vonScheingütern überlistet und überrumpelt werden könnte. Da die Sicher-heit und Wahrheit des Glaubens immer von Dunkelheit begleitet ist,kann sich vieles einschleichen und gleich kleinen Füchsen unseren blü-henden Weinberg zerstören (Hld 2,15). Kurz gesagt, Theotimus, wennwir die Liebe haben, dann ist unser freier Wille mit dem hochzeitlichenKleid geschmückt, das er durch Gutestun behalten kann, wenn er nurwill, oder durch Sünden verlieren, wenn es ihm so gefällt.

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2. KapitelDas Erkalten der heiligen Liebe.Das Erkalten der heiligen Liebe.Das Erkalten der heiligen Liebe.Das Erkalten der heiligen Liebe.Das Erkalten der heiligen Liebe.

1. Die Seele wird bisweilen von körperlichen Leiden oder auch vonNiedergeschlagenheit so hergenommen, daß sie einzelne Glieder desLeibes zu verlassen scheint und diese dann unbeweglich und empfin-dungslos werden. Aus dem Herzen freilich weicht sie erst beim Erlöschendes Lebens. So ist auch die Liebe manchmal zwar noch im Herzen, aberso geschwächt und so ermattet, daß sie sich fast zu keiner Tätigkeit mehraufrafft. Trotzdem ist sie im höchsten Bereich der Seele noch ganz da.

2. Wenn eine Menge läßlicher Sünden, einer Asche gleich, das Feuerder heiligen Liebe bedeckt und seine Flamme erstickt, so ist es dochnicht ganz erloschen. – Der Diamant hindert durch seine Nähe den Ma-gnet, das Eisen anzuziehen, ohne ihm aber diese Kraft selbst zu nehmen,die sich dann wieder auswirkt, sobald das Hindernis entfernt ist. So nimmtauch die läßliche Sünde der Liebe nicht ihre Stärke und Wirkkraft, lähmtsie aber gewissermaßen und beraubt sie des Gebrauches ihrer Kraft, sodaß sie untätig und unfruchtbar wird.

Gewiß ist die läßliche Sünde, und sogar die Anhänglichkeit daran, demwesentlichen Entschluß der Liebe, Gott allen Dingen vorzuziehen, nichtentgegengesetzt. Denn wenn wir so sündigen, dann ist unsere Liebe zudiesem Gegenstand wohl unvernünftig, aber nicht vernunftwidrig. Wirräumen einem Geschöpf zuviel ein, mehr als es sich ziemt, ohne es aberGott vorzuziehen; wir befassen uns mehr, als richtig ist, mit den irdi-schen Dingen, jedoch ohne deshalb die himmlischen aufzugeben. Kurzgesagt: diese Art von Sünden hält uns auf dem Weg der Liebe auf,ohne uns aber davon zu entfernen; und da sie der Liebe nicht entgegen-gesetzt ist, zerstört die läßliche Sünde diese niemals, weder ganz nochzum Teil.

3. Gott ließ den Bischof von Ephesus wissen, daß er von seiner „erstenLiebe“ (Offb 2,4) abgewichen sei. Damit wollte er ihm sagen, daß erdie Liebe zwar nicht verloren, daß diese aber nicht mehr die gleichesei wie ehedem, nicht mehr so glühend und tatbereit, nicht mehr soblühend und fruchtbar wie am Anbeginn. So sagen wir auch von einemMenschen, der tüchtig, fröhlich und tatkräftig war, nun aber verdrießlich,faul und widerlich geworden ist, er sei nicht mehr derselbe Menschwie früher. Damit wollen wir natürlich nicht sagen, daß er sich in seinemWesen gewandelt habe, sondern nur, daß seine äußeren Handlungenund sein Gebaren anders geworden seien.

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So sagt auch der Heiland, daß in den Endzeiten die Liebe vielererkalten wird, d. h. sie wird nicht so tätig und mutig sein wegen der Angstund Sorge, die die Menschen niederdrücken wird (Mt 24,12). Wenn dieBegierde empfangen hat, so gebiert sie die Sünde. Diese Sünde je-doch erzeugt nicht immer den Tod der Seele, sondern nur dann, wennsie eine totale Bosheit in sich trägt, wenn sie vollbracht und vollendetist, wie der hl. Jakobus sagt (Jak 1,15). Damit gibt er so klar an, daßzwischen läßlicher Sünde und Todsünde ein Unterschied besteht, daß esmir unbegreiflich ist, wie sich in unserer Zeit Leute finden konnten, diedies zu leugnen wagen.

4. Aber Sünde ist trotzdem auch die läßliche Sünde; sie mißfällt folglichauch der Liebe. Zwar steht sie nicht direkt im Gegensatz zu ihr selbst,wohl aber zu ihren Auswirkungen, ihrem Wachstum und sogar zu ihrerAbsicht, die ja darin besteht, daß sie alles auf Gott, als dem obersten Zielaller Handlungen, hinordnen will. Die Liebe wird durch die läßlicheSünde verletzt, weil sie die Handlungen, durch die wir sie begehen, zwarnicht gegen Gott richtet, aber doch außerhalb Gottes und außerhalb sei-nes Willens ausführt.

Wenn ein Baum vom Sturm stark hergenommen wurde, pflegt man zusagen, es sei von ihm nichts übrig geblieben; denn wenn er auch selbernoch da ist, so ist er doch seiner Früchte beraubt. Gleicherweise könnenauch wir von unserer Liebe sagen, sie habe abgenommen, sei geschwächt,wenn Anhänglichkeiten an läßliche Sünden sie schwer hernehmen. Dennwenn auch die Liebe als Zustand noch ganz im Herzen ist, so ist sie dochohne Werke, die ihre Früchte sind.

5. Bei manchen heidnischen Philosophen machte Anhänglichkeit anTodsünden nach den Worten des hl. Paulus (Röm 1,18.21) die Wahr-heit so sehr zur Gefangenen der Ungerechtigkeit, daß sie Gott zwar er-kannten, aber nicht entsprechend ihrer Erkenntnis verherrlichten. Dasnatürliche Licht der Vernunft wurde also nicht ausgelöscht, aber un-fruchtbar.

Anhänglichkeiten an läßliche Sünden heben auch die Liebe nicht auf,halten sie aber gleichsam wie eine Sklavin gefangen, binden ihr Händeund Füße und hemmen so ihre Freiheit und Tätigkeit. Weil diese An-hänglichkeit an läßliche Sünden uns zu stark an den Genuß von Ge-schöpfen fesselt, beraubt sie uns der geistigen Vertraulichkeit zwischenGott und uns, zu der die Liebe als echte Freundschaft uns anspornt.Damit verlieren wir auch die innerlichen Gnadenhilfen, die gleichsam die

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Lebensgeister der Seele sind. Aus deren Mangel erfolgt dann jene seelischeLähmung, die schließlich zum Tod führt, wenn nichts zu ihrer Heilunggeschieht. Da das Wirken zum Wesen der Liebe gehört, so kann sie nichtlange untätig sein, ohne zugrunde zu gehen. Man kann sie der Rahelim Alten Testament vergleichen, die zu ihrem Gatten sprach: „Gib mirKinder, oder ich sterbe“ (Gen 30,1), denn die Liebe drängt das Herz, mitdem sie sich vermählt hat, sie durch gute Werke fruchtbar zu machen, weilsie sonst zugrunde gehen muß.

6. Während dieses irdischen Lebens sind wir selten ohne viele Versu-chungen. Aber gemeine, träge und vergnügungstolle Menschen sind für denKampf nicht gewappnet und können mit geistigen Waffen nicht umge-hen. Daher werden sie die Liebe kaum jemals bewahren, sondern sichgewöhnlich zur Todsünde mitreißen lassen. Dies geschieht um so eher, alsdie Seele durch läßliche Sünden sich für Todsünden bereit macht.

Man erzählt von einem Mann im Altertum, daß er seine Kraft er-probte, indem er ein Kalb täglich herumtrug und es schließlich nochtragen konnte, als es bereits zu einem Ochsen herangewachsen war.Die tägliche Übung hatte seine Kräfte so gestärkt, daß er das Anwachseneiner so schweren Last nicht spürte. So wird auch ein leidenschaftlicherSpieler zuerst Groschen einsetzen, dann Silbergeld, dann Goldstücke, end-lich seine Pferde und am Schluß sein ganzes Hab und Gut. Wer kleinenZornesausbrüchen nachgibt, wird zum Schluß ein unerträglicher Wüterich.Wer leicht Scherzlügen gebraucht, steht in großer Gefahr, lügenhafteVerleumdungen zu begehen.

Endlich, Theotimus, sagen wir von Menschen, die sehr krank und schwachsind, sie hätten gar kein Leben oder nur mehr einen Hauch von Leben insich, weil etwas, das nicht mehr lange dauern kann, schon beinahe zu seinaufgehört hat. Gleiches gilt von diesen bequemen, faulen, vergnügungssüch-tigen, erdverhafteten Leuten. Mit gutem Recht kann man von ihnen sagen,sie haben keine Liebe mehr; denn wenn sie auch noch etwas Liebe ha-ben, so sind sie doch nahe daran, sie zu verlieren.

3. KapitelWie man die Liebe zu Gott aus Liebe zu den Geschöpfen aufgibt.Wie man die Liebe zu Gott aus Liebe zu den Geschöpfen aufgibt.Wie man die Liebe zu Gott aus Liebe zu den Geschöpfen aufgibt.Wie man die Liebe zu Gott aus Liebe zu den Geschöpfen aufgibt.Wie man die Liebe zu Gott aus Liebe zu den Geschöpfen aufgibt.

So geschieht dieses Unglück, daß man Gott um eines Geschöpfes wil-len verläßt.

1. Wir lieben Gott nicht ohne Unterlaß, denn in diesem sterblichenLeben wohnt in uns die Liebe nach Art eines einfachen Zustandes,

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der, wie die Philosophen sagen, nach Belieben von uns betätigt werdenkann, jedoch nie gegen unseren Willen.

Wenn wir also von der Liebe, die in uns ist, keinen Gebrauch machen,d. h. wenn wir unseren Geist nicht zu Werken heiliger Liebe gebrauchen,sondern mit irgend etwas anderem beschäftigen oder aus Trägheit undNachlässigkeit brachliegen und verkümmern lassen, dann, Theotimus,wird er so leicht von etwas Schlechtem berührt und von Versuchungenüberrumpelt.

2. Gewiß ist dann die Liebe noch als Zustand auf dem Seelengrund undsie erfüllt ihre Aufgabe; sie macht uns geneigt, die bösen Eingebungenzurückzuweisen. Aber sie drängt und trägt uns zum Widerstand nur indem Maße, als wir mittun, wie das auch bei allen anderen Zuständigkei-ten der Fall ist.

Unsere Freiheit also tastet die Liebe nicht an und deshalb kann es oftso kommen, daß das Schlechte seine Reize tief in unser Herz hineinwirftund wir zu großes Gefallen daran finden. Und nimmt dieses Gefallennoch zu, dann wird es uns schwer fallen, uns davon loszureißen. Gleichden Dornen, von denen der Herr spricht (Mt 13,22; Lk 8,11), wird esschließlich die himmlische Gnaden- und Liebessaat ersticken.

3. So war es bei unserer Stammutter Eva. Zuerst fand sie Vergnü-gen daran, sich mit der Schlange zu unterhalten, dann hatte sie großesGefallen daran, zu hören, daß sie mehr wissen würde, und zu sehen, wieschön die verbotene Frucht war. Und dieses Gefallen stärkte wieder dasVergnügen an der Unterhaltung, wie dieses Vergnügen wieder das Ge-fallen nährte. So wurde sie immer mehr hineingezogen, bis sie ihreZustimmung gab, die unglückselige Sünde beging und schließlich ihrenMann auch noch dazu verführte.

4. Bisweilen sieht man Tauben sich voll Eitelkeit in kunstvollenSpiralen oder in schwebendem Gleitflug gefallen, um ihr buntes Gefiederzur Schau zu tragen. Sperber und Falken, die sie belauern, schießen dannauf sie herab und packen sie mit ihren Krallen, was sie nie zustande-brächten, wenn die Tauben geradeaus fliegen würden, da diese schnellerfliegen als Raubvögel. Nein, Theotimus, wenn wir uns nicht mit eitlen,vergänglichen Genüssen vergnügten und uns besonders nicht in unsererEigenliebe gefielen, sondern, einmal im Besitz der göttlichen Liebe, un-seren Flug mit Sorgfalt geradeaus richteten, dorthin, wohin sie uns trägt,nein, niemals würden sich dann Einflüsse und Versuchungen unserbemächtigen. – Leider aber lassen wir uns durch Selbstüberschätzung

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verführen und täuschen, schauen gleich eitlen Tauben immer wieder aufuns selbst, haften zu sehr an Geschöpfen und fallen so unversehens denKrallen unserer Feinde zum Opfer, werden von ihnen erfaßt und ver-schlungen.

5. Gott will es nicht verhindern, daß wir Versuchungen erleiden,damit durch unseren Widerstand die Liebe erstarke, im Kampf den Siegerringe und durch den Sieg zur Glorie des Triumphes gelange. Die Nei-gung, an der Versuchung Freude zu empfinden, liegt in der Eigenart unsererNatur, die das Gute so sehr liebt, daß sie von allem, was nur den Anscheindes Guten hat, angezogen wird (Jak 1,14). Nun gehört es aber zum Weseneiner Versuchung, den Schein des Guten als Lockspeise an sich zu tragen.Entweder zeigt sie uns nämlich, wie die Heilige Schrift sagt (1 Joh 2,16),etwas, das in den Augen der Welt als ehrenhaft gilt, um uns dadurch zurHoffart des Lebens zu verführen, oder etwas, das unseren Sinnen als köst-liches Gut erscheint, um unsere sinnliche Begierlichkeit anzustacheln,oder endlich ein Gut, das nützlich zu sein scheint, uns zu bereichern, umdie Begierlichkeit der Augen, Geiz und Habsucht in uns wachzurufen.

6. Brächten wir unseren Glauben, der ja zwischen einem zu erstrebenden wirk-lichen Gut und einem zu verwerfenden Scheingut zu unterscheiden weiß,dazu, daß er seine Pflicht mit scharfer Aufmerksamkeit erfüllte, dannwürde er gewiß eine sichere Schildwache für die Liebe abgeben. Erwürde sie auf das Böse aufmerksam machen, das sich unter dem Scheindes Guten dem Herzen nähert, und sie würde es sofort abweisen. Weil wiraber gewöhnlich unseren Glauben schlafen lassen oder es zulassen, daßer weniger aufmerksam ist, als es notwendig wäre, um die Liebe zu schüt-zen, überrumpelt uns oft die Versuchung. Sie verführt unsere Sinne, diesewiegeln den niederen Seelenteil zur Rebellion auf und so kommt es oftdazu, daß der höhere Seelenteil, die Vernunft, unter dem Ansturm derRevolte zusammenbricht, die Sünde begeht und die Liebe verliert.

7. Auf diese Weise kam es auch zum Aufstand, den der treuloseAbschalom – gegen seinen Vater David anzettelte (2 Sam 15). Er machte demVolk gut scheinende Vorschläge und die Israeliten, deren Klugheit undBesonnenheit eingeschlafen und betäubt war, nahmen sie an. Er stacheltesie dann so auf, daß er das ganze Volk dazu brachte, sich gegen David zuerheben. David mußte in Begleitung seiner treuesten Freunde Jerusalemweinend verlassen; die einzigen Männer, die er zurückließ, waren die

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Priester Zadok und Abjatar mit ihren Kindern; Zadok aber war ein Seher,d. h. ein Prophet.

Genau so, teuerster Theotimus, zeigt uns die Eigenliebe eitle Scheingü-ter, wenn sie den Glauben unaufmerksam oder verschlafen vorfindet.Sie verführt dann unsere Sinne, unsere Einbildungskraft und unsereSeelenkräfte und bedrängt mit solcher Gewalt unseren freien Willen,daß sie ihn zur vollständigen Empörung gegen die heilige Gottesliebeaufwiegelt. Und so weicht die Liebe aus der Seele, gleich David, mitihrem ganzen Gefolge, d. h. mit allen Gaben des Heiligen Geistes undden anderen himmlischen Tugenden, die ja unzertrennliche Gefährtinnender Liebe, wenn nicht ihre Eigenheiten und Fähigkeiten sind. Zurückbleibt nichts in der Seele, keine Tugend mehr, die von Bedeutung wäre,außer „Zadok der Seher“ und das ist die Gabe des Glaubens, die uns dieewigen Wahrheiten sehen lassen kann, und sein Wirken; ferner noch„Abjatar“, die Gabe der Hoffnung samt ihrer Wirksamkeit. Beide sind intiefster Trauer, doch hüten sie in uns die Bundeslade, d. h. die Eigenschaftund den Titel eines „Christen“, den wir durch die Taufe empfangen ha-ben.

8. Ach, Theotimus, welch jammervoller Anblick muß es für die Engeldes Friedens sein, zu sehen, wie der Heilige Geist und seine Liebe ausunserer sündigen Seele weichen. Könnten sie weinen, so bin ich sicher,sie würden bittere Tränen vergießen (Jes 33,7) und unser Elend mit denWorten beklagen, die zur Zeit des Zidkija der Prophet Jeremia ange-stimmt hat, als er auf der Schwelle des verwüsteten Tempels vor sichdie Ruinen Jerusalems schaute:

„Wie liegst du nun einsam und verlassen da,du, aller Städte Zier!Statt Menschen, Reichtum und Ehrenhaust jetzt das Grauen!“ (Klgl 1,1).

4. KapitelDie heilige Liebe geht in einem Augenblick verloren.Die heilige Liebe geht in einem Augenblick verloren.Die heilige Liebe geht in einem Augenblick verloren.Die heilige Liebe geht in einem Augenblick verloren.Die heilige Liebe geht in einem Augenblick verloren.

1. Die Gottesliebe, die uns bis zur Selbstverachtung führt, machtuns zu Bürgern des himmlischen Jerusalem; die Eigenliebe, die uns biszur Verachtung Gottes treibt, macht uns zu Sklaven des höllischen Ba-bylon.

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Nun gelangen wir zwar nur kleinweise bis zu dieser VerachtungGottes; kaum aber sind wir so weit gekommen, als auch schon sofort, ineinem Augenblick, die Liebe von uns weicht, oder besser gesagt, vollstän-dig zugrundegeht.

2. Ja, mein Theotimus, denn in dieser Verachtung Gottes besteht dasWesen der Todsünde. Daher bannt eine einzige Todsünde die Liebe auseiner Seele, da sie die Verbindung und Vereinigung mit Gott zerreißt, dieja aus dem Gehorsam gegen ihn und aus der Ergebung in seinen heiligenWillen besteht.

So wie das menschliche Herz nicht leben kann, wenn man es zerteilt, sokann auch die Liebe, die ja das Herz der Seele oder die Seele des Herzens ist,niemals verletzt werden, ohne zu sterben, – ähnlich den Perlen, von denenman sagt, sie seien aus himmlischem Tau geboren und stürben, wennauch nur ein Tropfen Meereswassers in ihre Schalen eindringt (Plin. H.n.9,35).

3. Unsere Seele verläßt den Körper nicht kleinweise, sondern ineinem Augenblick und zwar dann, wenn der Körper zu schwach gewor-den ist, um noch Lebenstätigkeiten auszuüben. So steht es auch mit derLiebe. Sobald das Herz in seinen Leidenschaften so durcheinander geratenist, daß die Liebe nicht mehr darin herrschen kann, geht sie fort und gibtes preis. Sie ist so groß, daß sie nicht aufhören kann zu herrschen,ohne daß sie nicht zugleich aufhört zu sein.

4. Gewohnheiten oder Fertigkeiten, die durch rein natürliche Tätig-keit erworben wurden, verliert man nicht durch eine einzige Handlung,die ihnen entgegengesetzt ist. Niemand wird behaupten, jemand seiunmäßig, weil er es einmal war, oder ein Maler sei kein besonderer Künst-ler, weil ihm einmal ein Werk mißlang. Wir haben diese Fähigkeitenallmählich gewonnen; sie haben sich in uns durch wiederholte Übungfestgesetzt; so verlieren wir sie auch nur, wenn wir sie längere Zeit nichtbetätigen oder wenn wir vieles tun, was ihnen zuwider ist.

Die Liebe aber, die der Heilige Geist in einem Augenblick in unsereHerzen ergießt (Röm 5,5), wenn die dafür notwendigen Vorbedingungenda sind, wird auch in einem Augenblick von uns genommen, sobald wirGott den ihm schuldigen Gehorsam verweigern und unsere Einwilligungzur Empörung und Treulosigkeit geben, zu der uns die Versuchung reizt.

5. Gewiß, dadurch, daß die Liebe wächst, steigert sie sich von Stufe zuStufe, von Vollkommenheit zu Vollkommenheit, soweit wir ihr durchWerke oder den Empfang der heiligen Sakramente Raum schaffen. Ver-

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mindert kann sie jedoch nicht durch Verringerung ihrer Vollkommenheitwerden; man verliert von ihr nie auch nur das Geringste, ohne sie ganz zuverlieren.

Sie gleicht hier dem Meisterwerk des bei den Alten so berühmtenPhidias. Der Sage nach soll dieser große Bildhauer in Athen eine Statueder Minerva ganz aus Elfenbein, 26 Ellen hoch, geschaffen haben. Inihren Schild soll er die Kämpfe der Amazonen mit den Riesen und dabeisein eigenes Gesicht so kunstvoll hineingeschnitzt haben, daß man nachdem Bericht des Aristoteles nicht den kleinsten Teil dieses Gesichteswegnehmen konnte, ohne daß dadurch nicht auch die ganze Statue aus-einandergefallen wäre. Das Ganze sei durch ein vollkommenes Zusam-menfügen von Einzelteilen entstanden, wäre aber in einem Augenblickzerstört gewesen, hätte man nur das kleinste Teilchen aus dem abgebilde-ten Antlitz des Künstlers herausgenommen.

6. So spendet wohl auch der Heilige Geist einer Seele, in die er dieLiebe eingegossen, das Wachstum, indem er sie von Stufe zu Stufe undvon der Vollkommenheit der Liebe zu noch höherer Vollkommenheitgeleitet. Der Entschluß aber, Gottes Willen allem vorzuziehen, ist dasWesensstück der heiligen Liebe; in ihm ist das Bild der ewigen Liebe.d. h. des Heiligen Geistes eingeprägt; daher kann man davon auch nichtein Teilchen wegnehmen, ohne sofort die ganze Liebe zugrundezurichten.

Dieser Wille, Gott allen Dingen vorzuziehen, ist das teure Kind dergöttlichen Liebe. Wenn nun schon Hagar, obwohl Ägypterin, es nicht übersich brachte, ihr sterbendes Kind anzusehen und bei ihm zu bleiben, sondernausrief: „Ich kann dieses Kind nicht sterben sehen“ (Gen 21,16), wiekann es dann wundernehmen, daß die Liebe als Tochter himmlischerGüte und Milde ihr Kind nicht sterben sehen kann, ihr Kind, das derVorsatz ist, Gott nie zu beleidigen?

Nein, sobald unser freier Wille sich dazu entschließt, der Sünde bei-zustimmen und damit diesen heiligen Vorsatz zu morden, stirbt auchdie Liebe mit ihm und sagt noch mit ihrem letzten Atemzug: „Nein,ich kann dieses Kind nicht sterben sehen.“

Der Edelstein, den man „Prassius“ nennt, verliert seinen Glanz,wenn irgendein Gift in seiner Nähe liegt. So verliert auch unsere Seelein einem Augenblick Glanz, Anmut und Schönheit, die in der heiligenLiebe beruhen, sobald irgendeine Todsünde in sie einbricht und in ihrwohnt. Daher heißt es auch: „Die Seele, die sündigt, wird sterben“ (Ez18,4).

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5. KapitelDer freie geschöpfliche Wille ist einzige UrsacheDer freie geschöpfliche Wille ist einzige UrsacheDer freie geschöpfliche Wille ist einzige UrsacheDer freie geschöpfliche Wille ist einzige UrsacheDer freie geschöpfliche Wille ist einzige Ursache

des Vdes Vdes Vdes Vdes Versagens und Erkaltens der Liebe.ersagens und Erkaltens der Liebe.ersagens und Erkaltens der Liebe.ersagens und Erkaltens der Liebe.ersagens und Erkaltens der Liebe.

1. Gottlose Anmaßung wäre es, den Kräften unseres WillensWerke der heiligen Liebe zuzuschreiben, die der Heilige Geist in unsund mit uns hervorbringt. Anmaßende Gottlosigkeit wäre es aberauch, den Mangel an Liebe im undankbaren Menschen einem Mangel anGnade und göttlichem Beistand überantworten zu wollen.

Wir allein sind die Ursache unseres Verderbens, so ruft es der HeiligeGeist immer wieder hinaus (Hos 13,9). Der Erlöser hat das Feuer seinergöttlichen Liebe auf die Erde gebracht und wünscht nichts so sehnlich, alsdaß es unsere Herzen entflamme (Lk 12,49). „Im Angesicht aller Völkerist das Heil bereitet, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zumRuhme Israels“ (Lk 2,31.32). Die göttliche Güte will, daß „keiner zu-grundegehe“ (2 Petr 3,9), sondern daß „alle zur Erkenntnis der Wahrheitgelangen und gerettet werden“ (1 Tim 2,4). Der Erlöser ist Mensch gewor-den, damit „alle die Annahme an Kindes Statt empfangen“ (Gal 4,5). Sehrdeutlich sagt daher auch der Weise: „Sage nicht, es liegt an Gott“ (Sir15,11).

Das heilige Konzil von Trient schärft allen Kindern der heiligenKirche mir göttlicher Autorität ein, daß die Gnade Gottes niemals denenfehlt, die ihr Bestes tun und um göttliche Hilfe beten, und daß „Gottjene nie verläßt, die er einmal gerechtfertigt hat, außer sie verlassenihn zuerst“, so daß sie zur Herrlichkeit gelangen werden, wenn sie sichnicht gegen die Gnade verfehlen (6.Sitzg. can. 11). Mit einem Wort,Theotimus, der Heiland ist ein „Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der indiese Welt kommt“ (Joh 1,9).

2. An einem heißen Sommermittag legten sich Wanderer unter demSchatten eines Baumes nieder und schliefen ein. Die Müdigkeit und diefrische Kühle des Schattens versetzten sie in tiefen Schlaf. Die Sonnebewegte sich aber immer weiter gegen Westen und bald warf sie ihreglühenden Strahlen gleich kleinen Blitzen auf die Augenlider der Ru-henden. Die Helle des Lichtes und die Hitze der Strahlen, die ihre Li-der förmlich durchbohrten, zwangen sie mit sanfter Gewalt aufzuwachen. Dieeinen erhoben sich sofort, nahmen ihre Wanderung wieder auf und er-reichten am Abend glücklich die Herberge. Die anderen aber kehrtender Sonne den Rücken, zogen ihren Hut tief ins Gesicht und blieben den

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ganzen Tag unter dem Baum liegen. Als die Nacht hereinbrach, wolltenauch sie die Herberge aufsuchen, verirrten sich aber im Wald und waren ingroßer Gefahr, eine Beute der wilden Tiere zu werden.

3. Was meinst du nun, Theotimus? Verdanken jene, die rechtzeitigaufbrachen und in der Herberge anlangten, dies nicht der Sonne oder, ummich christlicher auszudrücken, vielmehr dem Schöpfer der Sonne? Ge-wiß, denn die Wanderer dachten von selbst nicht an ein Aufwachen, als esZeit dazu war, sondern wurden durch die mahnenden Strahlen und diesanfte Glut der Sonne aufgeweckt. Es ist wohl wahr, daß sie der Sonnekeinen Widerstand leisteten, doch selbst dazu half ihnen die Sonne noch viel.Sie ergoß freundlich ihr Licht über sie und machte sich so durch ihreAugenlider hindurch bemerkbar. Ferner drängte sie ihre Wärme liebevollzum Öffnen der Augenlider und zum Sehen des Tageslichtes.

4. Jene anderen aber, die sich verirrten, hätten sie nicht unrecht, in denWald zu rufen: „Was haben wir der Sonne getan, daß sie nicht auch unsgleich den anderen ihr Licht gezeigt, damit wir die Herberge erreichten,statt in dieser schrecklichen Finsternis bleiben zu müssen?“ Wer möchtenicht die Sache der Sonne oder vielmehr Gottes ergreifen und ihnen er-widern: „Ihr Narren! Konnte die Sonne mehr für euch tun, als sie getanhat? War sie nicht gleich gut zu allen! Ergoß sie nicht über alle, die unterdem Baum schliefen, in gleichem Maße ihr Licht, ihre Strahlen und ihreWärme? Habt ihr nicht deutlich gesehen, wie eure Gefährten sich erho-ben und weiterzogen? Trotzdem habt ihr der Sonne den Rücken gekehrt,habt nichts von ihrer Helle wissen wollen und euch nicht von ihrer Wär-me besiegen lassen.“

5. Das will ich dir nun sagen, Theotimus: wir alle sind Wanderer indiesem irdischen Leben; fast alle sind wir freiwillig in den Schlaf derSünde gefallen. Gott nun, die Sonne der Gerechtigkeit, sendet uns inweitaus genügendem Maße, ja reichlich die Strahlen seiner Einspre-chungen, erwärmt unsere Herzen mit seinen Segnungen und rührt einenjeden durch das Werben seiner Liebe.

Aber was soll das nun heißen, daß diese Lockungen so wenige anziehenund noch weniger Menschen nach sich ziehen? Gewiß, jene die sich lok-ken und dann ziehen lassen und der Einsprechung folgen, haben allen Grund,sich zu freuen, keinen Grund aber, sich zu rühmen. Sie sollen sichfreuen, denn sie erfreuen sich eines großen Gutes, sie sollen sich aber

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nicht rühmen, denn sie verdanken es der reinen Güte Gottes, der ihnenden Nutzen seiner Wohltaten überläßt und sich die Ehre dafür vorbehält.

6. Jene aber, die im Schlaf der Sünde verharren, haben wohl Grund zujammern, zu seufzen, zu weinen und zu bedauern; befinden sie sich dochin einem unseligen Zustand, der wohl der beklagenswerteste unter allen ist.Die Schuld daran müssen sie aber sich allein zuschreiben und dürfen da-her nur über sich klagen, da sie das Licht verachtet, ja sich dagegen aufge-lehnt, seinem Werben gegenüber sich mürrisch verhalten und sich gegenseine Eingebung verhärtet haben. Ihrer Bosheit allein gebührt ewigerFluch und immerwährende Beschämung, weil sie allein Ursache desVerderbens, alleinige Urheber ihrer Verdammung sind.

Beim hl. Franz Xaver, ihrem Apostel, beklagten sich einst Japanerdarüber, daß Gott zwar so überreich für andere Völker gesorgt, ihre Ah-nen aber anscheinend vergessen habe; habe er ihnen doch nicht die Mög-lichkeit gegeben, ihn kennen zu lernen, wodurch sie ins Verderben ge-stürzt seien. Franz Xaver antwortete darauf, das göttliche Naturgesetz seijeder menschlichen Seele eingeprägt, und wenn die Ahnen es befolgt hätten,hätte das himmlische Licht sie gewiß erleuchtet; da sie aber dieses Ge-setz verletzt haben, verdienten sie ihre eigene Verdammnis. Wahrlicheine apostolische Antwort eines apostolischen Mannes. Sie stimmt ganzmit dem überein, was der heilige Apostel Paulus vom Untergang derHeiden lehrt. „Sie haben,“ so sagt er, „keine Entschuldigung, da sie trotzder Erkenntnis des Guten doch dem Bösen folgten.“ Das ist ja in einemWort der Inhalt des ersten Kapitels des Römerbriefes.

Unheil über Unheil jenen, die nicht erkennen, daß ihr Unglück dereigenen Bosheit entspringt.

6. KapitelWir müssen anerkennen, daß Gott uns alle LiebeWir müssen anerkennen, daß Gott uns alle LiebeWir müssen anerkennen, daß Gott uns alle LiebeWir müssen anerkennen, daß Gott uns alle LiebeWir müssen anerkennen, daß Gott uns alle Liebe

gegeben, die wir für Ihn hegen.gegeben, die wir für Ihn hegen.gegeben, die wir für Ihn hegen.gegeben, die wir für Ihn hegen.gegeben, die wir für Ihn hegen.

1. Die Liebe des Menschen zu Gott verdankt ihren Ursprung, ihreEntfaltung und ihre Vollendung der ewigen Liebe Gottes zu den Men-schen. Dies ist die einmütige Meinung der Kirche, unserer Mutter. Mitglühendem Eifer will sie, daß wir unser Heil und auch die Mittel dazunur der Barmherzigkeit unseres Erlösers zuschreiben. Ihm allein sollauf Erden so wie im Himmel alle Ehre und Verherrlichung gegebenwerden (1 Tim 1,17).

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2. „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ – so fragt dergroße Apostel Paulus (1 Kor 4,7) hinsichtlich der Gaben der Wissenschaft,der Beredsamkeit und anderer Eigenschaften kirchlicher Seelenhirten. „Hastdu es aber empfangen, was rühmst du dich dessen, als hättest du es nichtempfangen?“ Wahrhaftig, alles haben wir von Gott empfangen, beson-ders aber die übernatürlichen Güter der heiligen Liebe. Wenn wir sie aberempfangen haben, wieso können wir uns dann ihrer rühmen?

Wenn jemand sich damit brüsten wollte, daß er in der GottesliebeFortschritte gemacht habe, müßte man ihm sagen: O du kleiner Mensch!Lagst du nicht ohnmächtig in den Banden deiner Sünden, leblos, ohneKraft aufzustehen? (wie die Fürstin in dem früher erzählten Gleichnis).Da war es doch Gott, der in seiner unendlichen Güte dir zu Hilfe kamund mit lauter Stimme rief: „Öffne deinen Mund und ich werde ihn fül-len!“ (Ps 81,11). Er war es, der seine Finger auf deine Lippen legte,die aufeinandergepreßten Zähne öffnete, in dein Herz heilige Gnadenre-gungen warf, und du hast sie empfangen. Dann, als du aus der Ohnmachterwachtest, fuhr Gott fort, durch verschiedenartigste Hilfsmittel deinen Geistzu stärken, bis er endlich den Genesungstrank seiner Liebe in dein Herzergoß.

Sag also, du Armseliger: Was hast du in all dem getan, dessen dudich rühmen könntest? Gewiß, du hast eingewilligt, d. h. deine Willens-regung ist freiwillig der himmlischen Gnadenregung gefolgt. Aber wasist das anderes, als das göttliche Wirken empfangen und ihm keinenWiderstand leisten? Was gibt es da, „das du nicht empfangen hättest“?

Ja, armer Mensch, selbst das Empfangen hast du erhalten, dessen dudich rühmst, und das Zustimmen, mit dem du prahlst. Sag mir, ich bittedich, willst du mir das nicht zugeben? Wäre dir Gott da nicht zuvorge-kommen, so hättest du doch niemals Gottes Güte empfunden und folglich auchnie seiner Liebe zugestimmt! Nicht einen einzigen guten Gedanken fürGott hättest du hervorbringen können (2 Kor 3,5). Sein Bewegtsein gabdem deinen Sein und Leben. Hätte Gottes Freigebigkeit nicht durch diemachtvollen Antriebe ihrer Güte deine Freiheit angeregt und aufgerufen,so wäre diese dir unnütz für dein Heil geblieben.

3. Ich gebe zu, daß du mit den Gnadenanregungen durch deine Einwil-ligung mitgewirkt hast. Solltest du es aber noch nicht wissen, so lernejetzt, daß dein Mitwirken aus dem Wirken der Gnade zusammen mit dei-nem freien Willen geboren ist, aber doch so, daß dein Herz nie das Kön-nen und Wollen zur Mitwirkung aufgebracht hätte, wäre die Gnade

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nicht zuvorgekommen und hätte sie nicht dein Herz mit ihrem Wirkenerfüllt.

Sag mir doch, du kleiner und armseliger Mensch, machst du dich nichtlächerlich, wenn du einen Teil des Ruhmes bei deiner Bekehrung des-halb beanspruchst, weil du die göttliche Hilfe nicht zurückgewiesen hast?Bilden sich nicht auch Räuber und Tyrannen ein, jenen das Leben zuschenken, denen sie es nicht nehmen? Ist es nicht freche Gotteslästerung,zu denken, du hättest der göttlichen Eingebung heilige, wirksame, lebens-volle Tatkraft verliehen, weil du sie ihr durch deinen Widerstand nichtgenommen hast?

Wir können die Wirkungen der Eingebung verhindern, wir können sieaber nicht geben; sie schöpft ja ihre ganze Kraft und Wirksamkeit aus dergöttlichen Güte, die ihr Ursprung ist, nicht aus dem menschlichen Willen,der ihr Ziel ist.

Würde man sich nicht über die Fürstin, von der ich früher gesprochenhabe, empören, wenn sie sich rühmte, den herzstärkenden MedikamentenHeilkraft verliehen oder sich selbst geheilt zu haben, weil sie diese ein-nahm, als der Fürst sie ihr einflößte, sie aber halbtot kaum mehr einEmpfinden besaß? Würde man sich nicht empören, wollte sie jetzt sa-gen, daß die Mittel nicht gewirkt hätten, wenn sie sie nicht eingenom-men hätte? Gewiß, so würde man ihr antworten: Du hättest dich verstei-fen können, die Medikamente nicht einzunehmen, du hättest dich ihrerauch entledigen können, aber deshalb, du Undankbare, verleihst du ih-nen ja noch lange nicht Kraft und Wirksamkeit! Sie selbst besaßen dieseals ihre natürliche Eigenschaft. Du hast nur zugestimmt, sie zu empfan-gen und an dir wirken zu lassen. Du hättest sogar niemals zugestimmt,hätte der König dich nicht zuerst gestärkt und wäre er nicht in dich ge-drungen, sie zu nehmen. Du hättest sie auch nicht genommen, hätte er dirnicht geholfen, sie zu nehmen, da er dir eigenhändig den Mund geöffnetund sie dir eingeflößt hat. Bist du nicht ein Ungeheuer an Undankbar-keit, dir selbst das Gute zuschreiben zu wollen, das du in so vieler Hinsichtnur deinem Gemahl verdankst?

4. Jener merkwürdige kleine Fisch, den man „Schiffhalter“ nennt, ver-mag wohl Schiffe aufzuhalten, die mit vollen Segeln auf offenem Meerschwimmen, nicht aber das Weiterschwimmen, das Vorwärtssegeln, dasLanden zu bewirken. Er kann die Bewegung hindern, aber nicht geben(vergl. Plin. hist. nat. 9, 25).

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Genau so kann auch unser freier Wille die Wirksamkeit der Eingebunghindern und aufhalten. Wenn ein günstiges Wehen himmlischer Gnadendie Segel unseres Geistes schwellt, können wir ihm die Einwilligungversagen und so die Wirkung dieses Wehens verhindern. Wenn wir aberauf hoher See fahren und schön vorwärtskommen, so sind nicht wir es,die das Wehen der Eingebung verursachen, nicht wir schwellen die Segel,nicht wir verleihen unserem Herzensschiff Bewegung. Wir nehmen dashimmlische Wehen nur in Empfang, wir willigen ein, daß es uns bewege,wir lassen das Schiff unter dem Antrieb dieses Wehens vorwärtsgleitenund behindern es nicht durch „Schiffhalter“ unseres Widerstandes.

Die göttliche Eingebung ist es also, die unseren freien Willen glückhaftund milde beeinflußt, ihm nicht nur die Schönheit des Guten zeigt, son-dern ihn auch erwärmt, kräftigt, ihm hilft und ihn so zart bewegt, daß erdadurch sich beuge und sich frei für das Gute entscheide.

5. Im Frühling bereitet der Himmel die frischen Tautropfen und läßtsie über das Meer herabträufeln. Die Perlmutter öffnet ihre Schalen,nimmt die Tautropfen auf und diese verwandeln sich in Perlen. DiePerlmutter aber, die ihre Schalen geschlossen hält, hindert zwar den Taunicht, sie zu benetzen, wohl aber verhindert sie, daß er in sie eindringe.

Hat nun der Himmel seinen Tau nicht auf die eine wie die anderePerlmutter fallen lassen? Warum wird er bei der einen zur Perle, nichtaber bei der anderen? Der Himmel war gleichmäßig freigebig auch fürdie, die unfruchtbar geblieben ist; er hat alles getan, um auch sie mitPerlen zu befruchten, sie hat aber die Wirkung seiner Wohltat verhindert,indem sie sich abschloß und ihr Inneres verdeckte.

Die aber die Perle empfing und vom Tau befruchtet wurde, hat nichts,was sie nicht vom Himmel empfangen hat; nicht einmal das Öffnender Schale, das sie fähig machte, den Tau aufzunehmen. Denn hätte sienicht die Strahlen der Morgenröte gefühlt, die sie freundlich lockten, sowäre sie nicht an die Oberfläche des Meeres gekommen und hätte auchihre Schale nicht geöffnet.

6. O mein Theotimus! Wenn wir ein wenig Liebe zu Gott hegen, sogebührt dafür nur ihm allein Ehre und Verherrlichung. Er allein wirktalles in uns und ohne ihn ist nichts geschehen (Joh 1,3). Wir haben dieWohltat und die Verpflichtung, das ist der Anteil der göttlichen Gütefür uns. Sie überläßt uns die Frucht ihrer Wohltaten und behält sichnur Ehre und Lob vor. Da wir selbst nur durch Gottes Gnade etwassind (1 Kor 15,10), so müssen wir auch nur zu seinem Ruhm da sein.

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7. Kapitel

WWWWW ir müssen jegliche Neugierde überir müssen jegliche Neugierde überir müssen jegliche Neugierde überir müssen jegliche Neugierde überir müssen jegliche Neugierde überwinden und uns demutsvollwinden und uns demutsvollwinden und uns demutsvollwinden und uns demutsvollwinden und uns demutsvollder allweisen göttlichen Vder allweisen göttlichen Vder allweisen göttlichen Vder allweisen göttlichen Vder allweisen göttlichen Vorsehung hingeben.orsehung hingeben.orsehung hingeben.orsehung hingeben.orsehung hingeben.

1. Der menschliche Geist ist so schwach, daß er sich beim neugierigenErforschen der Ursachen und Gründe göttlicher Ratschlüsse sofort in zahl-lose Schwierigkeiten verwickelt und verstrickt, aus denen er nicht mehrherausfindet. Er gleicht dem Rauch, der aufsteigend sich immer mehrauflöst und zum Schluß sich ganz verflüchtigt. Wenn wir aus eitlerNeugierde unsere Überlegungen zu Göttlichem erheben wollen, werden wirin unserem Denken nichtig (Röm 1,21), und statt zur Wissenschaft derWahrheit vorzudringen (1 Tim 2,4), sinken wir in die Torheit unsererEitelkeit hinab.

Besonders unverständig sind wir, wenn wir über die Verschiedenheitder Mittel nachgrübeln, durch die uns die göttliche Vorsehung zurheiligen Liebe und durch die heilige Liebe zur Herrlichkeit hinzieht. UnserVorwitz drängt uns immer, zu erforschen, warum Gott einigen mehrMittel spendet als anderen, warum er nicht zu Tyrus und Sidon die Wun-der wirkte, die er zu Chorazin und Betsaida gewirkt hat, da sie jenen dochmehr zum Heile gereicht hätten (Mt 11,21); warum er überhaupt lieberdiese als jene Menschen zu seiner Liebe hinzieht.

O Theotimus, mein Freund! Niemals dürfen wir unseren Verstand insolch närrischen Wirbelwind hineinziehen lassen und niemals dürfen wirdenken, einen besseren Grund für den göttlichen Willen finden zu kön-nen als eben Gottes Willen selbst, der stets überaus vernünftig, ja dieVernunft aller Vernunft, der Maßstab aller Güte und das Gesetz allerGerechtigkeit ist.

Der Heilige Geist gibt wohl in der Heiligen Schrift jeden wünschens-werten Aufschluß über fast alles, was die göttliche Vorsehung für dieFührung des Menschen zur göttlichen Liebe und zum ewigen Heil be-stimmt. Trotzdem erklärt er mehrmals, daß wir nie von der Ehrfurcht ab-weichen dürfen, die wir seinem heiligen Willen schulden. Es ist unserePflicht, seine Ratschlüsse anzubeten, wie auch seine Bestimmungen, seinWohlgefallen und seinen Entschluß. Für ihn, den souveränen Gott undobersten Richter wäre es durchaus ungeziemend, uns die Gründe fürseinen Willen anzugeben. Sein Entscheid genügt.

Wenn wir aus Nächstenliebe den Urteilen irdischer, aus irrtumsfähigenRichtern zusammengesetzter Gerichtshöfe soviel Hochachtung zu zollen

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haben, daß wir annehmen, sie seien nicht ohne Gründe gefällt worden,obwohl wir diese nicht kennen, – mit welch liebender Ehrfurcht, o meinHerr und Gott, sollen wir dann nicht deine allerhöchste Vorsehung anbe-ten, deren Gerechtigkeit unfehlbar und deren Güte unendlich ist!

3. Unzählige Stellen der Heiligen Schrift lassen erkennen, warum Gottdas Volk der Juden verwarf: „Weil ihr das Wort Gottes abweist und euchselbst des ewigen Lebens nicht wert erachtet, wenden wir uns an dieHeiden“ (Apg 13,46), sagen ihnen Paulus und Barnabas. Wer das 9., 10.und 11. Kapitel des Römerbriefes aufmerksam liest, wird klar sehen, daßder göttliche Wille das jüdische Volk nicht ohne Grund verwarf. Doch istes nicht gut für den menschlichen Geist, diesen Gründen nachzugrübeln.Im Gegenteil! Es ist seine Pflicht, den göttlichen Ratschluß in aller Ein-fachheit des Herzens zu verehren, ihn als höchst gerecht und weise in Liebe zubewundern und als unerforschlich und geheimnisvoll in Bewunderungzu lieben.

Deshalb heißt es auch im Römerbrief am Schluß dieser Erörterungen:„O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!Wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse, wie unergründlich seine Wege!Denn wer erfaßt die Gedanken des Herrn? Wer ist sein Ratgeber?“ (Röm11, 33). Ein Ausruf, durch den der Apostel bezeugt, daß Gott alles mitgrößter Weisheit und höchstem Wissen wirkt, aber doch so, daß seineUrteile und Pläne die Fassungskraft des Menschen, der nicht in GottesRat ist, unendlich übersteigen. In Demut und Anbetung sollen wir uns da-her seinen Ratschlüssen gegenüber verhalten, die durchaus gerecht sind.Wir wollen nicht nach ihren Beweggründen fahnden, die er uns verbirgt,um uns in ehrfurchtsvoller und demütiger Unterwerfung zu erhalten.

4. Ähnliches lehrt der hl. Augustinus. „Niemand,“ so sagt er (Tract. 26Joan), „gelangt zu Christus, wenn er nicht gezogen wird. Wer aber gezo-gen und wer nicht gezogen wird, oder warum dieser und nicht jener gezo-gen wird, darüber urteile nicht, willst du nicht irren. Höre daherund wisse: Bist du nicht gezogen, dann bete, damit du gezogen werdest.“

„Dem Christen, der noch im Glauben wandelt und dessen Erkennennoch Stückwerk ist, genügt es zu wissen und zu glauben, daß Gottniemand vor der Verdammnis bewahrt, es sei denn aus unverdienterBarmherzigkeit durch Jesus Christus, unseren Herrn, und daß er nie-mand verdammt, es sei denn aus höchst wahrhaftiger Gerechtigkeit,

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durch denselben Jesus Christus, unseren Herrn. Zu erfahren aber, warum ereher diesen als jenen befreit, das soll der erkunden, der es vermag, dieunendliche Tiefe seiner Gerichte zu ergründen. Jedoch möge er sich vorden Abgründen hüten. Denn seine Ratschlüsse sind deshalb nicht unge-recht, weil sie unbegreiflich sind“ (Ep. 105, jetzt 194,6).

An anderer Stelle sagt Augustinus darüber noch Weiteres: „Warumbefreit Gott diese und nicht jene? Darauf sagen wir: O Mensch, wer bist du,daß du mit Gott richtest? (Röm 9,20). Unbegreiflich sind seine Gerichte,unerforschlich seine Wege! (Röm 11,33). Frage nicht nach Dingen, die dunicht verstehen kannst, und forsche nicht nach Gründen, die deine Kräfteübersteigen (Sir 3,22. Aug., De dono persev. 12). Gott erweist denenkeine Barmherzigkeit, von denen er urteilt, daß er ihnen keine Barmher-zigkeit erweisen soll, aus Gründen, die ganz wahr, wenn auch geheim undmenschlichem Denken ganz unzugänglich sind“ (Quaest. 2 lib. I ad Simplic.§ 16).

5. Bei Zwillingen geschieht es zuweilen, daß der eine als lebens-fähig geboren wird und die Taufe empfängt, während der andere bei derGeburt das zeitliche Leben verliert, bevor er zum ewigen wiedergeborenwerden konnte. Der eine wird also Erbe des Himmels, der andere ist dieserErbschaft beraubt. Warum verhängt die Vorsehung über beide ein so ver-schiedenes Schicksal? Gewiß kann man darauf antworten, daß Gott in derRegel die Naturgesetze nicht verletzt, d. h. also in unserem Fall: der eineZwilling war zu schwach, um die Geburt zu überleben, und starb daher,ehe er getauft werden konnte, während das andere Kind kräftiger warund deshalb am Leben blieb. Die Vorsehung wollte eben den Lauf dernatürlichen Ursachen nicht aufhalten, die in diesem Fall der Grund da-für waren, daß das eine Kind die Taufe nicht empfangen konnte. DieseLösung ist bestimmt richtig, doch wollen wir nach der Mahnung desHeiligen Paulus und Augustinus (In enchir. ad. Laur. c. 94 et 95) unsnicht zu sehr mit solchen Erwägungen abgeben, die zwar gut sind, abernicht vergleichbar mit den vielen anderen Gründen, die Gott sich vorbe-halten hat und uns erst im Himmel offenbaren wird. „Dann,“ so sagt derhl. Augustinus, „wird es uns kein Geheimnis mehr sein, warum der eine vordem anderen ausgezeichnet wurde, obwohl beide sich in denselben Umstän-den befanden; oder warum nicht bei jenen Wunder gewirkt wurden, diesich dadurch bekehrt hätten, sondern vielmehr bei solchen, die nichtzum Glauben fanden“ (Ench. ad Laur. 94 u. 95).

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An einer anderen Stelle spricht derselbe Heilige von den Sündern, vondenen Gott einige in ihrem Elend liegen läßt, während er andere aufhebt:„Warum hält er den einen und nicht den anderen? Dies kann man nichtbegreifen, und darum ist es auch sinnlos, danach zu forschen. Eines nurgenügt zu wissen: Daß es von ihm abhängt, daß man stehe; daß es abernicht von ihm kommt, wenn man fällt“ (Resp. ad art. 14). Und wiederum:„Dies ist ein verborgenes Geheimnis, dem menschlichen Verstand ganzunzugänglich, wenigstens dem meinen“ (De Gen. ad lit. 10,15).

6. Das, Theotimus, ist die heiligste Art, über diese Dinge zu denken.Deshalb bewunderte und verehrte ich stets die gelehrte Bescheidenheit undweise Demut des serafischen Lehrers Bonaventura in seiner Abhandlungüber die Bestimmung der Auserwählten zum ewigen Leben. Er sagt (Sent.1,41, art. 1, qu. 2): „Vielleicht geschieht es in Voraussicht des Guten, dasder tun wird, den Gott anzieht, sofern es irgendwie vom Willen herrührt.Was aber dieses Gute ist, dessen Voraussicht der göttlichen Liebe als Be-weggrund dient, vermag ich nicht zu ergründen und verlange ich nicht zuwissen. Man wird hier nur Billigkeitsgründe anführen können, – und essind in Wirklichkeit vielleicht andere, als die wir angeben. Wir können des-halb nicht mit Sicherheit die wirkliche Ursache, den wirklichen Beweg-grund des göttlichen Willens in dieser Angelegenheit sagen. Darum meintja auch der hl. Augustinus, daß zwar die Beweggründe des göttlichenWillens höchst wahr sind, jedoch unser Erkennen und Begreifen so sehrübersteigen, daß wir darüber nichts Sicheres aussagen können, außer aufGrund einer Offenbarung Gottes selbst, der alles weiß. Da aber die Kennt-nis dieser Geheimnisse für unser Heil nicht zuträglich wäre, im Gegenteilihre Unkenntnis uns nützlicher ist, um uns in der Demut und Unterwer-fung zu erhalten, deshalb wollte Gott sie auch nicht offenbaren. Selbstder heilige Apostel Paulus wagte nicht, darüber zu forschen, sondernbezeugte die Unzulänglichkeit unserer Erkenntniskraft, da er ausrief:„O Tiefe der Reichtümer der Weisheit und Wissenschaft Gottes!“ (Röm11,33).

Mein Theotimus, könnte man heiliger von einem solch heiligen Ge-heimnis reden, wie es dieser ganz heilige und erleuchtete Lehrer der Kirchetat?

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8. KapitelMahnung zur liebenden UnterMahnung zur liebenden UnterMahnung zur liebenden UnterMahnung zur liebenden UnterMahnung zur liebenden Unterwerwerwerwerwerfung, die wir denfung, die wir denfung, die wir denfung, die wir denfung, die wir denBestimmungen der göttlichen VBestimmungen der göttlichen VBestimmungen der göttlichen VBestimmungen der göttlichen VBestimmungen der göttlichen Vorsehung schulden.orsehung schulden.orsehung schulden.orsehung schulden.orsehung schulden.

1. Laßt uns diese Tiefe der Gerichte Gottes lieben und anbeten, Theo-timus, so wie es ja auch der hl. Paulus tat, der nach dem hl. Augustinus(Ep. 105 jetzt 194) darüber nicht nachgrübelte, sondern sie nur bewunderteund ausrief: „O Tiefe der Gerichte Gottes!“ Wer vermag es, so sagt der hl.Gregor von Nazianz (orat. de paup. am. § 30), den Sand am Meer oderdie Tropfen des Regens zu zählen oder die Tiefe der Abgründe zu ermes-sen? Wer vermöchte daher die Tiefe der göttlichen Weisheit zu ergrün-den, die alle Dinge geschaffen hat und sie nach ihrem Wissen und Willenlenkt? Fürwahr, es genüge uns, sie nach dem Beispiel des Apostels zu bewundern,ohne uns bei ihrer Schwierigkeit und Tiefe aufzuhalten. „O Tiefe derReichtümer, der Weisheit und Wissenschaft Gottes! Wie unerforsch-lich sind seine Ratschlüsse, wie unergründlich seine Wege! Denn wererfaßt die Gedanken des Herrn? Wer ist sein Ratgeber?“ (Röm 11,33f).

2. Theotimus, die Beweggründe des göttlichen Willens werden wir erstverstehen, wenn wir das Angesicht dessen sehen, „der von einem Endezum anderen mächtig wirkt, alles mit sanfter Liebe ordnet, seiner WerkeZahl, Gewicht und Maß bestimmt“ (Weish 8,1; 11,21); zu dem der Psal-mist sagt: „Herr, alles hast Du in Weisheit geschaffen“ (Ps 104,24).

Kommt es nicht oft vor, daß wir nicht einmal bei Menschen verstehen,wie und warum sie dies und jenes tun? Der Handwerker, sagt der hl.Gregor von Nazianz (Orat. de paup. § 31), ist nicht unwissend, weil wirvon seinem Handwerk nichts verstehen. So sind auch die Dinge die-ser Welt nicht sinnlos und unvernünftig, wenn wir oft ihren Sinn nichtbegreifen.

3. In der Werkstätte eines Uhrmachers kann man nicht selten Uhrenfinden, die zwar nicht größer sind als eine Orange, aber doch aus hundertoder sogar zweihundert Teilen bestehen, von denen einige zum Anzeigender Stunden, andere zum Stundenschlag und zum Wecken dienen. Auchsieht man kleine Räder, von denen sich die einen nach rechts, die ande-ren nach links, die einen oben und die anderen unten drehen. Endlichsieht man noch die „Unruh“, die sich im Takt hin und her bewegt.

Wir bewundern die Kunst, die eine so große Zahl kleiner Teile mitein-ander verbunden und so genau aufeinander abgestimmt hat, obwohl wir

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nicht wissen, wozu jedes Rad dient und warum es gerade so angefertigtist, wenn es uns der Meister nicht sagt. Wir wissen nur im Großen undGanzen, daß jedes Stück entweder für das Uhrwerk oder für das Läut-werk da ist.

Man sagt, daß die Indianer sich tagelang mit einer Uhr abgeben, umzu hören, wie sie zu den einzelnen Stunden schlägt. Sie kommen zwarnicht darauf, wie das geschieht, sagen aber nicht, daß dies sinnlos oderunvernünftig sei, sondern sind im Gegenteil voll Bewunderung und Ehr-furcht wie vor höheren Wesen für die Menschen, die die Uhren herstellenund in Gang bringen.

4. So erscheint auch uns die Welt und besonders unsere menschlicheNatur wie ein großes Uhrwerk, ausgestattet mit einer solchen Füllevon Tätigkeiten und Bewegungen, daß wir uns des Staunens darübernicht erwehren können. Wir wissen wohl, daß die verschiedenartigenTeile des Weltalls alle dazu dienen, entweder die hochheilige Gerechtig-keit Gottes oder die siegreiche Macht seiner barmherzigen Liebe zu of-fenbaren. Doch wozu im besonderen jeder einzelne Teil da ist und aufwelche Weise er dem allgemeinen Ziel dient oder warum er gerade sound nicht anders gemacht ist, das vermögen wir nicht zu begreifen, außerder göttliche Handwerker offenbart es uns.

Er offenbart uns aber nicht die Geheimnisse seiner Kunst, damit hierunsere Bewunderung mit größerer Ehrfurcht verbunden sei. Im Himmelwird er uns dann durch seine beglückende Weisheit in seliges Ent-zücken versetzen, wenn er in der Fülle seiner Liebe uns die Gründe,Ursachen und Mittel aller Geschehnisse dieser Welt enthüllen wird, diedazu dienen, unser ewiges Heil zu wirken.

5. „Wir gleichen Menschen, die an Schwindel leiden“ (Gregor vonNazianz, Orat. de paup. § 30–34). Diese meinen, daß sich alles sinnlos umsie drehe, obwohl nur ihr Kopf nicht in Ordnung ist, die Dinge in Wirk-lichkeit aber richtig stehen. So begegnen auch wir Ereignissen, deren Ursachewir nicht wissen; es scheint uns deshalb, daß die Dinge dieser Welt sinn-los regiert werden, weil wir ihren Sinn nicht sehen. Möchten wir dochglauben, daß Gott Urheber und Vater aller Dinge ist, daß er daher durchseine Vorsehung alles Geschehen leitet und für das ganze Kunstwerk derSchöpfung Sorge trägt!

Ganz besonders sollten wir glauben, daß er sich um Angelegenheitenvon uns allen kümmert, die ihn kennen, mag auch unser Leben durchnoch so viel Widriges hin- und hergeworfen werden. Wir wissen nicht,

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warum das so ist; vielleicht soll uns dies, da wir zu dieser Kenntnis nichtgelangen können, ein Ansporn sein, Gottes über alles erhabenes Wissen zubewundern.

Etwas leicht Erkanntes wird von uns auch leicht mißachtet. Was aberüber unsere Fassungskraft geht, erregt um so mehr unsere Bewunderung,je schwieriger es zu verstehen ist.

Die Beweggründe der göttlichen Vorsehung wären sehr armselig, wür-den wir kleinen Geister sie einsehen; sie wären weniger anziehend inihrer Anmut und weniger wunderbar in ihrer Majestät, wären sie wenigerentfernt von unserer Fassungskraft.

6. Rufen wir also, Theotimus, bei jedem Geschehnis, aber rufen wir miteinem Herzen voll Liebe gegen die unendlich weise, mächtige und gütigeVorsehung unseres ewigen Vaters aus: „O Tiefe der Reichtümer, der Weisheitund Erkenntnis Gottes!“

O Herr Jesus, Theotimus, wie unausschöpfbar sind die Reichtümer dergöttlichen Güte! Seine Liebe gegen uns gleicht einem bodenlosen Ab-grund. Deshalb hat er uns ein reiches Genügen oder vielmehr einen rei-chen Überfluß an Mitteln bereitet, um uns zu retten. Er verfügt über eineerhabene Weisheit, um uns diese Mittel zuzuwenden, da er durch seinunendliches Wissen alles vorher gesehen und gewußt, wessen wir dafürbedürfen. Was können wir da noch befürchten? Oder vielmehr, was kön-nen wir nicht alles erhoffen als Kinder eines Vaters, der so reich anGüte ist, um uns zu lieben und selig zu machen, der die Fülle des Wis-sens besitzt, um uns die richtigen Hilfen dafür zu bereiten, und dieFülle der Weisheit, sie uns zuzuwenden, der so voll Liebe in seinemWollen, so hellsichtig in seinen Anordnungen, so klug in deren Aus-führung ist.

Niemals dürfen wir unserem Verstand erlauben, in ehrfurchtsloserNeugierde die Flamme göttlicher Ratschlüsse zu umflattern. Gleich klei-nen Schmetterlingen würden wir uns nur die Flügel verbrennen und imFeuer dieser heiligen Flamme zugrunde gehen. Unerforschlich sind ja Got-tes Ratschlüsse, oder wie der hl. Gregor von Nazianz sagt, „unergründ-lich“ sind sie, d. h., wir vermögen weder ihre Beweggründe zu erkennen,noch die Wege und Mittel zu erfassen, durch die Gott sie verwirklichtund vollendet. Auch wenn wir den schärfsten Spürsinn besitzen, werden wiruns bei jedem Schritt verirren und die Spur verlieren. Wer vermöchteauch das Sinnen, Denken und Wollen Gottes zu durchdringen? War etwajemand sein Ratgeber, daß er um seine Pläne und deren Gründe wüßte?

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Oder hat ihm jemand etwas zuerst gegeben? Ist nicht vielmehr immer eruns mit der Fülle seiner Gnaden zuvorgekommen, um uns einst mit derSeligkeit der Glorie zu krönen? (Ps 21,3).

O Theotimus, alle Dinge sind von ihm als ihrem Schöpfer, alle Dingesind durch ihn als ihrem Herrscher, alle Dinge sind in ihm als ihremBeschützer. Ihm allein sei Ehre und Glorie von Ewigkeit zu Ewigkeit.Amen (Röm 11,33.36).

Wandeln wir, Theotimus, in Frieden auf dem Weg der hochheiligenLiebe, denn wer sterbend im Besitz der göttlichen Liebe ist, wird sich nach demTod ewig des Genusses der Liebe erfreuen.

9. KapitelZuweilen bleibt ein Überrest von Liebe in der Seele,Zuweilen bleibt ein Überrest von Liebe in der Seele,Zuweilen bleibt ein Überrest von Liebe in der Seele,Zuweilen bleibt ein Überrest von Liebe in der Seele,Zuweilen bleibt ein Überrest von Liebe in der Seele,

obgleich sie die heilige Gottesliebe verlorobgleich sie die heilige Gottesliebe verlorobgleich sie die heilige Gottesliebe verlorobgleich sie die heilige Gottesliebe verlorobgleich sie die heilige Gottesliebe verlor.....

1. Das Leben eines Menschen, der auf seinem Lager ganz entkräftet und imSiechtum langsam dahinstirbt, ist kaum noch „Leben“ zu nennen. Es istschon so sehr vom Tod durchsetzt, daß sich schwer sagen läßt, ob man estreffender ein lebendes Sterben oder ein sterbendes Leben nennen soll. Welchtrauriger Anblick! Aber noch viel trauriger ist der Zustand einer Seele,die, undankbar gegen ihren Heiland, sich immer mehr von ihm abwendetund von der heiligen Liebe Stufe um Stufe durch Lauheit und Untreuehinabsinkt, bis sie sich endlich ganz von ihr entfernt hat, um in der schau-erlichen Finsternis der Verlorenheit zu enden.

2. Diese Liebe nun, die im Verfall begriffen, die daran ist, zugrundezu gehen und abzusterben, nennt man „unvollkommene Liebe“. Dennwenn auch die ganze Liebe noch in der Seele weilt, so scheint sie dochnicht mehr ganz da zu sein. Sie ist kaum mehr mit der Seele verbundenund steht im Begriff, sie zu verlassen.

3. Ist aber die Liebe von der Seele durch die Sünde gewichen, sobleibt noch ein gewisser Schein von Liebe zurück, der uns irreführenund narren kann. Ich will dir nun sagen, was das ist.

Solang die Liebe in uns wohnt, bringt sie viele Liebesakte gegen Gottin uns hervor. Durch deren häufige Übung wird es unserer Seele zurGewohnheit oder zu einem Zustand, ein liebendes Gefühl Gott gegenüberzu haben. Dieses Gefühl ist nicht die heilige Liebe selbst, sondern nureine Fertigkeit, eine Neigung, die unser Herz durch die Vielzahl frühererLiebesakte gewonnen hat.

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Wer lange Zeit hindurch gewohnt war, gerne zu predigen und gerne dieheilige Messe zu feiern, predigt manchmal auch im Schlaf und sprichtdieselben Worte aus wie bei der heiligen Messe. So bewirkt eben dieGewohnheit, freiwillig und aus Tugend etwas zu tun, daß man diese Hand-lungen dann weiter tut, wenn auch nicht freiwillig und nicht aus Tugend.Das, was man im Schlaf tut, hat ja nur den Schein von Tugend, es sind nurBilder, Vorstellungen davon.

Gleicherweise prägt auch die Liebe durch die vielen Liebesakte, diesie setzt, dem Gemüt eine gewisse Leichtigkeit zu lieben ein, die selbstdann zurückbleibt, wenn die Liebe aus der Seele gewichen ist.

4. Als junger Student kam ich mit anderen Kameraden auf einem Spa-ziergang in ein Dorf unweit von Paris, wo ein Brunnen war, der ein mehr-faches Echo gab. Vielleicht hätte ein Unwissender sich täuschen lassenund gemeint, im Brunnen wäre ein Mensch, der die Worte, die wir hinein-riefen, zurückrief. Wir wußten aber als Studenten, daß nicht ein Menschunsere Worte wiederholte, sondern daß unsere Stimme, in Höhlen aufge-fangen, zurückschlug und eine zweite Stimme hören ließ, diese auf gleicheWeise eine dritte und vierte und so weiter bis zu elf Stimmen, die nichtsmehr mit unseren Stimmen zu tun hatten, sondern nur Nachklänge der-selben waren. Diese Nachklänge waren auch verschieden von unseren Stim-men. Sagten wir eine größere Anzahl von Worten in den Brunnen hin-ein, so tönten nur einige davon zurück und zwar mit verkürzten Silben undverzerrten Akzenten. Auch fing der Nachklang der Worte erst an, nach-dem wir sie beendet hatten. So waren es eigentlich nicht Worte eineslebenden Menschen, sondern eines ausgehöhlten und leeren Felsens, deraber die menschliche Stimme so gut zurückgab, daß ein Unwissender sichleicht dabei getäuscht hätte.

5. Mit all dem will ich folgendes klar machen: Wenn die heilige Liebevon einer bildsamen Seele aufgenommen wird und in ihr längere Zeitverweilt, bringt sie in ihr gleichsam eine zweite Liebe hervor, die nichtdie eigentliche göttliche Liebe ist, wohl aber ein Nachklang von ihr.Diese Liebe ist nur menschlich, hat aber eine so große Ähnlichkeit mitder göttlichen Liebe, daß es nach deren Erlöschen noch immer den An-schein hat, als wäre sie vorhanden, da sie ihr eigenes Bild, das sie dar-stellt, zurückgelassen hat. So täuscht sich leicht jemand, der dies nichtweiß, wie es den Vögeln bei den von Zeuxis gemalten Trauben erging, dieso naturgetreu abgebildet waren, daß sie daran pickten, weil sie sie fürechte Trauben hielten (Plin. H.n. 35,10).

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6. Trotzdem ist die göttliche Liebe sehr verschieden von der mensch-lichen Liebe, die sie hervorbringt. Die göttliche Liebe mahnt uns analle Gebote Gottes, fordert sie von uns und bewirkt in unserem Herzen, daßwir sie alle erfüllen. Die rein natürliche Liebe, als ihr Nachklang, sprichtzwar manchmal auch von den göttlichen Geboten und fordert zuweilenauch dazu auf, alle zu befolgen, doch bewirkt sie nie das Vollbringen aller,sondern nur einiger. Ferner spricht die göttliche Liebe alle Silben aus undsammelt sie alle, d. h., sie verlangt die Erfüllung der Gebote mit allen ihrenUmständen. Die natürliche Liebe aber läßt immer den einen oder ande-ren fallen und ganz besonders die lautere und reine Absicht. Der Klang derStimme der heiligen Liebe ist gleichmäßig, sanft und anmutig, währenddie Stimme der rein natürlichen Liebe entweder zu hoch in irdischen Din-gen ist oder zu tief in himmlischen Dingen. Außerdem beginnt sie nieihr Werk, bevor die heilige Liebe aufgehört hat zu wirken.

7. Solang die heilige Liebe in einer Seele wohnt, bedient sie sich dernatürlichen Liebe als ihres Geschöpfes, um ihr Wirken zu erleichtern.Alle Werke, die die natürliche Liebe vollbringt, solang sie mit derheiligen Liebe zusammen in einer Seele wohnt, sind also eigentlich Wer-ke der göttlichen Liebe, die ja ihre Gebieterin ist. Ist aber die göttlicheLiebe einmal aus einer Seele gewichen, dann sind die Handlungen dernatürlichen Liebe ihr allein zu eigen und besitzen nicht mehr Geltung undWert der göttlichen Liebe. Der Stab des Propheten Elischa wirkte indessen Abwesenheit in der Hand seines Dieners Gehasi keine Wunder,obwohl er ihn von Elischa erhalten; so haben auch die Werke, die inAbwesenheit der göttlichen Liebe aus der reinen Gewohnheit der mensch-lichen Liebe heraus geschehen, kein Verdienst und keinen Wert für dasewige Leben, obwohl die menschliche Liebe sie von der göttlichenLiebe gelernt hat und deren Magd ist. Dies ist deshalb so, weil die reinnatürliche Liebe in Abwesenheit der göttlichen Liebe nicht mehr die über-natürliche Kraft besitzt, die Seele zur erhabenen Tätigkeit zu führen, daßsie Gott über alles liebe.

10. KapitelWie gefährlich die unvollkommene Liebe ist.Wie gefährlich die unvollkommene Liebe ist.Wie gefährlich die unvollkommene Liebe ist.Wie gefährlich die unvollkommene Liebe ist.Wie gefährlich die unvollkommene Liebe ist.

1. Mein Theotimus, sieh dir den unglückseligen Judas an (Mt 27,3 f), wie erden Juden das Geld zurückbringt, nachdem er seinen Herrn verraten hatte, wieer nun sieht, daß er gesündigt hat, und mit welcher Ehrfurcht er nun vom

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Blut dieses unbefleckten Lammes spricht. Das waren Wirkungen der unvoll-kommenen Liebe, die die verlorene heilige Liebe in seinem Herzen zu-rückgelassen. Man gleitet zur Gottlosigkeit stufenweise hinab; fast niemandfällt plötzlich in die äußerste Tiefe der Bosheit.

Die Parfümhändler riechen noch lange nach Parfüm, auch wenn sienicht mehr in ihrem Geschäft sind. Ebenso behalten auch jene noch langeZeit hindurch den Duft der Liebe, die vorher in den Kammern himmli-scher Wohlgerüche, das heißt, in der Liebe waren. – Wenn der Hirsch imWald übernachtet, ist sein Ruheplatz noch am Morgen voll von seinemGeruch. Am Abend ist er schon schwerer zu erwittern, und je älterseine Spur ist, desto mehr verlieren die Jagdhunde seine Witterung.

Ähnlich verhält es sich mit einer Seele, von der die heilige Liebegewichen ist. Sie läßt noch einige Zeit hindurch den Wohlgeruch dieserLiebe und ihre Spuren zurück. Das alles verflüchtigt sich aber nach undnach und am Schluß ist kein Zeichen mehr da, daß hier einmal die heiligeLiebe gewohnt hat.

2. Wir haben junge Leute von tiefer Gottesliebe gekannt, die späterunordentlich wurden und in diesem unglückseligen Niedergang nocheine Zeit hindurch deutliche Anzeichen ihrer früheren Tugend gaben.Die guten Gewohnheiten, die sie noch aus der Zeit hatten, da sie Gottliebten, standen im scharfen Gegensatz zu ihrem sonstigen lasterhaften Le-ben. Monate hindurch war es noch schwer zu sehen, ob sie noch im Standder heiligen Liebe waren oder nicht; ob sie wirklich tugendhaft oderlasterhaft waren. Erst später zeigte es sich, daß diese Tugendakte nichteiner gegenwärtigen Gottesliebe entstammten, sondern der vergangenen,nicht der vollkommenen Liebe, sondern der unvollkommenen, die dieGottesliebe als Zeichen ihrer ehemaligen Gegenwart zurückgelassen hatte.

3. Gewiß ist auch diese unvollkommene Liebe an und für sich gut;ja, als Geschöpf der heiligen Liebe und weil zu ihrem Gefolge gehörendkann sie nicht anders als gut sein. Tatsächlich hat sie ja der Gottesliebetreu gedient, solang diese in der Seele weilte. Sie ist auch stets bereit, ihrwieder zu dienen, falls sie in die Seele zurückkehren sollte. Vermagsie auch nicht Taten vollkommener Liebe zu vollbringen, so darf man siedeshalb nicht verachten, denn das ist eben ihr Wesen. – Die Sterne, vergli-chen mit der Sonne, haben nur matten Glanz, an und für sich betrachtetaber sind sie von großer Schönheit; in Gegenwart der Sonne haben siekeine Bedeutung, wohl aber in ihrer Abwesenheit.

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4. Obwohl also diese unvollkommene Liebe an sich gut ist, so istsie für uns doch gefährlich. Wir begnügen uns oft mit ihr allein undsind versucht, sie für die wahre, übernatürliche Liebe zu halten, weil sie einegewisse äußere und innere Ähnlichkeit mit ihr hat. Und so bilden wiruns am Ende ein, wir seien heilig, während bei diesem eitlen Wahndie Sünden, die uns der Liebe beraubt haben, so stark wachsen, sichvergrößern und vermehren, daß sie sich schließlich ganz unseres Her-zens bemächtigen.

5. Jakob wäre nicht betrogen worden, hätte er die schöne Rahel anseinem Vermählungstag nicht aus dem Auge gelassen. Weil er sie aberallein in die Kammer gehen ließ, war er nicht wenig erstaunt, am folgen-den Morgen statt ihrer die häßliche Lea zu erblicken, die er für seineRahel gehalten hatte (Gen 29,21.25). Laban hatte ihn nämlich auf dieseWeise betrogen. So betrügt die Eigenliebe auch uns. Wenn wir die göttlicheLiebe auch nur ganz wenig im Stich lassen, schiebt sie in unsere Wertschät-zung diese unvollkommene Liebe ein und wir halten unsere Befriedi-gung an ihr für echte Gottesliebe, bis endlich ein helles Licht uns zeigt,wie sehr wir betrogen wurden.

6. Mein Gott, wie traurig ist es, Seelen zu sehen, die sich einbilden,heilig zu sein, und darüber ganz ruhig bleiben, als hätten sie tatsächlichdie göttliche Liebe! Wie traurig ist es, wenn sie endlich entdecken müs-sen, daß ihre Heiligkeit eingebildet, ihre Ruhe nur Lethargie und ihreFreude nur Täuschung gewesen ist.

11. KapitelWie man die unvollkommene Liebe erkennen kann.Wie man die unvollkommene Liebe erkennen kann.Wie man die unvollkommene Liebe erkennen kann.Wie man die unvollkommene Liebe erkennen kann.Wie man die unvollkommene Liebe erkennen kann.

1. Du fragst nun: Wie kann ich erkennen, ob Rahel oder Lea, ob diegöttliche oder die unvollkommene Liebe mir diese frommen Gefühlegibt, die mich bewegen?

Prüfe die Gegenstände deiner gegenwärtigen Wünsche, deiner gegen-wärtigen Neigungen und Absichten. Findest du einen unter ihnen, des-sentwegen du dem Willen und Wohlgefallen Gottes entgegenhandelnund Todsünden begehen wolltest, dann ist zweifellos die Quelle all dei-ner Empfindungen, all deiner Leichtigkeit und Bereitwilligkeit, Gott zudienen, nur die unvollkommene, rein menschliche Liebe. Wäre die heilige,vollkommene Liebe Herrscherin in deinem Herzen, wahrhaftiger Gott,sie würde jede Neigung, jedes Verlangen und jede Absicht brechen, deren

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Gegenstand so verderblich ist. Sie könnte es nicht leiden, daß dein Herzihn auch nur ansehe.

2. Beachte aber, daß ich sagte, du solltest deine gegenwärtigen Nei-gungen prüfen. Es ist nicht notwendig, sich vorzustellen, was vielleichteinmal eintreffen könnte. Es genügt, Gott die Treue in der Gegenwartzu halten, so wie es die Zeit verlangt; jedem Tag genügt seine Müheund Plage.

3. Wolltest du dein Herz zur geistlichen Tapferkeit erziehen durch dieVorstellung verschiedener Begegnungen und Kämpfe, so magst du es tun,vorausgesetzt, du hältst dich nach diesen Taten eingebildeter Tapferkeitnicht wirklich für tapfer. Die Efraimiten waren bei ihren Kriegs-spielen im Bogenschießen sehr tüchtig, als es aber ernst wurde, liefen siedavon und hatten keinen Mut, ihre Bogen nur zu spannen und denSpitzen feindlicher Pfeile die Stirn zu bieten (Ps 78,9).

4. Übt man sich so in der Tapferkeit im Hinblick auf künftige oderauch nur mögliche Ereignisse, so soll man Gott danken, wenn man dabeiGefühle des Mutes und der Treue empfindet, denn solche Gefühle sindimmer gut; man soll aber doch eine demütige Haltung zwischen Vertrau-en und Mißtrauen einnehmen. Gewiß soll man fest hoffen, bei gegebenerGelegenheit mit Gottes Hilfe auch das tun zu können, was man sichvorgestellt hat; zugleich aber soll man die Furcht bewahren, daß man inAnbetracht unserer gewöhnlichen Schwäche vielleicht den Mut verlierenund versagen wird.

Sollte aber das Mißtrauen auf uns selbst so maßlos werden, daß wirkeinerlei Mut und Kraft mehr zu haben scheinen, künftige Versuchungenzu überwinden, daß wir daran zweifeln, ob wir in der Liebe und GnadeGottes sind, dann müssen wir trotz aller Angst und Verzagtheit den Ent-schluß fassen, in allem, was kommt, uns als treu zu erweisen, mag dieVersuchung, die uns ängstigt, noch so heftig sein. Wir müssen hoffen,daß Gott dann seine Gnade vermehren, seine Hilfe verdoppeln unduns jeden notwendigen Beistand geben wird, sobald die Versuchung wirklicheintrifft. Wenn er uns jetzt nicht die Kraft für den eingebildeten Kampfgibt, so wird er sie uns doch sicher geben, wenn wir sie wirklich brauchen.

5. Gewiß haben manche Soldaten den Mut im Kampf verloren, aberandere verloren wieder die Furcht, wenn es darauf ankam, ja sie faßtengerade mitten im Kampfgetümmel einen Mut und eine Entschlossenheit,die sie außerhalb der Gefahr nie gehabt hätten. So hat auch manche DienerGottes bei der Vorstellung künftiger Versuchungen das Entsetzen ge-

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packt, so daß sie allen Mut verloren, – war die Versuchung aber da, habensie sich sehr mutig gehalten.

Auch Simson war nicht immer mutig. Die Heilige Schrift spricht aus-drücklich davon, daß der Geist Gottes erst über ihn kam, als der Löwe imWeingarten zu Timna wütend und brüllend auf ihn losging. Da erfaßteihn der Geist Gottes, d. h. Gott entfachte in ihm eine neue Kraft undeinen neuen Mut und er zerriß den Löwen wie eine Ziege. In gleicherWeise schlug er auch tausend Philister, die im Tal Lehi ihn töten wollten(Ri 14,6; 15,14).

Es ist also durchaus nicht notwendig, mein lieber Theotimus, daß wirimmer im Besitz unseres Kraftgefühls sind und uns mutig wissen, denLöwen zu besiegen, der herumgeht, suchend, wen er verschlinge (1 Petr5,8) . Dies könnte uns höchstens zu Hochmut und Vermessenheit verlei-ten. Es genügt vielmehr das aufrichtige Verlangen, mutig zu kämpfen,und das feste Vertrauen, daß der Heilige Geist uns mit seiner Hilfe bei-stehen wird, wenn wir sie notwendig brauchen.

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FÜNFTES BUCHFÜNFTES BUCHFÜNFTES BUCHFÜNFTES BUCHFÜNFTES BUCH

Die zwei Haupttätigkeiten der Liebe:Die zwei Haupttätigkeiten der Liebe:Die zwei Haupttätigkeiten der Liebe:Die zwei Haupttätigkeiten der Liebe:Die zwei Haupttätigkeiten der Liebe:WWWWWohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlgefallen und Wohlwollen.ohlwollen.ohlwollen.ohlwollen.ohlwollen.

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1 . KapitelDas heilige WDas heilige WDas heilige WDas heilige WDas heilige Wohlgefallen der Liebe und worin es besteht.ohlgefallen der Liebe und worin es besteht.ohlgefallen der Liebe und worin es besteht.ohlgefallen der Liebe und worin es besteht.ohlgefallen der Liebe und worin es besteht.

1. Die Liebe ist, wie wir bereits gesagt haben (I.Buch, 7.Kap.), nichtsanderes als die durch das Wohlgefallen am Guten hervorgerufene Bewe-gung des Herzens, das Strömen des Herzens zu diesem Guten hin. DasWohlgefallen ist somit der starke Beweggrund der Liebe, wie die Liebedie starke Bewegung des Wohlgefallens ist.

2. Zu Gott hin bewegen wir uns auf folgende Weise: Durch den Glau-ben wissen wir, daß die Gottheit ein unfaßbarer Abgrund aller Vollkom-menheit ist, über alles unendlich in ihrer Erhabenheit und unendlichüber alles erhaben in ihrer Güte. Diese Wahrheit, die uns der Glaubelehrt, erwägen wir in aufmerksamer Betrachtung. Wir sehen dann dieunermeßliche Herrlichkeit Gottes entweder in der Gesamtheit aller Voll-kommenheiten, oder wir betrachten diese einzeln und nacheinander, seineAllmacht, seine Allwissenheit, seine Allgüte, seine Ewigkeit, seine Un-endlichkeit. Wenn nun unser Verstand so recht auf die erhabene Herr-lichkeit des göttlichen Wesens aufmerksam geworden ist, dann kann esnicht anders sein, als daß unser Wille vom Wohlgefallen am höchstenGut erfaßt wird.

3. Dann aber gebrauchen wir unsere Freiheit und die Gewalt, die wirüber uns selber haben, und regen unser Herz dazu an, das erste Wohl-gefallen durch Akte der Zustimmung und der Freude zu erneuern undzu bestärken. „Wie schön bist Du doch, mein Geliebter,“ spricht danndie gottliebende Seele, „wie schön bist Du doch. Du bist alles Ver-langens wert, ja das Verlangen selber. So ist mein Geliebter, er ist derFreund meines Herzens, ihr Töchter Jerusalems ...“ (Hld 1,15; 5,16).Für immer sei mein Gott gepriesen ob seiner Güte. Mag ich sterbenoder leben, so bin ich doch selig, zu wissen, daß mein Gott an allemGuten so reich, daß seine Güte so unendlich und seine Unendlichkeit sogut ist.

4. Wenn wir so das Gute anerkennen, das wir in Gott gewahren,und uns darüber freuen, dann erwecken wir den Akt der Liebe, denman Liebe des Wohlgefallens nennt, denn wir finden unendlich mehrGefallen am göttlichen Gefallen als an unserem eigenen. In dieserLiebe fanden die Heiligen so viel Freude, wenn sie von den Voll-kommenheiten ihres Vielgeliebten erzählen konnten. Sie war es, die siemit solcher Innigkeit aussagen ließ: Gott ist Gott. „Wisset doch,“ sagten

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sie, „der Herr ist Gott“ (Ps 100,3). „O Gott, mein Gott, Du bist meinGott“ (Ps 22,1.11). „Ich sprach zum Herrn, Du bist mein Gott (Ps 16,2);„der Gott meines Herzens und mein Gott ist mein Erbteil für immer“(Ps 73,26).

5. Der „Gott unseres Herzens“ ist er durch dieses Wohlgefallen, durchwelches ihn unser Herz umfängt und zu eigen nimmt. „Unser Erbteil“ist er, da wir durch diesen Akt die Güter genießen, die in Gott sind, undwie aus einem Erbe Freude und Befriedigung aller Art gewinnen. Durchdas Wohlgefallen trinken und essen wir geistigerweise die Voll-kommenheiten der Gottheit, denn wir machen sie uns zu eigen, ziehensie förmlich in unser Herz hinein.

Die Schafe Jakobs nahmen zur Zeit der Paarung die verschiedenenFarben in sich auf, die sie in dem Brunnen sahen, aus dem sie tranken,daher waren auch die Lämmlein, die sie zur Welt brachten, gefleckt (Gen30,37–39). So zieht auch eine Seele, die vom liebevollen Wohlgefallenergriffen ist, das sie an der Betrachtung der Gottheit und ihrer unendli-chen Herrlichkeit findet, gleichsam die Farben, d. h. die zahllosen Wunderund Vollkommenheiten, die sie sieht, in ihr Herz und sie werden durchdie empfundene Befriedigung ihr Eigen.

6. Bei Gott, welche Freude werden wir im Himmel haben, mein Theoti-mus, wenn wir den Geliebten unserer Herzen als ein unendliches Meervor uns sehen werden, dessen Wasser nichts anderes als Vollkommen-heit und Güte sind. Dann wird unser Herz einem Hirsch gleichen, derverfolgt und gehetzt, eine klare, frische Quelle gefunden hat und daserquickende, kühle Naß des Wassers schlürft (Ps 42,1). Nach langemSehnen gelangt unser Herz zu der starken, lebendigen Quelle der Gottheit (Ps42,2) und nimmt durch das Wohlgefallen alle Vollkommenheiten desGeliebten in sich auf. Im vollkommenen Genuß der Freude, die es fin-det, wird es mit seiner unvergänglichen Wonne gesättigt werden.

So wird der geliebte Bräutigam bei uns wie in sein Brautgemach ein-ziehen, um seine ewige Freude mit unserer Seele zu teilen. Er hat esja selbst gesagt, daß er kommen wird, um bei uns Wohnung zu neh-men, wenn wir das heilige Gesetz der Liebe halten (Joh 14,23).

7. Es ist dies der süße und edle Raub der Liebe: Ohne dem Geliebtenetwas von seiner Farbenpracht zu nehmen, schmückt sie sich mit sei-nen Farben; ohne ihn zu entblößen, bekleidet sie sich mit seinem Ge-wande; ohne ihm etwas zu entwenden, eignet sie sich alles an, was erhat; ohne ihn arm zu machen, bereichert sie sich mit seinen Gütern. So

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nimmt die Luft das Licht auf, ohne die Leuchtkraft der Sonne zu verrin-gern; so strahlt der Spiegel die Anmut eines Antlitzes wieder, ohne demMenschen, den er zeigt, etwas von seiner Schönheit zu nehmen.

„Sie wurden abscheulich gleich den Dingen, die sie liebten,“ sagt derProphet von den Bösen (Hos 9,10). Desgleichen kann man von den Gu-ten sagen, daß sie liebenswert werden wie die Dinge, die sie lieben. –Betrachte, ich bitte dich, das Herz der hl. Klara von Montefalco; es fandsoviel Freude an der Passion des Herrn und an der Betrachtung der hei-ligsten Dreifaltigkeit, daß es die Male der Passion und ein wundersamesBild der heiligsten Dreifaltigkeit in sich abprägte. Es war geworden wiedie Dinge, die es liebte. – Die Liebe des hl. Paulus zum Leben, Leidenund Sterben unseres Herrn war so groß, daß sie dieses Leben, Leiden undSterben des Erlösers in das Herz dieses liebeglühenden Dieners hinein-zog. So wurde sein Wille ganz Liebe, sein Gedächtnis ganz Gedenken, seinVerstand ganz Beschauung.

8. Auf welchem Weg war der gütige Jesus in das Herz des hl. Pauluseingegangen? Auf dem Weg des Wohlgefallens. Er sagt es ja selber:„Ferne sei es von mir, daß ich mich in etwas rühme, außer im Kreuzunseres Herrn Jesus Christus“ (Gal 6,14). Wenn wir es recht bedenken,so besteht zwischen dem Ausdruck „sich in jemandem rühmen“ und demAusdruck „sein Wohlgefallen an jemand haben“, also zwischen demRuhm in einer Sache und der Freude daran nur der Unterschied, daßderjenige, der sich einer Sache rühmt, mit der Freude, die er in etwasfindet, noch die Ehre verbindet. Die Ehre ist ja nicht ohne Freude, aberdie Freude kann ohne Ehre sein. – Diese Seele hatte also ein solchesGefallen an der göttlichen Güte, die aus dem Leben, dem Leiden, demTod des Erlösers strahlt, und fühlte sich dadurch so geehrt, daß sie kei-ne Freude außer in dieser Ehre fand. Und deshalb sagte der Apostel:„Ferne sei es von mir, daß ich mich rühme, außer im Kreuz meinesErlösers,“ wie auch, daß er nicht selbst lebe, sondern Jesus Christusin ihm (Gal 2,20).

2. KapitelDurch das heilige WDurch das heilige WDurch das heilige WDurch das heilige WDurch das heilige Wohlgefallen werden wir gleichohlgefallen werden wir gleichohlgefallen werden wir gleichohlgefallen werden wir gleichohlgefallen werden wir gleich

kleinen Kindern an der Brust des Herrn.kleinen Kindern an der Brust des Herrn.kleinen Kindern an der Brust des Herrn.kleinen Kindern an der Brust des Herrn.kleinen Kindern an der Brust des Herrn.1. O Gott, wie glücklich ist eine Seele, die ihre Freude daran findet, zu

wissen und zu erkennen, daß Gott Gott ist und daß seine Güte eineunendliche Güte ist; denn durch dieses Tor des Wohlgefallens tritt der

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himmlische Bräutigam in sie ein. Er hält Gastmahl mit uns und wirmit ihm (Offb 3,20). Wir weiden uns mit ihm an seiner Güte durch dieFreude, die wir über sie empfinden, und sättigen unser Herz an dengöttlichen Vollkommenheiten durch die Befriedigung, die wir dabei füh-len. Und dieses Mahl ist ein Abendmahl wegen der Ruhe, die ihm folgt;denn das Wohlgefallen läßt uns auf sanfte Weise ruhen in dem köstlichenGut, das uns erquickt und an dem unser Herz sich weidet.

Du weißt, Theotimus, daß sich das Herz an den Dingen „weidet“,die ihm gefallen. Darum sagt man auch, daß sich der eine an der Ehre,der andere an den Reichtümern weidet – und der Weise sagt: „DerMund des Toren weidet sich an Unwissenheit“ (Spr 15,14). Die höchsteWeisheit aber versichert uns, daß es „ihre Speise“, d. h. ihre Freude sei,„den Willen des Vaters zu tun“ (Joh 4,34). Ebenso ist das Wort der Ärztewahr: „Was schmeckt, das nährt auch“, – und das der Philosophen: „Wasgefällt, erquickt.“

2. „Mein Geliebter komme in seinen Garten,“ sagt die Braut im Hohe-lied (5,1); „und er esse die Früchte seiner Apfelbäume.“ Der göttlicheBräutigam kommt aber dann in seinen Garten, wenn er in die gottlieb-ende Seele einkehrt. Da es „seine Wonne ist, unter den Menschenkindernzu sein“ (Spr 8,31), wo könnte er dann besser wohnen als in der Seele, dieer nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat? In diesem Gartenpflanzt er selber das liebevolle Wohlgefallen, das wir an seiner Gütehaben und an dem wir uns weiden. Ebenso findet seine Güte Gefallenund weidet sich an unserem Wohlgefallen. Unser Wohlgefallen hinwie-der nimmt dadurch zu, daß es Gott gefällt zu sehen, daß wir Gefallen anIhm haben. So entsteht aus dieser gegenseitigen Freude eine Liebe unver-gleichlichen Wohlgefallens, durch die unsere Seele zu einem Garten desBräutigams wird, der dank seiner Güte kostbare Bäume enthält, die ihm reich-liche Früchte bringen. Er freut sich ja an dem Wohlgefallen, das die Seelean ihm hat.

3. So ziehen wir das Herz Gottes in das unsere hinein und er verbreitetdarin seinen köstlichen Duft (Hld 1,2). Da verwirklicht sich nun, was dieheilige Braut mit so großem Jubel verkündet: „Der König meines Her-zens hat mich in seine Kammern geführt. Wir wollen frohlocken und andir uns freuen und deiner Brüste gedenken, die lieblicher sind als Wein.Die Guten lieben dich“ (Hld 1,3). Ich bitte dich, Theotimus, was sind dieKammern dieses Königs der Liebe anderes als seine Brüste, die überfließenvon köstlicher Süße? – Die Brust der Mutter ist die Schatzkammer des

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kleinen Kindes; es kennt keinen anderen Reichtum als diesen, der ihmwertvoller ist als Gold und Edelstein (Ps 119,127) und liebenswerter alsalles andere in der Welt.

So dünkt sich auch die Seele, die die unendlichen Schätze der gött-lichen Vollkommenheiten ihres Geliebten betrachtet, überaus glücklichund reich, denn die Liebe macht ihr durch das Wohlgefallen alle kostbarenGüter und alle Freuden ihres Bräutigams zu eigen.

4. Das Kindlein macht seine kleinen Anstrengungen, um zur Brust derMutter zu gelangen, und strampelt vor Behagen, sobald es dieselbe ent-hüllt sieht; die Mutter ihrerseits reicht sie mit eifrigster Liebe dar. Soempfindet auch die gottliebende Seele eine außergewöhnliche Begei-sterung und eine unvergleichliche Freude, wenn sie die Schätze derVollkommenheiten des Königs sieht, zumal wenn sie merkt, daß er sie vollLiebe zeigt und daß unter seinen Vollkommenheiten seine unendlicheLiebe glanzvoll hervorleuchtet.

Hat die Seele dann nicht recht, auszurufen: „O mein König, wie lie-benswert sind deine Reichtümer und wie reich ist deine Liebe!“ Werfreut sich denn mehr daran, du, der du sie besitzt, oder ich, die ich siegenieße? Wir frohlocken vor Freude, wenn wir deiner Brust gedenken,die so viel köstliche Süße birgt; ich, weil mein Vielgeliebter sich ihresBesitzes erfreut; du, weil deine Vielgeliebte sich ihrer erfreut. So genießenwir beide, denn in deiner Güte freust du dich an meiner Freude undmeine Liebe läßt mich wiederum Freude an deiner Freude haben.

5. O wie lieben dich die Gerechten und Guten! (Hld 1,2). Wie könnteman auch gut sein und eine solche Güte nicht lieben? – Die irdischenFürsten haben ihre Schätze in den Kammern ihrer Paläste und ihreWaffen in ihren Arsenalen. Der himmlische Fürst hat seinen Schatzund seine Waffen in seiner Brust. Und weil sein Schatz seine Güte istund seine Waffen aus seiner Liebe bestehen, so gleicht sein Busen demeiner liebenden Mutter, die zwei volle Brüste besitzt, gleich zwei Vorrats-kammern, reich an süßer Milch. Sie hat ebensoviele Waffen, den kleinenSäugling zu bezwingen, als dieser Züge tun kann, um an der Mutter-brust zu trinken.

Sicherlich hat die Natur die Brüste der Mutter deshalb auf ihren Busengesetzt, damit die Wärme des Herzens die Milchbildung fördere und dasHerz Ernährer des Kindes sei, wie die Mutter dessen Ernährerin ist. Unddie Milch sollte eine Nahrung der Liebe sein, hundertmal besser als Wein.Der Vergleich der Milch mit dem Wein scheint der Braut im Hohelied

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allerdings so passend zu sein, daß sie sich nicht begnügt, es nur einmal zusagen, daß die Brüste ihres Bräutigams vortrefflicher sind als Wein, son-dern es dreimal wiederholt (Hld 1,2; 4,10; 7,3).

Der Wein, Theotimus, ist die Milch der Trauben und die Milch istder Wein der Brüste. Deshalb sagt die heilige Braut auch, daß derGeliebte für sie eine Traube ist, aber eine Traube aus Zypern (Hld 1,13),d. h. von trefflichem Wohlduft. – Mose erlaubte den Israeliten, das reineund edle Blut der Trauben zu trinken (Dtn 32,14). Und Jakob weissagteseinem Sohn Juda (Gen 49,11), indem er ihm die Fruchtbarkeit desAnteils schilderte, der ihm am verheißenen Land zufallen sollte, unterdiesem Bild das wahre Glück des Christen. Er sagte nämlich, der Erlöserwerde sein Gewand, d. h. die heilige Kirche, im Blut der Trauben wa-schen, d. h. in seinem eigenen Blut.

Blut und Milch unterscheiden sich von einander wie der Saft der unrei-fen Traube vom Wein. So wie der Saft der unreifen Traube durch dieSonnenwärme reift, seine Farbe ändert und zu einem wohlschmeckendenWein und nahrhaften Trank wird, so nimmt auch das Blut, durch dieWärme des Herzens gewandelt, eine schöne weiße Farbe an und ist fürdie Kinder eine höchst bekömmliche Nahrung.

Die Milch, die aus dem Herzen kommende, liebedurchwärmte Nah-rung, versinnbildet trefflich die mystische Wissenschaft und Theologie,die nichts anderes ist als süßes Verkosten der Vollkommenheiten göttli-cher Güte. Der Wein dagegen ist ein Bild der gewöhnlichen, erworbenenWissenschaft, die durch angestrengtes Forschen unter der Kelter vielerBeweise und Erwägungen gewonnen wird.

So ist denn die Milch, die unsere Seelen aus der liebenden Brust unse-res Herrn trinken, unvergleichlich besser als der Wein, der aus mensch-lichen Erörterungen gewonnen wird.

6. Diese Milch entquillt ja der himmlischen Liebe und ist ihren Kin-dern bereitet, noch bevor sie daran gedacht haben. Sie hat einen an-genehmen köstlichen Geschmack, ihr Duft übertrifft allen Wohlgeruch,sie macht den Atem frisch und mild wie den Atem eines Säuglings. Siebringt Freude ohne Übermut, sie berauscht, ohne zu verwirren, sie machtdie Sinne nicht benommen, sondern belebt sie.

Als der heilige Patriarch Isaak seinen geliebten Sohn Jakob umarmte undküßte, empfand er den guten Geruch seines Gewandes und rief sogleichvoll Freude aus: „Siehe, der Duft meines Sohnes gleicht dem Duft einesblühenden Feldes, das der Herr gesegnet hat“ (Gen 27,27). Das duftende

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Gewand gehörte dem Jakob, Isaak aber gewann daran Gefallen und Freu-de. – O wie köstlich empfindet die den Erlöser mit den Armen liebevol-ler Affekte umfangende Seele die Wohlgerüche unendlicherVollkommenheiten, die in ihm sind! Mit welchem Gefallen sagt sie zu sichselbst: „Siehe, der Duft meines Gottes ist wie der Duft eines blühendenGartens! Wie kostbar sind seine Brüste, die herrliche Wohlgerüche ver-breiten“ (Hld 1,1).

So schwankte das Gemüt des großen hl. Augustinus zwischen dentiefen Gefühlen, die ihn bei der Beschreibung einerseits des Geheim-nisses der Geburt seines Meisters, andererseits des Leidensgeheimnissesbewegten, so daß er in heiliger Ergriffenheit ausrief:

„Zu dem einen oder dem anderen Geheimnis –wohin soll mein Herz sich wohl wenden?Hier will die Mutter mir spendenköstliche Milch aus ihrer Brust;dort bietet die heilbringende Wundeals Trank mir Blut dar für meinen Durst.“

3. KapitelHerHerHerHerHerzenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nach seinemzenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nach seinemzenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nach seinemzenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nach seinemzenshingabe an Gott und dauernde Sehnsucht nach seinem

Besitz als WBesitz als WBesitz als WBesitz als WBesitz als Wirkung heiligen Wirkung heiligen Wirkung heiligen Wirkung heiligen Wirkung heiligen Wohlgefallens.ohlgefallens.ohlgefallens.ohlgefallens.ohlgefallens.

1. Die Liebe, die wir Gott entgegenbringen, hat ihren Ursprung imersten Wohlgefallen, das unser Herz empfindet, sobald es beim Be-ginn des Strebens nach Gott der göttlichen Güte gewahr wird. Ver-mehren und verstärken wir nun dieses erste Wohlgefallen durch Be-tätigung der Liebe, wie wir es in den vorausgehenden Kapiteln beschrie-ben haben, so ziehen wir die göttlichen Vollkommenheiten in unserHerz hinein und sind im seligen Besitz der göttlichen Güte durch dieFreude, die wir an ihr finden.

So verwirklichen wir das Erste jener liebenden Geborgenheit, das dieBraut des Hoheliedes in die Worte kleidet: „Mein Geliebter ist mein“(Hld 2,16).

Dieses liebende Wohlgefallen aber, das in uns ist, da wir es besitzen,hört nicht auf, auch in Gott zu sein, da wir es doch bei ihm finden. Soschenkt es uns wiederum seine göttliche Güte. Daher erfreuen wir unsdurch die Liebe des Wohlgefallens der Güter, die in Gott sind, so als ob

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sie unser wären. Weil aber die göttlichen Vollkommenheiten stärker sindals unser Geist, nehmen sie ihn in Besitz, sobald sie bei ihm einziehen.Daher sagen wir nicht nur, daß Gott durch dieses heilige Wohlgefallenunser ist, sondern auch, daß wir „sein“ sind (Hld 2,16).

Die Pflanze Aproxis hat (wie wir an anderer Stelle gesagt haben –Anl. z. frommen Leben 3,18) eine so starke Eignung für Feuer, daß sieselbst von der Ferne die Flamme an sich zieht, sobald sie ihrer ge-wahr wird, und dann zu brennen anfängt. Nicht die Hitze des Feuers,sondern der Feuerschein bringt sie zum Brennen (Plin. Hist. nat. 24,17).Wenn sie so durch die Anziehungskraft des Feuers mit ihm vereintwird, würde sie nicht, könnte sie reden, etwa Folgendes sagen? „Meingeliebtes Feuer ist mein, denn ich habe es an mich gezogen und ichbin im Besitz seiner Flammen; aber ich gehöre auch ihm, denn wenn ich esauch an mich gezogen habe, so verwandelt es mich in sich als das Stärkereund Edlere. Es ist mein Feuer und ich bin seine Pflanze, ich ziehe es anmich und es verbrennt mich.“

So kann auch unser Herz, wenn es sich die göttliche Güte vergegen-wärtigt und deren Vollkommenheiten durch das Wohlgefallen an sichgezogen hat, in Wahrheit sagen: Die Güte Gottes ist ganz mein, da ichmich ihrer Herrlichkeit erfreue; und ich gehöre ganz ihr, da ihre Freudenmich ganz in Besitz nehmen.

2. Durch das Wohlgefallen wird unsere Seele, gleich dem Vlies Gi-deons (Ri 6,37 f), ganz mit himmlischem Tau durchtränkt und dieser Tauist dem Vlies zu eigen, denn es ist auf dasselbe herabgekommen. Ande-rerseits gehört aber auch das Vlies dem Tau, weil es von ihm getränktwurde und dessen Wert empfängt.

Wer gehört mehr der anderen, die Perle der Auster, oder die Austerder Perle? Die Perle gehört der Auster, die sie an sich gezogen hat,aber die Auster gehört auch der Perle, da diese sie kostbar macht. Sowerden auch wir durch das Wohlgefallen zu Besitzern Gottes, da wirseine Vollkommenheiten in uns hineinziehen, aber auch zu Gottes Besitz,da es uns an seine Vollkommenheiten heftet und anschmiegt.

3. Durch dieses Wohlgefallen an Gott sättigen wir unsere Seelen sosehr mit Freude, daß wir von dem Wunsch nicht ablassen, sie noch mehr zusättigen. Da wir die göttliche Güte verkosten, wünschen wir, sie nochmehr zu verkosten. Da wir uns daran sättigen, wünschen wir, immerweiter uns davon zu nähren, wie wir auch beim Verkosten fühlen, daß wiruns damit sättigen.

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Der Apostelfürst schreibt in seinem ersten Brief (1 Petr 1,10.12), daß diealten Propheten die Gnadenfülle vorhergesagt haben, die den Christengeschenkt werden sollte, unter anderem auch das Leiden des Herrn und dieHerrlichkeit, die ihm folgen würde durch die Auferstehung seines Leibeswie durch die Erhöhung seines Namens; und er schließt mit den Worten,daß selbst „die Engel danach verlangen, ihn zu sehen“, die Geheimnisseder Erlösung im göttlichen Heiland zu schauen. Wie ist das aber zu verste-hen, daß die Engel, die den Erlöser sehen und in ihm auch alle Mysterienunseres Heils, dennoch danach verlangen, ihn zu schauen? Gewiß,Theotimus, sie sehen ihn immer, doch ist dieser Anblick für sie so wohl-tuend und erfreuend, daß das Wohlgefallen, das sie daran haben, siesättigt, ohne ihnen das Verlangen zu nehmen, und es läßt sie verlangen,ohne ihnen die Sättigung zu nehmen. Der Genuß vermindert nicht dasVerlangen, sondern stärkt es, so wie ihr Verlangen durch den Genuß nichterstickt, sondern verfeinert wird.

4. Der Genuß eines Gutes, das immer befriedigt, welkt nie dahin, sondernerneuert sich und erblüht ohne Unterlaß; immer ist dieser Genuß lie-benswert, immer ist er ersehnenswert. Die immerwährende Befriedigungderer, die im Himmel lieben, ruft eine immerwährende zufriedene Sehn-sucht hervor, so wie ihre immerwährende Sehnsucht in ihnen eine im-merwährend ersehnte Befriedigung weckt.

Ein Gut, das begrenzt ist, hebt die Sehnsucht nach ihm auf, sobald esden Genuß bringt, und es nimmt den Genuß, wenn es Sehnsucht erweckt,denn es kann nicht gleichzeitig besessen und ersehnt werden. Das un-endliche Gut aber läßt die Sehnsucht im Besitz herrschen und denBesitz in der Sehnsucht, denn es ist imstande, die Sehnsucht durch seineheilige Gegenwart zu sättigen und sie dabei immer lebendig zu erhaltendurch seine alles überragende Größe. Diese nährt in all denen, die es besit-zen, eine immer befriedigte Sehnsucht und eine immer sehnsüchtigeBefriedigung.

5. Stelle dir diejenigen vor, Theotimus, die das skythische Kraut imMund haben; denn von ihnen heißt es, daß sie weder Hunger noch Durstempfinden, so sehr sättigt es sie. Und dennoch verlieren sie nie den Appetit,weil es sie auf eine so köstliche Weise ernährt (Plin. Hist. nat 25,8).Wenn unser Wille Gott gefunden hat, so ruht er in ihm, da er das höchs-te Wohlgefallen an ihm findet; trotzdem hört er nicht auf, Regungender Sehnsucht hervorzubringen; denn wie er sich danach sehnt zu lieben,

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so liebt er es auch zu sehnen; er hat Sehnsucht nach Liebe und Liebe zurSehnsucht.

Die Ruhe des Herzens besteht nicht darin, unbeweglich, sondernbedürfnislos zu sein. Sie liegt nicht darin, bewegungslos, sondernnicht bewegungsbedürftig zu sein. Die Geister der Verlorenen sind insteter Bewegung ohne eine Spur von Ruhe. Wir Sterblichen, die wir unsnoch auf Pilgerschaft befinden, sind in unseren Affekten zuweilen in Ruhe,zuweilen in Bewegung. Die seligen Geister haben immer Ruhe in ihren Bewe-gungen und Bewegung in ihrer Ruhe. Nur Gott allein ist Ruhe ohneBewegung, er ist in erhabenster Weise reine und wesenhafte Wirk-lichkeit.

Wir haben zwar, dem gewöhnlichen Zustand unseres sterblichen Le-bens nach, keine Ruhe in unserer Bewegung; wenn wir aber versuchen,uns nach der Weise des unsterblichen Lebens zu betätigen, d. h. Akteheiliger Liebe zu setzen, so finden wir sowohl Ruhe in der Bewegungunserer Affekte als auch Bewegung in der Ruhe des Wohlgefallens, daswir an unserem Vielgeliebten haben, und empfangen dadurch einen Vor-geschmack der zukünftigen Seligkeit, nach der wir streben.

6. Wenn es wahr ist, daß das Chamäleon von der Luft lebt (Plin. Hist.nat. 8,33), so findet es überall seine Nahrung, wohin immer es sich in derLuft bewegt. Wenn es sich von einem Ort zum anderen begibt, sogeschieht das nicht, um etwas zu seiner Sättigung zu suchen, sondern umsich in seiner Nahrung zu bewegen, wie die Fische im Meer. – Wer Gottbesitzt und dabei nach ihm verlangt, verlangt nicht nach ihm, um ihn zusuchen, sondern um seiner Sehnsucht nach diesem höchsten Gut freienLauf zu lassen, dessen Besitzes er sich erfreut. Das Herz erweckt nichtdiese Sehnsuchtsregungen, als wollte es nach dem Genuß streben, um ihnzu haben – denn es hat ihn ja bereits, – sondern um sich dem Genuß,den es bereits hat, noch mehr zu ergeben; nicht um das Gute zu erlan-gen, sondern um sich darin zu erneuern und zu festigen; nicht um es zugenießen, sondern um sich daran zu erfreuen.

So gehen wir und bewegen uns, um in irgend einen schönen Garten zugelangen. Sind wir dort angekommen, so hören wir nicht auf, zu gehenund uns zu bewegen, jetzt wohl nicht mehr, um hinzugelangen, sondern umdort spazieren zu gehen und die Zeit dort zuzubringen. Wir sind ausge-gangen, um die Annehmlichkeit des Gartens genießen zu können; dort ange-kommen, gehen wir, um uns an dem Genuß des Gartens zu erfreuen.

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Sucht den Herrn und zagt nicht.Sucht stets sein Angesicht! (Ps 105,4).

Immer sucht man den, den man immer liebt, sagt der große hl. Augu-stinus (Enarratio in Ps 105,3). Die Liebe sucht das, was sie gefunden hat,nicht um es zu haben, sondern um es immer zu haben.

Kurzum, mein Theotimus, die Seele, die in der Liebe des Wohlgefal-lens lebt, ruft ständig in ihrem heiligen Schweigen: Mir genügt, daßGott Gott ist, daß seine Güte unendlich, daß seine Vollkommenheit un-ermeßlich ist. Mir liegt wenig daran, ob ich lebe oder sterbe, da meinVielgeliebter ewig ein ganz glorreiches Leben lebt. Selbst der Tod vermagdas Herz nicht zu betrüben, da es weiß, daß seine höchste Liebe lebt. DerSeele, die liebt, genügt es zu wissen, daß derjenige, den sie mehr als sichselbst liebt, an ewigen Gütern überreich ist; denn sie lebt nicht selbst,sondern ihr Geliebter lebt in ihr (Gal 2,20).

4. KapitelDas liebevolle Mitleid, ein noch deutlicherer ADas liebevolle Mitleid, ein noch deutlicherer ADas liebevolle Mitleid, ein noch deutlicherer ADas liebevolle Mitleid, ein noch deutlicherer ADas liebevolle Mitleid, ein noch deutlicherer Ausdrusdrusdrusdrusdruckuckuckuckuck

der Liebe des W der Liebe des W der Liebe des W der Liebe des W der Liebe des Wohlgefallens.ohlgefallens.ohlgefallens.ohlgefallens.ohlgefallens.

1. Mitleiden, Teilnahme am Leiden, Mitfühlen und Erbarmen, dasalles ist nichts anderes als eine Gemütsregung, die uns teilhaben läßtan dem Leiden und dem Schmerz dessen, den wir lieben, indem sie dieNot, die er leidet, in unser Herz zieht. Daher nennt man sie Barmherzig-keit, wie wenn man sagen möchte, daß das, was Erbarmen erregt, inunseren Herzen ist. So zieht ja auch das Wohlgefallen die Freude undBefriedigung des geliebten Gegenstandes in das Herz des Liebendenhinein.

Die Liebe ist es, welche die eine und die andere Wirkung hervor-bringt durch die Kraft, die sie besitzt, das liebende Herz mit dem Gegen-stand der Liebe zu vereinigen. Auf diese Weise macht sie Gutes und Bö-ses der Freunde zum gemeinsamen Besitz. Was beim Mitleiden geschieht,gibt auch viel Klarheit über das, was beim Wohlgefallen vor sich geht.

2. Die Größe des Mitleidens hängt von der Größe der Liebe, ihres Ur-sprungs ab. Daher ist auch die Teilnahme der Mütter am Leiden ihrereinzigen Kinder so groß, wovon die Heilige Schrift häufig Zeugnisablegt. Welche Teilnahme im Herzen der Hagar an dem Schmerz ihresIsmael, als sie ihn in der Wüste vor Durst fast verschmachten sah(Gen 21,16)! Welches Erbarmen erfaßte die Seele Davids über das Elend

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seines Abschalom (2 Sam 19,1). Und welch mütterliches Herz hattedoch der große Apostel, der schwach war mit den Schwachen, vor Eiferbrannte, wenn jemand Ärgernis nahm (2 Kor 11,29), der ständig litt unterder Verwerfung der Juden (Röm 9,2–4) und täglich starb für seine liebengeistigen Kinder (1 Kor 15,31).

Vor allem aber betrachte, wie die Liebe alle Mühen, alle Qualen, alleDrangsale, Leiden, Schmerzen, Wunden, das bittere Leiden, das Kreuzund selbst den Tod unseres Erlösers in das Herz seiner heiligstenMutter hineinzog. Ach, dieselben Nägel, die den Leib ihres göttlichenKindes kreuzigten, kreuzigten auch das Herz der Mutter; dieselben Dor-nen, die sich in sein Haupt einbohrten, durchbohrten die Seele dieser ganzliebreichen Mutter. Sie litt aus Erbarmen am selben Elend wie ihr Sohn,sie erduldete die gleiche Not wie er in ihrem Mitdulden, die gleichenLeiden wie er in ihrem Mitleiden, die gleichen Schmerzen, wie er in ihrerTeilnahme an seiner Passion. Die Todeslanze, die schließlich den Leibihres geliebtesten Sohnes durchdrang, durchbohrte gleicherweise das Herzdieser liebenden Mutter (Lk 2,35). So konnte sie wohl sagen, daß er ihrein Myrrhenbüschlein war auf ihrer Brust (Hld 1,12), an ihrem Herzen.

Als Jakob die traurige, wenn auch falsche Nachricht vom Tod seinesgeliebten Sohnes Josef erhielt, welche Trübsal hat er doch da empfunden.„Ach,“ so sagt er, „trauernd will ich zu meinem Sohn ins Totenreichhinabsteigen“ (Gen 37,35).

3. Die Größe des Mitleidens hängt auch von der Größe der Leidenab, die man jene erdulden sieht, die man liebt. Denn selbst wenn dieFreundschaft eine geringe ist, die zu ertragenden Übel aber außerordent-lich groß sind, rufen sie doch ein großes Mitleid hervor. So weinte Cäsarüber Pompejus (Plutarch, de Vita Cäs. § 48) und die Töchter Jerusalemskonnten beim Anblick des Herrn ihre Tränen nicht zurückhalten (Lk23,27), obwohl die meisten von ihnen ihm nicht besonders zugetan wa-ren. Ebenso brachen die Freunde Ijobs, obwohl sie falsche Freunde wa-ren, in großes Wehklagen aus, als sie sein unbeschreibliches Elend sahen(Ijob 2,12.13). Und welch harter Schlag war es für das Herz Jakobs,zu glauben, sein geliebtes Kind habe einen so grausamen Tod erlitten,es sei von einem wilden Tier verschlungen worden (Gen 37,33–35).

4. Überdies wird das Mitleiden noch sehr erhöht durch die Gegenwartdessen, der im Elend ist. Deshalb entfernte sich Hagar von ihrem ver-schmachtenden Sohn, um sich in irgendeiner Weise den Mitleidsschmerzzu erleichtern; sie sagte: „Ich kann das Kind nicht sterben sehen!“

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(Gen 21,16). Der Herr hingegen weinte vor dem Grab seines lieben FreundesLazarus (Joh 11,35), und als er auf sein geliebtes Jerusalem herabblickte (Lk19,41). So verging auch Jakob vor Schmerz, als er den blutigen Rockseines armen kleinen Josef sah (Gen 37,35).

5. Aus genau denselben Ursachen vergrößert sich auch das Wohlgefal-len: Je teurer ein Freund uns ist, um so mehr Freude haben wir an seinerFreude und um so glücklicher sind wir, wenn es ihm gut geht. Erlebter ein besonderes Glück, dann ist auch unsere Freude ganz groß. Erfreut ersich eines äußerst wertvollen Besitzes, dann steigert sich auch unsere Mit-freude zum äußersten.

Als Jakob hörte, daß sein Sohn noch lebe, o Gott, war das eineFreude für ihn! (Gen 45,27). „Sein Geist kam wieder in ihn, er lebtewieder auf.“ Was will das aber heißen, er lebte wieder auf? Er erstand zuneuem Leben. Die Seele stirbt ihren eigenen Tod nur durch die Sünde,die sie von Gott, ihrem wahren, übernatürlichen Leben trennt. Manch-mal aber stirbt sie an dem Tod anderer. Das widerfuhr dem Patriar-chen Jakob, von dem wir reden. Denn die Liebe, die das Gute und dasBöse des geliebten Gegenstandes in das Herz des Liebenden hineinzieht,das eine durch Wohlgefallen, das andere durch Mitleid, zog den Tod desgeliebten Josef in das Herz des liebenden Jakob. Und durch ein Wunder,das jeder Macht außer der Liebe unmöglich ist, war der Geist diesesguten Vaters ganz erfüllt von dem Tod dessen, der in Wirklichkeit lebteund herrschte, – und so spiegelte die Liebe in ihrem Irrtum etwas vor,was noch nicht geschehen war.

Als er aber dann erfuhr, daß sein Sohn in Wahrheit am Leben sei,verwarf die Liebe, die so lange den vermeintlichen Tod des Sohnes imGeist dieses guten Vaters festgehalten hatte und nun sah, daß sie im Irr-tum gewesen war, sofort den vermeintlichen Tod und ließ an dessen Stel-le das tatsächliche Leben desselben Kindes treten. So lebte er in einemneuen Leben auf, weil das Leben seines Sohnes durch das Wohlgefallendaran in seinen Geist eintrat und ihn mit einer unvergleichlichen Befrie-digung belebte. Davon fühlte er sich so beglückt, daß er im Vergleich zudieser Freude keine andere mehr beachtete und sagte: „Es genügt mir,daß mein Sohn Josef lebt.“ Als er aber mit eigenen Augen (Gen 46,29–30) im Land Goschen die Wahrheit dessen bestätigt sah, was man ihmvon der Größe seines geliebten Kindes erzählt hatte, rief er, über ihngebeugt und unter Tränen ihn lange umarmend, aus: „Jetzt will ich gernesterben, mein lieber Sohn, da ich dein Angesicht gesehen habe und weiß,

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daß du noch lebst.“ O Gott, Theotimus, wie groß ist die Freude diesesGreises und wie schön drückt er sie aus! Denn was wollte er anderes mitden Worten sagen: „Jetzt will ich gerne sterben, da ich dein Angesichtgesehen habe,“ als die Größe seiner Freude, die imstande gewesenwäre, selbst aus dem Tod, der das Traurigste und Schrecklichste der Weltist, etwas Angenehmes und Freudiges zu machen.

6. Sage mir nun, ich bitte dich, Theotimus, wer fühlt mehr das Gute,das Josef widerfahren ist, er, der es genießt, oder Jakob, der sich darüberfreut? Wenn das Gute nur insofern gut ist, als es uns Befriedigung ver-schafft, so hat sicherlich der Vater ebensoviel und mehr als der Sohn.Denn der Sohn hat infolge seiner Würde als Vizekönig auch viele Sorgenund Geschäfte, während der Vater nur das Gute, das in der Würde undGröße seines Sohnes liegt, durch das Wohlgefallen daran genießt, ohneLast, ohne Sorge und Mühe. „Ich will gerne sterben,“ sagt er. Werersieht daraus nicht seine Befriedigung? Wenn selbst der Tod seine Freudenicht trüben kann, wer wird sie dann je stören können? Wenn er sich mittenin den Nöten des Todes wohlbefindet, wer wird sein Wohlbefinden dannje auslöschen können?

„Die Liebe ist stark wie der Tod“ (Hld 8,6) und die Freuden der Liebeüberwinden die Traurigkeit des Todes, denn der Tod vermag sie nichtzu töten, sondern er belebt sie. Es gibt ein Feuer, das wunderbarerweisesich von einer Quelle unweit von Grenoble nährt, das wissen wir ganzsicher und auch der große hl. Augustinus bezeugt diese Tatsache (St. G.21,7). Auch die heilige Liebe ist so stark, daß sie ihre Flammenund Tröstungen mitten unter den traurigen Ängsten des Todes nährtund daß die Wasser der Trübsal ihr Feuer nicht zu löschen vermögen(Hld 8,7).

5. KapitelLeid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn.Leid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn.Leid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn.Leid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn.Leid und Freude der Liebe im Leiden des Herrn.

1. Wenn ich meinen Erlöser am Ölberg sehe mit seiner bis in denTod betrübten Seele (Mt 26,38), rufe ich aus: Ach Herr Jesus, wer warimstande, dieses Todesleid in die Seele des Lebens zu tragen, wenn nichtdie Liebe, die Erbarmen weckte und damit unsere ganze Erbärmlich-keit in dein erhabenes Herz versenkt? Und wie könnte eine gottliebende

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Seele den Abgrund von Leid und Not in diesem göttlichen Liebendensehen, ohne von einem Schmerz voll heiliger Liebe erfüllt zu sein? Wennsie aber dabei bedenkt, daß alle diese Leiden ihres Vielgeliebten nichtvon Unvollkommenheit oder Schwäche herrühren, sondern von der Grö-ße seiner Liebe, muß sie nicht ganz aufgehen in heilig-schmerzlicherLiebe, so daß sie ausruft: „Ich bin schwarz“ vor Schmerz aus Mitleid,„aber schön“ vor Liebe aus Wohlgefallen (Hld 1,4–5)? „Die Ängste mei-nes Geliebten haben mich entfärbt.“ Denn wie könnte eine treu Liebendesolches Leiden an dem sehen, den sie mehr als das Leben liebt, ohne vomSchmerz zermürbt, bleich und entstellt zu werden?

Die Zelte der Nomaden sind ständig allen Einflüssen der Witterungund den Schäden des Krieges ausgesetzt und daher fast immer zerknittertund mit Staub bedeckt. So bin auch ich ganz dem Leid ausgeliefert, dasich durch die Teilnahme an den unvergleichlichen Leiden meines gött-lichen Erlösers empfinde, ganz eingehüllt in Traurigkeit und von Schmerzdurchbohrt.

2. Die Leiden dessen, den ich liebe, rühren aber von seiner Liebeher. So leide ich zwar unter ihnen durch mein Mitleiden, sie bringenmir aber Freude durch das Wohlgefallen, das ich an dieser Liebe finde.Denn wie könnte eine treu Liebende nicht eine ganz große Freude darinfinden, sich so sehr von ihrem himmlischen Bräutigam geliebt zu sehen?

Das ist also der Grund, weshalb die Schönheit der Liebe in der Häß-lichkeit des Schmerzes liegt. Bin ich auch in Trauer wegen des Leidensund des Todes meines Königs und daher ganz verbrannt und geschwärztvom Leid (Hld 1,4), so hindert mich das nicht, eine unbeschreibliche Won-ne darin zu verkosten, daß ich das Übermaß seiner Liebe in den Müh-salen seiner Schmerzen sehe. Die Zelte Salomos (Hld 1,4), über undüber gestickt und verziert mit einer wunderbaren Mannigfaltigkeit kost-barer Arbeiten, waren nie so schön, als ich glücklich bin und daherruhig, heiter und froh in den verschiedenen Liebesempfindungen, die ichwährend dieser Schmerzen habe.

3. Die Liebe macht die Liebenden einander gleich. Ach, ich sehe ihn,diesen teuren Liebenden, wie er ein Feuer der Liebe ist, brennend inmit-ten des Dorngestrüpps der Schmerzen (Ex 3,2), und auch ich bin ganz so,ich bin entflammt von Liebe inmitten des Dickichts meiner Schmerzen,ich bin eine „Lilie unter den Dornen“ (Hld 2,2). Ach, schaut nicht nurauf die Schrecken meiner stechenden Schmerzen, sondern seht die Schön-heit meiner wonnereichen Liebe. Weh, er leidet unerträgliche Peinen, die-

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ser göttliche Vielgeliebte. Das ist es, was mich betrübt und mich vorBangigkeit fast vergehen läßt. Aber er findet seine Freude darin, zu lei-den, er liebt seine Qualen und stirbt vor Freude darüber, daß er einenso schmerzreichen Tod für mich stirbt. Daher bin ich bei all meinemMitleiden mit seinem Leiden doch ganz außer mir vor Freude an seinerLiebe. Ich trauere nicht nur mit ihm, sondern ich rühme mich auch inihm (Röm 8,17).

4. Diese Liebe war es, mein Theotimus, welche dem liebeglühendenserafischen hl. Franziskus die Wundmale zuzog und der liebeerfüllten en-gelhaften hl. Katharina von Siena die brennenden Wunden ihres Er-lösers einprägte. Das liebevolle Wohlgefallen verschärfte die Stacheln desschmerzlichen Mitleidens, so wie der Honig die Bitterkeit des Absinthsnoch durchdringender und fühlbarer macht und wie andererseits der lieb-liche Duft der Rosen verfeinert wird durch die Nachbarschaft der Lauch-gewächse, die man in die Nähe der Rosenstöcke pflanzt. So verstärktauch das liebevolle Wohlgefallen, das wir an der Liebe des Herrn ha-ben, unendlich das Mitleid, das wir mit seinen Schmerzen haben. Da-gegen ist aber auch, wenn wir vom Mitleid mit seinem Schmerz zumWohlgefallen an seinen Liebeserweisen übergehen, die Freude daranviel glühender und erhabener.

Dann wirken sich Liebesleid und Leidensliebe aus. Dann streiten,gleich den zwei Brüdern Esau und Jakob, das liebevolle Mitleid und dasleidvolle Wohlgefallen darüber, wer von ihnen sich wohl mehr ereifert.Damit versetzen sie die Seele in solche Erschütterung und unerhörte To-desängste, daß sie in eine liebeerfüllte Leidensekstase und in eine leid-erfüllte Liebesekstase gerät.

So empfanden die großen Seelen des hl. Franziskus und der hl. Ka-tharina unvergleichliche Liebe in ihren Schmerzen und unvergleich-liche Schmerzen in ihrer Liebe, als sie die heiligen Wundmale emp-fingen. Sie verkosteten die freudvolle Liebe, der es vergönnt ist, für denFreund etwas zu erdulden; eine Liebe, die ihr Erlöser im höchsten Gradam Baum des Kreuzes geübt hat (Joh 15,13). Auf diese Weise wird dieüberaus kostbare Vereinigung unseres Herzens mit Gott geboren, diegleich einem mystischen Benjamin, zugleich ein „Kind der Schmerzen“und der Freude ist (Gen 35,18).

5. Es läßt sich nicht sagen, Theotimus, wie sehr unser Erlöser sichsehnt, durch diese Liebe schmerzlichen Wohlgefallens in unsere Seeleneinzukehren. „Öffne mir,“ sagt er (Hld 5,2), „meine Schwester, meine

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Freundin, meine Taube, meine ganz Reine, denn mein Haupt ist ganz vonTau benetzt und meine Haare von den Wassertropfen der Nacht.“ Was istdieser Tau und was sind die Wassertropfen der Nacht, wenn nicht die Qua-len und Peinen seiner Passion?

Die Perlen sind, wie wir schon oft gesagt haben, nichts anderes alsTautropfen, welche die Kühle der Nacht über die Meeresoberfläche herabsprüht,die von den Muscheln der Auster oder Perlmutter aufgefangen werden.Sagt uns nicht auch der göttliche Liebhaber der Seele: Siehe, ich bin mit denSchmerzen und Schweißperlen meines Leidens beladen, das in denFinsternissen der Nacht oder in der Nacht der Finsternis vor sich ging, alsdie Sonne sich am hellen Mittag verdunkelte. Öffne darum dein Herz fürmich, wie die Perlmutter ihre Schalen dem Himmel zu öffnet, und ichwerde über dich den Tau meines Leidens ausgießen, der sich in Perlen desTrostes verwandeln wird.

6. KapitelDie Liebe des WDie Liebe des WDie Liebe des WDie Liebe des WDie Liebe des Wohlwollens, die sich Gott gegenüberohlwollens, die sich Gott gegenüberohlwollens, die sich Gott gegenüberohlwollens, die sich Gott gegenüberohlwollens, die sich Gott gegenüber

in Wünschen äußerin Wünschen äußerin Wünschen äußerin Wünschen äußerin Wünschen äußert.t.t.t.t.

1. Die Liebe, die Gott uns entgegenbringt, beginnt immer mit demWohlwollen, denn er will und wirkt in uns all das Gute, das in uns ist,woran er dann sein Wohlgefallen findet. Aus Wohlwollen machte erDavid zu einem Mann „nach seinem Herzen“ (1 Sam 13,14) und dannfand er aus Wohlgefallen, daß er „nach seinem Herzen“ war. Aus reinemWohlwollen schuf er zuerst das Weltall für den Menschen und denMenschen im Weltall und gab jedem Ding den Grad von Güte, der ihmzukam. Dann prüfte er alles, was er gemacht hatte, und fand alles sehrgut und ruhte aus im Wohlgefallen an seinem Werk (Gen 1).

Unsere Liebe zu Gott fängt im Gegensatz dazu mit dem Wohlgefallenan, das wir an der höchsten Güte und der unendlichen Vollkommen-heit finden, die wir in Gott vorhanden wissen. Von da aus kommenwir dann zur Übung des Wohlwollens. Und so wie das Wohlgefallen,das Gott an seinen Geschöpfen hat, nichts anderes als eine Fortsetzungseines ihnen geschenkten Wohlwollens ist, so ist auch das Wohlwollen,das wir Gott entgegenbringen, nichts anderes als ein Gutheißen des Wohl-gefallens, das wir an ihm haben, und ein Verharren in demselben.

2. Diese Liebe des Wohlwollens gegen Gott wirkt sich auf folgendeWeise aus: Wir können Gott gar kein Gut wahrhaft wünschen, da

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seine Güte unendlich vollkommener ist, als wir es zu wünschen oderzu denken vermögen. Wünschen kann man nur ein zukünftiges Gut. InGott aber ist kein Gut zukünftig, vielmehr ist alles Gute ihm so sehrgegenwärtig, daß die Gegenwart des Guten in der göttlichen Majestätnichts anderes ist als die Gottheit selbst.

Da wir also keinen absoluten Wunsch für Gott haben können, hegenwir erdachte und bedingte Wünsche für ihn, etwa in der Weise: „Ichsprach zu Dir, o Herr, Du bist mein Gott, der ganz erfüllt von unend-licher Güte, keinen Bedarf nach meinen Gütern noch nach irgend etwashaben kann. Doch würde ich mir das Unmögliche vorstellen, daß Dueines Gutes bedürftest, so würde ich nie aufhören, es Dir zu wünschen,und wenn es auch auf Kosten meines Lebens, meines Seins und allesdessen wäre, was es in der Welt gibt. – Wenn es möglich wäre, daß Du,der Du bist, was Du bist, einen Zuwachs an Gütern erhalten könntest, oguter Gott, wie sehr würde ich wünschen, daß Du ihn erhieltest! Dannwollte ich, o Du mein ewiger Herr, daß mein Herz nichts anderes wäreals ein einziges Verlangen und mein Leben nichts anderes als das Sehnendanach, Dir dieses Gut zu wünschen.“

„Aber dennoch, o Du Geliebter meiner Seele, wünsche ich nicht, DeinerMajestät ein Gut wünschen zu können, sondern mein ganzes Herzfindet sein Wohlgefallen an diesem höchst erhabenen Grad von Güte,der Dir eigen ist, dem man weder mit einem Wunsch noch mit einemGedanken etwas hinzufügen kann. Doch wenn dieser Wunsch möglichwäre, o unendlicher Gott, o göttliche Unendlichkeit, dann möchte meineSeele dieser Wunsch und nichts anderes als dieser Wunsch sein, so sehrwürde sie wünschen, das für Dich zu wünschen, was nicht wünschenzu können ihr unendlich wohlgefällt. Die Unmöglichkeit, einen solchenWunsch zu hegen, rührt ja von der grenzenlosen Unendlichkeit DeinerVollkommenheit her, die jeden Wunsch und jeden Gedanken übertrifft.“

„O wie sehr liebe ich die Unmöglichkeit, Dir irgend ein Gut wünschenzu können, o mein Gott, da sie der unfaßlichen Unermeßlichkeit DeinesReichtums entspringt. Dieser ist ja derart unendlich, daß ein unendlicherWunsch, wenn es einen solchen gäbe, in unendlicher Weise gestillt wür-de durch die Unendlichkeit Deiner Güte, die ihn in ein unendliches Wohl-gefallen wandeln würde.“

3. Dieser Wunsch, der aus der Vorstellung unmöglicher Dinge besteht,kann manchmal im Überschwang der Gefühle, bei außerordentlicher Be-geisterung ganz nützlich zum Ausdruck gebracht werden.

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Man sagt, daß der große hl. Augustinus öfter derlei Wünsche hegte undin einem Übermaß der Liebe diese Worte sprach: „Ach Herr, ich binAugustinus und Du bist Gott. Aber wenn ich, was ja nicht ist und nichtsein kann, Gott wäre und du Augustinus, dann wollte ich mit Dir tau-schen und Augustinus werden, damit Du Gott würdest!“

Auch das ist eine Art Wohlwollen gegen Gott, wenn wir in Anbetrachtdessen, daß wir der Größe, die er in sich selbst hat, nichts hinzufügenkönnen, danach verlangen, ihm in uns Wachstum zu geben, d. h. daß wirdas Wohlgefallen, das wir an seiner Güte haben, immer mehr und mehrzu steigern wünschen. Dabei wünschen wir das Wohlgefallen, aber nichtwegen der Freude, die es uns bereitet, sondern nur weil Gott daran Freu-de findet. Wie wir das Mitleiden nicht wünschen wegen des Schmerzes,das er unseren Herzen einflößt, sondern weil dieser Schmerz uns mitunserem leidenden Vielgeliebten vereinigt und uns ihm beigesellt, eben-so lieben wir auch das Wohlgefallen nicht deshalb, weil es uns Freude be-reitet, sondern weil diese Freude eine Freude an der Vereinigung mit derFreude und mit dem Guten ist, die in Gott sind.

Um uns immer mehr und mehr zu vereinigen, möchten wir uns ei-nes unendlich größeren Wohlgefallens erfreuen, nach dem Beispiel derheiligsten Königin und Mutter der Liebe (Sir 24,24), deren heilige SeeleGott ständig pries und erhob. Und damit man wisse, daß diese Lobeser-hebungen aus dem Wohlgefallen hervorgingen, die sie an der göttlichenGüte hatte, erklärte sie, daß „ihr Geist vor Freude frohlockte in Gott, ih-rem Heiland“ (Lk 1,46.47).

7. KapitelDer Wunsch, Gott zu lobpreisen, trennt uns vonDer Wunsch, Gott zu lobpreisen, trennt uns vonDer Wunsch, Gott zu lobpreisen, trennt uns vonDer Wunsch, Gott zu lobpreisen, trennt uns vonDer Wunsch, Gott zu lobpreisen, trennt uns von

den minderden minderden minderden minderden minderwerwerwerwerwertigen Ftigen Ftigen Ftigen Ftigen Freuden und lenkt die Areuden und lenkt die Areuden und lenkt die Areuden und lenkt die Areuden und lenkt die Aufmerk-ufmerk-ufmerk-ufmerk-ufmerk-samksamksamksamksamkeit auf die Veit auf die Veit auf die Veit auf die Veit auf die Vol lkol lkol lkol lkol lkommenheiten Gottes.ommenheiten Gottes.ommenheiten Gottes.ommenheiten Gottes.ommenheiten Gottes.

1. Die Liebe des Wohlwollens ruft also in uns den Wunsch nach immergrößerer Vermehrung unseres Wohlgefallens an der göttlichen Güte her-vor. Die Seele beraubt sich dann sorgsam eines jeden anderen Vergnügens,um sich noch kraftvoller zu üben, Gefallen an Gott zu finden.

Ein Ordensmann stellte an den frommen Bruder Ägidius, einen derersten und heiligsten Gefährten des hl. Franziskus, die Frage, was er tunkönne, um Gott wohlgefälliger zu werden. Da antwortete dieser, indem

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er sang: „Die Eine dem Einen, die Eine dem Einen.“ Dann erklärte erdiese Worte und sagte: „Gib immer deine ganze Seele, die eine, Gott allein,dem Einen“ (Chronica Fratr. Min. 7,20).

2. Die Seele gießt sich in den Vergnügungen aus, ihre Mannigfaltig-keit zersplittert sie und verhindert ihre aufmerksame Hingabe an dieFreude, die sie an Gott haben soll. Der wahrhaftig Liebende kennt fastkeine andere Freude als die an dem, was er liebt. So achtet der glorreichehl. Paulus alle Dinge für Kot und Kehricht im Vergleich zu seinemErlöser (Phil 3,8). Und die Braut des Hoheliedes gehört ganz und einzigihrem Geliebten: „Mein Geliebter ist ganz mein und ich bin ganz sein“(Hld 2,16).

Begegnet die Seele, die von dieser heiligen Liebe erfaßt ist, den Ge-schöpfen, und wären es auch die vorzüglichsten, wären es sogar die En-gel, so hält sie sich bei ihnen nur soviel auf, als es braucht, um inihrem Verlangen gefördert zu werden. „Sagt mir doch,“ so spricht sie zuihnen, „sagt mir doch, ich beschwöre euch, habt ihr den nicht gesehen,den meine Seele liebt?“ (Hld 3,3).

3. Als die große Liebende, Magdalena, die Engel beim Grab traf unddiese nach Art der Engel, das will heißen, auf eine sehr liebe Weisezu ihr redeten, um sie in ihrem Kummer zu beruhigen, fand die inTränen Aufgelöste kein Gefallen, weder an ihren gütigen Worten, nochan dem Glanz ihrer Gewänder, noch an der himmlischen Anmut ihrerBewegungen, noch an der überaus liebenswürdigen Schönheit ihres Ant-litzes. Sie sagte nur, in Tränen aufgelöst: „Sie haben meinen Herrnweggenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (Joh 20,11–16).

Sie wendet sich um und sieht ihren geliebten Erlöser, aber in derGestalt eines Gärtners. Das kann ihr Herz nicht befriedigen, denn es istso erfüllt von der Liebe zum Tod ihres Meisters, daß sie keine Blumenwill und keinen Gärtner. In ihrem Herzen trägt sie das Kreuz, die Nägel,die Dornen, sie sucht den Gekreuzigten. Ach mein lieber Gärtner, sprichtsie, wenn du vielleicht meinen geliebten toten Herrn wie eine geknickte,verwelkte Lilie zwischen deine Blumen verpflanzt hast, so sage es mirschnell und ich will ihn holen. Aber kaum ruft er sie bei ihrem Namen,da vergeht sie vor Freude und ruft laut aus: „O Gott, mein Meister!“Wahrlich nichts kann sie beruhigen; an den Engeln kann sie keinGefallen finden, ja nicht einmal an ihrem Erlöser, wenn er ihr nicht inder Gestalt erscheint, in der er ihr Herz an sich gerissen.

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Die heiligen drei Könige können weder an der Schönheit der Stadt Jeru-salem Gefallen finden, noch an der Pracht von Herodes’ königlichemHof, noch an dem hellen Licht des Sternes; ihr Herz sucht die kleineHütte und das Kindlein von Betlehem.

„Die Mutter der schönen Liebe“ (Sir 24,24) und ihr heiligliebenderGemahl können nicht bei den Verwandten und Freunden verweilen; siesuchen in Schmerzen den einzigen Gegenstand ihres Wohlgefallens (Lk2,44-48). Der Wunsch, das heilige Wohlgefallen zu vermehren, schließtjede andere Freude aus, um sich jener desto stärker hinzugeben, zu derdas heilige Wohlwollen es antreibt.

4. Um diesen über alles Geliebten noch besser zu verherrlichen, sucht dieSeele fort und fort sein Antlitz (Ps 27,8; 105,4), d. h. sie merkt mit einerimmer sorgsameren und eifrigeren Aufmerksamkeit auf alle Einzelheitender Schönheit und Vollkommenheit, die in ihm sind. Ständig schreitetsie voran in diesem lieben Suchen nach Beweggründen, die sie unaufhör-lich drängen könnten, ihr Wohlgefallen mehr und mehr in der unbegreif-lichen Güte zu finden, die sie liebt.

So zählt David in mehreren Psalmen die Werke und WundertatenGottes im einzelnen auf. Und die heilige Braut stellt im Hohelied alleVollkommenheiten ihres Bräutigams, eine nach der anderen, wie ein„wohlgeordnetes Schlachtheer“ auf (Hld 5,10–16; 6,9), um ihre Seele zuganz heiligem Wohlgefallen zu bewegen, damit sie seine Herrlichkeitnoch lauter preise und alle anderen Seelen der Liebe ihres so sehrgeliebten Freundes unterwerfe.

8. KapitelDas heilige WDas heilige WDas heilige WDas heilige WDas heilige Wohlwollen führohlwollen führohlwollen führohlwollen führohlwollen führt zum Lobpreis dest zum Lobpreis dest zum Lobpreis dest zum Lobpreis dest zum Lobpreis des

göttlichen Vielgeliebten.göttlichen Vielgeliebten.göttlichen Vielgeliebten.göttlichen Vielgeliebten.göttlichen Vielgeliebten.

1. Die Ehre, mein lieber Theotimus, ist nicht in dem Geehrten, son-dern in dem, der ehrt, denn wie oft geschieht es, daß der, den wir ehren,nichts davon weiß und nicht einmal daran gedacht hat. Wie oft lobenwir jene, die uns gar nicht kennen oder gerade schlafen. Und dochhat es nach dem gewöhnlichen Urteil der Menschen und nach ihrerArt, die Dinge zu sehen, den Anschein, als würde man jemand Guteserweisen, wenn man ihn ehrt, und als würde man ihm viel geben,wenn man ihm Titel und Lobsprüche spendet.

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Wir sehen gar keine Schwierigkeit darin, zu sagen, daß jemand reich anEhre, an Ruhm, an Ansehen, an Lobsprüchen ist, obwohl wir in Wahrheitsehr gut wissen, daß alles das außerhalb der geehrten Persönlichkeit liegtund daß sie sehr oft keinerlei Vorteil dadurch empfängt, gemäß dem Wort,das dem hl. Augustinus zugeschrieben wird: „O armer Aristoteles, du wirstgelobt dort, wo du nicht bist, und dort, wo du bist, wirst du verbrannt“(Enarrat. in Ps 140, § 19). Sage doch, ich bitte dich, was haben Cäsarund Alexander der Große von all den leeren Worten, die manche leereKöpfe zu ihrem Lob gebrauchen?

2. Gott, überreich an einer Güte, die alles Lob und alle Ehre übertrifft,erhält weder einen Vorteil noch einen Zuwachs an Gutem durch alleLobpreisungen, die wir ihm spenden. Er wird dadurch weder reichernoch größer, weder zufriedener noch glücklicher, denn sein Glück, seineBefriedigung, seine Größe und sein Reichtum sind und können nichtsanderes sein als die göttliche Unendlichkeit seiner Güte.

Da aber nach unserer gewöhnlichen Art, die Dinge zu sehen, die Ehreals eine der größten Auswirkungen des Wohlwollens gilt, das wir an-deren entgegenbringen, so wenden wir diese Art des Wohlwollens auchGott gegenüber an. Wir setzen ja dadurch keine Bedürftigkeit in jenenvoraus, die wir ehren, sondern bekennen vielmehr, daß sie überaus her-vorragend sind. Gott nimmt daher dieses Wohlwollen nicht nur gnä-dig an, sondern beansprucht es, da es unserer Beschaffenheit entsprichtund sehr geeignet ist, die ehrfurchtsvolle Liebe zum Ausdruck zu brin-gen, die wir ihm schulden. Er befiehlt uns sogar, „ihm die Ehre und allenRuhm zu erweisen“ (1 Kor 10,31; 1 Tim 1,17; Offb 4,11).

3. Die Seele, die ein großes Wohlgefallen an der unendlichen Vollkom-menheit Gottes gefunden hat und sieht, daß sie ihm keine Zunahme anGüte wünschen kann, da er unendlich mehr besitzt, als sie wünschenund denken kann, wünscht daher wenigstens, daß sein Name mehr undmehr gepriesen, gefeiert, gelobt, geehrt und angebetet werde. Sie be-ginnt bei ihrem eigenen Herzen und hört nicht auf, es zu dieser heili-gen Übung anzuspornen. Wie die Biene von Blüte zu Blüte fliegt, so be-trachtet sie nacheinander all die göttlichen Werke und Herrlichkeiten, –und wie die Biene aus der Blüte Honig sammelt, so speichert die Seeleaus diesen Betrachtungen ein vielfaches Wohlgefallen auf, aus dem heraussie dem himmlischen König ehrende Lobeshymnen, Danklieder und Preis-gesänge bereitet. Damit rühmt und verherrlicht sie, soviel sie kann, denNamen ihres Vielgeliebten und folgt dabei dem großen Psalmensänger, der

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im Geist die Wunder der göttlichen Güte gleichsam durcheilt hatte, umdann auf dem Altar seines Herzens das mystische Opfer seiner Jubelrufein Lob und Preisliedern darzubringen.

„Freudopfer will ich in Deinem Zelt dir bringen,will singen und spielen dem Herrn“ (Ps 27,6).

4. Dieses Verlangen aber, Gott zu loben, das das heilige Gefallen anGott in unseren Herzen entzündet, Theotimus, ist unstillbar. Denn dieSeele, die davon ergriffen ist, möchte gern ihrem Geliebten unendlichesLob darbringen, weil sie sieht, daß seine Vollkommenheiten mehr alsunendlich sind. Sie sieht sich davon weit entfernt, ihren Wunsch befriedigenzu können, so treibt sie die Liebe dazu, ihr Möglichstes zu tun, um dieseüberaus lobwürdige Güte doch irgendwie zu preisen.

Das Wohlgefallen an Gott verstärkt noch in wunderbarer Weise dieBemühungen des Wohlwollens; denn in dem Maße, als die Güte Gottesder Seele aufleuchtet, als sie immer mehr und mehr die Süßigkeit dieserGüte verkostet und ihr Gefallen an seiner unendlichen Schönheit findet,möchte sie auch, daß Lob und Preis, die sie ihm weiht, immer größer underhabener werden. Je mehr sie sich andererseits ereifert, die unbegreiflicheGüte ihres Gottes zu preisen, um so mehr vergrößert und erweitert sie auchdas Wohlgefallen, das sie daran hat, und durch diese Zunahme des Wohl-gefallens spornt sie sich noch stärker zum Lobpreis Gottes an. So verhelfendie Liebe des Wohlgefallens und das Verlangen, Gott zu loben, durchdiese wechselseitigen Anregungen und Antriebe, einander zu starkem undständigem Wachstum.

5. Nach Plinius (H.n. 10,29) gefallen sich die Nachtigallen an ihremGesang so sehr, daß sie vierzehn Tage und vierzehn Nächte lang ohneUnterlaß singen und sich bemühen, immer schöner zu singen, um sichgegenseitig zu übertreffen. Je mehr ihr Gesang an Glut und Schwungzunimmt, um so größer ist ihr Gefallen daran; und dieses Steigern ihresGefallens treibt sie wieder zu größeren Anstrengungen an, noch schönerzu singen. Ihr Gesang verstärkt dermaßen ihr Gefallen und ihr Gefallenihren Gesang, daß sie oft tot hinsinken, weil ihre Kehle den Anstren-gungen des Singens erliegt. Diese Vögel verdienen es wirklich, mit demschönen Namen Philomele bezeichnet zu werden, denn sie sterben in derLiebe und aus Liebe zur Melodie.

O Gott, mein Theotimus, wie groß ist der wonnereiche Schmerz unddie schmerzensreiche Wonne, welche das Herz empfindet, das von glü-hender Liebe gedrängt wird, seinen Gott zu loben, wenn es nach tausend

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Anstrengungen des Lobes sein Unvermögen erkennt! Ach, diese armeNachtigall möchte ihre Töne immer höher steigern und ihre Melodievervollkommnen, um die Segnungen ihres Vielgeliebten besser zu besin-gen. Je mehr das Herz lobt, um so mehr findet es Gefallen an dem Lob,und je mehr Gefallen es an dem Lob empfindet, um so mehr mißfälltes ihm, nicht noch besser loben zu können. Es tut, was es nur kann, umdiesen Schmerz zu stillen, so daß es zuweilen unter diesen Anstrengun-gen zusammenbricht.

So erging es dem glorreichen hl. Franziskus, der mitten in der Freude, dieer am Lob Gottes empfand, mitten in seinen Liebesgesängen eine Flutvon Tränen vergoß und oft vor Schwäche das fallen ließ, was er gerade inHänden hatte. Wie eine heilige Philomele verblieb er ganz erschöpft und atem-los vor lauter Bemühung, jenen zu loben, den er nie genug loben konnte.

Doch höre noch ein anderes liebes Gleichnis, das dem Namen entnom-men ist, den dieser große heilige Liebende seinen Ordensbrüdern gab. Ernannte sie Zikaden, wegen des Lobes, das sie Gott mitten in der Nachtdarbrachten. Die Zikaden haben eine Menge Röhrchen in ihrer Brust, alsob sie ihrer Natur nach Orgeln wären. Und um besser singen zu können,nähren sie sich nur vom Tau, den sie nicht mit dem Mund aufsaugen, –denn sie haben gar keinen – sondern mittels einer kleinen Zunge, die inder Mitte ihres Leibes liegt. Mit dieser geben sie auch ihre Töne in solauter Weise von sich, als ob sie nichts anderes als Stimmen wären (Plin.Hist. nat. 11,26).

Beim heiligen Liebenden verhält es sich ähnlich, denn alle seine Seelen-vermögen gleichen ebenso vielen Orgelpfeifen, die er in der Brust trägt,um Loblieder zu Ehren seines Vielgeliebten erklingen zu lassen. Im Mit-telpunkt aller steht seine Frömmigkeit, gleichsam die Zunge seines Her-zens, nach dem hl. Bernhard (Serm. 45 in Cant. § 7), durch welche er denTau der göttlichen Vollkommenheiten in Empfang nimmt, ihn einsaugtdurch das Gefallen, das er daran empfindet und als Speise in sich auf-nimmt. Mit derselben Zunge der Frömmigkeit spricht er alle Gebete undsingt alle Lobgesänge, Lieder, Psalmen und Preisgesänge. So erklärt es einerder herrlichsten geistlichen Sänger, die jemals gehört wurden, der also sang:

„Preise, meine Seele, den Herrn und alles in mirseinen heiligen Namen;Preise meine Seele den Herrnund vergiß seine Wohltaten nie!“ (Ps 103).

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Ist das nicht, als ob er sagen wollte: Ich gleiche einer mystischenZikade. Meine Seele, mein Geist, meine Gedanken und alle Fähigkeiten inmeinem Innern sind wie Orgeln. O mögen sie doch alle auf immer denNamen des Herrn preisen und sein Lob laut verkünden!

„Ich will den Herrn preisen zu jeder Zeit;in meinem Mund sei immer sein Lob!Rühmen soll sich im Herrn meine Seele,mögen die Armen es hören und jubeln!Preist den Herrn mit mir,seinen Namen laßt uns erheben zumal!“ (Ps 34,1.2).

9. KapitelDas WDas WDas WDas WDas Wohlwollen treibt uns an, alle Geschöpfe zumohlwollen treibt uns an, alle Geschöpfe zumohlwollen treibt uns an, alle Geschöpfe zumohlwollen treibt uns an, alle Geschöpfe zumohlwollen treibt uns an, alle Geschöpfe zum

Gotteslob aufzurufen.Gotteslob aufzurufen.Gotteslob aufzurufen.Gotteslob aufzurufen.Gotteslob aufzurufen.

1. Das Herz, vom Verlangen beseelt und gedrängt, Gott mehr als esvermag zu loben, müht sich verschiedentlich damit ab; schließlich trittes aus sich heraus und ladet alle Geschöpfe ein, ihm bei seinem Vorha-ben zu Hilfe zu kommen.

So sehen wir es an den drei Jünglingen im Feuerofen, die in ihremwunderbaren Preisgesang alles, was im Himmel, auf der Erde und unterder Erde ist, auffordern, dem ewigen Gott Dank zu sagen, indem sieihn über alles loben und benedeien (Dan 3,51).

Wir sehen es am Psalmisten (148), der von einer heilig-ungezähmtenLeidenschaft ergriffen, Gott zu loben, jede Ordnung außer achtläßt, seinen Geistesblick gleichsam sprunghaft vom Himmel auf dieErde und von der Erde zum Himmel richtet und im KunterbuntEngel, Fische, Berge, Gewässer, Drachen, Vögel, Schlangen, das Feu-er, den Hagel und Nebel zum Lob Gottes aufruft. Alle Geschöpfefaßt er in seinen Wünschen zusammen, auf daß sie alle miteinandersich vereinigen, um in frommer Weise ihren Schöpfer zu verherrlichen.Die einen sollen ihn selbst durch göttliche Lobgesänge feiern, die anderenden Gegenstand für sein Lob durch ihre verschiedenen wunderbarenEigenschaften abgeben, welche die Größe ihres Bildners dartun.

So hat der königliche Psalmensänger eine große Anzahl von Psalmenmit der Überschrift „Lobet Gott“ verfaßt und alle Geschöpfe zum Lobder göttlichen Majestät aufgefordert; er hat aufgezählt, was alles an Mittelnund Instrumenten geeignet ist, das Lob der ewigen Güte zu feiern. Aberdann raubt es ihm schier den Atem, und wie betäubt weiß er nur mehr eines

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hinauszurufen, mit dem er seine Lobgesänge abschließt: „Alles, wasOdem hat, lobe den Herrn“ (Ps 150,5), d. h.: alles, was Leben hat,lebe und atme nur mehr zum Lobpreis des Schöpfers, wozu er noch aneiner anderen Stelle alle aufmuntert:

Ich will den Herrn preisen zu jeder Zeit:in meinem Mund sei immer sein Lob.Rühmen soll sich im Herrn meine Seele;mögen die Armen es hören und jubeln.Preist den Herrn mit mir!Seinen Namen laßt uns erheben zumal (Ps 34,3.4).

2. So sang auch der große hl. Franziskus seinen Sonnengesang undviele andere herrliche Loblieder, um die Geschöpfe aufzurufen, sie möch-ten seinem schon ganz erschöpften Herzen zu Hilfe kommen, da er dengeliebten Heiland seiner Seele nicht so loben konnte, wie er es gern woll-te (Opuscula S. Franc.).

Ebenso rief die Braut im Hohelied (2,4.5), fast der Sinne beraubt durchihr gewaltiges Bemühen, den vielgeliebten König ihres Herzens zu bene-deien und zu lobpreisen, ihren Gefährtinnen zu: „Der göttliche Bräuti-gam hat mich durch die Beschauung in seinen Weinkeller eingeführt. Erließ mich dort die unvergleichlichen Wonnen seiner vollkommenen Herr-lichkeit verkosten und ich bin vom Wohlgefallen, das ich an diesem Ab-grund der Schönheit gefunden, so durchdrungen und heilig berauscht,daß meine Seele förmlich krank ist. Ist sie doch verwundet vom liebevolltödlichen Verlangen, das sie drängt, eine so über alles erhabene Güte aufimmer zu loben. Ach kommt, ich bitte euch inständig, meinem armenHerzen zu Hilfe, das daran ist zu vergehen. Stützt es, ich beschwöre euch,erfreut es mit Blumen, stärkt es, umgebt es mit Äpfeln, sonst wird eskraftlos dahinsinken.“

3. Das Wohlgefallen zieht die göttlichen Wonnen ins Herz, das da-von mit solcher Glut erfüllt wird, daß es sich ganz darin verliert. Aberdie Liebe des Wohlwollens läßt unser Herz überquellen und läßt esköstliche Wohlgerüche aushauchen, d. h. sich in allen Arten heiligerLobgesänge verströmen. Da es deren aber nicht so viele hervorbringenkann, als es möchte, sagt es: O, daß doch alle Geschöpfe ihre „Blumen“,die Lobpreisungen, ihre „Äpfel“, die Danksagungen, Ehrbezeugungenund ihre Anbetung herbeibrächten, damit sich allüberallhin der Wohl-geruch verbreite, der zum Ruhm desjenigen aufsteigt, dessen unendliche

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Güte alle Ehre übersteigt, den wir nie auf würdige Weise zu preisen vermö-gen.

4. Diese göttliche Leidenschaft war es, die so viele zur Verkündigungdes Wortes Gottes antrieb, die Männer wie Franz Xaver, Barzäus, Anto-nius, die vielen Jesuiten, Kapuziner und andere Ordensleute und Priesterso große Wagnisse in Indien, Japan und Maragnan auf sich nehmen ließ, umden heiligen Namen Jesu unter diesen großen Völkern bekannt zu ma-chen, damit er von ihnen anerkannt und angebetet werde. Diese heiligeLeidenschaft ist die Ursache, daß so viele geistliche Bücher geschrieben,so viele Kirchen und Altäre erbaut und so viele fromme Häuser gegrün-det werden. Sie ist es, die bewirkt, daß so viele Diener Gottes wachen,arbeiten und in den Flammen eines sie verzehrenden Eifers sterben.

10. KapitelDas VDas VDas VDas VDas Verlangen, Gott zu loben, weckt unsere Sehn-erlangen, Gott zu loben, weckt unsere Sehn-erlangen, Gott zu loben, weckt unsere Sehn-erlangen, Gott zu loben, weckt unsere Sehn-erlangen, Gott zu loben, weckt unsere Sehn-

sucht nach dem Himmel.sucht nach dem Himmel.sucht nach dem Himmel.sucht nach dem Himmel.sucht nach dem Himmel.1. Die liebende Seele sieht, daß sie ihr Verlangen, den Vielgelieb-

ten zu loben, nicht stillen kann, solange sie in den Armseligkeitendieser Welt lebt. Sie weiß auch, daß die Lobgesänge, die man im Himmelder göttlichen Güte singt, unvergleichlich lieblicher klingen. Daher sprichtsie: O Gott, wie lobenswert sind die Loblieder, welche die seligen Geistervor dem Thron meines himmlischen Königs singen! Wie sehr verdienendiese ihre Lobpreisungen gepriesen zu werden! Welche Seligkeit, diesenMelodien der ganz heiligen Ewigkeit zu lauschen, in denen durch einwohlklingendes Sichverschmelzen verschiedenartiger Stimmen undverschiedenklingender Töne jene wunderbaren Harmonien entstehen, indenen die einzelnen Partien einander überholend in nicht absetzenden,sich gegenseitig jagenden, nicht leicht verständlichen Folgen, doch alle ein-münden in ein von überall her tönendes, zusammenklingendes, laut schal-lendes, ewiges Halleluja!

So kraftvoll sind diese Stimmen, daß sie mit Gewittertosen undTrompetenschall (Offb 19,6) und mit dem Donner stürmischer Meeres-wogen verglichen werden.

Sie sind aber dabei so lind und lieblich, daß ihr Singen auch mit Har-fenspiel verglichen wird, wenn Meisterhände ihr zarte und süße Töneentlocken. Und alle diese Stimmen klingen zusammen im frohenOstergesang: Halleluja, lobet Gott, Amen, lobet Gott! (Offb 14,2; 19,1.6).Denn wisse, Theotimus, daß eine Stimme vom Thron Gottes ausgeht,

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die ohne Unterlaß den Bewohnern des glorreichen Jerusalem zuruft: „BringtGott Lob dar, ihr seine Diener, ihr, die ihn fürchtet, klein und groß,“worauf die zahllose Menge von Heiligen, die Chöre der Engel und dieChöre der Menschen ihre mächtig schallende Antwort singen: „Halleluja,lobet Gott!“

2. Aber was ist das für eine wunderbare Stimme, die vom Thron Gottesausgehend den Auserwählten das Halleluja verkündet? Was anderes istsie als das heiligste Wohlgefallen, das, im Geist empfangen, sie dieWonnen der göttlichen Vollkommenheiten empfinden läßt, woraus danndas liebevolle Wohlwollen entsteht, der lebendige Quell heiliger Lobge-sänge.

So hat also das vom Thron Gottes ausgehende Wohlgefallen dieWirkung, daß es den Seligen die Herrlichkeiten Gottes einprägt, und dasWohlwollen regt sie an, als Antwort darauf den Wohlgeruch des Lobesvor dem Thron zu verbreiten. Darum singen sie die ewige Antwort:„Halleluja“, d. h. „Lobet Gott“. Das Wohlgefallen strömt vom ThronGottes ins Herz und das Wohlwollen steigt aus dem Herzen zum ThronGottes empor.

O wie liebenswert ist dieser Tempel, der von Lobgesängen widerhallt!Welche Wonne für jene, die an diesem heiligen Ort leben, wo so vielehimmlische Philomelen und Nachtigallen im heiligen Liebeswetteiferdie ewig lieblichen Lieder singen!

3. Das Herz, das in dieser Welt das Lob Gottes weder singen nochhören kann, wie es möchte, wird daher von einer unvergleichlichenSehnsucht erfüllt, von den Banden dieses Lebens befreit zu werden, umin jenes andere Leben einzugehen, wo der himmlische Vielgeliebte aufso vollkommene Weise gelobt wird. Wenn sich eine solche Sehnsuchtdes Herzens bemächtigt, so wird es in der Brust heilig Liebender zu-weilen so gewaltig und drängend, daß es alle anderen Wünsche darausverbannt, vor allen irdischen Dingen Ekel einflößt und die Seele vorLiebe ganz schwach und krank macht. Ja, diese heilige Leidenschaft wirdzuweilen so stark, daß man, wenn Gott es zuläßt, daran stirbt.

So war es beim hl. Franziskus, dem glorreichen serafischen Liebenden.Lange Zeit hindurch hatte dieser starke Liebesdrang, Gott zu loben, ihmmächtig zugesetzt; schließlich konnte er in seinen letzten Jahren, nach-dem ihm die Gewißheit seines Heiles auf besondere Weise geoffenbartworden war, seiner Freude nicht mehr Einhalt gebieten. Von Tag zu Tagschwand er mehr und mehr dahin, gleich als würde sein Leben in der

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Glut dieser brennenden Sehnsucht, seinen Herrn zu sehen und ihn ohneUnterlaß zu loben, wie Weihrauch sich verflüchtigen. Und diese Glutenwurden jeden Tag gewaltiger, bis sich schließlich seine Seele in einemheiligen Gebetsruf aus dem Leib zum Himmel erhob. Die göttliche Vorsehungwollte, daß er mit diesen heiligen Worten des Psalms auf den Lippenstarb: „Ach, entreiße meine Seele diesem Kerker, o Herr, auf daß ichpreise Deinen Namen. Die Gerechten harren mein, bis Du mir die er-sehnte Ruhe zuteil werden läßt“ (Ps 142,8).

Theotimus, ich bitte dich, sieh diesen großen Geist! Wie eine himm-lische Nachtigall ist er im Käfig seines Leibes gefangen und kann inihm nicht nach Wunsch das Lob seiner ewigen Liebe singen. Er weiß, daßer viel schöner jubeln und herrlicher singen könnte, wenn er ins Freiegelangen, die Freiheit und die Gesellschaft der anderen Philomelengenießen könnte, dort, zwischen den heiter blühenden Hügeln des seligenGestades. Deshalb ruft er aus: Ach, Herr meines Lebens! Durch Deineganz milde Güte befreie mich Armen von dem Käfig meines Leibes!Entziehe mich diesem Kerker, damit ich, dieser Sklaverei ledig, dorthinfliegen kann, wo meine lieben Gefährten meiner harren, dort oben imHimmel, um mich ihren Chören einzufügen und mich mit ihrer Freudezu umhüllen! Dort, o Herr, werde ich meine Stimme mit den ihrigenvereinen und mit ihnen süße Harmonien und liebliche Weisen hervor-bringen im Lobgesang und Lobpreis Deines göttlichen Erbarmens.

Wie ein Redner, der zum Schluß alles, was er gesagt hat, in einemkurzen bündigen Wort zusammenfassen will, setzte dieser wunderbareHeilige all seinem Wünschen und Verlangen einen Schluß, indem er die-se letzten Worte sprach. Und er legte seine Seele so stark in sie hinein,daß er sein Leben aushauchte, während er sie aussprach. Mein Gott,Theotimus, was war das doch für ein schöner, begehrenswerter Tod!Welch selig-liebevoller Tod und welch heilig-tödliche Liebe!

11 . KapitelUnsere Liebe des WUnsere Liebe des WUnsere Liebe des WUnsere Liebe des WUnsere Liebe des Wohlwollens im Gotteslob unseres Erlösers undohlwollens im Gotteslob unseres Erlösers undohlwollens im Gotteslob unseres Erlösers undohlwollens im Gotteslob unseres Erlösers undohlwollens im Gotteslob unseres Erlösers und

seiner Mutterseiner Mutterseiner Mutterseiner Mutterseiner Mutter.....

1. Von Stufe zu Stufe steigen wir also bei dieser heiligen Übungempor. Wenn wir die Geschöpfe zum Lob Gottes einladen, beginnen wirmit den Empfindungslosen, gehen weiter zu den Vernunft- und Geist-begabten und dann von der streitenden zur triumphierenden Kirche. Hier erhe-ben wir uns zu den Engeln und Heiligen, bis wir in höchster Höhe über

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allen der heiligsten Jungfrau begegnen, die auf ganz unvergleichliche Weisedie Gottheit lobt und benedeit, kraftvoll, heiliger und schöner, als alleGeschöpfe miteinander es je vermögen.

Als ich vor zwei Jahren in Mailand war, wohin mich und noch einigeandere Priester die noch ganz frische Erinnerung an den großen Erzbi-schof, den hl. Karl geführt hatte, hörten wir in den verschiedenen Kir-chen mancherlei Musik. Aber in einem Frauenkloster hörten wir eineNonne singen, deren Stimme so wundervoll war, daß sie allein unserGemüt mit unvergleichlich mehr Innigkeit erfüllte, als alle übrigen mit-einander. Waren diese auch ausgezeichnet, so schienen sie doch nur da zusein, um jener einzigen Stimme mehr Glanz zu verleihen und deren Voll-kommenheit noch mehr hervortreten zu lassen. So, mein Theotimus,hört man aus allen Chören der Menschen und allen Chören der Engeldiese wunderbar erhabene Stimme der heiligsten Jungfrau heraus, diealle übertreffend, Gott mehr Lob bereitet, als alle übrigen Geschöpfe.Der König des Himmels fordert sie auch ganz besonders auf, ihre Stim-me zu erheben: „Zeige mir dein Antlitz,“ sagt er (Hld 2,14), „o meineVielgeliebte, laß deine Stimme in meinen Ohren ertönen, denn deineStimme ist ganz mild und süß und dein Antlitz ganz hold.“

2. Aber diese Lobgesänge, die die Mutter der Glorie und „der schönenLiebe“ (Sir 15,2; 24,24) mit allen Geschöpfen zusammen Gott darbringt,bleiben, obwohl ganz vortrefflich und bewundernswert, doch so unend-lich weit hinter der unendlichen Größe der Güte Gottes zurück, daß sie ingar keinem Verhältnis zu ihr stehen. Daher kommt es, daß sie das heilige Wohl-wollen des liebenden Herzens für seinen Vielgeliebten wohl sehr befrie-digen, aber doch nicht stillen.

Es schreitet daher noch weiter voran und bittet den Erlöser, seinenewigen Vater zu preisen und zu verherrlichen mit allen Lobpreisungen,die seine Sohnesliebe ihm einzugeben vermag. Und da, mein Theotimus,gerät der Geist an einen Ort des Schweigens. Denn hier können wirnichts anderes mehr tun, als bewundern.

O dieser Lobgesang, den der Sohn seinem Vater singt! Wie schön istdoch dieser Vielgeliebte unter allen Menschenkindern! Wie wohlklingendseine Stimme, die von Lippen strömt, über die die Fülle aller Anmutausgegossen ist! (Ps 45,2). Alle anderen sind erfüllt von Wohlgeruch,doch er, er ist der Wohlgeruch selbst; die anderen sind gesalbt, doch er, erist der ausgegossene Balsam selbst (Hld 1,2). Das Lob der anderen nimmtder ewige Vater wie den Duft einzelner Blumen entgegen, aber wenn er

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die Lobpreisungen hört, die der Erlöser ihm darbringt, ruft er aus: „O,das ist der Duft der Lobgesänge meines Sohnes, er ist wie der Duft einesFeldes voller Blumen, das ich gesegnet habe“ (Gen 27,27).

3. Ja, mein lieber Theotimus, alle Lobpreisungen, welche die kämpfen-de und die triumphierende Kirche Gott darbringt, sind Lobpreisungenvon Engeln und Menschen; wenn sie sich auch auf den Schöpfer beziehen,so gehen sie doch von einem Geschöpf aus. Die des Sohnes aber sind gött-lich, weil sie sich nicht nur wie die anderen auf Gott beziehen, sondernauch aus Gott hervorgehen, denn der Erlöser ist wahrer Gott. Sie sindnicht nur göttlich in ihrem Ziel, sondern auch in ihrem Ursprung. Siesind göttlich, weil sie auf Gott hinzielen, und göttlich, weil sie aus Gotthervorgehen. Gott ruft die Seele auf und gibt ihr die für die anderen Lob-preisungen erforderliche Gnade; aber jenes Lob, das der Erlöser zollt, bringter, der Gott ist, selbst hervor; deshalb ist es unendlich.

Wer am Morgen eine Weile aus einem benachbarten Gebüsch demfreundlichen Gezwitscher einer großen Menge von Gimpeln, Hänflingen,Stieglitzen und ähnlicher kleiner Vögel gelauscht hätte und dann aufeinmal eine Nachtigall hörte, die mit ihrer wunderbaren Stimme die Luftmit herrlicher Melodie erfüllt, würde ohne Zweifel diesen einzigen Sängerder ganzen übrigen Schar vorziehen.

Hat man desgleichen alles Lob vernommen, das die verschiedenenGeschöpfe im gegenseitigen Wetteifer einmütig ihrem Schöpfer dar-bringen, und lauscht man dann endlich der Stimme des Erlösers, dannfindet man in ihr eine Unendlichkeit an Verdienst, an Wert und Wohl-klang, die alle Hoffnung und Erwartung des Herzens übersteigt. Dannerwacht die Seele gleichsam aus tiefem Schlaf und, durch das Übermaß anSüße eines solchen Gesanges hingerissen, ruft sie aus: „O ich höre sie, dieStimme meines Vielgeliebten! Die königliche Stimme über alle Stim-men, mit der verglichen, alle anderen Stimmen gleich einem stummen,traurigen Schweigen sind.“

Sieh, wie hurtig der geliebte Freund naht. „Sieh, er kommt eilend überdie höchsten Berge, die Hügel überspringend!“ Seine Stimme übertöntdie der Serafim und der ganzen Schöpfung. Er besitzt das scharfe Auge desRehs, um tiefer als alle anderen in die Schönheit des Heiligen einzudrin-gen, das er loben will. Mehr als alle anderen liebt er die Melodie derHerrlichkeit und des Lobes seines Vaters. Darum übertrifft auch das Jauch-zen seiner Lobpreisungen alle anderen. Sieh die göttliche Liebe des Vielge-

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liebten, wie sie hinter der Wand seiner Menschlichkeit steht! Sie blicktaus den Wunden seines Leibes und aus der Öffnung seiner Seite wie ausFenstern hervor und wie durch ein Gitter, durch welches er uns ansieht(Hld 2,8.9).

Ja, gewiß, Theotimus, die Liebe, auf dem Herzen des Erlösers wieauf ihrem königlichen Thron ruhend, schaut durch die Öffnung seiner durch-bohrten Seite auf alle Herzen der Menschenkinder. Denn da dieses HerzKönig aller Herzen ist, hält es seine Augen immer auf die Herzen gerich-tet. Doch wie jene, die durch ein Gitter schauen, wohl sehen, aber selbstnur undeutlich gesehen werden, so sieht die göttliche Liebe diesesHerzens, oder vielmehr dieses Herz der göttlichen Liebe, unsere Herzenimmer klar und deutlich und schaut sie mit den Augen seiner innigenLiebe an. Wir aber sehen es nicht, sondern erkennen es nur schwachund undeutlich. Denn, o Gott, sähen wir es, wie es ist, so würden wirvor Liebe zu ihm sterben, da wir doch sterblich sind, so wie es selbst füruns starb, als es sterblich war, und wie es jetzt noch sterben würde, wennes jetzt nicht unsterblich wäre.

4. O könnten wir dieses göttliche Herz hören, wie es mit unendlichanmutiger Stimme das Lob Gottes singt! Welche Freude, o Theotimus,welches Bemühen unseres Herzens, sich in den Himmel aufzuschwingen,um es immer zu hören! Er muntert uns dazu auf, dieser treue Freundunserer Seelen: „Auf, erhebe dich, tritt aus dir selbst heraus, erhebedich zum Flug mir entgegen, meine Taube, meine Schöne!“ (Hld 2,10–14), in den himmlischen Aufenthalt, wo alles in der Freude ist und nurLob- und Segenssprüche atmet.

Alles steht dort in Blüte, alles verbreitet dort Süße und Wohlge-ruch. Die Turteltauben, die schwermütigsten aller Vögel, lassen dortihren Gesang ertönen. „Komm, meine Einzig-Geliebte,“ komm, um michdeutlicher zu sehen, zu den Fenstern, durch die ich dich anschaue. Kommund betrachte mein Herz in seiner „Höhle“ der Seitenwunde, die mirzugefügt wurde, als mein Leib wie ein zur Ruine gewordenes Haus somitleidslos auf dem Baum des Kreuzes zerschlagen wurde.

„Komm und zeige mir dein Antlitz!“ Ach, ich sehe es jetzt, ohnedaß du es mir zeigst. Dann aber werde ich es sehen und du wirst es mirzeigen, denn du wirst sehen, daß ich dich sehe. „Mache, daß ich deineStimme höre,“ denn ich will sie mit der meinen vereinigen. So wird dein„Antlitz schön“ und „deine Stimme wohlklingend“ sein. O welche Selig-keit für unser Herz, wenn unsere Stimme, vereint und verschmolzen mit

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der unseres Erlösers, teilnehmen wird an der unendlichen Schönheit derLobgesänge, die dieser vielgeliebte Sohn seinem ewigen Vater darbringt!

12. KapitelDas Lob über alles Lob, das Gott sich selbst darbringt.Das Lob über alles Lob, das Gott sich selbst darbringt.Das Lob über alles Lob, das Gott sich selbst darbringt.Das Lob über alles Lob, das Gott sich selbst darbringt.Das Lob über alles Lob, das Gott sich selbst darbringt.

WWWWW ie unser Wie unser Wie unser Wie unser Wie unser Wohlwollen dabei tätig ist.ohlwollen dabei tätig ist.ohlwollen dabei tätig ist.ohlwollen dabei tätig ist.ohlwollen dabei tätig ist.

1. Alle menschlichen Handlungen unseres Erlösers sind ihrem Wertund Verdienst nach unendlich auf Grund der Person, die sie hervorbringt;sie ist ein und derselbe Gott mit dem Vater und dem Heiligen Geist.Ihrer Natur und Wesenheit nach aber sind sie nicht unendlich. Wenn wiruns in einem Zimmer befinden, empfangen wir das Licht der Sonne nicht inseiner vollen Klarheit, so wie die Sonne es ausstrahlt, sondern nach demAusmaß des Fensters, durch das es uns mitgeteilt wird. So sind auch diemenschlichen Handlungen des Erlösers nicht unendlich, obschon vonunendlichem Wert. Denn wenn sie auch Werke der göttlichen Person sind, soverrichtet sie dieselben doch nicht nach dem Ausmaß ihrer Unendlich-keit, sondern nach der begrenzten Größe ihrer Menschheit, durch wel-che sie diese ausführt. Folglich sind die menschlichen Handlungen unse-res liebreichen Erlösers, verglichen mit unseren Handlungen, unbegrenzt;aber verglichen mit der wesenhaften Unbegrenztheit der Gottheit sind siebegrenzt. Sie haben unendlichen Wert, unendliche Würde und unendli-ches Ansehen, denn sie gehen von einer Person aus, die Gott ist. Aber ihrerWesenheit und Natur nach sind sie begrenzt; denn Gott vollführt siegemäß seiner menschlichen Natur und Wesenheit, die begrenzt ist. Sokann auch das Lob, das vom Erlöser als Mensch ausgeht, nicht nachjeder Hinsicht der unendlichen Größe der Gottheit entsprechen, für diees bestimmt ist, da es nicht in jeder Hinsicht unendlich ist.

2. Daher können wir nach der ersten Begeisterung über das herrlicheLob, das der Herr seinem Vater darbringt, nicht umhin zu erkennen,daß die Gottheit noch unendlich lobenswerter ist, als sie sowohl von allenGeschöpfen als auch selbst von der Menschheit des ewigen Sohnes ge-lobt werden kann.

Würde jemand die Sonne ihres Lichtes wegen loben und immer höheremporsteigen, um sie zu loben, so würde er sie immer lobwürdigerfinden, da er immer mehr von ihrem Glanz sähe.

Wenn es diese Schönheit des Lichtes ist, welche die Lerchen zum Sin-gen lockt, was sehr wahrscheinlich ist, so ist es nicht zu wundern, daß sie

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in immer helleren Tönen singen, je höher sie fliegen. Sie erheben sich glei-cherweise in ihrem Gesang wie in ihrem Flug und zwar so sehr, bis siefast nicht mehr singen können und langsam sowohl im Ton wie mit ih-rem Körper zu fallen beginnen und so allmählich in ihrem Flug undmit ihrer Stimme herabsinken. Auf gleiche Weise sehen wir auch, meinTheotimus, wenn wir durch unser Wohlwollen zu Gott emporsteigen,um sein Lob anzustimmen und zu hören, daß er immer über alles Lobhinausragt.

3. So erkennen wir schließlich, daß er nur durch sich selbst so gelobtwerden kann, wie er es verdient, denn er allein kann auf würdigeWeise seiner über alles erhabenen Güte mit einem über alles erhabenenLob gleichkommen.

In dieser Erkenntnis rufen wir aus: „Ehre sei dem Vater und demSohn und dem Heiligen Geist;“ und damit man wisse, daß es nicht dieVerherrlichung geschöpflichen Lobes ist, die wir Gott durch diesen Aus-ruf wünschen, sondern die wesentliche und ewige Verherrlichung, die erin sich selbst ist, durch sich selbst, von sich selbst hat und die er selbst ist,fügen wir hinzu: „Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und inEwigkeit. Amen.“

Es ist, als ob wir den Wunsch aussprechen wollten: Auf immer mögeGott verherrlicht werden mit der Verherrlichung, die er hatte, ehe dieSchöpfung geworden ist (Joh 17,5; Kol 1,15), in seiner unendlichen Ewig-keit und ewigen Unendlichkeit. Deswegen fügen wir diesen Vers jedemPsalm und jedem Hymnus hinzu nach dem altehrwürdigen Brauch dermorgenländischen Kirche, um dessen Einführung in der lateinischen Kir-che der hl. Hieronymus den Papst Damasus gebeten hatte. Man solltedamit bekennen, daß alles Lob der Menschen und Engel zu gering ist,um die göttliche Güte auf würdige Weise zu loben. Damit sie würdiggelobt werde, muß sie selbst ihre Ehre, ihr Lob und ihr Preis sein.

4. O Gott, welches Wohlgefallen, welche Freude hat die liebendeSeele, ihr Verlangen gestillt zu sehen, da ihr Vielgeliebter sich selbst un-endlich lobt, preist und verherrlicht! Aber aus diesem Wohlgefallenerwächst ein neuer Wunsch, denn das Herz möchte gerne dieses würdigeLob loben, das Gott sich selbst bereitet, ihm innig dafür danken und alleDinge zu Hilfe rufen, damit sie mit ihm die Verherrlichung Gottesverherrlichen, seine unendliche Benedeiung benedeien und sein ewigesLoben loben helfen.

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Durch dieses ständige Zurückkommen auf das Lob und durch dieseHäufung von Lob auf Lob gerät das Herz zwischen Wohlgefallen undWohlwollen in ein seliges Labyrinth der Liebe und versinkt ganz in einenAbgrund von Wonne, indem es Gott dafür preist, daß er nur durch sichselbst genügend gepriesen werden kann. Und wenn die liebende Seeleauch anfangs irgendwie sich danach sehnte, ihren Gott genugsam lobenzu können, so bekennt sie doch, wenn sie zu sich kommt, daß sie nichtwünschen möchte, ihn genugsam loben zu können, sondern sie verharrtvielmehr in einem ganz demütigen Wohlgefallen bei der Erkenntnis, daßdie göttliche Güte so unendlich lobenswert ist, daß sie nur durch ihre eige-ne Unendlichkeit genügend gelobt werden kann. Darob singt das vorBewunderung verzückte Herz den Hymnus des heiligen Schweigens:

In Bewunderung deiner HerrlichkeitZion Dir ein Loblied weiht,das ein Schweigen ist vor Deiner Größe (Ps 65,1).

So beten auch die Serafim des Jesaja Gott an, indem sie ihr Antlitz undihre Füße verhüllen, um zu bekennen, daß sie nicht imstande sind, ihngut zu erkennen und ihm gut zu dienen. Denn die Füße, mit denen mangeht, bezeichnen den Dienst. Gleichwohl fliegen sie mit ihren beidenFlügeln durch die ständige Bewegung des Wohlgefallens und des Wohl-wollens, und ihre Liebe findet ihre Ruhe in dieser wonnesamen Unruhe(Jes 6,2).

5. Nie ist das Herz des Menschen so beunruhigt, als wenn mandie Bewegung hindert, durch die es sich ständig ausdehnt und zusam-menzieht, und nie ist es so ruhig, als wenn es in seinen Bewegun-gen frei ist. Folglich liegt seine Ruhe in seiner Bewegung. Das Gleichegilt von der Liebe der Serafim und aller serafischen Menschen: sie findetihre Ruhe in ihrer ständigen Bewegung des Wohlgefallens, durch die sieGott an sich zieht wie durch eine Bewegung des sich Zusammenziehens,und des Wohlwollens, durch die es sich ausdehnt und sich ganz in Gotthineinwirft.

Diese Liebe möchte wohl gerne die Herrlichkeiten der unendlichenGüte Gottes sehen, aber sie faltet die Flügel dieses Wunsches überihrem „Antlitz“ und bekennt damit ihr Unvermögen. Sie möchte auchgerne einen würdigen Dienst leisten, aber sie bedeckt mit diesem Wunschihre „Füße“ und gibt damit zu, daß sie dazu nicht imstande ist. Sobleiben ihr nur die beiden Flügel des Wohlgefallens und des Wohlwol-lens, mit denen sie fliegt und sich zu Gott aufschwingt.

V, 12

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SECHSTES BUCHSECHSTES BUCHSECHSTES BUCHSECHSTES BUCHSECHSTES BUCH

Die Tätigkeiten der heiligen Liebe im Gebet.Die Tätigkeiten der heiligen Liebe im Gebet.Die Tätigkeiten der heiligen Liebe im Gebet.Die Tätigkeiten der heiligen Liebe im Gebet.Die Tätigkeiten der heiligen Liebe im Gebet.

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1 . KapitelBeschreibung der mystischen Theologie, die nichtsBeschreibung der mystischen Theologie, die nichtsBeschreibung der mystischen Theologie, die nichtsBeschreibung der mystischen Theologie, die nichtsBeschreibung der mystischen Theologie, die nichts

anderes ist als Gebet.anderes ist als Gebet.anderes ist als Gebet.anderes ist als Gebet.anderes ist als Gebet.1. Wir unterscheiden zwei Hauptübungen in unserer Liebe zu Gott:

die Affektliebe und die Werkliebe, oder wie St. Bernhard sagt, die Tatliebe(Serm. 1 in Cant § 2).

Durch die erste erwärmen wir uns für Gott und alles, was er liebt,durch die andere dienen wir Gott und tun das, was er befiehlt. Dieerste vereinigt uns mit Gottes Güte, die andere veranlaßt uns, seinenWillen zu tun.

Die eine erfüllt uns mit Freude an Gott, mit Wohlwollen, Begeiste-rung, Sehnsucht, Verlangen und innerem Feuer; sie ist es, durch die wirden heiligenden Einfluß Gottes auf unseren Geist, das Durchtränktwerdender Seele von Gott erfahren. Die andere erfüllt uns mit dem festen Ent-schluß, dem unbesiegbaren Mut und unbeirrbaren Gehorsam, die notwen-dig sind, die Anordnungen des göttlichen Willens auszuführen, alles zuerleiden, anzunehmen, gutzuheißen und zu empfangen, was auch immerGott will oder zuläßt.

Die eine läßt uns Gefallen an Gott finden, durch die andere gefallenwir Gott. Durch die eine empfangen wir, durch die andere bringen wirhervor.

Durch die eine pflanzen wir Gott in unserem Herzen wie ein Bannerder Liebe auf, um das sich alle unsere Affekte scharen. Durch die an-dere legen wir ihn auf unseren Arm (Hld 8,6), gleich einem Schwert derLiebe, mit dem wir alle Heldentaten der Tugendübungen ausführen.

2. Die Affektliebe besteht hauptsächlich im Gebet. Bei diesem gehen soviele verschiedenartige innere Regungen vor sich, daß es unmöglichist, über alle etwas zu sagen, und zwar nicht nur wegen ihrer großenZahl, sondern auch wegen ihrer Natur und Eigenheit. Da diese geistigist, kann sie nur etwas ganz Zartes sein und ist kaum mit dem Verstandwahrzunehmen.

Bei der Jagd versagen manchmal die klügsten und bestdressierten Hun-de und verlieren Spur und Fährte der Hirsche, da diese voll List undSchlauheit hin- und herwechseln, um der Meute zu entkommen. So ver-lieren auch wir oft den Überblick über unser eigenes Herz und kennenuns nicht aus ob der großen Vielfalt der Regungen, mit denen es sichso rasch hierhin und dorthin wendet, daß wir seinen Irrwegen nicht folgenkönnen.

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Gott allein in seinem grenzenlosen Wissen sieht, ergründet unddurchdringt alles Hin und Her unseres Geistes; von weitem schon erfaßt erunsere Gedanken und ist vertraut mit unseren Wegen, Irrwegen undUmwegen. Sein Wissen davon ist wunderbar, es übersteigt unsere Fas-sungskraft und wir können es nicht erreichen (Ps 139,3–6).

Wollten wir auf uns selbst zurückkommen durch Zurückdenken, Rück-schauen und wiederholtes Überprüfen unserer Handlungen, so würdenwir in ein Labyrinth geraten und sicher den Ausgang aus ihm nichtmehr finden. Es würde eine unerträgliche Anspannung erfordern, nachzu-denken über unsere Gedanken, unsere Erwägungen zu erwägen, alle un-sere Ansichten zu übersehen, zu erkennen, daß wir erkennen, uns daranzu erinnern, daß wir uns erinnern. Es würden Verwicklungen entstehen,die aufzulösen wir nicht imstande wären.

Diese Abhandlung ist daher schwierig, besonders für solche, die nichtein tieferes Gebetsleben führen.

3. Wir verstehen hier unter Gebet nicht die einfache „Bitte um irgend-ein Gut, die Gott von den Gläubigen vorgebracht wird“, wie der hl. Basiliuserklärt (Hom. in Mart. Jul. § 3), sondern wir nehmen das Wort im Sinnedes hl. Bonaventura (Centil. 3,46), wenn er sagt, daß im Gebet alle Akte derBeschauung mit eingeschlossen sind; oder im Sinne des hl. Gregor vonNyssa (Or. 1 de Orat. Dom. am Anfang), der lehrt, daß das Gebet einGespräch und eine Unterredung der Seele mit Gott ist, oder im Sinne deshl. Chrysostomus (Orat. 1 und 2 de precat.), der uns sagt, daß das Gebeteine vertrauliche Unterhaltung mit der göttlichen Majestät ist, oder auch deshl. Augustinus (De Spir. et An. 1) und des hl. Johannes von Damaskus(De fide orth. 3,24), wenn sie sagen, daß das Gebet „ein Aufstieg odereine Erhebung des Geistes zu Gott“ ist. Wenn das Gebet also eineZwiesprache, eine vertrauliche Unterredung, ein Gespräch der Seele mitGott ist, so sprechen wir durch dasselbe mit Gott und Gott spricht zu uns,wir verlangen sehnsüchtig nach ihm, atmen zu ihm auf und er hinwiederhaucht uns seinen Geist ein und gießt ihn über uns aus.

Aber worüber unterhalten wir uns im Gebet? Was ist der Gegenstandunserer Unterredung? Theotimus, im Gebet spricht man nur von Gott;worüber könnte denn Liebe sonst sprechen und sich besprechen, als überden Vielgeliebten?

4. Daher sind Gebet und mystische Theologie ein und dasselbe. Manbedient sich der Bezeichnung „Theologie“, denn wie die spekulative

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Theologie Gott zum Gegenstand hat, so auch die mystische, aber miteinem dreifachen Unterschied:

Erstens handelt jene von Gott, insofern er Gott ist; während diese vonihm spricht als von dem über alles Liebenswerten. Das heißt, jene be-trachtet die Göttlichkeit der höchsten Güte und diese die alles übertref-fende Güte der Gottheit.

Zweitens spricht die spekulative Theologie von Gott zu Menschenund unter Menschen, während die mystische von Gott mit Gott und inGott selbst spricht.

Drittens strebt die spekulative Theologie danach, Gott zu erkennen, die my-stische aber, ihn zu lieben, so daß jene ihre Schüler zu Gottesgelehrtenmacht, während diese ihre Jünger zu Menschen macht, die Gott lieben, fürihn glühen, ihm hingegeben sind, zu Philotheen und Theophilen.

5. Mystisch nennt man sie, da das Gespräch ganz im geheimen vor sichgeht; es wird zwischen Gott und der Seele nicht anders als von Herz zuHerz gesprochen, durch eine für andere als die Sprechenden gar nichtmitteilbare Mitteilung. Die Sprache der Liebenden ist von so besondererEigenart, daß niemand sie versteht als diese selbst. „Ich schlafe,“ sagt dieBraut im Hohelied, „und mein Herz wacht; und da spricht mein Gelieb-ter mit mir“ (Hld 5,2). Wer hätte je erraten können, daß die Braut sichnoch mit ihrem Bräutigam unterhielt, nachdem sie schon eingeschla-fen war? Doch wo die Liebe herrscht, bedarf es nicht des Geräusches äuße-rer Worte, noch des Gebrauches der Sinne, um miteinander zu reden undeinander zu hören.

6. Kurz, Gebet und mystische Theologie sind nichts anderes als einGespräch, in dem sich die Seele liebevoll mit Gott über seine höchstliebenswürdige Güte unterhält, um mit ihr eins zu werden und mit ihrganz verbunden zu sein.

7. Das Gebet ist ein Manna (Offb 2,17) durch die Fülle des Wohlge-schmacks und köstlicher Süße, die es jenen mitteilt, die von ihm Ge-brauch machen. Aber es ist ein „verborgenes“ Manna, denn es fällt vorder Tageshelle irgend eines Wissens in die geistige Einsamkeit, dort,wo die Seele allein mit ihrem Gott allein spricht. Von ihr könnte mansagen: „Wer ist diese, die dort aus der Wüste heraufsteigt, umgebenvon feurigen Wolken, umhüllt vom Duft der Myrrhe, des Weihrauchsund Würzstaubs aller Art?“ (Hld 3,6).

Es war auch das Verlangen nach Heimlichkeit, das die Braut antrieb, dieBitte an ihren Vielgeliebten zu stellen: „Komm, mein Liebster, laß

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uns hinaus in die Fluren ziehen, laß uns in Dörfern unsere Wohnstätteaufschlagen“ (Hld 7,11).

Darum wird auch die Geliebte der Turteltaube verglichen (Hld 2,12.14;6,8; Ps 84,3), die die schattigen, einsamen Orte liebt, wo sie einzig undallein nur den Tauber ihren Gesang vernehmen läßt, ihm schöntut,solange er lebt, und ihm ihr Klagelied singt, wenn er tot ist.

Deshalb bekunden auch Bräutigam und Braut im Hohelied ihre Liebe zuein-ander in beständiger, vertraulicher Zwiesprache. Mischen sich ab und zuFreunde und Freundinnen in das Gespräch, so geschieht es nur ganzflüchtig und so, daß das Zwiegespräch nicht gestört wird.

Darum zog auch die selige Mutter Theresia von Jesus anfänglich mehrNutzen aus den Geheimnissen, in denen der Herr allein war, wie z. B. amÖlberg, oder wo er die Samariterin erwartete; denn es kam ihr vor, alsmüsse er sie eher an sich herankommen lassen, wenn er allein sei (Lebenvon ihr verfaßt, 9.Kap.).

8. Liebe verlangt nach Heimlichkeit; haben die Liebenden sich auchnichts Geheimes zu sagen, so gefallen sie sich doch darin, es im Gehei-men zu sagen. Wenn ich nicht irre, so kommt das zum Teil daher, weilsie nur zueinander reden wollen; sprächen sie aber laut, so hätten sie dasGefühl, daß das, was sie sagen, nicht für sie allein ist.

Andernteils kommt es auch daher, daß sie die alltäglichen Dingenicht mit alltäglichen Worten, sondern auf eine so eigenartige Weisesagen, daß dadurch die ganz besondere Liebe zum Ausdruck kommt,mit der sie es sagen. Die Sprache der Liebe hat nichts Besonderes, wennman nur auf die Worte schaut, aber ihre Art zu sprechen und zu betonenist so eigen, daß nur die Liebenden sie verstehen. Das Wörtlein „Freund“,allgemein gesagt, hat nicht viel zu bedeuten; abseits und heimlich insOhr geflüstert, sagt es Wunderbares. Und je geheimer das Wort ausge-sprochen wird, um so liebenswerter ist seine Bedeutung.

O Gott, wie verschieden ist doch die Sprache der großen Liebendendes Altertums, eines Ignatius, Cyprian, Chrysostomus, Augustinus, Hi-larius, Ephrem, Gregor, Bernhard! Wie verschieden ist doch ihre Sprachevon der solcher Theologen, die Gott weniger lieben! Wir bedienen unsder gleichen Worte, aber bei ihnen hatten diese Worte Wärme, warenvoll des süßen Duftes der Liebe, während sie bei uns kalt und allenDuftes bar sind.

9. Die Liebe spricht nicht nur mit der Zunge, sondern auch mit denAugen, durch Sehnsucht und Gebärden. Ja, auch die Stille und das Schwei-

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gen dienen ihr als Wort; „Mein Herz ruft zu Dir, o Herr; mein Angesichtsucht Dich; o Herr, ich suche Dein Antlitz“ (Ps 27,8). „Meine Augen sindermattet, da sie sagen: Wann endlich wirst Du Trost mir bringen?“ (Ps119,82). „Höre, o Gott, mein Gebet! Vernimm meinen Hilferuf! Ver-schließ Dich nicht meinen Tränen!“ (Ps 39,13). „Nimmer gönne dir Ruhe,nie schweige dein Auge!“ so sprach das trostlose Herz der BewohnerJerusalems zur eigenen Stadt (Klgl 2,18). Daraus ersiehst du, Theotimus,daß das Schweigen trauriger Liebender mit Augen und Tränen spricht.

Die Hauptübung der mystischen Theologie besteht sicher darin, imGrunde des Herzens mit Gott zu reden und Gott reden zu hören. Undweil diese vertrauliche Unterredung durch sehr heimliche Regungenund Eingebungen vor sich geht, nennen wir sie das Zwiegespräch desSchweigens; das Auge spricht zum Auge, das Herz zum Herzen undniemand versteht, was gesprochen wird, außer die heiligen Liebenden,die miteinander reden.

2. KapitelDie Betrachtung, die erste Stufe des innerlichen GebetesDie Betrachtung, die erste Stufe des innerlichen GebetesDie Betrachtung, die erste Stufe des innerlichen GebetesDie Betrachtung, die erste Stufe des innerlichen GebetesDie Betrachtung, die erste Stufe des innerlichen Gebetes

oder der mystischen Theologie.oder der mystischen Theologie.oder der mystischen Theologie.oder der mystischen Theologie.oder der mystischen Theologie.

1. Das Wort Betrachtung kommt in den heiligen Schriften sehr häufigvor und will nichts anderes bezeichnen als ein aufmerksames, wiederhol-tes Nachdenken, das geeignet ist, gute oder böse Affekte in uns zuwecken.

Im ersten Psalm wird der Mann selig gepriesen, der am Gesetz desHerrn Freude hat, der seinem Gesetz nachsinnt bei Tag und bei Nacht(Ps 1,2).

Im zweiten Psalm aber heißt es: „Was toben die Heiden und sinnendie Völker Eitles?“ (Ps 2,1).

Gutes wie Böses kann also Gegenstand der Betrachtung sein. Da jedochdie Heilige Schrift das Wort Betrachtung gewöhnlich verwendet, um dasAufmerken auf göttliche Dinge zu bezeichnen, das uns zu deren Liebeaneifern soll, ist das Wort nach allgemeiner Übereinstimmung der Theolo-gen sozusagen heiliggesprochen worden, ähnlich wie die Worte „Engel“und „Eifer“, während im Gegensatz dazu die Worte „List“ und „Dämon“eine schlechte Bedeutung erhalten haben. Wenn man jetzt von Betrachtungspricht, versteht man darunter die heilige Betrachtung, mit der man inder mystischen Theologie anfängt.

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2. Jedes Betrachten ist ein Nachdenken, aber nicht jedes Nachdenkenist ein Betrachten. Häufig gehen wir Gedanken nach, ohne Ziel und Ab-sicht, einfach zum Zeitvertreib, und gleichen Mücken, die da und dort aufBlumen herumfliegen, ohne etwas aus ihnen herauszuholen. Dieses Den-ken, so aufmerksam es auch sein mag, kann nicht als Betrachtung gewer-tet werden; es ist nichts anderes als ein einfaches „Denken“.

Manchmal denken wir aufmerksam über etwas nach, um dessen Ursa-chen, Wirkungen und Eigenschaften kennen zu lernen. Solches Nach-denken nennt man Studieren; wir gleichen dann Maikäfern, die unter-schiedslos auf Blätter und Blüten fliegen, um sie zu benagen und sich davonzu nähren.

Denken wir aber über göttliche Dinge nach, nicht um unsere Kenntnissezu vermehren, sondern um sie noch mehr zu lieben, so heißt das Betrach-ten, und die Übung Betrachtung. Da suchen wir die Blüten der heiligenMysterien nicht auf, um wie Mücken nur herumzufliegen; auch nicht, umwie Maikäfer uns davon zu nähren und damit zu sättigen, sondern wieBienen, voll heiligen Eifers, um daraus den Honig göttlicher Liebe zugewinnen.

Es gibt Menschen, die immer grübeln und ständig mit unnützen Ge-danken beschäftigt sind, fast ohne zu wissen, woran sie denken. Das Merk-würdige ist, daß sie sich aus Gedankenlosigkeit in Gedanken ergehen,die sie eigentlich nicht haben wollen. Das bezeugt auch jener, der sagte:„Meine Gedanken haben sich zerstreut und quälen mein Herz“ (Ijob17,11). Andere studieren aus Neugierde und füllen ihren Kopf in mühsa-mer Arbeit mit eitlem Wissen; doch nur wenige gibt es, die sich derBetrachtung hingeben, um ihr Herz zu heiliger, himmlischer Liebe zu ent-flammen.

3. Kurz gesagt, Nachdenken und Studium befassen sich mit allerleiDingen, aber die Betrachtung, von der wir hier reden, sieht nur aufDinge, deren Erwägung dazu dient, uns gut und fromm zu machen.So ist also die Betrachtung nichts anderes als ein aufmerksames, wieder-holtes oder freiwillig fortgesetztes Nachsinnen unseres Geistes, um denWillen zu heiligen und zu heilsamen Affekten und Entschlüssen anzu-regen.

4. In einem wunderbaren Gleichnis spricht sich Gottes Wort darüberaus, worin die Betrachtung besteht. Hiskija will in seinem Gesang dieGedanken beschreiben, die er sich über seine Krankheit machte, und sagt:

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„Wie ein Schwalbenjunges schreie ich und gleich einer Taube sinne ichnach“ (Jes 38,14).

Hast du je beobachtet, Theotimus, wie die jungen Schwalben ihreSchnäbel weit aufsperren, wenn sie schreien, und wie im Gegensatzdazu die Tauben unter allen Vögeln die einzigen sind, die mit geschlos-senem Schnabel gurren? Sie lassen ihre Stimme in ihrer Kehle und Brustgleichsam rollen, so daß der Schall nur als Widerhall nach außen dringt– und dieses leise Gurren dient ihnen dazu, ihren Schmerz, wie ihreLiebe zu äußern.

Um nun zu zeigen, daß er mitten in seinem Ungemach oft mündlicheGebete verrichte, sagt Hiskija: „Ich schreie wie ein Schwalbenjunges;“ich öffne meinen Mund, um Klagetöne vor Gott auszustoßen. Um aberandererseits auch zu sagen, daß er das innerliche Gebet übe, fügt er hin-zu: „Ich sinne nach wie eine Taube,“ indem ich meine Gedanken in mei-nem Herzen durch aufmerksame Erwägung hin- und herwende, um michanzuspornen, die über alles erhabene Barmherzigkeit Gottes zu loben undzu preisen, die mich den Pforten des Todes entrissen hat (Jes 38, 10) undMitleid hatte mit meinem Elend.

Ähnliches sagt Jesaja: „Wir lärmen oder brummen wie Bären und gurrensinnend wie Tauben“ (Jes 59,11). Der Lärm, den die Bären machen, be-zieht sich auf die Rufe, durch die wir im mündlichen Gebet zu Gottemporschreien, und das Gurren der Tauben auf die heilige Betrachtung.

Damit man aber wisse, daß die Tauben nicht nur aus Traurigkeit gur-ren, sondern auch aus Liebe und Freude, sagt der Bräutigam im Hohe-lied, wo er den Frühling in der Natur beschreibt, um auf die Schönheitendes geistlichen Frühlings hinzuweisen: „Die Stimme der Turteltaubeließ sich in unserem Land vernehmen“ (Hld 2,12). Im Frühling fängt dieTurteltaube nämlich an, sich in Liebe zu ereifern, was sie durch häufigesGurren kundtut. Und gleich darauf heißt es: „Meine Taube, laß michdein Antlitz sehen, laß mich deiner Stimme lauschen, denn deine Stimmeist lieblich, dein Antlitz hold“ (Hld 2,14). Damit will der göttliche Bräu-tigam sagen, wie lieb ihm die fromme Seele ist, wenn sie vor ihm er-scheint und betrachtet, um sich zu heiliger Liebe zu erwärmen, so wieauch die Tauben einander zu ihrer naturhaften Liebe erregen.

Darum spricht auch jener, der gesagt hat: „Wie eine Taube betrachteich,“ seinen Gedanken an einer anderen Stelle noch klarer aus, wo ersagt: „Ich werde vor Dir nachsinnen, o mein Gott, über all meine Jahre in

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der Bitternis meiner Seele!“ (Jes 38,15), denn Betrachten oder Nachsin-nen, um Affekte hervorzurufen, ist ein und dasselbe.

5. Darum gibt auch Mose, da er das Volk ermahnt, der Wohltaten zugedenken, die es von Gott erhalten hat, den Grund an: „Damit du seineGebote hältst und auf seinen Wegen wandelst und ihn fürchtest“ (Dtn8,6). Und der Herr selbst gibt Josua den Auftrag: „Tag und Nachtsollst du im Gesetzbuch betrachten, damit du alles hältst und tust, wasdarin geschrieben ist“ (Jos 1,8). Was an der einen Stelle durch das Wort„Betrachten“ ausgesprochen wird, ist an der anderen als „Nachsin-nen“ bezeichnet. Um zu zeigen, daß der häufig wiederholte Gedanke unddie Betrachtung dazu dienen, uns zu Affekten, Entschlüssen und Taten zubewegen, ist an der einen und der anderen Stelle gesagt, daß man überdas Gesetz nachdenken und es betrachten muß, um es zu beobachten undzu erfüllen.

In diesem Sinn ermahnt uns auch der Apostel: „Sinnt nach über ihn,der von den Sündern solchen Widerspruch gegen sich duldete, dann wer-det ihr nicht ermatten und nicht den Mut sinken lassen“ (Hebr 12,3).Wenn er sagt „sinnt nach“, so ist es dasselbe, wie wenn er sagte „be-trachtet“. Aber warum will er, daß wir das Leiden des Herrn betrachten?Sicherlich nicht, um gelehrt, sondern um geduldig und mutig auf demWeg zum Himmel zu werden. „O wie habe ich Dein Gesetz so lieb-gewonnen,“ sagt David, „den ganzen Tag sinne ich darüber nach“(Ps 119,97). Er betrachtet das Gesetz, weil er es liebt, und er liebt es, weiler es betrachtet.

6. Die Betrachtung ist nichts anderes als ein geistiges erneutes Verko-sten, ähnlich dem Wiederkäuen, das im Alten Bund die reinen Tiere vonden unreinen unterscheidet (Lev 11,3.8; Dtn 14,3.6). Eine der frommen Hirtin-nen, die in der Gefolgschaft der Braut des Hoheliedes ist, ladet uns dazuein. Sie versichert uns, daß die heilige Liebe einem kostbaren Wein gleicht,der es verdient, nicht nur von den Hirten und Gottesgelehrten getrun-ken, sondern auch bedachtsam verkostet und sozusagen gekaut und wieder-gekaut zu werden. „Deine Kehle,“ sagt sie, in der die heiligen Wortegeformt werden, „ist ein sehr guter Wein, wert, von meinem Geliebtengetrunken zu werden und immer wieder über seine Lippen und Zähne zugleiten“ (Hld 7,9).

So ging auch Isaak, einem unschuldigen Lamm gleich, gegen Abendhinaus in die Felder, um einsam zu sein und sich mit Gott zu unterreden,d. h. um zu beten und zu betrachten (Gen 24,63).

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Die Biene fliegt im Frühling hierhin und dorthin, nicht sinnlos, son-dern mit Bedacht, nicht nur, um sich an der heiteren Buntheit der Land-schaft zu erfreuen, sondern um Honig zu sammeln. Hat sie solchen ge-funden, in sich aufgenommen und sich damit beladen, so bringt sie ihn inden Stock, sondert das Wachs davon ab und baut aus demselben kunst-gerecht die Waben, in welchen sie ihn für den kommenden Winter aufbe-wahrt.

Ähnlich verfährt die fromme Seele bei der Betrachtung: sie geht voneinem Geheimnis zum anderen, aber nicht nur, um herumzufliegen,nicht nur, um die Schönheit der göttlichen Dinge zu sehen und an ihrFreude zu haben, sondern mit der Absicht, Beweggründe zur Liebe zufinden oder andere heilige Affekte in sich zu erwecken. Und hat sie diesegefunden, so macht sie sich diese zu eigen, verkostet sie, nimmt sie mit, undnachdem sie dieselben in ihr Herz gelegt hat, sondert sie das ab, wasihr für ihren eigenen Fortschritt am geeignetsten erscheint, um dann zumSchluß geeignete Vorsätze für die Zeit der Versuchung zu fassen.

So fliegt, einer mystischen Biene gleich, die Braut im Hohelied baldauf die Augen, bald auf die Lippen, bald auf die Wangen und Haare ihresVielgeliebten, um aus ihnen die Süße ungezählter leidenschaftlicher Liebes-empfindungen zu schöpfen. Sie beachtet dabei genau, was sie an Köst-lichkeiten darin findet. Brennend vor Liebe, spricht sie mit ihm, stelltihm Fragen, hört ihm zu, seufzt, sehnt sich nach ihm, bewundert ihn. Erseinerseits überhäuft sie mit Freude, regt sie an, rührt und öffnet ihr Herzund teilt demselben klare Erkenntnisse, Erleuchtungen und Wonnen ohneEnde mit. Das geschieht aber auf eine so geheime Weise, daß man vondiesen Gesprächen der Seele mit Gott das gleiche sagen kann, was dieHeilige Schrift von der Unterredung Gottes mit Mose sagt: „Als Moseallein auf der Bergeshöhe war, sprach er mit Gott und Gott antworteteihm“ (Ex 19,19.20; 33,11).

3. KapitelDie Beschauung – Erster Unterschied zwischen ihr und derDie Beschauung – Erster Unterschied zwischen ihr und derDie Beschauung – Erster Unterschied zwischen ihr und derDie Beschauung – Erster Unterschied zwischen ihr und derDie Beschauung – Erster Unterschied zwischen ihr und der

Betrachtung.Betrachtung.Betrachtung.Betrachtung.Betrachtung.

Die Beschauung, Theotimus, ist nichts anderes als ein liebevolles, ein-faches, ständiges Aufmerken des Geistes auf göttliche Dinge. Das wirduns durch einen Vergleich zwischen ihr und der Betrachtung leicht be-greiflich.

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1. Die jungen Bienen werden Nymphen genannt bis zum Augenblick,wo sie Honig bereiten. Dann nennt man sie Bienen. Desgleichen nenntman das innerliche Gebet Betrachtung, bis es den Honig der Hingabe anGott hervorgebracht hat. Danach verwandelt es sich in Beschauung.

Denn so wie die Bienen durch die Landschaft fliegen, da und dort Honigsammeln und dann den zusammengetragenen bearbeiten, um sich an seinerSüße zu erfreuen, so pflegen auch wir die Betrachtung, um die Liebe zuGott zu gewinnen. Haben wir sie aber gewonnen, dann schauen wirGott und versenken uns in seine Güte, um der Seligkeit willen, die dieLiebe uns daran finden läßt. Das Verlangen nach der göttlichen Liebeläßt uns betrachten, die gewonnene Liebe aber läßt uns beschauen.Denn durch die Liebe finden wir eine so beglückende Seligkeit in dem, denwir lieben, daß wir uns an ihm nicht sattsehen können.

2. Die Königin von Saba beobachtete die Weisheit Salomos, wie sie sichin allen Einzelheiten offenbarte: in seinen Antworten, in der Schönheitseines Hauses, in der Pracht seiner Tafel, in den Wohnungen seiner Diener.Sie sah seine Weisheit in der Ordnung, der alle folgten, die zu seinem Hofgehörten, sowohl bei der Ausübung ihrer Ämter als auch in ihrer Klei-dung, Haltung und in der Menge der Brandopfer, die sie im Haus desHerrn darbrachten.

Da sie das alles sah, erfaßte sie brennende Liebe; ihr Betrachten wurdebewunderndes Schauen, sie geriet außer sich vor Freude und brach inbegeisterte Worte aus. Der Anblick so vieler Herrlichkeiten erzeugte inihrem Herzen eine heftige Liebe und diese Liebe rief hinwiederum einneues Verlangen hervor, immer mehr den zu sehen, immer mehr sichder Gegenwart dessen zu erfreuen, bei dem sie das alles gesehen. Undso rief sie aus: „Glücklich die Diener, die immer um dich sind und dei-ner Weisheit lauschen!“ (1 Kön 10,4–8).

Manchmal fangen wir zu essen an, um unseren Appetit anzuregen;ist aber der Appetit wachgerufen, so essen wir weiter, um den Appe-tit zu befriedigen. Gleicherweise betrachten wir anfangs die Güte Gottes,um unseren Willen zur Liebe anzuspornen; ist aber die Liebe in unseremHerzen geformt, so betrachten wir diese selbe Güte, um unsere Liebezu befriedigen, die sich an dem, was sie liebt, nicht sattsehen kann.

Kurzum, die Betrachtung ist die Mutter der Liebe, aber die Beschauungist deren Tochter. Darum habe ich gesagt, daß die Beschauung ein liebe-volles Aufmerken ist. Denn man nennt die Kinder mit dem Namen ihrerEltern und nicht die Eltern mit dem Namen ihrer Kinder.

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3. Der ägyptische Josef war Krone und Ruhm seines Vaters; er steigertedessen Ehre und Freude in hohem Maße und verjüngte ihn gleichsam inseinem Alter. So krönt auch die Beschauung ihre Mutter, die Liebe,verleiht ihr Vollendung und höchsten Wert. Hat nämlich die Liebe diebeschauende Aufmerksamkeit in uns geweckt, so wird durch diese Auf-merksamkeit eine stärkere, glühendere Liebe hervorgerufen, die schließ-lich, wenn sie im Genuß dessen ist, was sie liebt, mit Vollkommenheitengekrönt wird.

Die Liebe läßt uns Gefallen finden am Anblick des Vielgeliebten undder Anblick des Vielgeliebten wieder Gefallen finden an seiner göttlichenLiebe. Durch diese wechselseitige Bewegung von der Liebe zum Schauenund vom Schauen zur Liebe erhöht die Liebe noch die Schönheit dessen,was man liebt, und das Schauen dieser Schönheit macht die Liebe nochliebreicher und freudetrunkener. Die Liebe ist die geheimnisvolle Fähig-keit, die Schönheit, die man liebt, noch schöner erscheinen zu lassen, unddie Schau der Schönheit vertieft wieder die Liebe, so daß sie die Schön-heit noch liebenswerter findet. Die Liebe drängt dazu, die geliebte Schön-heit immer noch aufmerksamer anzuschauen, und das Schauen zwingtdas Herz, sie immer noch brennender zu lieben.

4. KapitelDie Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott, diesesDie Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott, diesesDie Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott, diesesDie Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott, diesesDie Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott, diesesbestimmt aber nicht den Grad ihrer Vbestimmt aber nicht den Grad ihrer Vbestimmt aber nicht den Grad ihrer Vbestimmt aber nicht den Grad ihrer Vbestimmt aber nicht den Grad ihrer Vol lkol lkol lkol lkol lkommenheit.ommenheit.ommenheit.ommenheit.ommenheit.

Wer aber, frage ich dich, besitzt mehr Kraft: Die Liebe, um uns zurSchau des Vielgeliebten, oder seine Schau, um uns zu seiner Liebe zudrängen?

1. Kenntnis, Theotimus, ist zur Weckung der Liebe erforderlich; niekönnen wir etwas lieben, was wir nicht kennen; und je mehr die auf-merksame Kenntnis des Guten zunimmt, um so mehr steigert sich auchdie Liebe, vorausgesetzt, daß nichts da ist, was ihre Regungen hemmt.

2. Dennoch geschieht es oft, daß die heilige Liebe, nachdem sie vonder Kenntnis geweckt worden ist, nicht innerhalb der durch den Ver-stand gesetzten Grenzen der Erkenntnis bleibt, sondern sie überschreitetund weit darüber hinaus geht. Daher kann auch in diesem sterblichenLeben unsere Liebe größer sein als unser Wissen von Gott.

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3. Der große hl. Thomas versichert (IIa IIae, qu.82 art 3 ad 3), daßungebildete Frauen und schlichte Leute oft reich an Frömmigkeit undfür die göttliche Liebe empfänglicher sind als Gebildete und Gelehrte.

Der berühmte Abt von St. Andreas zu Vercelli, Lehrer des hl. An-tonius von Padua, wiederholt mehrmals in seinem Kommentar zum hl.Dionysius, „daß die Liebe dorthin vordringt, wohin äußerliches Wissennie gelangen kann“ (De Div. Nom. 3). Ferner sagt er, es habe „Bi-schöfe gegeben, die, ohne gelehrt zu sein, tief in das Geheimnis der aller-heiligsten Dreifaltigkeit eingedrungen“ seien. In dieser Hinsicht bewun-dert er auch seinen Schüler, den hl. Antonius von Padua, der „ohne welt-liches Wissen zu besitzen, ein so tiefer mystischer Theologe war, daßman ihn gleich einem anderen Johannes dem Täufer eine leuchtende,brennende Lampe (Joh 5,35) nennen konnte“ (Chron. Fratr. M. 5,5).

Der selige Bruder Ägydius, einer der ersten Gefährten des hl. Franzis-kus, sagte eines Tages zum hl. Bonaventura: „O wie glücklich seid ihrGelehrten, ihr wißt so viele Dinge, womit ihr Gott loben könnt! Aber wassollen wir arme Unwissende tun?“ Der hl. Bonaventura antwortete: „DieGnade, Gott lieben zu können, genügt.“ – „Aber, mein Vater,“ erwiderteBruder Ägydius, „kann denn ein Unwissender Gott ebenso lieben wie einGebildeter?“ – „Er kann es,“ sagte der hl. Bonaventura, „ja ich sage dir,daß ein armes, einfältiges Weib Gott ebensosehr lieben kann wie einGottesgelehrter.“ Da rief Bruder Ägydius aus: „Armes, einfältiges Weib,so liebe doch deinen Heiland, und du kannst so viel sein wie BruderBonaventura!“ Und darüber blieb er drei Stunden lang in Verzückung(Chron. Fratr. M. 7,14).

4. Der Wille wird zwar des Guten nur durch Vermittlung des Verstan-des gewahr, hat er es aber einmal wahrgenommen, so bedarf er seinernicht mehr, um zu lieben. Vielmehr hat die Freude, die er im Einsseinmit dem Gegenstand seiner Liebe findet oder finden will, die Kraft, ihnmächtig zu seiner Liebe und zum Verlangen nach seinem Besitz hinzuzie-hen.

Die Erkenntnis des Guten bringt also die Liebe hervor, bestimmt abernicht ihr Maß. So sehen wir ja auch, wie der Zorn losbricht, wenn maneine Beleidigung erfährt; wenn er aber nicht sofort erstickt wird, wird erfast immer heftiger, als der Gegenstand es erfordert. Die Leidenschaftenfolgen eben nicht der Erkenntnis, die sie wachgerufen hat, sondern lassensie sehr oft hinter sich und stürmen maßlos und schrankenlos auf ihrenGegenstand zu.

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Dies geschieht aber in noch viel stärkerem Maße bei der heiligen Lie-be; denn der Wille gibt sich ihr nicht infolge einer natürlichen Erkennt-nis, sondern infolge des Glaubenslichtes hin. Diese zeigt uns aber dieUnendlichkeit der Vollkommenheiten in Gott und gibt uns daher genugUrsache, ihn aus all unseren Kräften zu lieben.

Wir wühlen in der Erde, um Gold und Silber zu finden, und arbeitenmit viel Mühe jetzt schon um ein Gut, das wir erst später zu erlangenhoffen. Ein ungewisses Wissen treibt uns so zu einer gegenwärtigenund wirklichen Arbeit an. In dem Maße, als sich etwas von der Gold-ader zeigt, suchen wir dann immer angestrengter und leidenschaftlicher.

Eine ganz geringe Witterung bringt die Meute in Bewegung. So erregtuns eine dunkle, von vielem Gewölk umgebene Erkenntnis, wie es dieunseres Glaubens ist, mächtig zur Liebe der Güte, die sie uns wahr-nehmen läßt. Wie wahr ist doch, was der hl. Augustinus sagt: „DieUnwissenden reißen die Himmel an sich, während viele Gelehrte sich indie Hölle stürzen“ (Bek. 8,8).

5. Was meinst du, Theotimus, wer liebt das Licht mehr, der Blind-geborene, der alles weiß, was die Philosophen darüber geschrieben, undalle Lobsprüche, die sie darüber gehalten haben, oder der Bauer, der mitklaren Augen den wohltuenden Glanz der aufgehenden Sonne sieht undempfindet? Der Blinde weiß wohl mehr von ihr, der Bauer hat aber mehrFreude daran. Und diese Freude bringt eine viel lebendigere und innige-re Liebe hervor als ein Wissen, das nur durch Gedankengänge zustande-gekommen ist; denn die Erfahrung eines Gutes macht es uns weit lie-benswerter, als alles Wissen das wir darüber haben können.

Durch das Wissen, das uns der Glaube von der Güte Gottes gibt, fan-gen wir an, ihn zu lieben. Die Liebe bewirkt, daß wir uns in GottesGüte versenken und uns an ihr erfreuen; so schärft die Liebe unsereFreude daran und diese Freude verklärt dann wieder die Liebe.

Unter der Wucht des Sturms drängen sich die Wogen und türmen sichimmer höher, da eine die andere vorwärts treibt; so erhöht auch die Freu-de am Guten die Liebe und die Liebe erhöht die Freude daran. Die göttli-che Weisheit sagt ja: „Die mich verkosten, werden noch hungern, und diemich trinken, werden noch dürsten“ (Sir 24,29).

Wer hat Gott mehr geliebt: Occam, den einige den scharfsinnigsten derSterblichen nannten, oder die einfache Frau, die St. Katharina von Ge-nua war? Jener kannte ihn tiefer aus seinem Wissen, diese aber durchihre Erfahrung; und diese Erfahrung führte sie so tief in die serafische

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Liebe hinein, während jener bei all seinem Wissen von dieser erhabe-nen Vollkommenheit weit entfernt blieb.

„Wir haben schon eine große Liebe zu den Wissenschaften, noch ehewir sie uns angeeignet haben,“ sagt der hl. Thomas, „schon allein durchdie unklare und allgemeine Idee, die wir von ihnen haben.“ Ebensomüssen wir sagen, daß das Wissen um die göttliche Güte unserenWillen zur Liebe neigt. Ist aber einmal der Wille in Tätigkeit gesetzt,dann wächst seine Liebe von selbst durch die Freude, die er daranfindet, sich mit diesem höchsten Gut zu vereinigen. Ehe die kleinenKinder Honig und Zucker gekostet haben, hat man Mühe, sie dazu zubringen, sie in den Mund zu nehmen. Doch sobald sie die Süßigkeit ver-spüren, lieben sie diese mehr, als uns lieb ist; sie möchten am liebstenimmer davon haben.

6. Dennoch muß man zugeben, daß der Wille, angelockt durch die Freu-de, die er an dem empfindet, was er liebt, noch weit stärker dazu angetrie-ben wird, sich mit ihm zu vereinigen, wenn ihm der Verstand seiner-seits dessen Wert vor Augen hält. Denn dann wird er gleichzeitig hin-gezogen und hingedrängt: hingedrängt durch die Erkenntnis und hinge-zogen durch die Freude. Das Wissen ist ja an sich der Frömmigkeit nichtentgegengesetzt, sondern sehr nützlich. Wenn sie miteinander verbundensind, können sie sich gegenseitig wunderbar unterstützen.

Leider geschieht es aber infolge unserer Armseligkeit oft, daß Wissendas Entstehen der Frömmigkeit verhindert. Wissen bläht auf (1 Kor8,1) und macht stolz; der Stolz aber ist jeder Tugend entgegengesetzt unddamit der vollständige Ruin aller Frömmigkeit. Sicherlich hat dashervorragende Wissen eines Cyprian, eines Augustinus, Hilarius,Chrysostomus Basilius, Gregorius, Bonaventura, Thomas ihre Fröm-migkeit nicht nur sehr erleuchtet, sondern auch vertieft, wie andererseitsihre Frömmigkeit ihr Wissen nicht nur erhöht, sondern auch außeror-dentlich vervollkommnet hat.

5. KapitelZweiter Unterschied zwischen der Betrachtung und der Beschauung.Zweiter Unterschied zwischen der Betrachtung und der Beschauung.Zweiter Unterschied zwischen der Betrachtung und der Beschauung.Zweiter Unterschied zwischen der Betrachtung und der Beschauung.Zweiter Unterschied zwischen der Betrachtung und der Beschauung.

1. Die Betrachtung erwägt im einzelnen und gleichsam Stück für Stückdie Dinge, die geeignet sind, uns zu bewegen. Die Beschauung hingegenumfaßt mit einem einfachen, zusammengerafften Blick den Gegenstand,den sie liebt. Dieses sozusagen zusammengeballte Erwägen ruft daherauch eine lebhaftere und stärkere Liebesregung hervor.

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Man kann sich die Schönheit einer reich verzierten Krone auf zweierleiWeise ansehen: entweder sieht man nacheinander allen Zierat und dieEdelsteine an, aus denen sie zusammengesetzt ist, oder man nimmt nachder Betrachtung der verschiedenen Einzeldinge den gesamten Glanz aller Ein-zelheiten in einem einzigen, einfachen Blick in sich auf.

Die erste Art gleicht der Betrachtung, in der wir zum Beispiel dieWirkungen der göttlichen Barmherzigkeit erwägen, um uns zur LiebeGottes zu entflammen. Die zweite Art aber ist der Beschauung ähnlich,in welcher wir mit einem einzigen festen Geistesblick die ganze Vielfaltdieser Wirkungen als eine aus all diesen Einzelheiten hervorgehendeSchönheit schauen, die einen einzigen herrlichen Glanz ausstrahlt.

Wenn wir betrachten, zählen wir gleichsam alle göttlichen Vollkom-menheiten, die wir in einem Geheimnis wahrnehmen; im beschaulichenGebet aber ziehen wir daraus die Gesamtsumme.

Die Gefährtinnen der heiligen Braut (Hld 5,9–16) hatten sie befragt,wer ihr Vielgeliebter sei. Sie antwortete ihnen, indem sie in wundervollerSchilderung alle Einzelheiten seiner vollendeten Schönheit beschreibt:„Seine Haut ist weiß und rötlich, sein Haupt ist golden, seine Haaregleichen noch geschlossenen Blütenknospen von Palmen, seine Augensind Taubenaugen, seine Wangen sind Balsambeete, seine Lippen blühen-de Lilien, von allen Wohlgerüchen durchduftet, seine Hände sind wie ausGold gedreht, gefüllt mit Hyazinthen; er steht wie auf Säulen vonMarmor.“ So betrachtet sie diese erhabene Schönheit im einzelnen, bissie endlich ihre Betrachtung als Beschauung beschließt und alle Schönheitin den Worten zusammenfaßt: „Voll von Süßigkeit ist sein Mund. Allesan ihm ist liebenswert. So ist mein Vielgeliebter, so ist mein Freund.“

Bei der Betrachtung verfährt man ähnlich wie jemand, der nacheinander undeinzeln den Duft der Nelke, der Rose, des Rosmarins, des Thymians, desJasmins und der Orangenblüte einatmet; bei der Beschauung aber gleichtman solchen, die den Duft des Parfüms in sich aufnehmen, das aus alldiesen Blumen bereitet wird. So atmen sie in einem vereint alle Düfteein, die der andere getrennt und gesondert wahrgenommen hat. Zweifel-los ist dieser eine, aus der Vermengung aller Wohlgerüche herrührendeDuft angenehmer und köstlicher als die einzelnen Düfte hintereinandereingeatmet, aus denen er zusammengesetzt ist.

Darum liegt dem göttlichen Bräutigam so viel daran, daß seine Ge-liebte ihn mit einem einzigen Blick betrachte und daß ihre Haare sokunstvoll geflochten seien, als wären sie nur ein Haar (Hld 4,9). Denn

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was anderes will es wohl heißen, den Bräutigam mit einem einzigen Blickanzuschauen, als ihn in einer einfachen, aufmerksamen Schau zu be-trachten, statt viele Blicke auf ihn zu werfen? Und was heißt, die Haaregeflochten tragen anderes, als seine Gedanken nicht in einer Vielfalt vonErwägungen auseinanderzubreiten?

2. O wie glücklich sind jene, die nach Erwägung der vielen Beweggrün-de, die sie haben, Gott zu lieben, alle ihre Blicke in einem Blick vereinigenund alle ihre Gedanken in einer Schlußfolgerung zusammenfassen! Wieglücklich sind jene, die ihren Geist in der Einheit der Beschauung verwei-len lassen, nach dem Beispiel des hl. Augustinus (Bek. 10,27) oder des hl.Bruno, die in dauernder Bewunderung tief im Grund ihrer Seele vollLiebe ausriefen: „O Güte, Güte! O alte und immer neue Güte!“ Odernach dem Beispiel des großen hl. Franziskus, der im Gebet auf den Knienliegend eine ganze Nacht damit verbrachte, voll Inbrunst die Worte zuwiederholen: „O Gott, Du bist mein Gott und mein Alles!“, wie der seligeBruder Bernhard von Quintavalle berichtet, der es selbst mit eigenenOhren vernommen hat (Chron. Fr. M. 1,8).

Siehe auch, Theotimus, den hl. Bernhard (Serm. 43 in Cant.). Nachdem erdas ganze Leiden Christi in allen Einzelheiten betrachtet hatte, wand er ausdessen wichtigsten Begebenheiten einen Strauß liebend-schmerzlicherEmpfindungen, den er auf sein Herz legte und, seine Betrachtung inBeschauung verwandelnd, ausrief: „Einem Myrrhenbüschlein gleichtmein Geliebter“ (Hld 1,12).

3. Sieh mit noch tieferer Andacht den Schöpfer der Welt, wie er bei derSchöpfung die Güte seiner Werke zuerst einzeln und gesondert in derReihenfolge, wie er sie schuf, betrachtete. „Er sah,“ sagt die Heilige Schrift,„daß das Licht gut war,“ daß Himmel und Erde gut waren; dann, daß dieKräuter und Pflanzen, die Sonne, der Mond und die Sterne, die Tiere undüberhaupt alle Geschöpfe, so wie er sie nacheinander schuf, alle gut wa-ren. Als endlich das Weltall vollendet war, ging sozusagen die göttlicheBetrachtung in Beschauung über. Indem er mit einem Blick die ganzeVollkommenheit schaute, die in seinem Werk war, „sah er alles, was ergemacht hatte, und alles war sehr gut“ (Gen 1,31). Die einzelnen Teile,gesondert nach Art der Betrachtung angesehen, waren gut; dochalle zusammen, nach Art der Beschauung mit einem einzigen Blick über-schaut, wurden als sehr gut befunden.

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4. Es ist so, wie wenn mehrere Bäche sich vereinigen und einen Flußbilden, der größere Lasten zu tragen vermag als die Menge der gleichenBäche, solange sie getrennt sind.

Nachdem wir durch die vielen Erwägungen, aus denen die Betrachtungbesteht, eine große Anzahl verschiedenartiger frommer Liebesregungenhervorgebracht haben, fassen wir zum Schluß die Kraft all dieser Liebes-regungen zusammen: Aus dem Ineinanderströmen und der Verbindungihrer Kräfte entsteht ein Affekt, der gleichsam der Inbegriff des Affektesist, tätiger und mächtiger als all die Affekte, aus denen er hervorging, daer, obwohl nur einer, doch die Kraft und Eigenart aller anderen in sichschließt. Man nennt ihn „beschauliche Liebesregung“, kontemplativerAffekt.

5. Unter den Theologen ist man der Ansicht, daß die Engel, die zueinem höheren Grad der Glorie erhoben sind, eine viel einfachere Er-kenntnis Gottes und der Geschöpfe besitzen, als die geringeren Grades,und daß die Vorstellungen oder Ideen, durch die sie erkennen, umfassendersind als die der anderen. Während weniger vollkommene Engel die Din-ge durch eine Mehrzahl von Vorstellungen und eine größere Zahl ver-schiedener Blicke schauen, sehen die vollkommeneren Engel alles in einergeringeren Zahl von Gedankenbildern und Akten der Anschauung.

Der große hl. Augustinus (De Trin. 15,16) und nach ihm der hl. Tho-mas (Ia, qu. 12, art 10) sagen, daß wir im Himmel nicht mehr diese großeUnbeständigkeit, dieses häufige Ändern unserer Ansicht, diese großeVerschiedenheit und Wandelbarkeit unserer Gedanken und Erwägungen,dieses Kommen und Gehen von einem Gegenstand zum anderen, von die-ser Sache zu jener haben werden, sondern daß wir dann mit einem Ge-danken viele verschiedene Dinge werden erfassen und erkennen können.

Je weiter das Wasser sich von seinem Ursprung entfernt, desto mehrverteilt es sich und zerfließt in mehrere Rinnsale, wenn es nicht mit gro-ßer Sorgfalt in einem Flußbett zusammengehalten wird. – Alle Voll-kommenheiten kommen von Gott. Je mehr sie sich von Gott, ihrem Ur-sprung entfernen, desto mehr teilen und verzetteln sie sich. Wenn siesich aber Gott nähern, dann vereinigen sie sich wieder, bis sie sichin jener höchsten und einzigen Vollkommenheit verabgründen, die das„eine Notwendige“ und „der beste Teil“ ist, den „Maria gewählt hat, derihr nicht genommen wird“ (Lk 10,42).

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6. KapitelDie Beschauung geht ohne Mühe vor sich. – DritterDie Beschauung geht ohne Mühe vor sich. – DritterDie Beschauung geht ohne Mühe vor sich. – DritterDie Beschauung geht ohne Mühe vor sich. – DritterDie Beschauung geht ohne Mühe vor sich. – Dritter

Unterschied zwischen ihr und der Betrachtung.Unterschied zwischen ihr und der Betrachtung.Unterschied zwischen ihr und der Betrachtung.Unterschied zwischen ihr und der Betrachtung.Unterschied zwischen ihr und der Betrachtung.Es gibt drei verschiedene Arten des Schauens im beschaulichen Gebet:1. Zuweilen schauen wir nur auf eine der Vollkommenheiten Gottes,

z. B. auf seine unendliche Güte, ohne an seine übrigen Vollkommen-heiten und Attribute zu denken – ähnlich dem Bräutigam, der seinenBlick einfach nur auf der schönen Gesichtsfarbe seiner Braut ruhen läßt,dabei wohl ihr ganzes Antlitz ansieht, da ja die Gesichtsfarbe beinaheüber alle einzelnen Teile desselben ausgebreitet ist, aber ihren Gesichts-zügen, ihrer Anmut und allem anderen, was ihre Schönheit ausmacht,keine Aufmerksamkeit schenkt. Ebenso kommt es vor, daß unser Geist,wenn er die erhabene Güte der Gottheit betrachtet, wohl auch in ihr dieGerechtigkeit, die Weisheit, die Macht sieht, aber dennoch seine ganzeAufmerksamkeit nur der Güte zuwendet, auf welche der einfacheBlick der Beschauung gerichtet ist.

2. Zuweilen wieder schauen wir aufmerksam auf mehrere der unend-lichen Vollkommenheiten, die in Gott sind, aber mit einem einfachen,unterschiedslosen Blick. Es ist so, wie wenn jemand mit einem einzigenBlick seine reich geschmückte Braut vom Scheitel bis zur Sohle umfängtund wohl das Gesamtbild aufmerksam wahrnimmt, aber nicht die Einzel-heiten. Er kann dann nicht sagen, welches Geschmeide und welches Kleidsie trägt, noch welche Haltung sie einnimmt und welchen Blick sie wirft,sondern einfach nur, daß alles an ihr schön und ansprechend ist. Soüberschaut man zuweilen mit einem einzigen einfachen Blick verschie-dene Erhabenheiten und Vollkommenheiten Gottes zusammen; man wäreaber nicht imstande, darüber im einzelnen etwas auszusagen, sondernwüßte nur das Eine, daß alles vollkommen gut und schön ist.

3. Andere Male schauen wir weder auf mehrere noch auf eine einzigeder göttlichen Vollkommenheiten, sondern bloß auf irgendeine göttlicheTat, ein göttliches Werk, dem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden.So z. B. blicken wir auf den Akt der Barmherzigkeit, durch welchenGott die Sünden verzeiht, oder auf den Akt der Schöpfung, oder auf dieAuferweckung des Lazarus, oder auf die Bekehrung des hl. Paulus. Wirgleichen da einem Bräutigam, der nicht die Augen, sondern nur die Lieb-lichkeit des Blickes sieht, den seine Braut auf ihn richtet, der nicht denMund betrachtet, sondern die Anmut der Worte, die der Mund her-vorbringt.

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Dann aber, Theotimus, schwingt sich die Seele in Liebe nicht nurzur Tat auf, die sie erwägt, sondern auch zu dem, der sie vollbracht: „Dubist so gut, o Herr, in Deiner Güte lehre mich Deine Satzungen“ (Ps119,68). „Voll von Süßigkeit ist Dein Mund,“ d. h. das Wort, das daraushervorgeht, „alles an dir ist lieblich“ (Hld 5,16). „Wie süß sind meinemInneren Deine Worte, viel süßer noch als Honig meinem Mund“ (Ps119,103). Oder auch mit dem hl. Thomas: „Mein Herr und mein Gott“(Joh 20,28) und mit der hl. Magdalena: „Rabbuni! Mein Meister!“ (Joh20,16).

4. Aber woher auch immer die Beschauung ihren Anfang nimmt,stets zeichnet sie sich dadurch aus, daß sie mit Freuden geschieht. Siesetzt ja voraus, daß man Gott und seine heilige Liebe gefunden hat, daßman sich an diesem Besitz erfreut und glücklich darüber spricht: „Ichhabe den gefunden, den meine Seele liebt; ich habe ihn gefunden undlasse ihn nicht!“ (Hld 3,4).

Darin unterscheidet sich die Beschauung von der Betrachtung, die fastimmer Mühe, Anstrengung und Überlegung erfordert, weil unsere Seeledabei von einer Erwägung zur anderen übergeht und an verschiedenenOrten den Geliebten ihrer Liebe oder die Liebe ihres Geliebten sucht.

In der Betrachtung arbeitet Jakob, um Rahel zu erlangen; aber imbeschaulichen Gebet freut er sich mit ihr und vergißt seine ganze Mühe(Gen 29,18). Der als Hirte dargestellte göttliche Bräutigam bereitet sei-ner heiligen Braut ein üppiges Mahl nach ländlicher Sitte. Er beschreibt esso, daß es mystischerweise alle Geheimnisse der menschlichen Erlösung dar-stellt: „In meinen Garten kam ich,“ sagt er, „meine Myrrhe pflückte ichmitsamt meinem Balsam, meine Wabe kostete ich mitsamt meinemHonig, meinen Wein schlürfte ich mitsamt meiner Milch. Eßt, ihr Freun-de, trinkt! Berauscht euch, ihr Lieben!“ (Hld 5,1).

Wann, Theotimus, wann war es, ich bitte dich, daß der Herr in seinenGarten kam, wenn nicht damals, als er in den ganz reinen, demütigen,liebreichen Leib seiner Mutter einzog, an dem alle Blüten heiliger Tu-genden prangten.

Wann pflückte wohl der Herr duftende Myrrhe, als da er Leiden aufLeiden häufte, bis zum Tod und bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8), unddadurch Verdienst an Verdienst, Schatz an Schatz reihte, um seine geist-lichen Kinder zu bereichern?

Wann verkostete er seine Wabe mitsamt dem Honig, wenn nicht, als er,zu neuem Leben erstehend, seine Seele, süßer als Honig, mit seinem

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mehr als eine Wabe durchlöcherten und durchbohrten Leib wieder verei-nigte?

Und als er in den Himmel auffuhr und Besitz nahm von seiner göttli-chen Glorie und allem, was damit verbunden war, da mischte er denfreudebereitenden Wein wesenhafter Glorie seiner Seele mit erquickender Milchvollkommener Glückseligkeit seines Leibes in so erhabener Weise wienoch nie zuvor.

In diesen göttlichen Geheimnissen, in denen alle anderen inbegriffensind, gibt es für alle lieben Freunde reichlich zu essen und zu trinken undseine engsten Freunde können sich daran berauschen. Die einen essen undtrinken, aber sie essen mehr, als sie trinken, und sie berauschen sichnicht. Die anderen essen und trinken, aber sie trinken viel mehr, als sieessen; das sind die, die sich berauschen.

Essen bedeutet hier betrachten; man kann dieses ja mit dem Kauenvergleichen; denn man wendet die geistige Nahrung sozusagen zwischenden Zähnen der Erwägung hin und her, um sie zu zerteilen, zu zerreißenund zu verdauen, was einige Mühe erfordert.

Mit dem Trinken kann man die Beschauung vergleichen, denn diesegeschieht ohne Mühe und Widerstand, mit Freuden und Leichtigkeit.

Sich berauschen aber heißt, sich so oft und mit so viel Innigkeitdem beschauenden Gebet hingeben, daß man sich selbst ganz ent-rückt ist, um ganz in Gott zu sein.

Heilige, weihevolle Trunkenheit! Im Gegensatz zur leiblichen beraubtsie uns nicht der geistigen Sinne, wohl aber der körperlichen; sie ver-dummt und vertiert uns nicht, sondern macht uns den Engeln gleichund vergöttlicht uns gewissermaßen. Sie entrückt uns uns selbst, abernicht, um uns herabzuwürdigen und Tieren gleichzustellen wie irdischeTrunkenheit, sondern um uns über uns selbst hinauszuheben und unsunter die Engel einzureihen. Wie diese leben wir dann mehr in Gott alsin uns selbst, und von der Liebe gedrängt, sind wir dann ganz daraufbedacht und vollauf damit beschäftigt, seine Schönheit zu schauen unduns mit seiner Güte zu vereinigen.

5. Um zum beschaulichen Gebet zu gelangen, müssen wir für gewöhn-lich das Wort Gottes hören, mit anderen nach der Art der alten Ein-siedler geistliche Gespräche und Unterredungen pflegen, fromme Bücherlesen, beten, betrachten, geistliche Lieder singen, gute Gedanken hegen.Die heilige Beschauung ist Ziel und Ende all dieser Übungen, sie allezielen auf sie hin. Daher werden auch solche, die diese Übungen

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pflegen, Beschauliche oder Kontemplative genannt und ihre Lebensweiseheißt man beschauliches Leben.

Der Grund für diese Bezeichnung ist jene Tätigkeit unseres Erkenntnis-vermögens, durch die wir die Wahrheit der göttlichen Schönheit undGüte mit liebender Aufmerksamkeit schauen. Die Liebe weckt unsere Auf-merksamkeit, daß wir sie schauen; oder diese geht aus der Liebe hervorund mehrt wieder die Liebe, die wir für die unendliche Güte und Schön-heit des Herrn hegen.

7. KapitelDie liebeerDie liebeerDie liebeerDie liebeerDie liebeerfüllte Sammlung der Seele in der Beschauung.füllte Sammlung der Seele in der Beschauung.füllte Sammlung der Seele in der Beschauung.füllte Sammlung der Seele in der Beschauung.füllte Sammlung der Seele in der Beschauung.

1. Ich spreche hier, Theotimus, nicht von der Sammlung, durch die wiruns beim Gebet in die Gegenwart Gottes versetzen, indem wir in unsselbst einkehren und unsere Seele sozusagen in unser Herz zurück-ziehen, um mit Gott zu sprechen. Denn so sammeln wir uns auf Befehlder Liebe, die uns zum innerlichen Gebet antreibt und uns dieses Mittelergreifen läßt, damit wir es gut verrichten. Wir selbst sind es also, diedieses Zurückziehen unseres Geistes vornehmen.

Aber die Sammlung, von der ich hier sprechen will, geschieht nicht aufBefehl der Liebe, sondern durch die Liebe selbst. Das heißt, wir neh-men sie nicht selbst nach eigener Wahl vor. Ja, es liegt nicht einmal inunserer Macht, sie zu haben, wenn wir wollen. Sie hängt nicht von unse-rer Bemühung ab, sondern Gott bewirkt sie in uns durch seine heiligeGnade, wenn es ihm gefällt.

Jener, sagt die selige Mutter Theresia von Jesus, verstand es wohlrichtig, der geschrieben hat, daß das Gebet der Sammlung ähnlich vorsich geht, wie wenn ein Igel oder eine Schildkröte sich in ihr Innereszurückzieht. Es besteht aber ein Unterschied: diese Tiere können sichzurückziehen, wann sie wollen, die Sammlung aber hängt nicht vonunserem Willen ab, sondern kommt über uns, wann es Gott gefällt, unsdiese Gnade zu schenken.

2. Es geschieht dies auf folgende Weise: Nichts ist dem Guten sonatürlich, als die Dinge, die es wahrnehmen kann, an sich zu ziehen undsie mit sich zu vereinigen. So macht es auch unsere Seele. Sie strebt im-mer ihrem Schatz, d. h. dem zu, was sie liebt, und gibt sich ihm hin.

So geschieht es zuweilen, daß der Herr unbemerkt eine gewisse wonni-ge Seligkeit im Grunde des Herzens verbreitet, die seine Gegenwart an-

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zeigt. Daraufhin kehren sich die Seelenkräfte, ja sogar die äußeren Sinnedurch eine Art geheimen Einverständnisses diesem Innersten der Seele zu,wo der überaus liebenswürdige und vielgeliebte Bräutigam weilt.

Ein Bienenschwarm, der ausschwärmt, läßt sich durch den sanftenKlang metallener Becken oder durch den Geruch von Honigwein oderauch durch die Düfte wohlriechender Kräuter zurückrufen; er hält, an-gelockt durch den lieblichen Klang oder den süßen Duft, in seinemFlug inne und zieht in den Bienenstock ein, den man ihm bereitet hat.

So spricht auch der Herr zuweilen ein heimliches Wort seiner Liebe,oder er läßt den Duft des Weines seiner Liebe verströmen, der köstlicherist als Honig, oder er erfüllt die Luft mit dem Wohlgeruch seines Ge-wandes (Hld 4,11), d. h. er träufelt himmlische Freude in unsere Herzenund läßt uns dadurch seine überaus liebenswürdige Gegenwart fühlen. Sozieht er dann alle Fähigkeiten unserer Seele an sich, die sich alle um ihnscharen und in ihm als dem Gegenstand ihrer Sehnsucht verweilen.

Legt jemand einen Magnet zwischen mehrere Nadeln, so sieht er, daß sieplötzlich alle ihre Spitzen ihm zuwenden und sich an ihn hängen. So istes auch, wenn der Herr inmitten unserer Seele seine beseligende, erfreu-ende Gegenwart fühlbar macht; es kehren dann alle unsere Fähigkeitenihre Spitzen nach dieser Richtung hin, um sich mit dieser unvergleichli-chen Güte zu vereinigen.

„O Gott,“ spricht da die Seele mit dem hl. Augustinus (Bek. 10,27),„wo irrte ich umher, Dich unendliche Schönheit zu suchen! Ich suchteDich draußen, und Du warst mitten in meinem Herzen.“

Alle Liebe Magdalenas und all ihr Denken kreiste um das Grab ihresErlösers; ihn suchte sie; und obwohl sie ihn gefunden hatte und ermit ihr sprach, schweiften ihre Gedanken doch noch umher, weil sieseine Gegenwart nicht wahrnahm. Kaum aber hat er sie bei ihrem Na-men gerufen, da rafft sie sich zusammen und umfängt seine Füße. Eineinziges Wort genügt, um sie in Sammlung zu versetzen (Joh 20,11–16).

3. Stelle dir, Theotimus, die heiligste Jungfrau in dem Augenblickvor, als sie den Sohn Gottes, ihre einzige Liebe, empfangen hatte. Alles inder Seele dieser vielgeliebten Mutter sammelte sich zweifellos um dasvielgeliebte Kind, und da dieser göttliche Freund in ihrem heiligen Schoßlag, zogen sich alle Fähigkeiten ihrer Seele in ihr Inneres zurück, so wie dieBienen in den Bienenstock, in dem sie ihren Honig aufbewahren. Und indem Maße, als sich die Größe Gottes in ihrem jungfräulichen Schoß sozu-

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sagen eingeengt und verkleinert hatte, weitete sich ihre Seele und erhobsich zum Lobpreis seiner unendlichen Güte. Und ihr Geist frohlockte(Lk 1,46.47) vor Freude in ihrem Leib (wie der hl. Johannes im Schoßseiner Mutter) bei ihrem Gott, den sie fühlte. Sie ließ ihre Gedanken undGefühle nicht nach außen schweifen, da ihr Schatz, ihre Liebe und ihreWonne inmitten ihres heiligen Schoßes wohnte.

4. Diese Seligkeit kann allen zuteil werden, die die heilige Kommunionempfangen. Durch die Gewißheit des Glaubens sind sie dann von demdurchdrungen, was ihnen weder Fleisch noch Blut, sondern der himmli-sche Vater geoffenbart hat (Mt 16,17), daß nämlich unser Herr und Hei-land durch dieses hochheilige Sakrament dem Leib und der Seele nach inihrem Leib und in ihrer Seele wirklich und wahrhaftig zugegen ist.

Wenn die Perlmutter frühmorgens von Tautropfen benetzt worden ist,schließt sie sich ab, nicht nur, um den Tau vor jeder Vermischung mitMeerwasser zu bewahren, sondern auch, weil sie mit Freude die angeneh-me Frische empfindet, die ihr dieser vom Himmel geschenkte Keimgebracht hat.

Ähnliches geschieht bei vielen Heiligen und frommen Gläubigen.Haben sie dieses göttliche Sakrament empfangen, das den Tau aller Seg-nungen des Himmels enthält, so zieht sich ihre Seele gleichsam zusam-men und alle ihre Fähigkeiten sammeln sich, nicht nur um den erhabe-nen König anzubeten, der durch eine wunderbare Gegenwart aufs neue inihrem Inneren gegenwärtig ist, sondern auch, um die unerhörte Freu-de und geistliche Erfrischung zu verkosten, die ihnen dadurch zuteil gewor-den, daß sie den göttlichen Keim der Unsterblichkeit durch den Glaubenin ihrem Inneren wahrnehmen.

Beachte wohl, Theotimus, daß letzten Endes die Liebe diese Sammlungbewirkt. Der Vielgeliebte lockt und zieht das Herz an sich; die Liebefühlt so seine Gegenwart, rafft die ganze Seele zusammen und führt sieihm zu. Und dies geschieht durch ein ganz liebevolles Hinneigen, einganz sanftes Hinwenden und eine wonnige Zukehr aller Fähigkeitendem Vielgeliebten zu. Dieser wieder zieht sie an sich durch die Kraft sei-ner Güte, mit der er die Herzen bindet und anlockt, etwa so wie Körpermit Seilen und Ketten gezogen werden.

5. Aber diese innige Sammlung unserer Seele in sich selbst wird nichtnur durch das Empfinden der göttlichen Gegenwart in unserem Herzenbewirkt, sondern jedesmal, wenn wir uns, auf welche Art immer, inseine heilige Gegenwart versetzen.

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Zuweilen geschieht es, daß all unsere inneren Kräfte sich in sichselbst zurückziehen und zusammenraffen, infolge der überaus großenEhrfurcht und leisen Furcht, die uns bei Erwägung der erhabenen Maje-stät dessen erfaßt, der uns gegenwärtig ist und uns ansieht. So kehrenwir ja auch, wenn wir noch so zerstreut sind, zu uns selbst zurück,wenn der Papst oder irgend ein hoher Fürst erscheint, und nehmen unse-re Gedanken zusammen, um die richtige Haltung und Ehrfurcht zu be-wahren.

Man sagt, daß sich die Blüten der Schwertlilie beim Anblick der Sonneschließen; sobald die Sonne aufleuchtet, falten sich die Blütenblätterzusammen und schließen sich ab; ist aber die Sonne fort, dann entfaltensie sich wieder und bleiben die ganze Nacht geöffnet.

Ein Gleiches geschieht bei der Art von Sammlung, von der wir jetztreden. Wenn wir auch gar nicht daran denken, daß Gott in besondererWeise in uns gegenwärtig ist, sondern uns die bloße Tatsache der Gegen-wart Gottes bewegt, oder das Empfinden, daß er uns ansieht, sei esvom Himmel oder von einem anderen Ort, so raffen sich doch unsereKräfte und Fähigkeiten aus Ehrfurcht vor der göttlichen Majestät zusam-men und sammeln sich vor der göttlichen Majestät, die uns die Liebe zufürchten gebietet mit einer Furcht, die Ehrfurcht und Ehrerbietung ist.

Ich weiß von einer Seele, die sich bei der Erwähnung eines Glaubens-geheimnisses oder eines Wortes, das sie nachdrücklicher als sonst an dieGegenwart Gottes erinnerte, sofort in sich selbst zurückzog, und sostark, daß sie Mühe hatte, aus sich herauszugehen, um reden und ant-worten zu können. Dies geschah sowohl bei der Beichte wie bei persön-lichen Besprechungen. Und so tief war diese Benommenheit, daß sieäußerlich wie leblos und in all ihren Sinnen wie betäubt schien, bis ihrBräutigam ihr erlaubte, aus diesem Zustand herauszutreten, was manch-mal ziemlich bald und manchmal erst nach längerer Zeit geschah.

8. KapitelDie Ruhe der in ihrem Vielgeliebten gesammelten Seele.Die Ruhe der in ihrem Vielgeliebten gesammelten Seele.Die Ruhe der in ihrem Vielgeliebten gesammelten Seele.Die Ruhe der in ihrem Vielgeliebten gesammelten Seele.Die Ruhe der in ihrem Vielgeliebten gesammelten Seele.

1. Ist die Seele so in ihrem Inneren in Gott oder vor Gott gesammelt, somerkt sie zuweilen so still und ruhig auf die Güte ihres Geliebten, daß ihrscheint, als wäre ihr Aufmerken fast kein Aufmerken, so einfach und zart

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geht es vor sich. So gibt es ja auch Flüsse, die einen dermaßen sanften,gleichmäßigen Lauf haben, daß es denen, die sie anschauen oder darauffahren, vorkommt, als sähen oder fühlten sie keinerlei Bewegung, weil mannirgends einen Wellengang noch ein Fließen wahrnimmt.

Diese liebenswerte Ruhe der Seele nennt die selige Jungfrau Theresiavon Jesus „Gebet der Ruhe“, was sich kaum von dem unterscheidet,was sie „Schlaf der Seelenkräfte“ nennt, wenn ich sie richtig verstehe(Seelenburg, 4. Wohn. 3.Kap.).

2. Liebende begnügen sich zuweilen damit, bei oder unter den Augender Person zu sein, die sie lieben, wenn sie auch nicht mit ihr, noch übersie oder ihre Vorzüge reden. Sie sind, wie es scheint, zufrieden undfroh, diese geliebte Gegenwart auszukosten; und das nicht, weil sie dar-über irgend eine Erwägung anstellen, sondern weil ihr Gemüt Ruhe undFrieden darin findet.

„Einem Myrrhenbüschlein gleicht mein Geliebter. Es ruht mir amBusen“ (Hld 1,12). „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein, Hirte ist erauf Liliengefilden, ehedem der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen“(Hld 2,16.17). „Zeige mir doch, o Freund meiner Seele, wo du ruhst, wodu lagerst am Mittag“ (Hld 1,6).

Siehst du, Theotimus, wie die heilige Schulammit sich damit zufriedengibt, zu wissen, daß ihr Geliebter bei ihr ist, ob er nun an ihrer Brustruht, in ihrem Garten ist oder sonstwo, wenn sie nur weiß, wo er ist.Deshalb heißt sie auch Schulammit, denn sie ist ganz friedlich, ganz stillin ihrer Ruhe.

3. Diese Ruhe geht manchmal in ihrer Stille so weit, daß die ganzeSeele und alle ihre Kräfte gleichsam in Schlaf versunken sind, ohneirgend eine Bewegung oder Handlung vorzunehmen. Nur der Wille istausgenommen, doch auch er tut nichts anderes, als die Freude undSeligkeit in Empfang nehmen, die ihm die Gegenwart des Vielgelieb-ten schenkt.

Noch wunderbarer aber ist, daß der Wille diese Freude und Seligkeit,die er empfängt, gar nicht merkt. Er genießt sie, ohne sie zu fühlen, denner denkt nicht an sich, sondern nur an den, dessen Gegenwart ihm dieseFreude gibt. So geschieht es manchmal, daß wir, von einem leichtenSchlummer überfallen, nur halb hören, was unsere Freunde um unsherum sprechen, oder daß wir das Liebe, das sie uns sagen oder er-weisen, kaum merklich wahrnehmen, ohne zu fühlen, daß wir fühlen.

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4. Die Seele, die in dieser süßen Ruhe dieses zarte Empfinden derGegenwart Gottes genießt, ist sich also dieses Genusses nicht bewußt; siebekundet aber trotzdem sehr deutlich, wie kostbar und liebenswert ihrdieses Glück ist, wenn man es ihr nehmen will oder wenn irgend etwas siedavon ablenkt. Denn dann bricht die arme Seele in Klagen aus, sieschreit auf oder sie weint wie ein kleines Kind, das man aufweckt, ehe esausgeschlafen hat; durch das Leid, das es beim Anblick empfindet, zeigtes deutlich, wie angenehm ihm der Schlaf war. Deswegen „beschwört dergöttliche Hirte die Töchter Jerusalems (Hld 2,7) bei den Gazellen oderHinden der Flur: sie möchten nicht wecken, nicht stören die Vielgeliebte,bis es ihr selbst gefällt,“ d. h. bis sie von selbst aufwacht.

Nein, Theotimus, die so in Gott ruhende Seele würde um die größtenSchätze der Welt diese Ruhe nicht verlassen.

5. Das war die Ruhe der hl. Magdalena, als sie zu Füßen des Meisters saßund seinem heiligen Wort lauschte (Lk 10,39). Betrachte sie, Theotimus,ich bitte dich. Sie sitzt da in tiefer Stille, sagt kein Wort, weint nicht,schluchzt nicht, seufzt nicht, rührt sich nicht, betet nicht. Marta gehtgeschäftig in dem kleinen Raum hin und her; Maria denkt nicht daran.Was tut sie denn? Sie tut nichts, sie hört zu. Was heißt das: sie hört zu?Das heißt, daß sie da ist wie ein Gefäß der Auserwählung, um Tropfen fürTropfen die köstliche Myrrhe in Empfang zu nehmen, die von den Lip-pen ihres Vielgeliebten in ihr Herz träufelt (Hld 5,13). Und der göttlicheLiebende, eifersüchtig auf den Liebesschlummer und die Ruhe seiner Viel-geliebten, schilt Marta, die sie aufwecken will: „Marta, Marta, du machst dirSorgen um viele Dinge. Eines ist notwendig. Maria hat den besten Teilerwählt, der ihr nicht wird genommen werden“ (Lk 10,40.42). Aber waswar denn der Teil oder Anteil Mariens? In Frieden, in Ruhe bei ihremgütigen Jesus zu verweilen.

6. Die Maler stellen meistens den Lieblingsjünger Johannes beimletzten Abendmahl an der Brust seines Meisters nicht nur ruhend, sondernschlafend dar. Er saß ja nach der Art der Orientalen so, daß sein Haupt ander Brust seines geliebten Meisters lehnte. Es ist nun ganz unwahrschein-lich, daß sein Schlafen ein körperliches war – aber ich zweifle nicht, daßer, so nahe dem Herzen der ewigen Liebe, in einen tiefen, mystischen,glückseligen Schlaf sank, wie ein Kind der Liebe, das an der Brust seinerMutter trinkend schläft und schlafend trinkt.

Gott, welche Seligkeit für diesen Benjamin, dieses Kind der Freudedes Erlösers, so in den Armen seines Vaters zu schlafen, der ihn als seinen

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„Ben-Oni“, als Kind des Schmerzes (Gen 35,18) am Tag darauf dem liebe-vollen Herzen seiner Mutter empfehlen wird! Nichts ist für ein kleinesKind, ob es nun wacht oder schläft, wünschenswerter, als die Brust seinesVaters und der Schoß seiner Mutter.

7. Wenn du daher in diesem einfachen, reinen, kindlichen Vertrauenbei unserem Herrn bist, so verweile da, mein lieber Theotimus, und rühredich keineswegs, um fühlbare Akte des Verstandes oder des Willens zuerwecken. Denn diese einfache Liebe des Vertrauens und dieses liebe-volle Schlafen deines Geistes in den Armen deines Erlösers schließt über-ragenderweise alles in sich, wonach immer dich gelüsten möchte. Es istbesser, an dieser heiligen Brust zu schlafen, als irgendwo anders, wo im-mer es auch sei, zu wachen.

9. KapitelWie diese heilige Ruhe vor sich geht.Wie diese heilige Ruhe vor sich geht.Wie diese heilige Ruhe vor sich geht.Wie diese heilige Ruhe vor sich geht.Wie diese heilige Ruhe vor sich geht.

1. Hast du noch nie bemerkt, Theotimus, wie heftig kleine Kinder sichzuweilen an die Brust ihrer Mutter schmiegen, wenn sie hungrig sind? Dasieht man sie ihre Mutter drücken und pressen und die Milch so gierigtrinken, daß sie ihrer Mutter dabei sogar wehtun. Hat aber einmal die fri-sche Milch ihren Heißhunger etwas gestillt und hat der wohlige Duft, dervon der Milch zu ihrem Gehirn aufsteigt, sie einzuschläfern begonnen, sowirst du sehen, Theotimus, wie sie ganz lieb ihre Äuglein schließen undallmählich zu schlummern beginnen, ohne jedoch deswegen die Mutterbrustzu lassen. Ganz langsam, kaum wahrnehmbar, bewegen sie noch ihre Lip-pen und trinken weiter, ohne es recht zu merken. Sie achten zwar nichtdarauf, aber sie tun es trotzdem, nicht ohne Lustgefühle dabei zu haben.Denn wenn man ihnen die Brust entzieht, ehe sie in tiefen Schlaf gesun-ken sind, so wachen sie auf und weinen bitterlich. Der Schmerz, den ihnender Entzug verursacht, zeigt, wieviel Freude sie am Besitz empfunden ha-ben.

So ergeht es auch der Seele, die in Ruhe und Schweigen vor Gott ist;denn sie nimmt fast unbewußt die Wonne dieser Gegenwart in sich auf,ohne zu denken, ohne zu handeln, ohne irgendetwas mit irgendeiner ih-rer Fähigkeiten zu tun, außer allein mit der Spitze ihres Willens. Diesebewegt sie sanft und fast unwahrnehmbar, ähnlich wie das Kind seinenMund; und dadurch dringen Freude und Befriedigung am Genuß dergöttlichen Gegenwart in ihre Seele ein, ohne daß sie es fühlt.

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Stört man dieses arme Püppchen und will man ihm sein Spielzeugnehmen, da es zu schlafen scheint, so zeigt es sich, daß es wohl für alleübrigen Dinge schläft, aber nicht für dieses; denn es empfindet dieTrennung als Übel und ist darüber unwillig; so zeigt es, welche Freudees am Besitz hatte, auch wenn es nicht daran dachte. Da die selige MutterTheresia (Weg zur Volk. 32) diesen Vergleich für passend gefunden hat,wollte ich ihn auch hier anführen.

2. Aber sage mir, Theotimus, warum sollte sich die in ihrem Gottgesammelte Seele beunruhigen? Hat sie nicht allen Grund, ganz still zuwerden und in Ruhe zu verbleiben? Was sollte sie auch suchen? Sie hatden gefunden, den sie suchte. Was bleibt ihr übrig, als zu sagen: „Ichhabe ihn gefunden, den meine Seele liebt, ich halte ihn fest und werdeihn nicht lassen“ (Hld 3,4). Sie braucht nicht mehr hin und her zu den-ken und zu erwägen, denn sie sieht ihren Bräutigam in so beglücken-der Schau gegenwärtig, daß jede Erwägung unnütz und überflüssig wäre.Sieht sie ihn auch nicht mit ihrem Verstand, so kümmert sie das nicht. Sieist es zufrieden, ihn durch die Freude und Seligkeit, die der Wille von ihmempfängt, ganz nahe bei sich zu fühlen.

Als die Mutter Gottes, unsere liebe Frau und Herrin, empfangenhatte, sah sie ihr göttliches Kind auch nicht, aber welche Freude emp-fand sie, wahrhaftiger Gott, da sie es in ihrem heiligen Schoß fühlte! Undhat die hl. Elisabet am Tag der hochheiligen Heimsuchung nicht aufwunderbare Weise die Früchte der göttlichen Gegenwart des Erlösers mitFreude genossen, ohne daß sie ihn sah?

3. Die Seele bedarf in dieser Ruhe nicht des Gedächtnisses; ihr Viel-geliebter ist ihr ja gegenwärtig. Sie bedarf auch nicht der Einbildungs-kraft. Wozu sollte sie sich auch den in einem äußeren oder innerenBild vorstellen, dessen Gegenwart sie genießt? So ist es schließlich derWille allein, der die beglückende Gegenwart Gottes, wie das Kind diesüße Milch, ganz still an sich zieht und in sich aufnimmt, während allesübrige in der Seele durch das holde Glück, das es genießt, mit ihr in Ruheverbleibt.

Man bedient sich des Honigweins nicht nur, um die Bienen in dieStöcke zurückzulocken, sondern auch, um sie zu beruhigen. Denn wennunter ihnen ein Aufruhr oder eine Meuterei ausbricht, wenn sie sichgegenseitig umbringen und verletzen, kann der Imker kein besseresMittel anwenden, als Honigwein mitten unter das kleine, wildgewordeneVolk zu spritzen. Sobald die Bienen den süßen, lieblichen Geruch spüren,

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beruhigen sie sich, und indem sie sich dem Genuß dieser Süße hingeben,bleiben sie weiterhin friedlich und still.

O ewiger Gott, wenn Du durch Deine süße Gegenwart unser Herzmit Wohlgerüchen erfüllst, die erquickender sind als der köstlichste Wein(Hld 4,10) und als Honig, dann treten alle Kräfte unserer Seele in einewohltuende Ruhe und in eine so vollkommene Stille ein, daß keinEmpfinden mehr vorhanden ist als das des Willens. Und der Wille,gleichsam ein geistiger Geruchssinn, bleibt damit beschäftigt, die unver-gleichliche Seligkeit der Gegenwart seines Gottes zu empfinden, ohne sich des-sen bewußt zu sein.

10. KapitelDie verschiedenen Grade dieser Ruhe. Wie man sie bewahren soll.Die verschiedenen Grade dieser Ruhe. Wie man sie bewahren soll.Die verschiedenen Grade dieser Ruhe. Wie man sie bewahren soll.Die verschiedenen Grade dieser Ruhe. Wie man sie bewahren soll.Die verschiedenen Grade dieser Ruhe. Wie man sie bewahren soll.

1. Es gibt Gemüter, die tätig, fruchtbar und überreich an Erwägungensind; es gibt andere, weichere, die viel über sich nachgrübeln, sehr daraufaus sind, zu fühlen, was sie tun, alles sehen und zerpflücken wollen, wasin ihnen vorgeht, immer wieder auf sich selbst schauen, um zu sehen, obsie vorwärts kommen. Andere wieder geben sich nicht damit zufrieden,zufrieden zu sein, wenn sie ihre Zufriedenheit nicht fühlen, sehen undverkosten. Sie gleichen Menschen, die durch ihre Kleidung gut gegen dieKälte geschützt sind, aber doch nicht glauben, daß sie es sind, wenn sienicht wissen, wieviel Kleidungsstücke sie anhaben; oder auch solchen, de-ren Schränke voll Geld sind, die sich doch nicht für reich halten, wenn sienicht wissen, wieviel Geld sie besitzen.

Alle diese Menschen sind gewöhnlich, wenn sie sich dem innerlichenGebet hingeben, Störungen unterworfen. Denn wenn Gott ihnen die hei-lige Ruhe seiner Gegenwart schenkt, so verlassen sie sie freiwillig, um zusehen, wie sie sich darin verhalten, und um zu prüfen, ob sie wohl Freudedabei empfinden. Sie grübeln unruhig darüber nach, um zu ergründen,ob ihre Stille wirklich still und ihre Ruhe wirklich ruhig ist. Anstattihren Willen in aller Ruhe damit zu beschäftigen, die Wonnen dergöttlichen Gegenwart zu empfinden, gebrauchen sie ihren Verstand, umüber die Empfindungen nachzudenken, die sie haben. Sie handeln wie eineBraut, die sich damit beschäftigt, den Ring zu betrachten, den sie bei derTrauung erhielt, ohne auf den Bräutigam zu schauen, der ihn ihr gegeben.

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So ist es ein großer Unterschied, Theotimus, ob wir uns mit Gott beschäf-tigen, der uns Freude verleiht, oder ob wir uns mit der Freude befassen, dieGott uns gibt.

Die Seele also, der Gott im Gebet die heilige, liebevolle Ruhe schenkt,soll sich, so sehr sie nur kann, enthalten, sich selbst und ihre Ruhe zubetrachten; denn um sie zu bewahren, darf man sie nicht neugieriganschauen. Wer sie zu sehr liebt, der verliert sie. Die rechte Weise,sie richtig zu lieben, ist, nicht mit ihr herumzutun. Wenn ein Kind, umzu schauen, wo es seine Füßchen hat, sein Köpfchen von der mütterlichenBrust wegwendet, so kommt es schnell wieder zurück, weil es seine Mut-ter ganz lieb hat. So sollen auch wir, wenn wir merken, daß wir zerstreutsind, weil wir neugierig wissen wollen, was wir im Gebet tun, unser Herzsofort wieder zur süßen, friedlichen Aufmerksamkeit auf Gottes Gegen-wart zurückrufen, von der wir abgelenkt wurden.

2. Doch dürfen wir nicht glauben, daß wir Gefahr laufen, diese heiligeRuhe durch Handlungen des Körpers oder des Geistes zu verlieren, essei denn, wir tun sie aus Leichtsinn oder Zerfahrenheit. Denn die seligeMutter Theresia nennt es (Weg zur Vollk. 31) einen Aberglauben, aufdiese Ruhe so eifersüchtig zu sein, daß man nicht husten, sich nicht räus-pern, nicht atmen möchte, aus Angst, sie zu verlieren. Gott, der diesenFrieden schenkt, nimmt ihn uns nicht wegen solch notwendiger Verrich-tungen, noch auch wegen Zerstreuungen und Abschweifungen des Geis-tes, wenn dies alles unfreiwillig ist. Und ist der Wille einmal stark vonder göttlichen Gegenwart angelockt, so hört er nicht auf, deren Wonnenzu verkosten, auch wenn Verstand und Gedächtnis durchgegangen undfremden, unnützen Gedanken nachgelaufen sind.

3. Es ist wohl wahr, daß die Ruhe der Seele dann nicht so groß ist,wie wenn Verstand und Gedächtnis mit dem Willen zusammenwirken;doch hört sie nicht auf, eine wahre geistige Ruhe zu sein, da sie imWillen herrscht, der Herr über alle übrigen Fähigkeiten ist.

Wir haben eine mit Gott aufs innigste verbundene, ihm ganz hingege-bene Seele gekannt, deren Verstand und Gedächtnis aber dennoch so freivon jeder inneren Beschäftigung waren, daß sie ganz deutlich hörte, was umsie herum gesprochen wurde, und sich dessen auch zur Gänze erinnerte,obwohl es ihr unmöglich war, darauf zu antworten und sich von Gottloszumachen, mit dem sie durch die Hingabe ihres Willens ganz einswar. So sehr, sage ich, war sie eins mit ihm, daß sie von dieser ihr unge-mein lieben Beschäftigung nicht abgezogen werden konnte, ohne einen

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heftigen Schmerz zu empfinden, der sie sogar auf dem Höhepunkt ihrerFreude und Ruhe Seufzer ausstoßen ließ.

So hören wir ja auch kleine Kinder klagen und wimmern, wenn sie nachder Milch verlangen, und sogar noch, wenn sie zu trinken beginnen. Soschrie auch Jakob laut auf und weinte vor übergroßer Freude und Liebe,als er die schöne, keusche Rahel küßte (Gen 29,11).

Die Seele, von der ich spreche, hatte den Willen allein gebunden,während Verstand, Gedächtnis, Gehör und Einbildungskraft frei waren.Sie glich so dem kleinen Kind, das, während es trinkt, sehen, hörenund selbst seine Arme bewegen kann, ohne deswegen die geliebteBrust zu lassen.

3. Der Friede der Seele wäre aber noch weit tiefer und schöner, würdeman um sie herum keinen Lärm machen und hätte sie keine Veran-lassung für Regungen des Herzens oder des Leibes. Sie möchte sichja so gerne ganz der Seligkeit dieser göttlichen Gegenwart hingeben. Dasie es aber nicht immer verhindern kann, in ihren anderen Fähigkeitenabgelenkt zu werden, bewahrt sie die Ruhe wenigstens im Willen, jenerFähigkeit, durch die sie den Genuß des Guten empfängt.

Und es ist wohl zu beachten, daß der durch die Freude an Gottes Ge-genwart in der Ruhe festgehaltene Wille sich nicht bewegt, um die ande-ren Fähigkeiten, die abgeirrt sind, wieder zurückzuführen. Wollte er dastun, so würde er durch die Entfernung vom Vielgeliebten seine Ruheverlieren und trotzdem vergebens hin- und herlaufen, die flüchtigenFähigkeiten einzufangen. Diese können doch nie so erfolgreich zu ihrerPflicht zurückgerufen werden, wie durch das Beharren des Willens in derheiligen Ruhe. Nach und nach werden ja dann die Fähigkeiten der Seeledurch die Freude angezogen, die der Wille empfängt. Er gibt ihnendavon ein gewisses Mitempfinden, das gleich einem Wohlgeruch sie an-zieht, zu ihm zu kommen, damit sie an der Seligkeit teilnehmen, derener sich erfreut.

11 . KapitelVVVVVerschiedene Grade der heiligen Ruhe. Selbstverleugnung,erschiedene Grade der heiligen Ruhe. Selbstverleugnung,erschiedene Grade der heiligen Ruhe. Selbstverleugnung,erschiedene Grade der heiligen Ruhe. Selbstverleugnung,erschiedene Grade der heiligen Ruhe. Selbstverleugnung,

die man zuweilen dabei übt.die man zuweilen dabei übt.die man zuweilen dabei übt.die man zuweilen dabei übt.die man zuweilen dabei übt.

1. Nach all dem, was wir gesagt haben, gibt es also verschiedene Gradeder heiligen Ruhe. Denn manchmal breitet sie sich über alle Kräfte derSeele aus, die mit dem Willen vereint und verbunden sind. Manchmalherrscht sie nur im Willen, in welchem sie zuweilen fühlbar, zuweilen

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unwahrnehmbar ist. Zuweilen nämlich fühlt die Seele an einer gewisseninnerlichen Freude, daß Gott ihr gegenwärtig ist, und das macht sie über-aus glücklich. So erging es der hl. Elisabet, als Unsere Liebe Frau siebesuchte. Andere Male brennt das Herz vor Freude, in der GegenwartGottes zu sein, ohne diese recht zu merken, wie bei den Jüngern vonEmmaus; sie wurden sich der großen Freude, die sie beim Gehen mitdem Herrn empfanden, erst bewußt, als sie ankamen und ihn beim gött-lichen Brotbrechen erkannten (Lk 24,31–35).

Manchmal wird die Seele nicht nur der Gegenwart Gottes gewahr,sondern sie hört ihn auch reden durch eine innere Klarheit und Über-zeugung, die keine Worte braucht. Zuweilen hört sie ihn reden und sprichtauch ihrerseits mit ihm, aber so heimlich, so leise und still, daß sie da-durch den heiligen Frieden und die heilige Ruhe nicht verliert. Ohne zuerwachen, wacht sie mit ihm (Hld 5,2), d. h. sie wacht und spricht mitihrem Vielgeliebten von Herz zu Herz in einer so süßen Stille und einerso lieblichen Ruhe, als ob sie sanft schlummerte. Andere Male hört sie denBräutigam sprechen, vermag aber nicht mit ihm zu sprechen; die Freude,ihn zu hören, oder die Ehrfurcht, die sie ihm entgegenbringt, hüllt siein Schweigen; oder sie ist im Zustand der Trockenheit und seelisch sogeschwächt, daß sie nur die Kraft hat, zu hören, aber nicht zu reden.Ähnliches geschieht ja auch oft beim Einschlafen, oder wenn wir durcheine Krankheit sehr geschwächt sind.

Endlich kommt es auch vor, daß die Seele ihren Vielgeliebten wederhört, noch spricht, noch irgendein Zeichen seiner Gegenwart vernimmt,sondern einfach nur weiß, daß sie in der Gegenwart ihres Gottes ist,dem es gefällt, daß sie da ist. Stelle dir vor, Theotimus, daß der glor-reiche Apostel, der hl. Johannes, beim letzten Abendmahl an der Brustseines geliebten Herrn in körperlichen Schlaf gesunken und nach demWollen seines Herrn eingeschlafen sei. Sicherlich wäre er doch in diesemFall in der Gegenwart seines Meisters gewesen, ohne es in irgendeinerWeise zu fühlen.

2. Und beachte, ich bitte dich, daß es mehr Sorgfalt braucht, sich indie Gegenwart Gottes zu begeben, als in ihr zu verweilen, wennman sich bereits in sie begeben hat. Denn um mich in die GegenwartGottes zu begeben, muß ich meine Gedanken auf diese Gegenwart lenken,auf sie aufmerksam sein, so wie ich es in der Anleitung (2.Teil, Kap.2)gesagt habe. Habe ich mich aber einmal in diese Gegenwart versetzt, sokann ich mich durch verschiedene andere Mittel in ihr halten, während

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ich entweder mit dem Verstand oder dem Willen etwas in Gott oderfür Gott tue. Ich kann z. B. auf ihn schauen oder auf etwas anderes ausLiebe zu ihm; ich kann ihm zuhören oder jenen, die von ihm reden; oderich kann zu ihm oder zu jemand aus Liebe zu ihm sprechen oder irgendeinWerk zu seiner Ehre und in seinem Dienst verrichten.

Ja, man bleibt in der Gegenwart Gottes nicht nur, indem man ihmzuhört, ihn anschaut oder mit ihm spricht, sondern auch, indem manwartet, ob es ihm gefallen wird, uns anzuschauen, mit uns zu redenoder uns mit ihm reden zu lassen. Oder auch, indem man nichts vonalledem tut, sondern einfach dort bleibt, wo es ihm gefällt, daß wirseien, und weil es ihm gefällt, daß wir dort seien. Wenn es Gott gefällt,dieser einfachen Art, vor ihm zu bleiben, ein auch nur schwaches Fühlenhinzufügen, daß wir ganz sein und er ganz unser ist, o Gott, welch wün-schenswerte, kostbare Gnade für uns!

3. Um dies, mein lieber Theotimus, besser verstehen zu können, erlau-ben wir uns eine phantasievolle Annahme. Wir stellen uns also vor, eineStatue, die ein Bildhauer in der Galerie eines großen Fürsten in einer Ni-sche aufgestellt hat, sei mit Verstand begabt, man könne mit ihr redenund sie fragen: „Sag mir, schöne Statue, warum stehst du in dieserNische?“ Sie würde wohl antworten: „Weil mein Herr mich hierhergestellt hat.“ Und würde man ihr erwidern: „Aber warum bleibst du hier,ohne etwas zu tun?“, so würde sie sagen: „Weil mein Herr mich nichthierhergestellt hat, damit ich etwas tue, sondern nur, damit ich hier unbe-weglich stehe.“

Wollte man nun in sie dringen und zu ihr sagen: „Aber, arme Statue,was nützt es dir, so hier zu sein?“, würde sie wohl antworten: „Gott,ich bin nicht da, um etwas davon zu haben oder weil es mir nützt, son-dern um den Willen meines Herrn und Bildhauers zu erfüllen undihm zu nützen; das genügt mir.“ Führe man nun fort, weiter zu fragen:„Aber, sage mir doch, ich bitte dich, Statue, du siehst doch deinenHerrn nicht, wie kannst du eine Befriedigung darin finden, ihn zufrieden-zustellen?“, so würde sie bekennen: „Gewiß, ich sehe ihn nicht, denn ichhabe nicht Augen, um zu sehen, so wie ich nicht Füße habe, um zugehen; aber ich bin überglücklich zu wissen, daß mein geliebter Herrmich hier sieht und seine Freude daran findet, mich hier zu sehen.“

Wollte man aber die Unterredung mit der Statue noch weiter fortset-zen und zu ihr sagen: „Aber möchtest du dich nicht gerne bewegen,wünschst du dich nicht näher beim Meister, der dich gemacht hat, um

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ihm besser dienen zu können?“, so würde sie es zweifellos verneinen undbekennen, daß sie nichts tun wolle, außer der Meister wolle es. Undwürde man ihr schließlich sagen: „Also du wünschst dir wirklich nichtsanderes, als eine unbewegliche Statue in dieser gewölbten Nische zu sein?“,so würde sicher das letzte Wort der weisen Statue sein: „Nein, sicherlichnicht; nein, ich will nichts anderes als eine Statue sein und immer indieser Nische bleiben, solange mein Bildner es will, und bin es zufrieden,hier zu sein und so zu sein, weil es die Befriedigung dessen ist, dem ichgehöre und durch den ich das bin, was ich bin.“

4. Wahrhaftiger Gott, welch gute Art, sich in der Gegenwart Gottes zuhalten, ist es, so zu sein, wie es Gott will und zuläßt, und so immer und ewigsein zu wollen. Denn dann sind wir, denke ich, in allen Lagen, ja selbstwenn wir tief schlafen, noch tiefer in seiner hochheiligen Gegenwart. Jasicherlich, Theotimus, denn wenn wir ihn lieben, schlafen wir nicht nurvor seinen Augen ein, sondern weil er es will, und nicht nur, weil er eswill, sondern so, wie er es will. Es hat den Anschein, als ob er selbst eswäre, unser Schöpfer und himmlischer Bildner, der uns da auf unserLager legt, wie man Statuen in ihre Nische stellt, damit wir auf unserenLagern ruhen wie Vögel in ihren Nestern.

Wachen wir dann auf, so finden wir, daß Gott uns immer gegenwärtigwar und daß auch wir, wenn wir es richtig bedenken, uns nicht vonihm entfernt und getrennt haben. Wir waren folglich da, bei ihm und inseinem heiligen Willen, wenn auch ohne ihn zu sehen und ohne unsdessen bewußt zu sein. Wir könnten daher mit Jakob sagen: „Wahrhaftigich schlief bei meinem Gott und in den Armen seiner göttlichen Gegen-wart und Vorsehung, und ich wußte es nicht“ (Gen 28,16).

Diese Ruhe, in welcher der Wille nur durch eine ganz einfache Zustim-mung zum göttlichen Wohlgefallen tätig ist und im Gebet nichts an-deres vorhat, als unter dem Blick Gottes zu sein, so wie es ihm gefällt,ist eine höchst wertvolle Ruhe. Sie ist ja ganz frei von jeder Art Eigennutz,denn die seelischen Fähigkeiten finden darin keine Befriedigung, auchnicht der Wille, außer in seiner höchsten Spitze. In dieser ist er erfreut,keine andere Freude zu haben als die, aus Liebe zu Gott, den er erfreuenwill, ohne Freude zu sein und in seinem Wohlgefallen zu ruhen.

Denn es ist das Höchste an Liebesentrückung, nicht die eigene Freudezu wollen, sondern daß Gott sich erfreue, oder auch seine Freude nichtam eigenem Willen zu haben, sondern am Willen Gottes.

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12. Kapitel

Das Hinströmen der Seele in Gott oder dasDas Hinströmen der Seele in Gott oder dasDas Hinströmen der Seele in Gott oder dasDas Hinströmen der Seele in Gott oder dasDas Hinströmen der Seele in Gott oder dasZerZerZerZerZerfließen der Seele in Gott.fließen der Seele in Gott.fließen der Seele in Gott.fließen der Seele in Gott.fließen der Seele in Gott.

1. Flüssige Dinge nehmen leicht Formen und Umrisse an, die manihnen geben will, weil sie keine Festigkeit und Dichte haben, die sie vonsich aus formt oder begrenzt. Gieße Flüssigkeit in ein Gefäß und du wirstsehen, daß sie die Umrisse des Gefäßes annimmt. Je nachdem, ob diesesrund oder viereckig ist, wird es auch die Flüssigkeit sein, da sie keineAbgrenzung noch Gestalt hat, außer der des Gefäßes, das sie enthält.

Von Natur aus ist die Seele nicht von dieser Art, denn sie hat ihreeigene Gestalt und Grenzen. Ihre Gestalt hat sie durch ihre Gewohnhei-ten und Neigungen und ihre Grenzen durch ihren eigenen Willen. Hältsie fest an ihren Neigungen und an ihrem Eigenwillen, so sagen wir, daßsie hart ist, d. h. daß sie eigensinnig und hartnäckig ist. „Ich werde,“spricht Gott, „dein Herz von Stein von dir nehmen,“ d. h. ich werde deineHartnäckigkeit von dir nehmen (Ez 36,26).

2. Um einem Stein, Eisen oder Holz eine andere Gestalt zu geben, mußman Meißel, Hammer oder Feuer zu Hilfe nehmen. Man nennt ein Herzeisern, hölzern oder steinern, wenn es die göttlichen Eindrücke nicht leichtaufnimmt, sondern in seinem eigenen Wollen beharrt und die Neigun-gen beibehält, die unserer verdorbenen Natur anhaften. Im Gegensatzdazu wird man von einem sanften, empfänglichen, lenkbaren Herzen sa-gen, es sei weich und erweichbar. „Mein Herr,“ sagt David (Ps 22,15) inder Person unseres Herrn am Kreuz, „mein Herz ist geworden wieWachs, zerflossen in meinem Innern.“

Kleopatra, diese schamlose ägyptische Königin, wollte alle Exzesseund Ausschweifungen noch übertreffen, die sich Marcus Antonius beiseinen Gastmahlen geleistet hatte; sie ließ sich am Ende einer Festtafel,die sie veranstaltet hatte, einen Pokal mit feinem Essig bringen, in wel-chen sie eine der Perlen warf, die sie an ihren Ohren trug, die man auf250.000 Taler geschätzt hatte. Nachdem die Perle sich aufgelöst hatte,zerschmolzen und flüssig geworden war, trank sie die Flüssigkeit undhätte auch die zweite Perle, die sie am anderen Ohr trug, in der Kloakeihres schmutzigen Magens begraben, hätte sie Lucius Plancus nicht dar-an gehindert (Plinius, Hist. nat. 9,35).

Das Herz unseres Erlösers, diese wahre orientalische Perle, ganz einzigin ihrer Art und von unschätzbarem Wert, die am Tag seines Leidens

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mitten in ein Meer von unvergleichlichen Bitterkeiten geworfen wurde,löste sich auf, zerging und zerfloß im Schmerz unter der Gewalt sovieler Todesängste. Aber die Liebe, die stärker ist als der Tod (Hld 8,6),macht die Herzen weich und zart und schmilzt sie viel rascher als alleanderen Leidenschaften.

3. „Meine Seele,“ sagt die heilige Braut (Hld 5,6), „ist zerschmolzen, alsmein Vielgeliebter mit mir sprach.“ Was will das heißen, daß sie zer-schmolzen ist? Was anderes, als daß sie nicht mehr in sich blieb, sondernzu ihrem göttlichen Liebenden hin verströmte? Gott gebot dem Mose, demFelsen zu befehlen, daß Wasser aus ihm fließe (Num 20,8). Es ist daherkein Wunder, wenn er selbst die Seele seiner liebenden Braut zum Verströ-men brachte, als er in seiner Liebe zu ihr sprach.

Der Balsam ist von Natur aus so dickflüssig, daß er weder fließtnoch ausläuft; und je länger er aufbewahrt wird, desto mehr verdichtet ersich. Schließlich wird er hart, rot und durchsichtig. Wärme aber löst ihnwieder auf und macht ihn flüssig (Plin.H.n. 12,25).

So hat die Liebe den Bräutigam förmlich zum Zerfließen gebracht;deshalb nennt ihn die Braut „ein ausgegossenes Öl“ (Hld 1,2). Gleichdarauf versichert sie uns, daß sie selbst vor Liebe zerschmolzen ist. „Mei-ne Seele,“ sagt sie, „ist zerschmolzen, als mein Geliebter zu mir sprach“(Hld 1,2).

Die Liebe ihres Bräutigams war in ihrem Herzen wie ein neuer, starkgärender Wein, der nicht im Faß zurückgehalten werden kann, sondernnach allen Seiten überfließt. Und weil die Seele ihrer Liebe folgt, fügtdie Braut den Worten, die sie gesprochen hat, „Deine Brüste sind besserals Wein, sie strömen kostbare Wohlgerüche aus“, noch diese hinzu:„Dein Name ist wie ausgegossenes Öl“ (Hld 1,1.2). Und wie der Bräuti-gam seine Liebe und seine Seele in das Herz der Braut ergossen hatte,so ergießt auch die Braut ihre Seele in das Herz des Bräutigams.

Eine Honigwabe, die von heißen Sonnenstrahlen getroffen wird, gehtgleichsam aus sich heraus und gibt ihre Form auf, um sich dorthin zu er-gießen, woher sie von den Strahlen berührt wird. So ergoß sichdie Seele dieser Liebenden dorthin, woher die Stimme ihres Vielgelieb-ten ertönte; sie ging aus sich selbst und aus den Schranken ihres natür-lichen Seins heraus, um demjenigen zu folgen, der zu ihr sprach.

4. Wie aber geht dieses heilige Überströmen der Seele in ihren Viel-geliebten vor sich?

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Ein äußerst starkes Wohlgefallen, das der Liebende an dem findet, waser liebt, läßt die Seele in eine gewisse geistige Ohnmacht fallen, so daßsie nicht mehr in sich selbst zu bleiben vermag. Sie läßt sich dann wieein flüssiger Balsam, der keine Festigkeit und Dichte mehr besitzt, in daseingehen und überfließen, das sie liebt. Sie wirft sich nicht wie in einemSchwung hinein, sie drängt sich nicht heran, um sich mit Gott zu vereini-gen, sondern verströmt still und sachte, wie flüssig geworden, in die Gott-heit, die sie liebt.

Wenn die vom Südwind zusammengetriebenen Wolken sich auflösenund in Regen verwandeln, können sie nicht zusammengeballt bleiben,sondern fallen herab und ergießen sich auf die Erde, sie durchtränken sie,vermengen sich mit ihr und werden ganz eins mit ihr. So tritt auch die Seele,die wohl liebte, doch noch in sich selbst verblieb, jetzt durch dieses geheilig-te Verströmen und heilige Zerfließen aus sich selbst heraus und verläßtsich selber, nicht nur, um sich mit ihrem Vielgeliebten zu vereinigen,sondern um ganz mit ihm eins zu werden und sich von ihm förmlichdurchtränken zu lassen.

5. Du siehst also, Theotimus, daß das Einströmen einer Seele in ihrenGott nichts anderes ist als eine wahre Entrückung, durch die sie ausden Grenzen ihres natürlichen Verhaltens ganz herausgetreten, ganz mitGott verschmolzen, in ihn ganz versunken und aufgegangen ist. Daherfinden auch jene, die zu diesem heiligen Übermaß an göttlicher Liebe ge-langen, nichts auf Erden, das sie befriedigt, wenn sie wieder zu sich ge-kommen sind. Sie leben in einer äußersten Selbstvernichtung, bleiben bei-nahe ohne Empfinden für alles, was die Sinne betrifft, und haben ständigden Grundsatz der seligen Jungfrau Theresia von Jesus im Herzen: „Al-les, was nicht Gott ist, ist mir nichts.“

Derart war wohl die leidenschaftliche Liebe jenes großen Freundes desgöttlichen Vielgeliebten, der sagte: „Ich lebe, aber nicht ich lebe, sondernChristus lebt in mir“ (Gal 2,20), und „Unser Leben ist mit Jesus Christusin Gott verborgen“ (Kol 3,3).

Sage mir doch, ich bitte dich, Theotimus, würde man einen Tropfengewöhnlichen Wassers in einen Ozean wohlriechender Gewässer fallenlassen und dieser Tropfen könnte leben, sprechen und seinen Zustand be-schreiben, würde er nicht voll Freude ausrufen: „O ihr Sterblichen, ichlebe wirklich, aber ich lebe nicht selbst, sondern dieser Ozean lebt in mirund mein Leben ist in diesem Abgrund verborgen.“

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Die in Gott eingeströmte Seele stirbt nicht. Wie könnte sie auch sterben,wenn sie ins Leben versunken ist? Aber sie lebt, ohne in sich selbst zuleben. Denn so wie die Sterne, ohne ihr Licht zu verlieren, nicht leuchten,wenn die Sonne scheint, sondern die Sonne in ihnen leuchtet und sie imLicht der Sonne verborgen sind, so lebt auch die Seele nicht, wenn sie inGott eingegangen ist; sie verliert aber ihr Leben nicht, sondern Gottlebt in ihr.

Ich glaube, das waren die Empfindungen der großen Heiligen PhilippNeri und Franz Xaver, als sie im Übermaß himmlischer Freuden Gottbaten, sich etwas von ihnen zurückzuziehen. Gott wollte ja, daß ihr Le-ben noch einigermaßen vor der Welt in Erscheinung trete; das wäre abernicht möglich gewesen, wäre es ganz in Gott verborgen und versunkengeblieben.

13. KapitelDie Liebeswunde.Die Liebeswunde.Die Liebeswunde.Die Liebeswunde.Die Liebeswunde.

1. All diese Worte, die wir für die Liebe gebrauchen, beruhen auf derÄhnlichkeit, die zwischen den Affekten des Herzens und den sinnen-haften Leidenschaften bestehen.

Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Haß und die anderen seelischen Affektefinden keinen Eingang in das Herz, wenn nicht die Liebe sie nach sichhineinzieht. Wir hassen das Böse nur, weil es dem Guten entgegengesetztist, das wir lieben. Wir fürchten ein künftiges Übel, weil es uns desGuten berauben wird, das wir lieben. Mag ein Übel noch so groß sein,wir hassen es nur in dem Maße, als wir das Gute lieben, zu dem es imGegensatz steht. Wer dem Staat nicht viel Liebe entgegenbringt, ist nichtsehr bekümmert, wenn dieser zugrunde geht. Wer Gott nicht viel liebt,der haßt auch kaum die Sünde.

Die Liebe ist die erste Leidenschaft, sie ist Grund und Ursprung allerLeidenschaften.

2. Darum kehrt sie zuerst in das Herz ein, und weil sie bis zuminnersten Grund des Willens, wo sie ihren Sitz hat, vordringt undvorstößt, sagt man, sie verwunde das Herz. Sie hat eine scharfe Spitze,sagt der Apostel Frankreichs (Coel. Hier. 7), und dringt bis ins Tiefstedes Geistes ein. Auch die anderen Affekte finden Eingang, aber durch dieVermittlung der Liebe; denn dadurch, daß sie das Herz durchbohrt, bahntsie ihnen den Weg. Nur die Spitze des Pfeiles verwundet, das übrigevergrößert nur die Wunde und den Schmerz.

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Wenn die Liebe verwundet, bereitet sie folglich auch Schmerz. Der Gra-natapfel ist nach einem Wort des hl. Gregor (zu 1 Sam 16, 12 und zu Ez2,4) ein treffendes Bild der hochheiligen Liebe, sowohl in seinem leuchten-den Rot, in der Fülle der sich in Reih und Glied zusammenfügenden unddrängenden Kerne, wie in seiner schönen Krone. Das leuchtende Rot weistauf die Gluten der Gottesliebe hin, die Fülle der Kerne auf die Fülle derTugenden, die die Liebe enthält, die Krone auf die Krone der ewigenBelohnungen, die die Liebe allein erhält und trägt. Der Saft des Granat-apfels aber, der, wie wir wissen, den Gesunden wie den Kranken so köst-lich mundet, ist ein solches Gemisch von Herbheit und Süße, daß mannicht unterscheiden kann, ob die süße Herbheit oder die herbe Süße denGeschmack so anspricht.

Gewiß, Theotimus, ist auch die Liebe süß und herb zugleich; solangewir in dieser Welt sind, ist ihre Süße nie vollkommen süß, weil sienie vollkommen und nie ganz gestillt und befriedigt ist. Trotzdem ist sieungemein wohltuend. Ihre Herbheit erhöht noch die Lieblichkeit ihrer Süße,wie auch ihre Süße den Reiz ihrer Herbheit verstärkt.

Wie ist das möglich? Da ist dieser oder jener junge Mann in eine Ge-sellschaft gekommen. Frisch, froh und frei hat er mitgetan, war aber nichtauf der Hut. Und nun bediente sich die Liebe der Blicke, der Haltung, derWorte, ja selbst der Haare eines schwachen Geschöpfes wie ebensovielerPfeile, sein wehrloses Herz zu verwunden. Jetzt ist er traurig, verschlos-sen und verwundert. Warum aber, bitte ich dich, ist er denn traurig? Dochsicher, weil er verwundet ist. Wer hat ihn verwundet? Wer anders als dieLiebe.

3. Aber wie kann die Liebe verwunden und Schmerz bereiten? Die Lie-be, die doch ein Kind des Wohlgefallens ist?

Nun, was man liebt, ist zuweilen abwesend. Und dann, mein lieberTheotimus, verwundet die Liebe das Herz durch die Sehnsucht, die sieweckt; da diese nicht gestillt werden kann, quält sie in hohem Maße dasGemüt.

Ist ein Kind von einer Biene gestochen worden, dann sagst du ihmvergeblich: „Mein liebes Kind, die Biene, die dich gestochen hat, bereitetdir doch auch den süßen Honig, der dir so gut schmeckt.“ Es wird dirantworten: „Das ist schon wahr, der Honig schmeckt mir auch recht gut.Aber der Stich tut mir trotzdem sehr weh, und solange der Stachel inmeiner Wange sitzt, werde ich keine Ruhe haben. Siehst du nicht, daßmein Gesicht ganz geschwollen ist?“

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Sicher gibt es keine Liebe ohne Wohlgefallen, Theotimus, daher ist sieauch so überaus beglückend, vorausgesetzt aber, daß sie im Herzen nichtden Stachel der Sehnsucht zurückläßt. Läßt sie ihn aber zurück, so läßtsie mit ihm einen großen Schmerz zurück. Allerdings rührt dieser Schmerzvon der Liebe her und ist deshalb ein liebenswerter Schmerz.

Höre die schmerzhaften aber liebevollen Sehnsuchtsrufe des königlichenLiebenden: „Meine Seele dürstet nach ihrem starken, lebendigen Gott;ach, wann werde ich kommen und erscheinen vor dem Angesicht meinesGottes? Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, da man mirsagt: Wo ist dein Gott?“ (Ps 42,3.4).

So redet auch die heilige Schulammit, ganz durchdrungen von ihrerschmerzlichen Liebe, die Töchter Jerusalems an: „Ach, ich beschwöre euch,wenn ihr meinem Freund begegnet, kündet ihm mein Leid, denn ichsieche dahin, von seiner Liebe schwer verwundet“ (Hld 5,8). „Hingehal-tene Hoffnung schmerzt die Seele“ (Spr 13,12).

4. Die Liebe schlägt Wunden verschiedener Art. 1) Schon ihre erstenBerührungen verwunden das Herz. Solange es nicht liebt, scheint es ge-sund und unversehrt zu sein und ganz sich selbst gehörig. Jetzt aber,von der Liebe ergriffen, beginnt es, sich von sich selbst zu trennen undzu lösen, um sich dem hinzugeben, den es liebt. Diese Trennung aberkann nicht ohne Schmerz vor sich gehen, denn Schmerz ist nichts an-deres als Trennung lebender Wesen, die sich fest aneinander halten.2) Die Sehnsucht bohrt unaufhörlich und verwundet das Herz, das da-von befallen ist. Dies ist ja schon oben erwähnt worden. 3) Dieheilige Liebe kennt noch eine andere Art von Wunden, die Gott selbstzuweilen den Seelen zufügt, die er zu hoher Vollkommenheit führen will.Und zwar geht dies so vor sich:

5. Gott weckt in der Seele wunderbare Empfindungen und unvergleich-liche Antriebe zu seiner über alles erhabenen Güte hin. Er drängt sieund treibt sie an, ihn zu lieben. So rafft sie sich denn mit aller Kraftauf, um sich zu ihrem Gott hinaufzuschwingen – kann aber nicht weiter,kann nicht so viel lieben, wie sie es sich wünscht. O Gott! Welchen Schmerzfühlt sie da, einen Schmerz, der seinesgleichen nicht hat. Während sie mächtigangetrieben wird, ihrem Vielgeliebten entgegenzufliegen, wird sie gleich-zeitig stark zurückgehalten und kann sich nicht erheben. Sie ist wie gefes-selt an die niedrigen Armseligkeiten dieses sterblichen Lebens und ihreseigenen Unvermögens. Sie wünscht sich „die Flügel einer Taube“ (Ps55,7), um an ihren Ruheort zu fliegen, und findet ihn doch nicht. So

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leidet sie furchtbare Qualen in diesem Zwiespalt von heftiger Sehnsuchtund lähmendem Unvermögen. „O ich unglücklicher Mensch,“ sagt einer,der an dieser Pein gelitten hatte, „wer wird mich erlösen von diesemtodbringenden Leib?“ (Röm 7,24).

Wenn du nun gut aufmerkst, Theotimus, so ist es nicht die Sehnsuchtnach etwas Abwesendem, die das Herz verwundet, denn die Seele fühlt ja,daß Gott ihr gegenwärtig ist. Er hat sie schon „in seinen Weinkeller ge-führt, er hat auf ihrem Herzen das Banner der Liebe aufgepflanzt“ (Hld2,4; nach Hebr. u. Sept.). Aber obwohl er sie schon ganz als die Seinesieht, drängt er sie und schießt von Zeit zu Zeit tausend und abertausendPfeile seiner Liebe auf sie ab und zeigt ihr immer aufs neue um wie-viel mehr er wert ist, geliebt zu werden, als er wirklich geliebt wird.Und sie, die nicht so viel Kraft hat, ihn zu lieben, wie Liebe, um sichkraftvoll zu bemühen, sieht, wie hinfällig ihre Bemühungen sind im Ver-gleich zu ihrer Sehnsucht, den auf würdige Weise zu lieben, den kein Be-mühen je genug lieben kann. Darob ergreift sie eine unvergleichlicheQual; denn mit jedem Aufschwung, den sie unternimmt, um in ihrer sosehnsuchtswerten Liebe höher zu fliegen, wird sie von neuem Schmerzerschüttert.

6. Dieses von Liebe zu seinem Gott erfüllte Herz sehnt sich danach,ihn unendlich zu lieben, muß aber erkennen, daß es trotzdem wedergenügend zu lieben, noch sich genügend nach ihm zu sehnen vermag.Diese Sehnsucht, der kein Erfolg beschieden ist, bohrt sich wie ein Dornin ein hochsinniges Gemüt hinein. Trotzdem ist der dadurch ausgelösteSchmerz liebenswert. Denn wer sich innig sehnt zu lieben, liebt es auch,innig sich zu sehnen, und er würde sich für das erbärmlichste Wesender Welt halten, wenn er sich nicht ständig danach sehnte, das zu lieben,was über alles liebenswert ist. Da er sich danach sehnt zu lieben, leideter; aber da er es liebt, sich zu sehnen, empfindet er zugleich Freude.

7. Wahrhaftiger Gott, Theotimus, was soll ich jetzt sagen? Die Se-ligen im Paradies, die so klar sehen, daß Gott noch viel liebenswerter ist,als sie ihn lieben, würden vor Sehnsucht, ihn noch inniger zu lieben, ewigvergehen und zugrundegehen, wenn der heiligste Wille Gottes nicht ih-rem Willen die wunderbare Ruhe mitteilte, deren er sich selbst erfreut.Denn sie lieben diesen höchsten Willen so sehr, daß sein Wollen das ihrezurückhält und die göttliche Befriedigung auch sie befriedigt. So willigensie darein, in ihrer Liebe begrenzt zu sein durch eben den Willen, dessenGüte der Gegenstand ihrer Liebe ist.

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Wäre das nicht der Fall, so wäre ihre Liebe ebenso beseligend wieschmerzlich: beseligend durch den Besitz eines so großen Gutes, schmerz-lich wegen der übergroßen Sehnsucht nach einer größeren Liebe.

8. Gott, der aus dem Köcher seiner unendlichen Schönheit sozusagenunaufhörlich Pfeile herauszieht, verwundet die Seele seiner Liebenden,indem er sie klar sehen läßt, daß ihre Liebe gering ist im Vergleich zuseiner Liebenswürdigkeit.

Wer unter den Sterblichen sich nicht danach sehnt, die göttliche Güteinniger zu lieben, liebt sie nicht genug. Genügsamkeit in dieser göttlichenÜbung genügt nicht; es darf niemand dabei stehen bleiben, wie wenn sieihm genügte.

14. KapitelAndere WAndere WAndere WAndere WAndere Weisen der heiligen Liebe, die Hereisen der heiligen Liebe, die Hereisen der heiligen Liebe, die Hereisen der heiligen Liebe, die Hereisen der heiligen Liebe, die Herzen zu verzen zu verzen zu verzen zu verzen zu verwunden.wunden.wunden.wunden.wunden.

1. Nichts verwundet ein liebendes Herz so sehr, als wenn es sieht, daßein anderes Herz aus Liebe zu ihm verwundet ist.

Der Pelikan baut sein Nest auf der Erde; daher kommt es oft vor,daß seine Jungen von Schlangen gebissen werden. Wenn dies geschehenist, dann bringt der Pelikan, wie ein richtiger Arzt, seinen armen Jungenmit dem Schnabel überall Wunden bei, um mit dem Blut das Gift aus-strömen zu lassen, das der Biß der Schlange in ihrem Körper verbreitethat. Um so das ganze Gift auszuscheiden, läßt er das ganze Blut heraus-fließen und die kleine Schar der Pelikane muß sterben. Sieht er sie aber totdaliegen, dann bringt er sich selbst eine Wunde bei und läßt aus ihr seinBlut über sie verströmen, um sie mit einem neuen und reineren Leben zubeleben. Seine Liebe hat sie verwundet und gleich darauf verwundet er sichselbst durch die gleiche Liebe.

Nie verwunden wir ein Herz mit einer Liebeswunde, ohne sogleichselber verwundet zu werden. Sieht die Seele, daß Gott aus Liebe zu ihrverwundet ist, so schlägt das auch ihr sofort eine Wunde. „Du hast meinHerz verwundet,“ sagt der göttliche Liebende zu seiner Schulammit (Hld4,9). Und sie ruft aus: „Sagt meinem Vielgeliebten, daß ich von Liebeverwundet bin“ (Hld 5,8).

Die Bienen verwunden nie, ohne selbst tödlich verwundet zu wer-den. Wie können wir den Erlöser unserer Seele vor Liebe verwundet sehen„bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8), ohne selbst auch aus

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Liebe zu ihm verwundet zu werden? Ich sage aber: verwundet durch eineum so schmerzlich-liebreichere Wunde, als die seine liebreich-schmerz-lich war – und wir ihn doch nie so zu lieben vermögen, wie seine Liebeund sein Tod es erfordern würden.

2. Eine andere Art Liebeswunde wird der Seele geschlagen, wenn siefühlt, daß sie Gott liebt, aber von Gott trotzdem so behandelt wird,als wüßte er nicht um ihre Liebe oder als brächte er ihrer LiebeMißtrauen entgegen. Dann, mein lieber Theotimus, überfällt maßloseAngst die Seele. Der bloße Anschein, als wollte Gott ihr mißtrauen, istihr unerträglich.

Das Herz des armen hl. Petrus war übervoll der Liebe zu seinem Mei-ster und er fühlte es; der Herr aber stellte sich so, als ob er das nichtwüßte. „Petrus,“ sagte er, „liebst du mich mehr als diese?“ – „Ja, Herr“,erwiderte der Apostel: „Du weißt, daß ich Dich liebe“ (Joh 21,15–17). Der Herraber fragte noch einmal: „Petrus, liebst du mich?“ – „Mein lieber Meister,“ sagteder Apostel, „ich liebe Dich bestimmt, Du weißt es ja.“ Und noch einmalfragt ihn der gütige Meister, um ihn zu prüfen, als ob er mißtrauischgegen seine Liebe sei: „Petrus, liebst du mich?“ – Ach Herr, Du verwun-dest dieses arme Herz und tiefbetrübt schreit es voll Liebe, aber auch vollSchmerz auf: „Herr, Du weißt alles, Du weißt doch sicher, daß ich Dichliebe.“

Eines Tages nahm man an einer Besessenen Exorzismen vor. Da manin den bösen Geist drang, er solle seinen Namen nennen, antwortete er: „Ichbin der Unglückliche, der der Liebe beraubt ist.“ Kaum hatte die hl.Katharina von Genua, die dabei anwesend war, dies gehört, war sie so-gleich aufs tiefste erschüttert und erregt, weil sie das Wort „der Liebe be-raubt“ vernommen hatte (Vita S.Cath.Gen. 14). Die Teufel hassen sosehr diegöttliche Liebe, daß sie erzittern, wenn sie deren Zeichen sehen oder derenNamen hören, d. h. wenn sie das Kreuz sehen und den Namen Jesusaussprechen hören; ebenso erbeben aber auch solche, die unseren Herrnüber alles lieben, vor Schmerz und Abscheu, wenn sie irgendein Zeichensehen oder ein Wort hören, die das Fehlen der heiligen Liebe anzeigen.

Der hl. Petrus war ganz überzeugt, daß dem allwissenden Herrn dochnicht unbekannt sein konnte, wie sehr er von ihm geliebt wurde. Aberweil die Wiederholung der Frage „Liebst du mich?“ den Schein des Miß-trauens an sich hatte, stimmte dies den hl. Petrus ganz traurig.

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3. Es gibt Seelen, die wohl entschlossen sind, eher zu sterben, alsihren Gott zu beleidigen, aber nicht ein Fünkchen Eifer, sondern imGegenteil nur frostige Kälte fühlen, so daß sie ganz erstarrt sind undaus Schwäche bei jeder Gelegenheit in Unvollkommenheiten fallen, diesich unangenehm bemerkbar machen. Solche Seelen, sage ich, Theotimus,sind ganz wund, denn es ist ihrer Liebe äußerst schmerzlich zu sehen, daßGott tut, als ob er ihre Liebe nicht sähe, und daß er sie wie Geschöpfebehandelt, die ihm nicht angehören. Mitten in ihren Fehlern, Zerstreuun-gen und Kältezuständen glaubt eine solche Seele Vorwürfe des Herrn zuhören: „Wie kannst du sagen, daß du mich liebst, da deine Seele gar nichtbei mir ist?“ Und das bohrt sich wie ein schmerzender Dorn mitten in ihrHerz hinein. Aber dieser schmerzliche Dorn kommt aus der Liebe; dennliebte sie nicht, so würde die Angst, nicht zu lieben, sie nicht traurigmachen.

4. Zuweilen entsteht diese Liebeswunde einfach aus der Erinnerung,daß wir einmal Gott nicht geliebt haben: „O wie spät habe ich Dichgeliebt, Du alte und immer neue Schönheit!“ So sprach der Heilige, derdreißig Jahre lang im Irrglauben verbracht hatte (Aug. Bek. 5,27). Werfrüher gelebt hat, ohne die höchste Güte zu lieben, denkt nur mit Ab-scheu an diese vergangenen Zeiten zurück.

5. Eine Wunde bringt uns die Liebe selbst dadurch bei, daß wir andie Vielen denken, die Gottes Liebe verachten. Es erfaßt uns ein tiefesLeid darüber, wie jenen, der sagte: „Mein Eifer ließ mich dahinwelkenvor Schmerz, weil meine Feinde Dein Gesetz nicht erfüllten“ (Ps 119,139).

Eines Tages, da er sich unbeobachtet wähnte, schluchzte der große hl.Franziskus und klagte mit so lauter Stimme, daß ein guter Mann, der ihnhörte, herbeilief und ihm zu Hilfe kommen wollte, da er meinte, manwolle ihn umbringen. Als er ihn ganz allein sah, fragte er ihn, warum erdenn so schreie. „Ach,“ antwortete Franziskus, „ich weine, weil unser Herrso viel aus Liebe zu uns erduldet hat und niemand daran denkt.“ Undnachdem er diese Worte gesprochen hatte, fing er aufs neue zu weinen anund auch dieser gute Mann stimmte in sein Klagen und Weinen ein(Chron. Fr. Min. 1,1).

6. Aber wie immer es sei, das ist das Wunderbare an den Wunden,die man durch die göttliche Liebe empfängt, daß der Schmerz wohltuendempfunden wird. Alle, die ihn spüren, willigen in ihn ein und möchtendiesen Schmerz nicht gegen alle Freuden der Welt eintauschen. In der

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Liebe gibt es kein Leid, oder wenn es ein Leid gibt, so ist es ein geliebtes Leid(Aug. De bono vid. 21).

Ein Seraf hielt eines Tages einen goldenen Pfeil in Händen, aus dessenSpitze eine kleine Flamme hervorzüngelte. Er stieß ihn in das Herz derseligen Mutter Theresia, und als er ihn wieder herausziehen wollte, schienes dieser Jungfrau, als wollte man ihr die inneren Organe aus dem Leibreißen. Der Schmerz war so heftig, daß sie nur mehr die Kraft hatte, leisevor sich hinzuwimmern. Dennoch war es ein so liebenswerter Schmerz,daß sie nie mehr davon befreit sein wollte.

Dieser Art war auch der Liebespfeil, den Gott in das Herz der großen hl.Katharina von Genua am Anfang ihrer Bekehrung schleuderte. Dadurchwurde sie ganz verändert; sie war wie tot für die Welt und die geschaffe-nen Dinge und wollte nur mehr für ihren Schöpfer leben.

Der Vielgeliebte ist ein bitteres Myrrhenbüschlein und dieses bittereBüschlein ist wieder der Vielgeliebte, der an der Brust der Vielgeliebtenruht, er ist der vor allen am höchsten Geliebte.

15. KapitelDas Liebessiechtum des von der Liebe verDas Liebessiechtum des von der Liebe verDas Liebessiechtum des von der Liebe verDas Liebessiechtum des von der Liebe verDas Liebessiechtum des von der Liebe verwundeten Herwundeten Herwundeten Herwundeten Herwundeten Herzens.zens.zens.zens.zens.

1. Es ist hinlänglich bekannt, daß menschliche Liebe die Kraft hat,nicht nur das Herz zu verwunden, sondern auch den Leib in tödlicheKrankheit zu stürzen. So wie Leidenschaft und Temperament des Leibes vielMacht haben, auf die Seele einzuwirken und sie mit sich fortzureißen,besitzen auch die Affekte der Seele eine große Kraft, die Säfte des Leibesin Wallung zu bringen und dessen Eigenschaften zu verändern.

Überdies drängt eine heftige Liebe die Seele so ungestüm zu dem hin,den sie liebt, und nimmt sie so sehr in Anspruch, daß sie alle anderenTätigkeiten vernachlässigt, sowohl jene, die den Sinnen, wie jene, die demVerstand zukommen. Um diese Liebe zu nähren und zu fördern, läßt dieSeele scheinbar jede andere Sorge, jede andere Übung, ja sich selbst fah-ren.

2. Darum hat Platon (In Sympos.) gesagt, daß die Liebe „arm, zerrissen,nackt, barfuß, armselig, obdachlos ist, auf harter Erde, vor den Türenliegt und immer bedürftig ist.“

Sie ist „arm“, denn sie führt dazu, daß man alles um dessen willenverläßt, was man liebt; sie ist „obdachlos“, denn sie läßt die Seele ih-ren Wohnsitz verlassen, um immer dem zu folgen, den sie liebt;

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sie ist „armselig“, blaß, mager und entstellt, denn ihretwegen entbehrtman Schlaf, Trank und Speise; sie ist „nackt und „barfuß“, denn siebewirkt, daß man alle anderen Zuneigungen aufgibt, um sich ganz demzuzuwenden, was man liebt.

Sie schläft „draußen auf bloßer Erde“, denn durch sie ist das liebendeHerz sozusagen entblößt. Sie treibt es ja dazu an, seine Leidenschaftendurch Seufzen, Klagen, Lobhymnen und Eifersucht allen kundzutun. –Gleich einem Bettler liegt sie ausgestreckt „vor den Toren“. Denn die Lie-be treibt den Liebenden an, immer mit gespannter Aufmerksamkeit anAugen, Mund und Ohr dessen zu hängen, den man liebt, um ihn sprechenund seine Gunsterweise erbetteln zu können, deren sie nie satt wird. Auge,Ohr und Mund sind aber die Tore der Seele. – Und schließlich bestehtdas Leben der Liebe darin, immer „bedürftig“ zu sein, denn wenn sieeinmal gesättigt ist, hat sie ihre Glut eingebüßt und hört folglich auf,Liebe zu sein.

3. Ich weiß wohl, Theotimus, daß Platon so von der verächtlichen,niedrigen, armseligen Liebe der Weltkinder spricht. Diese Eigenschaftenfinden sich aber auch in der heiligen, göttlichen Liebe. Sieh doch auf dieersten Meister der christlichen Lehre, d. h. die ersten Lehrer der heiligenevangelischen Liebe und höre, was einer von ihnen sagte, der am meistenMühsal zu ertragen hatte: „Bis auf die Stunde leiden wir Hunger undDurst, Blöße und Schläge. Wir haben kein Heim … Wie Kehricht derWelt sind wir geworden bis zur Stunde, der Abschaum aller“ (1 Kor4,11.13). Es ist, als wollte er sagen: Wir sind derart verachtet, daß, wenndie Welt ein Palast ist, wir als dessen Kehricht gelten; ist sie ein Apfel,sind wir die Schalen, die man wegwirft. Wer, ich bitte dich, hattesie in diesen Zustand gebracht, wenn nicht die Liebe?

Die Liebe war es, die den hl. Franziskus nackt vor die Füße seinesBischofs hinwarf und die ihn nackt auf dem Erdboden sterben ließ; die Lie-be war es, die ihn sein Leben lang zum Bettler machte. Die Liebe war es,die den großen Franz Xaver arm, bedürftig und mit zerrissenem Gewanddorthin und dahin zu den Indern und Japanern aussandte. Die Liebe war es,die den großen Kardinal, den hl. Karl, Erzbischof von Mailand, in die äußersteArmut brachte mitten unter den Reichtümern, die ihm von Geburt aus unddurch seine Würde zugefallen waren; lebte er doch nach dem Ausdruckdes berühmten italienischen Redners Panigarola wie ein Hund im Hauseseines Herrn, aß nur ein wenig Brot, trank nur Wasser und legte sich aufStroh schlafen (Predigt über Kard. Borromäus).

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4. Hören wir, wie die heilige Braut fast das Gleiche sagt: „MeineLiebe hat mich mit tausenderlei Freuden beschenkt, dadurch bin ichschöner als die reichen Zelte meines Salomo“ (Hld 1,4.5), ich willsagen, schöner als der Himmel, der nur ein lebloser Baldachin für seinekönigliche Majestät ist, während ich sein lebendiges Zelt bin. Dennochbin ich „schwarz“, zerrissen, mit Staub bedeckt und ganz entstellt von allden Wunden und Schlägen, die ich von dieser gleichen Liebe empfing. Oachtet nicht auf meine Farbe, denn ich bin sehr stark gebräunt. MeinVielgeliebter, der meine Sonne ist, hat die Strahlen seiner Liebe auf michgerichtet, Strahlen, die durch ihr Licht erleuchten, mich aber durch ihreGlut versengt und gebräunt haben. Als sie mich mit ihrem Glanz berühr-ten, nahmen sie mir meine Farbe. Meine leidenschaftliche Liebe machtmich überglücklich, da sie mir einen solchen Bräutigam schenkte, wie esmein König ist. Doch diese gleiche Leidenschaft, die mir Mutter ist, – dennsie war es, die mich vermählte, und nicht meine Verdienste – sie hat auchandere Kinder, die mir viel Drangsal und Mühe bereiten. Sie haben michderart erschöpft, daß ich wohl einerseits einer Königin gleiche, die an derSeite ihres Königs thront, andererseits aber auch einer Winzerin, die, ineiner armseligen Hütte wohnend, einen Weinberg hütet und noch dazueinen Weinberg, der nicht ihr Eigen ist.

5. Ja, Theotimus, wenn die Liebe uns viele und tiefe Wunden schlägt,versetzen diese uns in einen Zustand des Siechtums. Wir verfallen derseligen Krankheit der Liebe.

Wer könnte jemals das Liebessiechtum der hl. Katharina von Siena undder von Genua beschreiben, oder der hl. Angela von Foligno oder derhl. Christina, oder der seligen Mutter Theresia oder des hl. Bernhard,oder des hl. Franziskus?

Das Leben dieses Heiligen war nichts als Tränen, Seufzer, Klagen,Sehnsucht, Schwächen, Liebesentrückungen. Aber nichts ist so wunderbaran all dem, wie die wunderbare Teilnahme an seinem liebreichen undkostbaren Leiden, die ihm der gütige Jesus durch Einprägung seinerWundmale gewährte. Oft habe ich über dieses Wunder nachgedacht undmir dabei meine Gedanken gemacht (Bonav. Vita S. Franc. 13).

Als dieser große Diener Gottes, dieser ganz serafische Mensch aufdem Berge Alverno das lebendige Bild seines gekreuzigten Erlösers inder Gestalt eines leuchtenden Serafs sah, ergriff ihn dies tiefer, als man essich vorstellen kann. Eine gewaltige Freude und zugleich ein ganz großesMitleid erfaßten ihn. Indem er in diesen schönen Spiegel der Liebe schaute,

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den anzuschauen die Engel nie satt werden können (1 Petr 1,12), verging ervor Freude und Seligkeit. Da er aber andererseits auch die lebendigeDarstellung der Wunden seines gekreuzigten Erlösers vor sich sah, fühlteer in seiner Seele das mitleidlose Schwert, das die heilige Brust der jungfräu-lichen Mutter am Tag des bitteren Leidens durchbohrte, mit einem so hefti-gen inneren Schmerz, als ob er mit seinem Erlöser gekreuzigt worden wäre.

Ach Gott, Theotimus, das Bild Abrahams, den ein sterblicher Malerdarstellte, wie er den Todesstreich an seinem einzigen Sohn ausführenwill, um ihn zu opfern, hatte die Macht, den großen hl. Gregor, den Bischofvon Nyssa, zu Tränen zu rühren, sooft er es betrachtete. Wie gewaltig großmußte dann erst die Erschütterung des großen hl. Franziskus sein, als erdas Bild seines Herrn sah, der sich selbst am Kreuz opferte! Ein Bild, dasnicht eine sterbliche Hand, sondern die Meisterhand eines himmlischenSerafs getreu nach dem Urbild an sich dargestellt hatte und das so leben-dig und wahr den König der Engel abbildete, wie er zerschlagen, verwun-det, durchbohrt und zerschunden am Kreuz hing.

So war die zutiefst aufgewühlte, erschütterte und in Liebesschmerz wiezerflossene Seele außerordentlich geeignet, die Eindrücke und Zeichender Liebe und des Schmerzes ihres erhabenen Liebenden zu empfangen.Denn das Gedächtnis war ganz durchdrungen von der Erinnerung an diesegöttliche Liebe; die Phantasie war davon erfüllt, sich die Wunden und Ver-letzungen vorzustellen, welche die Augen so vollkommen in diesem gegen-wärtigen Bild dargestellt sahen; das Erkenntnisvermögen aber nahm dieunendlich lebendigen Vorstellungen auf, die ihm die Einbildungskraft zu-führte. Die Liebe endlich bot alle Kräfte des Willens auf, sich in das Leidenihres Vielgeliebten zu vertiefen und ihm gleichförmig zu werden. Dadurchwurde die Seele ganz in den Gekreuzigten umgewandelt, förmlich zumzweiten Kruzifix. Da sie aber Form und Herrin des Leibes ist, gebrauchtesie ihre Macht über ihn und prägte ihm die schmerzlichen Wundmaledort ein, wo der Vielgeliebte sie getragen.

Die Liebe versteht es wunderbar, die Einbildungskraft so zu schärfen, daßsie sich auch nach außen auswirkt. So beeinflußte die tierische Liebe derSchafe Labans so sehr deren Einbildungskraft, daß sie die Lämmlein, mitdenen sie trächtig waren, weiß oder gefleckt machte, je nach der Farbe derStäbe, die in den Trögen lagen, an welchen man sie tränkte. Auch inFrauen, die empfangen haben, ist die Einbildungskraft durch die Liebe

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so rege, daß sie dem Leib ihrer Kinder leicht das einprägen, was sie sichwünschen. – Eine erschütternde Vorstellung kann verursachen, daß einMensch in einer Nacht weiße Haare bekommt und seine Gesundheit zer-rüttet wird.

Die Liebe ließ also die seelischen Qualen des großen liebenden Franzis-kus nach außen dringen und verwundete den Körper mit demselbenSchmerzenspfeil, mit welchem sie das Herz verwundet hatte. Doch dadie Liebe im Innern der Seele brannte, war es ihr nicht gegeben, dasFleisch von außen aufzureißen. Deshalb kam ihr der glühende Seraf zuHilfe und warf Strahlen von einer so durchdringenden Helle auf denHeiligen, daß sie tatsächlich in dieses Fleisch die körperlichen Wunden desGekreuzigten einbrannten, die die Liebe bereits innerlich der Seele ein-geprägt hatte.

So sah auch der Seraf, daß Jesaja wegen der Unreinheit seiner Lippennicht zu sprechen wagte. Deshalb kam er im Auftrag Gottes, seine Lip-pen mit einer vom Altar genommenen glühenden Kohle zu berühren, zureinigen und so dessen Wunsch zu erfüllen (Jes 6,5–7).

Die Myrrhe sondert ein wenig Flüssigkeit ab, wie wenn sie dieseausschwitzte oder ausatmete. Soll aber viel davon herausfließen, so mußman durch einen Einschnitt in die Rinde nachhelfen.

So trat auch bei Franziskus die Gottesliebe in seinem ganzen Leben inErscheinung, alle seine Handlungen atmeten nur diese heilige Liebe. Aberum deren ganzen Reichtum zu offenbaren, mußte er von dem himmlischenSeraf Schnitte empfangen und verwundet werden. Damit man nun wisse,daß diese Wunden Wunden himmlischer Liebe seien, wurden sie nicht miteinem eisernen Werkzeug geöffnet, sondern durch Lichtstrahlen aufge-brochen. Wahrhaftiger Gott, Theotimus, welch liebreicher Schmerz, welchschmerzliche Liebe! Denn nicht nur damals, sondern die ganze Zeit, die ernoch lebte, gab es für ihn nur mehr ein ständiges Sichweiterschleppen,ein ständiges Siechtum; war er doch schwer krank, erkrankt an der Krank-heit der Liebe.

6. Als der selige Philipp Neri 80 Jahre alt war, war sein Herz so sehr vonGottesliebe entflammt, daß deren Glut, um sich Raum zu schaffen, seineRippen ausweitete und die vierte und fünfte Rippe brach, damit er besserLuft schöpfen und sich abkühlen konnte.

Der selige Stanislaus Kostka war schon als Knabe von 14 Jahren voneiner solchen Liebe zu seinem Erlöser ergriffen, daß er oft vor Schwäche in

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Ohnmacht fiel und man genötigt war, ihm kalte, nasse Tücher auf die Brustzu legen, um die Gewalt der Gluten zu lindern, die ihn verbrannten.

Überhaupt, Theotimus, wie meinst du, kann denn eine Seele, die ein-mal ein wenig die göttlichen Freuden verkosten durfte, in dieser von soviel Elend erfüllten Welt ohne Schmerz und ohne eine fast nicht aus-setzende Sehnsucht leben?

Oftmals hörte man den großen Mann Gottes, den hl. Franz Xaver,wenn er sich allein glaubte, seine Stimme zum Himmel erheben undausrufen: „Ach, mein Herr, ich flehe Dich an, überhäufe mich nicht miteiner solchen Fülle von Freuden. Oder wenn es Deiner unendlichen Gütegefällt, mir so überreiche Seligkeit zu spenden, o dann nimm michdoch zu Dir ins Paradies. Denn wer einmal in seinem Innern Deine Sü-ßigkeit so recht verkostet hat, kann nur mehr in Bitternis leben, wenn erDich nicht besitzt“ (Turselin, Vita St. Fr. Xav. 6,5).

Wenn also Gott einer Seele seine göttlichen Freuden in reichem Maßegespendet hat und sie ihr dann wieder nimmt, verwundet er sie durchdiese Beraubung und sie siecht dahin und klagt mit David: „Ach, wannwird der Tag kommen, wo der wiederkehrende Trost dieses Leid von mirnehmen wird?“ (Ps 42,3). Oder mit dem großen Apostel: „O ich un-glücklicher Mensch, wer wird mich befreien von dem Leib dieses Todes?“(Röm 7,24).