HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

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Das Symbol der deutschen Teilung ist gefallen: Jubelnde Berliner aus Ost und West am 9. November 1989 auf der Mauer. Foto: dpa Berlin, 13. August 1961: Ein Soldat der Nationalen Volksarmee (NVA) beaufsichtigt einen Maurer beim Bau der Berliner Mauer. Foto: dpa Aus dem Inhalt Auf den nächsten sechs Seiten beschäftigen wir uns mit dem Leben diesseits und jenseits der Mauer. Aus dem Inhalt: • Süßes kam aus Hessen - die ehemalige DDR-Bürgerin Clau- dia Götze über Schlangestehen und Intershop. • Besuch am Ende der Welt – unser Redakteur Werner Keller über das Leben im Zonenrand- gebiet. • Mauer, Stacheldraht, Selbst- schussanlagen - wie die bestge- sicherte Grenzanlage Europas funktionierte. • Gedemütigt und gequält – ein DDR-Häftling berichtet über Schikanen bei Verhören und in den Haftanstalten. • „Ein Unrechtsstaat“ – der ehe- malige DDR-Anwalt Dieter Gräf über den Rechtsalltag in Ost- deutschland. • Nackt vor ostdeutschen Zoll- beamten - Berichte unserer Le- ser von Transitstrecken und Grenzübergängen. • „Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt“ – wie Günter Schabowski am 9. November 89 die Grenzöffnung mitteilte. • Die Seiten dieser Beilage kön- nen ab Sonntag in unserem In- ternet-Angebot heruntergela- den werden unter: www.hna.de/politik praktisch gefallen. Abends strömen die Menschen ĉu Zehntausenden in die Freiheit. Und nur ăenig später be- ginnt auch schon das Ende der DDR. Auf den Straßen heißt es jetĉt: „Wir sind ein Volk“. Botschaft in Budapest ge- schlossen ăerden. Honecker bleibt uneinsichtig: „Den So- ĉialismus in seinem Lauf hält ăeder Ochs noch Esel auf.“ „Wer Ąu spät kommt, den bestraft das Leben.“ MICHAEL GORBATSCHOW IM OKTOBER 1989 AN SEINE DDR-GENOSSEN Ende August beginnen sich die Ereignisse ĉu überschla- gen: In Sopron (Ungarn) kommt es ĉur größten Mas- senflucht Ăon DDR-Bürgern seit dem Mauerbau. In der DDR gründen sich neue Oppo- sitionsgruppen ăie das Neue Forum und Demokratie Jetĉt. In Leipĉig ăerden die Mon- tagsdemonstrationen immer machtĂoller. „Wir sind das Volk“, tönt es Ăernehmlich. Anfang Oktober feiert die SED mit großem Pomp den 4ċ. Jahrestag der Gründung der DDR. Dabei mahnt ihr Gast Michael Gorbatschoă die Parteiführung: „Wer ĉu spät kommt, den bestraft das Le- ben.“ Aber es ist schon ĉu spät. Auch der Sturĉ Erich Hone- ckers kann das Ende nicht mehr aufhalten. Seine Nachfol- ger suchen Ăerĉăeifelt nach ei- nem Ventil für den nun ĉum Ausbruch drängenden Unmut im Land. Und finden es in ei- nem neuen Reisegesetĉ. Als Politbüromitglied Gün- ter Schaboăski es am 9. No- Ăember gegen 19 Uhr Ăor der Presse erläutert, ist die Mauer ten geflüchtet haben, um ihre Ausreise aus der DDR ĉu er- ĉăingen. Doch es ăerden im- mer mehr. Am 5. August sieht sich die DDR-Führung ge- ĉăungen, erstmals im Fernse- hen ĉu den Botschaftsflücht- lingen Stellung ĉu nehmen und Probleme einĉuräumen. Drei Tage später muss die Ständige Vertretung in Ost- Berlin ăegen Überfüllung den BesucherĂerkehr einstellen. Vertreter Ăon Kanĉleramt und DDR-Außenministerium neh- men Verhandlungen über die Situation der Ausreiseăilligen auf. Dann muss auch Bonns Ăon Staat und Partei, als dass Entăicklungen ăie in Polen möglich schienen, ăo erst- mals ein halbăegs freies Parla- ment geăählt ăorden ăar. Oder ăie in Ungarn, ăo man sich daran machte, die Gren- ĉen ĉu Österreich ĉu öffnen. Oder ăie der Soăjetunion, ăo Staats- und Parteichef Michael Gorbatschoă eine Politik Ăon Glasnost (Offenheit) und Pe- restroika (Umgestaltung) ein- geleitet hatte. So nimmt in Deutschland kaum jemand Notiĉ daĂon, dass sich DDR-Bürger ăieder einmal in ăestliche Botschaf- len, die deutsche Einheit stand beĂor. An diesem Wochenende sind es noch 1ċċ Tage bis ĉum 9. NoĂember, jenem Tag, an dessen Abend sich Ăöllig über- raschend die Mauer öffnen sollte. Im Sommer Ăor 2ċ Jah- ren rumorte es ĉăar in der DDR, Ăor allem angesichts des Ăon Bürgerrechtlern aufge- deckten Betrugs bei den Kom- munalăahlen im Mai. Doch dass diese Unruhe ăenige Wo- chen später in einer friedli- chen ReĂolution enden sollte, ahnte niemand. Zu uneinsich- tig ĉeigten sich die Spitĉen V ON W OLFGANG B LIEFFERT E s begann mit einer Lüge: „Niemand hat die Ab- sicht, eine Mauer ĉu er- richten“, beteuerte der DDR- StaatsratsĂorsitĉende Partei- chef Walter Ulbricht noch im Juni 1961 angesichts des an- schăellenden Flüchtlings- stroms gegen Westen – doch schon ăenige Wochen später, am Sonntag, dem 13. August, rollten Bautrupps an und rie- gelten – beăacht Ăon Volkspo- liĉei und Volksarmee Ost- deutschland Ăom freien Teil der Welt ab. 28 Jahre trennte die Mauer die Deutschen. Und auf beiden Seiten schien man sich damit abgefunden ĉu haben – trotĉ ĉahlreicher Toten an der in- nerdeutschen Grenĉe. Die Mauer müsse durchlässiger gemacht ăerden, das ăar die offiĉielle Politik der Regieren- den in Bonn. An den Fall der Mauer oder gar die WiederĂer- einigung glaubte kaum je- mand. Noch 5ā oder 1āā Jahre In Ost-Berlin schon gar nicht. Immer ăieder beton- ten die SED-Machthaber die Notăendigkeit des so ge- nannten antifaschistischen Schutĉăalls. Und noch im Juni 1989 Ăersicherte Ulb- richt-Nachfolger Erich Hone- cker, bei Fortbestehen der Gründe für ihren Bau ăerde die Mauer „noch 5ċ oder 1ċċ Jahre bestehen“. Er sollte sich geăaltig irren, nur ein halbes Jahr später ăar das monströse Bauăerk gefal- Am Ende fiel die Mauer ganz schnell HNA-Spezial über die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland vor 20 Jahren Wochenend−Ausgabe 1.Aug./2.Aug. 2009 e-paper für: 10216894

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Es begann mit einer Lüge: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, beteuerte der DDR-Staatsratsvorsitzende Parteichef Walter Ulbricht noch im Juni 1961 angesichts des anschwellenden Flüchtlingsstroms gegen Westen – doch schon wenige Wochen später, am Sonntag, dem 13. August, rollten Bautrupps an und riegelten – bewacht von Volkspolizei und Volksarmee - Ostdeutschland vom freien Teil der Welt ab. 28 Jahre trennte die Mauer die Deutschen.

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Page 1: HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

Das Symbol der deutschen Teilung ist gefallen: Jubelnde Berliner aus Ost undWest am 9. November 1989 auf der Mauer. Foto: dpa

Berlin, 13. August 1961: Ein Soldat der Nationalen Volksarmee (NVA) beaufsichtigt einen Maurerbeim Bau der Berliner Mauer. Foto: dpa

Aus dem InhaltAuf den nächsten sechs Seitenbeschäftigen wir uns mit demLeben diesseits und jenseits derMauer. Aus dem Inhalt:• Süßes kam aus Hessen - dieehemalige DDR-Bürgerin Clau-dia Götze über Schlangestehenund Intershop.• Besuch am Ende der Welt –unser Redakteur Werner Kellerüber das Leben im Zonenrand-gebiet.• Mauer, Stacheldraht, Selbst-schussanlagen - wie die bestge-sicherte Grenzanlage Europasfunktionierte.• Gedemütigt und gequält – einDDR-Häftling berichtet überSchikanen bei Verhören und inden Haftanstalten.• „Ein Unrechtsstaat“ – der ehe-malige DDR-Anwalt Dieter Gräfüber den Rechtsalltag in Ost-deutschland.• Nackt vor ostdeutschen Zoll-beamten - Berichte unserer Le-ser von Transitstrecken undGrenzübergängen.• „Die Genehmigungen werdenkurzfristig erteilt“ – wie GünterSchabowski am 9. November 89die Grenzöffnungmitteilte.• Die Seiten dieser Beilage kön-nen ab Sonntag in unserem In-ternet-Angebot heruntergela-den werden unter:www.hna.de/politik

praktisch gefallen. Abendsströmen die Menschen uZehntausenden in die Freiheit.

Und nur enig später be-ginnt auch schon das Ende derDDR. Auf den Straßen heißt esjet t: „Wir sind ein Volk“.

Botschaft in Budapest ge-schlossen erden. Honeckerbleibt uneinsichtig: „Den So-ialismus in seinem Lauf hälteder Ochs noch Esel auf.“

„Wer u spät kommt,den bestraft dasLeben.“

MICHAEL GORBATSCHOWIM OKTOBER 1989 ANSE INE DDR-GENOSSEN

Ende August beginnen sichdie Ereignisse u überschla-gen: In Sopron (Ungarn)kommt es ur größten Mas-senflucht on DDR-Bürgernseit dem Mauerbau. In derDDR gründen sich neue Oppo-sitionsgruppen ie das NeueForum und Demokratie Jet t.In Leip ig erden die Mon-tagsdemonstrationen immermacht oller. „Wir sind dasVolk“, tönt es ernehmlich.

Anfang Oktober feiert dieSED mit großem Pomp den4 . Jahrestag der Gründungder DDR. Dabei mahnt ihrGast Michael Gorbatscho dieParteiführung: „Wer u spätkommt, den bestraft das Le-ben.“

Aber es ist schon u spät.Auch der Stur Erich Hone-ckers kann das Ende nichtmehr aufhalten. Seine Nachfol-ger suchen er eifelt nach ei-nem Ventil für den nun umAusbruch drängenden Unmutim Land. Und finden es in ei-nem neuen Reisegeset .

Als Politbüromitglied Gün-ter Schabo ski es am 9. No-ember gegen 19 Uhr or der

Presse erläutert, ist die Mauer

ten geflüchtet haben, um ihreAusreise aus der DDR u er-

ingen. Doch es erden im-mer mehr. Am 5. August siehtsich die DDR-Führung ge-

ungen, erstmals im Fernse-hen u den Botschaftsflücht-lingen Stellung u nehmenund Probleme ein uräumen.Drei Tage später muss dieStändige Vertretung in Ost-Berlin egen Überfüllung denBesucher erkehr einstellen.Vertreter on Kan leramt undDDR-Außenministerium neh-men Verhandlungen über dieSituation der Ausreise illigenauf. Dann muss auch Bonns

on Staat und Partei, als dassEnt icklungen ie in Polenmöglich schienen, o erst-mals ein halb egs freies Parla-ment ge ählt orden ar.Oder ie in Ungarn, o mansich daran machte, die Gren-en u Österreich u öffnen.

Oder ie der So jetunion, oStaats- und Parteichef MichaelGorbatscho eine Politik onGlasnost (Offenheit) und Pe-restroika (Umgestaltung) ein-geleitet hatte.

So nimmt in Deutschlandkaum jemand Noti da on,dass sich DDR-Bürger iedereinmal in estliche Botschaf-

len, die deutsche Einheitstand be or.

An diesem Wochenendesind es noch 1 Tage bis um9. No ember, jenem Tag, andessen Abend sich öllig über-raschend die Mauer öffnensollte. Im Sommer or 2 Jah-ren rumorte es ar in derDDR, or allem angesichts deson Bürgerrechtlern aufge-

deckten Betrugs bei den Kom-munal ahlen im Mai. Dochdass diese Unruhe enige Wo-chen später in einer friedli-chen Re olution enden sollte,ahnte niemand. Zu uneinsich-tig eigten sich die Spit en

VON WOL FGANG B L I E F F E R T

E s begann mit einer Lüge:„Niemand hat die Ab-sicht, eine Mauer u er-

richten“, beteuerte der DDR-Staatsrats orsit ende Partei-chef Walter Ulbricht noch imJuni 1961 angesichts des an-sch ellenden Flüchtlings-stroms gegen Westen – dochschon enige Wochen später,am Sonntag, dem 13. August,rollten Bautrupps an und rie-gelten – be acht on Volkspo-li ei und Volksarmee Ost-deutschland om freien Teilder Welt ab.

28 Jahre trennte die Mauerdie Deutschen. Und auf beidenSeiten schien man sich damitabgefunden u haben – trotahlreicher Toten an der in-

nerdeutschen Gren e. DieMauer müsse durchlässigergemacht erden, das ar dieoffi ielle Politik der Regieren-den in Bonn. An den Fall derMauer oder gar die Wieder er-einigung glaubte kaum je-mand.

Noch 5 oder 1 JahreIn Ost-Berlin schon gar

nicht. Immer ieder beton-ten die SED-Machthaber dieNot endigkeit des so ge-nannten antifaschistischenSchut alls. Und noch imJuni 1989 ersicherte Ulb-richt-Nachfolger Erich Hone-cker, bei Fortbestehen derGründe für ihren Bau erdedie Mauer „noch 5 oder 1Jahre bestehen“.

Er sollte sich ge altig irren,nur ein halbes Jahr später ardas monströse Bau erk gefal-

Am Ende fiel die Mauer ganz schnellHNA-Spezial über die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland vor 20 Jahren

Wochenend−Ausgabe 1.Aug./2.Aug. 2009

e-paper für: 10216894

Page 2: HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

Vor 20 Jahren: Leben mit der Mauer

Leben inderDDR: „In einemStillen Land“hat RogerMelis seinenmelancholischenBildbandgenannt, in demerAufnahmenausden Jah-ren 1965 bis 1989 zusammengestellt hat. Foto: Lehmstedt-Verlag, Leipzig

Unsere AutorinClaudia Götze, 1965 in Mühl-hausen geboren, hat nach dem

Abitur Journa-listik in Leipzigstudiert, 1991folgte ein Vo-lontariat bei derHNA, bis 1997war sie Redak-teurin der HNA-

Tochter Mitteldeutsche Allge-meine. Seit 1999 ist Claudia Göt-ze selbstständig. Sie hat einensechsjährigen Sohn.

erhaft gültigen Stempel imAus eis.

Das Wendejahr 1989 habeich in Leip ig und teil eise inMühlhausen erlebt. Eine span-nende, un ergessliche Zeit.Nach Mühlhausen sprang derFunke der Re olution erst spätüber, nämlich erst Anfang No-ember 1989. Da gab es Dis-

kussions eranstaltungen inund um die Marienkirche. Eskam alles auf den Tisch – onder Reisefreiheit bis u denWünschen nach Städtepart-nerschaften mit Münster undMühlhausen.

rotti“ und eine Büchse „Kaba“(Bananengeschmack) im Ge-päck.

Die ein bis ei West-Mark,die er mir regelmäßig um Ab-schied in die Hand drückte,set te ich dann im „Inter-shop“ um. Drei bis ier Malging ich dorthin, um erst ein-mal u schauen und dann uentscheiden. Später konnteich bestimmte West-Produkteu überteuerten Preisen im so

genannten „Delikat-Laden“kaufen.

Dass Esch ege nicht maleine Autostunde on Mühl-hausen entfernt ist, erfuhrich erst nach Gren öffnung.Die Gren e und das da u ge-hörige Gren gebiet aren einTabu-Thema. Wollte man ei-nen Schulfreund et a in Len-genfeld unterm Stein besu-chen, musste man sich eineSondererlaubnis für den be-treffenden Tag bei der Poli eiholen. Be ohner der Gren -gemeinden hatten einen dau-

ar das Sortiment sehr über-sichtlich. Von bestimmten Le-bensmitteln gab es nur einein iges Produkt – die Preise

aren überall gleich, Verglei-che daher überflüssig. Spe iel-le preisgünstige Angebote unddie da u gehörende Werbunggab es nicht. Wörter ie Ra-batt oder Sonderpreis arenfür uns bedeutungslos. Dafüraber gab es Schlangen or denGeschäften – eindeutig dasSignal für ein außerge öhnli-ches Angebot. Beim Anstellen

usste man oftmals nicht,as es überhaupt gibt.

Suchen im IntershopDa ir fast keine Ver and-

ten im Westen hatten, be-stand auch das Problem dernicht immer einfachen Kon-taktpflege nicht. Über den sogenannten Kleinen Gren er-kehr besuchte uns bis u sei-nem Tod Onkel Willi ausEsch ege regelmäßig inMühlhausen. Eine Tafel „Sa-

Stadtrand. Sommerferien a-ren immer gleich lang: om1.Juli bis 31. August. Reise-Al-ternati en aren Ungarn, dieTschecheslo akei oder Bulga-rien, manchmal auch Russ-land. Über Jugendtourist, einestaatsnahe Gesellschaft, arenfür ausge ählte Personenauch Reisen nach Kuba mög-lich.

Der scheinbar dauerhafteVer icht auf Reisen in ferneLänder urde uns or allembeim heimlichen Sehen desWestfernsehens deutlich. InNord- und Westthüringenkonnte man – enn auch mitteil eise schlechter Bildquali-tät – „Dallas“, „Hitparade“oder „Der große Preis“ gut se-hen. Jeder hatte Arbeit – einArbeitsamt gab es nicht. Diemeisten Menschen arbeitetenin großen Betrieben ie „Mü-lana“, „Röhren erk“ oder„Cottana“.

Beim Fleischer, Bäcker oderin die Kaufhalle um die Ecke

VON C L AUD I A GÖTZ E

MÜHLHAUSEN. Die DDR inden 8 er-Jahren: Man hattesich eingerichtet in einem All-tag aus Schichtarbeit, Platten-

ohnung und eit eisemMangel an Waschpul er, Reisoder Ketchup. Die Mieten a-ren niedrig, Brötchen, Milchund Kindersachen stark sub-entioniert. Gurken gab es

nur in der Saison. Weiß- undRotkraut, Erbsen und Möhrenkamen häufiger auf den Tisch.

Beide Elternteile fuhren mitdem Bus ur Arbeit – fast alleKinder besuchten den Kinder-garten oder die Schule, o üb-rigens auch samstags unter-richtet urde und es nur fünfNoten gab. Ihre durchaus or-handene Reiselust befriedigtendie DDR-Bürger mit einem Fe-rienplat an der Ostsee oder imGebirge, mit Zelt und Cam-pinganhänger. FirmeneigeneBungalo s aren sehr beliebt– und der Schrebergarten am

Süßes kam aus HessenLeben in der DDR-Provinz: Sechs Schultage, fünf Noten und Urlaub nur im Osten

Geschichteder DDR• Bereits vor Ende des ZweitenWeltkrieges landet die GruppeUlbricht in Ost-Berlin. Sie be-stand ausWalter Ulbricht undanderen in die Sowjetunion emi-grierten und dort geschultenMitgliedern der Kommunisti-schen Partei Deutschlands(KPD). Sie sollen der Roten Ar-mee beim Neuaufbau der Ver-waltung helfen. Die sowjeti-schen Kommandanten überge-ben zahlreiche Schlüsselpositio-nen innerhalb der Kommunal-verwaltungen an deutsche Kom-munisten. Ulbrichts Devise: „Esmuss demokratisch aussehen,aber wir müssen alles in derHand haben.“• 21. April 1946: KPD und SPDauf dem Gebiet der Sowjeti-schen Besatzungszone vereini-gen sich zur Sozialistischen Ein-heitspartei Deutschlands(SED). Die Vereinigung findetunter politischemDruck und ge-gen denWillen der großenMehrheit der SPD-Mitgliederstatt. Die stalinistisch geschul-ten Politfunktionäre der KPD las-senMeinungsvielfalt nicht langezu. In den Jahren 1948 bis 1951kommt es zu regelrechten Säu-berungen. Die SED wird zur dik-tatorischen Kaderpartei.

• 7. Oktober 1949: Der 2. Deut-sche Volksrat erklärt sich zurProvisorischen Volkskammerund setzt die Verfassung derDDR in Kraft. Damit ist die Deut-sche Demokratische Republikgegründet. Der Ost-Berliner Ma-gistrat erklärt Berlin zur Haupt-stadt der DDR.• 11. Oktober: Wilhelm Pieckwird Präsident der DDR, OttoGrotewohl Ministerpräsident.• 17. Juni 1953: In der gesamtenDDR brechen Demonstrationaus, die später als Aufstand des17. Juni in die Geschichte einge-hen. Die SED strebt eine Stär-kung der Staatsmacht nach sow-jetischenVorbild an. BauernundBetriebe sollen durch erhöhteAbgaben zur Aufgabe ihrerSelbstständigkeit genötigt wer-den. Die Belegschaften treten inStreik und formieren sich zu De-monstrationszügen.• 18. Januar 1956: Die Volkskam-mer gründet dieNationaleVolksarmee. Bis zum 1. März1956 sollen die Stäbe und Ver-waltungen einsatzfähig sein. DieGründung ist das Ergebnis einerEntwicklung, die am10. Juli 1952mit der Proklamation der „Natio-nalen Streitkräfte“ begonnenhat.• 31. Mai 1960: Die Kollektivie-rung in der Landwirtschaft giltals vollendet. 19 345 Genossen-schaften sind bis zu diesem Taggegründet worden, die auf gut84 Prozent der landwirtschaftli-chen Flächen produzieren.

Zwangsvereinigung zur SED:Wilhelm Pieck (links, KPD) undOtto Grotewohl (SPD) im April1946 in Berlin.

Mit Pflastersteinen gegen Sow-jetpanzer: Volksaufstand in derDDR am 17. Juni 1953

Das Thema

28 Jahre lang – von 1961bis 1989 – mussten dieDeutschenmit der Mau-er leben, die das Landteilte und Familientrennte. Auf diesen bei-den Seiten schildernzweiKollegen,wiees sichdiesseits und jenseits derGrenze lebte. ClaudiaGötze berichtet aus demOsten,Werner Keller ausdemWesten. Außerdemschauen wir auf diesenSeitenaufdieGeschichteder DDR, die im Herbstvor 20 Jahren unterging.

Wer war wer in der DDR?Von Ulbricht bis Krenz – die wichtigsten Politiker der SED

Egon Krenz• 1937 Kolberg/Pommern ge-boren. In der SED stieg Kren1973 um Zentralkomitee-Mitglied auf. Ein Jahr späterübernahm er das Amt des Ers-ten Sekretärs des Zentralratesder Nach uchsorganisation„Freie Deutsche Jugend“(FDJ). 1983 rückte Kren indie Position eines ZK-Sekre-tärs und um Vollmitglieddes SED-Politbüros auf. ImOktober 1989 löste er Staats-chef Erich Honecker ab. Heu-te lebt der mittler eile 72-Jährige mit seiner Frau Erikaim Ostseebad Dierhagen.(mac)

Walter Ulbricht• 1893 in Leip ig geboren. Er

ar maßgeblich an der Grün-dung der SED beteiligt (1946)und urde ier Jahre späterSED-Generalsekretär. 1953

urde er Erster Sekretär desZentralkomitees der SED, aser bis 1971 blieb. 196 ählteman ihn um Vorsit endendes neugebildeten Staatsratsder DDR – dem Nachfolgeor-gan des Präsidentenamtes,mit dem der Staatsaufbau demso jetischen Vorbild eiterangeglichen urde. Am 1. Au-gust 1973 erlag er in Berlin sei-nem chronischen Her - undBlutdruckleiden.

Erich Honecker• 1912 in Neunkirchen imSaarland geboren. Honecker

urde am 3. Mai 1971 Nach-folger Ulbrichts als Generalse-kretär des Zentralkomitees(ZK) der SED. Nachdem er1971 auch im Nationalen Ver-teidigungsrat Ulbrichts Nach-folge als Vorsit ender angetre-ten hatte, ählte ihn dieVolkskammer am 29. Oktober1976 schließlich auch umVorsit enden des Staatsrats.Honecker starb am 29. Mai1994 in Santiago de Chile anLeberkrebs.

Margot Honecker• 1927 in Halle an der Saale ge-boren. Mit 22 Jahren schafftesie den Sprung in die Volks-kammer. 195 urde MargotHonecker Kandidatin des ZK.Ein Jahr u or lernte sie ErichHonecker kennen, bekam mitihm 1952 Tochter Sonja undheiratete ihn 1955. Margot Ho-necker urde oft „Miss Bil-dung“ genannt, eil sie on1963 bis 1989 Volksbildungs-ministerin ar. Heute lebt siein Santiago de Chile und be-

acht Gerüchten ufolge nochimmer die Urne ihres Mannes.

Erich Mielke•19 7 in Berlin geboren. Alsnach der DDR-Gründung MitteFebruar 195 das Ministeriumfür Staatssicherheit geschaf-fen urde, urde Mielke des-sen Staatssekretär und Mit-glied des Zentralkomitees derSED. Bis um Ende der DDRstand Mielke an der Spit e derStasi. Mit dem Rücktritt des al-ten Politbüros der SED 1989,einen Tag or der Gren öff-nung, kam für ihn das politi-sche Aus. Mielke starb am 21.Mai 2 im Pflegeheim„Haus K rit “ in Berlin.

Samstag, 1. August 2 9 20 Jahre MauerfallSZ-ZG2

e-paper für: 10216894

Page 3: HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

Vor 20 Jahren: Leben mit der Mauer

Pioniereinsatz bei Asbach in den 80er-Jahren: Angehörige der Grenztruppe setztenmit großem Aufwand anMaschinen undMaterial einen neuen Zaun. Foto: Keller

Asbach im Sommer 2009: ein Vorzeigeortmit 120 Einwohnern. Die Randlage ist ge-blieben. Eine Auskreisung nach Bad Sooden-Allendorf wurde abgelehnt. Foto: Forbert

Unser AutorWerner Keller (58); in Eschwe-ge geboren, seit 1970 bei der

HNA, seit 1977Leiter der HNA-RedaktionWit-zenhausen.Von1990 bis 1996war er Ressort-leiter in Thürin-gen.

Schönstes Dorf der Bundesrepublik: Alt-Bürgermeister Karl Mon-tag in Altenburschla mit der Plakette aus dem Jahr 1959. Foto: sff

Z ei Jahre or der Wen-de, 1989, machte sichder damalige Bundes-

kan ler Helmut Kohl (CDU)für die Beibehaltung der Zo-nenrandförderung stark: So-lange die deutsche Frage offensei und die innerdeutscheGren e ihren jet igen Charak-ter behalte, müsse die Förde-rung des Zonenrandgebietesfortgeset t erden, heißt es ineiner Regierungserklärungom 18. Mär 1987.Die ersten bescheidenen

Förderprogramme gingen be-reits auf die 5 er-Jahre urück.Später erhielt die Gren regionim Bundesraumordnungsge-set eine besondere Stellung.Geset esauftrag urde die Zo-nenrandförderung aber erst1971. Paragraph 1 bestimmte:„Zum Ausgleich der Aus ir-kungen der Teilung Deutsch-lands ist die Leistungskraft desZonenrandgebietes besondersu stärken.“An erster Stelle stand die

Steigerung der Leistungsfähig-keit der Wirtschaft. Mit Steu-ererleichterungen, In estiti-ons uschüssen und Zulagenso ie insgünstigen Kreditenaus dem Europäischen Wie-deraufbauprogramm (ERP)

urden ukunftssichere undstandortgerechte In estitio-nen gefördert.

Bescheidene SummenProminente Kinder der Zo-

nenrandförderung aren inunserer Region in Esch egeder LandmaschinenherstellerMasse Ferguson, in Wit en-hausen die Papier erke imGelstertal. In der Reihenfolgerangierte die Zonenrandförde-rung allerdings hinter der Hil-fe für Berlin.

Gefördert urden aberauch der Bau on Verkehrs e-gen im Gren gebiet und kultu-relle Veranstaltungen: DieHersfelder Festspiele ie auchdie Europa-Woche auf BurgLud igstein urden eit eiseaus Bonner Töpfen unter-stüt t.

Allein im Jahr 1986 erbrach-ten Förderprogramme Steuer-ersparnisse on einer Milliar-de Mark. Eine Summe, die sichim Vergleich u heutigen Kon-junkturprogrammen eher be-scheiden ausnimmt. ( ke)• Quelle: Die innerdeutscheGren e, Bundesministeriumfür innerdeutsche Be iehun-gen, 1987.

Hilfe für dieRandregionMillionen für Verkehrund Gewerbe

Dörfer und Städte jenseits a-ren so nah, aber nicht erreich-bar.

Die Menschen, die hier leb-ten, kannten sich aus: IhrSonntagsspa iergang führtesie in die Nähe der Eichsfeld-Gemeinde Linde erra: Überdie Werra drangen Stimmenaus den Gärten nach Hessen.

Liedgut als PropagandaVon einem Beobachtungs-

turm aus konnten die DDR-Gren soldaten die Lautspre-cher einschalten - und so ialis-tisches Liedgut als Propagandain den Westen schicken.

Noch martialischer irk-ten die Sperranlagen unterder malerischen BurgruineHanstein: An Laufanlagen

urden Hunde gehalten, diedie Gren e be achen sollten.Mittags fuhr ein Gelände a-gen über den Kolonnen eg.Fleisch urde als Futter abge-

orfen.Einblicke in einen DDR-Ort

gab es bei Asbach un eit onBad Sooden-Allendorf: EinDorf, das on ei Seiten omZaun umgeben ar. Hierschien die Welt u Ende. Dochentgegen allen Unkenrufen

urde das Leben in einem Zo-

Gren posten, kur be or erhessischen Boden erreichte. Erdürfte der let te Gren tote imthüringisch-hessischen Gebietge esen sein.

Die Gren e ar für die Be-ohner ständiger Begleiter:

Wer die B 27 ischen Wit-enhausen und Bad Sooden-

Allendorf mit dem Auto be-fuhr, sah jenseits auf den Fel-dern die Traktoren der LPGWilhelm Pieck Wahlhausen.Streifen on BGS und Zoll pa-trouillieren ständig und gabenein Gefühl on Sicherheit.

1972 ar für die Menschenin den Gren kreisen ein be-sonderes Jahr. Der Grundla-gen ertrag bescherte den klei-nen Reise erkehr und usät -liche Übergänge, so bei Duder-stadt. Mit einem Mehrfach-Vi-sum konnte man Ziele in denthüringischen Nachbarkrei-sen erreichen. Vereine undBürger nut ten die Möglich-keit, um das Eichsfeld, Mühl-hausen oder Eisenach mit derWartburg u besuchen. Eineeinseitige Erleichterung, onder die Menschen in der DDRnicht profitierten.

Bewohner bodenständigDie Gren landbe ohner

sind bodenständig. Trot demgingen iele aus dem Werra-Meißner-Kreis eg, aber nichtaus Angst or der Gren e, son-dern eil es u enig Arbeits-plät e gab.

Die große Politik schaffte eskaum, die Gren e durchlässi-ger u machen. Im Kleinenersuchte Neu-Eibenberg in

den 8 er-Jahren, einen usät -lichen Übergang auf der Schie-ne u erreichen. Man olltean die Glan eit als Ost-West-Drehscheibe anknüpfen. Dienördlichste Gemeinde desWerra-Meißner-Kreises muss-te sich noch gedulden: Die Lü-cke auf der Strecke Kassel-Hal-le urde erst am 26. Mai 199geschlossen. Doch eine Blütefür den Bahnhof brachte dasnicht.

Das gilt insgesamt für dieEnt icklung seit 199 : Vonder iederge onnenen Lagein der Mitte Deutschlandskonnte der Werra-Meißner-Kreis nicht irklich profitie-ren. Er kämpft mit den glei-chen Problemen ie or 1989:Job erluste und Ab ande-rung. Verstärkt hat sich nurder Ost-West-Verkehr, der sichtäglich über die Bundesstra-ßen 7 und 27 äl t.

geput t und suchten ihr Heilim Fremden erkehr.

Rückblende: In den erstenJahren nach dem Krieg ar diegrüne Gren e, on Russen be-

acht, noch einigermaßendurchlässig. Viele glaubten,die Aufteilung Deutschlandsin Zonen sei nur eine orüber-gehende Erscheinung. DieZeit eugin Lieselotte Isecke(heute 87) aus Neuseesen: „DieVopos kamen auch mal u unsins Dorf.“ Das änderte sich1952 schlagartig: Erste Abrie-gelungsmaßnahmen liefen an.

Im Gefolge des Mauerbaus1961 urde die Teilung e-mentiert: Ein Über inden derSperren ar nur noch unterLebensgefahr möglich.

Z ischenfälle an der Gren-e gab es ab und an: Mal gin-

gen Minen hoch, mal urdendie Sperranlagen om Früh-jahrshoch asser über-sch emmt. Mit Reporterglückkonnte man sch ar ge an-dete Pioniereinheiten fotogra-fieren, die bei Bauarbeiteneingeset t aren.

Folgensch er ar ein Ereig-nis am 3 . Mär 1982: DerDDR-Bürger Hein -Josef-Großestarb im Kugelhagel on

nengren kreis on den meis-ten nicht als Schicksal oderBelastung empfunden: DieRandlage nahm man nicht

ahr, das hässliche Attributom Armenhaus mochte man

sich nicht anheften. Den meis-ten Menschen ging es ja nicht

irklich schlecht.

„Die Vopos kamenauch mal ins Dorf“.

LIESELOTTE ISECKE (87)

Mit dem Begriff Zonenrand-gebiet kam man schon in derSchule in Berührung: Hiermuss der Staat Geld rein pum-pen, damit Betriebe bleibenoder neue kommen. Ansied-lungen sorgten dafür, dassMenschen aus anderen Regio-nen her ogen. Nordrhein-Westfalen aren stark ertre-ten.

Nicht nur auf DDR-Seite,auch auf hessischer Seite a-ren entlegene Orte - um Bei-spiel auf dem Ringgau - onder Verödung bedroht. Andere

ie Altenburschla (schönstesDorf der Bundesrepublik1959) urden mit Bürgerfleißund öffentlicher Hilfe heraus-

VON W E RN ER K E L L E R

WITZENHAUSEN. „Drübensteht kein Feind“. Der Te tauf den Info-Tafeln des Bun-desgren schut es ist mir nochheute gegen ärtig. Weiß-rotePfähle markierten in kur enAbständen den Gren erlauf:Z ischen ihnen und dem Me-tallgitter aun lag das Nie-mandsland. Wer sich hier auf-hielt, befand sich in Lebensge-fahr und konnte on Gren -aufklärern der DDR festge-nommen erden.

Bis um Fall der Zäune1989/9 aren die Gren sperr-anlagen in ge isser WeiseTouristenattraktion: gruseligund an iehend ugleich. Die

Besuch am Ende der WeltLeben im Zonenrandgebiet: Damals Armenhaus, heute wieder Problemregion

Geschichteder DDR• 13. August 1961: Wegen deszunehmenden Flüchtlings-stroms besetzen DDR-Truppenden Sowjetsektor Berlins undriegeln die Grenzen ab. An derBerliner Mauer wird derSchießbefehl ausgesprochen.• 26. Juni 1963: US-PräsidentJohn F. Kennedy besuchtWest-Berlin und ruft vor dem Schöne-berger Rathaus aus: „Ich bin einBerliner“.• Februar 1968: Bei den Olympi-schenWinterspielen inGrenoble(Frankreich) erkämpft sich dieerste eigenständige Olympia-DDR-Mannschaft fünfMedaillen.Nur noch eine gemeinsame Flag-ge und die Hymne verbindet dieOst- mit denWestsportlern.• 19. März 1970: Das erstedeutsch-deutsche-Gipfeltref-fen zwischen BundeskanzlerWilly Brandt und demVorsitzen-den des Ministerrates WilliStoph findet in Erfurt statt. Am21. Mai reist Stoph zum Gegen-besuch nach Kassel.• 9. April 1970: Nach einemVolksentscheid tritt die neueVerfassung in Kraft: Die DDR de-finiert sich als „sozialistischerStaat deutscher Nation“ .

• 3. Mai 1971: Nachdem ErichHonecker in einem Brief an diesowjetische Führung die Ablö-sung des Generalsekretärs desZentralkomitees fordert,mussWalter Ulbricht sein Amt anHonecker abgeben.• 7. Oktober 1974: Verfassungs-änderung, die DDRdefiniert sichals „sozialistischer Start der Ar-beiter und Bauern. Der Zusatz„deutscher Nation“ entfällt.• Liedermacher und Regimekriti-kerWolf Biermann erhält eineGenehmigung für eine Konzert-reise in der Bundesrepublik. Daserste Konzert findet am 13. No-vember 1976 statt. Es dient derSED als Vorwand für seineAus-bürgerung.• 26. August 1978: SigmundJähn fliegt in der sowjetischenSojus 31 zur Raumstation Saljut6. Er ist der erste Deutsche imWeltall.

• Mai 1989: Bürgerrechtler de-cken Fälschungen bei den Kom-munalwahlen auf.• Juni 1989: Nach der Nieder-schlagung der Demokratiebe-wegung in China lobt Politbüro-mitglied Egon Krenz dasmilitäri-sche Vorgehen Pekings.• 4. September 1989: In Leipzigfindet die erste Montagsde-monstration statt. Fortan wirdin vielen weiteren Städten de-monstriert. Die neu gegründeteSDP und das Bündnis 90 sindmaßgebend beteiligt.• 9. November 1989:Maueröff-nung.• 3.Oktober 1990:Wiederverei-nigung.

Tod eines Flüchtlings: DDR-Grenzer bergen den 17-jähri-gen Peter Fechter. Berlin,17. August 1962. Fotos: dpa

InnerdeutscherGipfel: DDR-Mi-nisterpräsident Willi Stoph(links) und Bundeskanzler Wil-ly Brandt am 21. Mai 1970 inKassel.

Samstag, 1. August 2 920 Jahre MauerfallSZ-ZG3

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Page 4: HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

Vor 20 Jahren: Leben mit der Mauer

Die Mauerin ZahlenAnzahl der Totenbleibt unklarAuch in nüchternen Zahlen istdie Mauer ein monströses Bau-werk. Die schrecklichste Bilanzist die Zahl der Toten, die jedochnicht genau feststeht, weil dieTodesfälle an der Grenze vonden Verantwortlichen der DDR-Staatsführung systematisch ver-schleiert wurden.

Die Berliner Staatsanwalt-schaft gab im Jahre 2000 dieZahl der nachweislich durch ei-nen Gewaltakt an der BerlinerMauer umgekommenen Opfermit 86 an.Wie schwierig genaueAussagen auf diesem Gebietsind, wird auch dadurch deut-lich, dass die „Arbeitsgemein-schaft 13. August“ ihre Zahl derMauertoten von 2000 bis 2004von 238 auf 190 korrigiert hat.

Betonmauern,Bunker und HundeDas Bauwerk bestand aus:• 156,4 km GrenzbefestigungumWest-Berlin zwischen 3,40und 4,20 m Höhe• 111,9 km Beton- und Stein-mauern und 44,5 kmMetallgit-terzaun•112,7 kmGrenzbefestigung imBezirk Potsdam• 43,7 km Grenzbefestigung in-nerhalb von Ost- undWest-Ber-lin (Sektorengrenze)• 58,95 km Grenzmauer in Plat-tenbauweisemit einerHöhevon3,40 m

• 68,42 km Streckmetallzaunmit einer Höhe von 2,90 m als„vorderem Sperrelement“• 161 km Lichttrasse• 113,85 km Grenzsignal- undSperrzaun• 127,5 km Kontakt- und Signal-zaun• 124,3 km Kolonnenweg• 186 Beobachtungstürmen(302 rund umWest-Berlin)• 259 Hundelaufanlagen• 20 Bunkern

Sieben Regimenteran der GrenzeFür den Schutz der Grenze zuWest-Berlin war in der DDR dasGrenzkommandoMitte derGrenztruppen der DDR zustän-dig, dem im Frühjahr 198911 500 Soldaten und 500 Zivil-beschäftigte angehörten.Es bestand aus sieben Grenz-

regimentern, von denen jedesfünf direkt geführte Grenzkom-panien besaß, außerdem je einePionier-, Nachrichten- undTransportkompanie, Granatwer-fer- und Artilleriebatterie, einenAufklärungs- und einen Flam-menwerferzug sowie eineDiensthundestaffel und unterUmständen eine Bootskompa-nie und Sicherungszüge oder -kompanien für die Grenzüber-gangsstellen.Das GrenzkommandoMitte

verfügte über 567 Schützenpan-zerwagen, 48 Granatwerfer, 48Panzerabwehrkanonen und 114Flammenwerfer sowie 156 ge-panzerte Fahrzeuge und schwe-re Pioniertechnik, und 2295Kraftfahrzeuge. ZumBestand ge-hörten außerdem 992 Hunde.

An einem normalen Tag wa-ren etwa 2300 Soldaten direktan der Grenze und im grenzna-hen Raum eingesetzt. Bei soge-nannter „verstärkter Grenzsi-cherung“waren es etwa 200mehr.

Patrouille an der Grenze

cherten Gren e Europas aus-gebaut, mit Schießbefehl,Selbstschussanlagen und Mi-nen.

Der Regierende Bürgermeis-ter Will Brandt hat sogleichheftig protestiert. Drei Tagenach Beginn der Abriegelungdemonstrieren 3 West-berliner usammen mitBrandt gegen die Teilung. Bun-deskan ler Adenauer kommterst ei Wochen später in dieStadt. Das haben ihm die Berli-ner nie er iehen.

Ihr Durchhalte illen irdgestärkt durch den amerikani-schen Präsidenten John F. Ken-ned , der ihnen im Juni 1963

ill die DDR-Führung auf die-se Weise das let te Schlupf-loch in den Westen schließen.Jet t hat sie die Erlaubnis.

Die Pläne sind schon durch-gesickert. Auch die Alliiertenin den Westsektoren sind on„drastischen Maßnahmen“age in Kenntnis geset t or-

den. Auf einer Pressekonfe-ren errät Ulbricht in einemDementi ersehentlich, el-che Form sie annehmen sol-len: „Niemand hat die Absicht,eine Mauer u errichten.“

Was unächst impro isierteSperren sind, ird nach undnach auch um den gesamtenWesten Berlins ur bestgesi-

VON SY LV I A GR I F F I N

D as erste Maueropferheißt Ida Siekmann. Siestirbt beim Sprung aus

ihrer Wohnung im drittenStock der Bernauer Straße ander Sektorengren e ischenBerlin-Mitte und Berlin-Wed-ding. Es ist der 22. August1961. Am nächsten Tag äreIda Siekmann 59 Jahre alt ge-

orden.Die Mauer ischen dem

Osten und dem Westen Ber-lins gibt es da bereits seit ehnTagen. Allerdings nicht in derperfiden, perfektioniertenForm, ie sie in späteren Jah-ren um S mbol der Unfrei-heit urde. Gegen ein Uhrfrüh am 13. August riegelnVolkspoli isten die Gren enom so jetischen Sektor um

Westen ab. Das Straßenpflas-ter ird aufgerissen, Pressluft-hämmer rattern. Asphaltstü-cke und Pflastersteine erdenu Barrikaden aufgeschichtet,

Betonpfähle eingerammt undDraht erhaue ge ogen. EinRias-Reporter, der das Gesche-hen an der Bernauer Straßeerfolgt, spricht on „ erroste-

tem Stacheldraht“.

Lange geplantDer Staatsrats orsit ende

der DDR, Walter Ulbricht, hatschon am 1. August dem so -jetischen Partei- und Regie-rungschef NikitaChruschtscho berichtet:„Der Stacheldraht ist bereitsangeliefert. Das kann allessehr schnell geschehen.“ Z i-schen 1945 bis um Bau derMauer sind et a 3,5 MillionenDeutsche aus so jetischer Be-set ungs one und DDR geflo-hen. Die DDR-Führung ist er-leichtert, dass die So jets ei-ner Abriegelung Berlins jet tustimmen. Seit neun Jahren

Bestgesicherte Grenze EuropasMit der Berliner Mauer wurde das letzte Schlupfloch der DDR-Bürger in den Westen geschlossen

Mut uspricht und sich u ei-nem der Ihren erklärt: „Ichbin ein Berliner.“

Im gleichen Jahr ird aucherstmals die Mauer et asdurchlässiger. Ein Passier-scheinabkommen ermöglichtVer andtenbesuche onWestberlinern im Osten. Inden Sieb igerjahren, im Zugeder Ostpolitik on Kan lerBrandt, gibt es auch Reiseer-leichterungen für Ostdeut-sche, or allem für Rentner.Und es gibt einen „kleinenGren erkehr“ überall ent-lang der Zonengren e - InRichtung Osten.

Die halb ersehentliche Öff-

nung der Mauer am 9. No em-ber 1989 ist der Schlussakt ei-nes bröckelnden Regimes, dassich nicht mehr halten kann.Ausreise ellen über Ungarn,die Tschechoslo akei und Po-len haben die Grundlagen der„so ialistischen Republik“ er-schüttert. Täglich ansch el-lende Massenproteste auf denStraßen machen die Macht er-hältnisse klar: Der Staat ist usch ach ge orden, um sichu behaupten.Es ist ieder ein 13., dies-

mal der 13. Juni, als 199 ander Bernauer Straße der offi-ielle Abbau der Mauer be-

ginnt.

Qelle:DPA

Mauerbau-Beginn:Öffnung:

13. 8. 19619. 11. 1989

Kontakt-Signalzaun

mehrere Draht-reihen unterelektrischerSpannung

(optische/akus-tische Signale bei

Berührung)

Hinterland-sperrzaun

2 - 3 m hoch

Lichttrasseam „Todesstreifen“garantiert gute Sichtfür Bewacher

Laufanlagefür Ketten-hunde

Beobachtungsturm

Kfz-Sperrgrabenteilweise mitBetonplattenverstärkt

Kolonnenwegfür motorisierteStreifendienste

Mauer ausindustriell -gefertigten Beton-segmenten, 3 - 4 mhoch, 10 cm dickmit Rohranlage(Mitte 70-er Jahre)

GrenzmauerPlattenbau(Mitte 60-erJahre)

Grenzverlauf

Gesamtlänge: 155 km

Beobachtungstürme: 186Führungsstellen: 31

Wachhunde:Gelungene Fluchten über Mauerund Todesstreifen(1961 - 1989):

4845 075 davon 574Fahnenfluchten

davon 43 km imStadtgebiet

Berlin-West

Bornholmer Str.Chausseestr.

Invalidenstr. Prinzenstr.

Oberbaumbrücke

Sonnenallee

KontrollstelleWaltersdorferChaussee

KontrollstelleDreilinden/Drewitz

KontrollstelleHeerstr./Staaken

KontrollstelleHeiligensee/Stolpe Dorf

Friedrichstr.Checkpoint Charlie(Grenzübergang fürAusländer, Alliierte,

Diplomaten)

Berlin-Ost

DIE BERLINER MAUER

Sprung in die Freiheit: Der BerlinerDDR-Volksarmist Conrad Schu-mann flüchtet Anfang der 60er-Jahre in den Westteil der Stadt -dabei entstand das historische Foto. Schumann lebte später imoberbayerischen Kipfenberg, wo er sich im Sommer 1986 das Le-ben nahm. Foto: dpa

Tod an der Mauer: Der 17-jährige Peter Fechter versuchte am17. August 1962, über die Berliner Mauer zu klettern, wurde abervon DDR-Posten niedergeschossen. Mehr als 50 Minuten lag erblutend und schreiend am Grenzstreifen, bevor er geborgen wur-de - zu spät. Foto: dpa

Die Resteder MauerNur drei Teilstücke der Grenz-mauer sind amOriginalstandorterhalten geblieben. Alle findensich im Berliner Ortsteil Mitte:• Der längste erhaltene Ab-schnitt der Grenzmauer steht ander Bernauer Straße, ist aberdurch größere Lücken unterbro-chen. Der östliche Teil diesesMauerabschnitts wurde in diedort errichteteGedenkstätte in-tegriert unddafür ins ursprüngli-che Erscheinungsbild versetzt.Graffiti und Spuren von Mauer-spechten wurden beseitigt.• Ein fast ebenso langer, nur voneiner kleinen Lücke unterbro-chener Restabschnitt der Grenz-mauer steht an derNiederkirch-ner Straße am Ausstellungsge-lände der Topographie des Ter-rors, gegenüber dem Bundesfi-nanzministerium.Erwurde1990unter Denkmalschutz gestellt.• Der dritte erhaltene, ebenfallsdenkmalgeschützte Abschnittder Grenzmauer ist nur ca. 15Meter langund findet sichanderLiesenstraße.

Deutlich mehr und häufig län-gere Teilstücke sind von der Hin-terlandmauer erhalten geblie-ben, die den Grenzstreifen aufOst-Berliner Seite abschloss. Sieliegen zumeist abseits von Stra-ßen und Plätzen und standendaher Bauvorhaben der Nach-wendezeit nicht imWege. DieseMauerreste sind nur zum Teildenkmalgeschützt.An vielen Stellen entlang der

früheren Grenze deutet einPflasterstreifen auf dem Bodenden früheren Mauerverlauf an.

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Page 5: HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

Vor 20 Jahren: Leben mit der Mauer

Neue Bücher zuDDR und MauerDie SED-Nachfolgerauf demWeg zurückAls die SED-Diktatur im friedli-chen Herbst 1989 in sich zusam-menbrach, hätte wohl niemandgedacht, dass die Staatsparteider DDR zwanzig Jahre späterdie Geschicke der Bundesrepu-blik mitbestimmen könnte.Doch nachmehrfachen Meta-morphosen, dubiosen Verschie-bungen ihres Milliardenvermö-gens und dem Zusammen-schluss mit westdeutschen Alt-linken drängt die Partei zurückan die Macht.Hubertus Knabe, Leiter der

Stasi-Gedenkstätte Hohen-schönhausen, lässt das nicht ru-hen. In seinemBuch „HoneckersErben“ zeigt er auf , in welchbeunruhigendemMaße es einepersonelle, programmatische,organisatorische und finanzielleKontinuität von der SED zur Par-tei „Die Linke“ gibt. Knabe analy-siert dabei in pointierter Weisedie totalitäre Tradition der Par-tei und schaut zurück in die Ge-dankenwelt der alten SED.•Hubertus Knabe: „HoneckersErben - DieWahrheit über DieLinke“ Propyläen-Verlag, 448Seiten, 22,90 Euro

Die Geschichtevergeht nichtDezember 1977: Alles sollte an-ders werden, als Susanne Schäd-lichdieDDRverließ.Docheswarder Beginn einer dramatischenZerreißprobe: Der Westen warfremder als gedacht, und derlange Armder Stasi verfolgte dieFamilie auch hier. Erst Jahre spä-ter, im geeinten Deutschland,gelang es ihr, anzukommen.Aber Geschichte vergeht nicht,sie holt einen immerwieder ein.Susanne Schädlich legt ein scho-ckierendes Dokument über Ver-rat und Feigheit, Niedertrachtund Verdrängung vor.• Susanne Schädlich: „Immerwieder Dezember - DerWes-ten, die Stasi, der Onkel undich“, Droemer Sachbuch, 16,95Euro

Der erste Rissin der MauerIm Sommer 1989 packten tau-sende DDR-Bürger die Koffer,um nach Ungarn zu reisen undvon dort nie wieder in die DDRzurückzukehren. Man hatte ge-hört, dass der „Eiserne Vorhang“zwischen Ungarn und Öster-reich durch den Abbruch dermaroden Grenzbefestigungsan-lagen gefallen war, undmanhoffte, dem DDR-Regime aufdieseWeise endlich entrinnenzu können. Indessen waren we-der die DDR-Bürger noch dieUngarn darauf vorbereitet, wasdaraus werden würde. AndreasOplatka rekonstruiert die politi-sche und diplomatische Vorge-schichte der Entscheidung, dankder sich die ungarische Grenzezu Österreich schließlich für diefluchtwilligen Deutschen ausder DDR öffnete.• Andreas Oplatka: Der ersteRiss im Eisernen Vorhang - Sep-tember 1989: Ungarn öffnetdie Grenze“, Zsolnay-Verlag,304 Seiten, 21,50 Euro

Die dämonische Seitedes BiedersinnsDie Drahtzieher leben bis heuteoft unbehelligt unter uns – Jür-gen Schreiber deckt persönlicheAbgründe der Stasi-Agentenund ihrer Hintermänner, perfideAktionen und geheime Opera-tionen des Ministeriums fürStaatssicherheit auf. Es sindspektakuläre Enthüllungen überdie dämonische Seite des sozia-listischen Biedersinns.• Jürgen Schreiber: „Die Stasilebt“, KnaurVerlag, 224Seiten,8,95 Euro

Zur PersonDieter Gräf (65), geboren in Ronneburg (Thüringen), studierteRechtswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena

undwar von 1970 bis 1982 als Rechtsanwalt inWei-mar tätig. Anschließend arbeitete er als Verwal-tungsjurist in einer kirchlichen Einrichtung in Mag-deburg und siedelte 1984 auf eigenen Antrag in dieBundesrepublik über.Zunächst seit 1988 wieder als Anwalt tätig, war

Gräf dann von 1991 bis 2009 in einer Bundesober-behörde tätig, die Restitutionsverfahren in den neuen Ländern bear-beitete. Er verfasste zudem Expertisen für die Enquete-Kommissiondes Bundestages zur „Aufarbeitung der SED-Diktatur“.Gräf ist verheiratet und lebt heute in Lübeck und Oranienburg.

• „Im Namen der Republik - Rechtsalltag in der DDR“ von DieterGräf, Herbig-Verlag, 256 Seiten, 19,95 Euro

GRÄF: Das angebliche Rechtauf Verteidigung urde u ei-ner Farce.Hatten Sie jemals dasGefühl,

dass es bei Richtern, Staatsan-wälten oder Vernehmern Be-denken gegen ihr Handeln vor-handen waren?

GRÄF: Es gab erein elt sol-che Fälle. Ich kenne einenRichter, der in einer Verkehrs-unfallsache nicht dem Staats-an alt folgte und eine Frei-spruch erkündete. Der Rich-ter musste sich dann bei derSED-Kreisleitung dafür erant-

orten. Eine andere Richterinhat mal einen Haftbefehl ab-gelehnt - sie urde dann nichtmehr als Richterin eingeset tund urde umgeset t.Stimmen Sie nach Ihren Er-

fahrungen der Charakterisie-rung der DDR als Unrechtsstaatzu?

GRÄF: Ja, das muss man sosagen. Die gegen ärtige Ver-klärung der DDR halte ich fürsehr bedenklich.

• Eine Lang ersion des Inter-ie s finden Sie in unserem

Internetangebot unterwww.hna.de/politik

legt, dass die Staatsan alt-schaft Bedingungen für denUmgang ischen An alt undMandant festlegen konnte.Wenn man dennoch ersuch-te, dem Inhaftierten in er-brämter Weise et as mit utei-len, machte man sich schnellunbeliebt. In dem er ähntenFall urde der Häftlingschließlich gedrängt, einen an-deren - dem S stem genehmen- Verteidiger u beauftragen.Was bedeutete das für den

Angeklagten?

War das nur in politischenFällen so?

GRÄF: In Straf erfahren ohnepolitischen Hintergrund konn-te der Rechtsan alt den Be-schuldigten oder Angeklagtenin der Regel ohne Vernehmersprechen und dessen Rechts-ertretung übernehmen.Hatten Beschwerden - etwa

gegen Behinderungen beimMandantengespräch - über-haupt mal Erfolg?

GRÄF: Kaum. Denn in derStrafpro essordung ar festge-

Können Sie ein Beispiel nen-nen?

GRÄF: Man durfte mit demVerhafteten unächst nichtüber die Vor ürfe, sondernnur über die Person sprechen.Ich hatte den Fall eines Man-nes, der inhaftiert orden

ar, der immer ieder er-nommen urde und dem mandann die Empfehlung gab, ersolle einen An alt kontaktie-ren, um orsorglich ein Testa-ment aufset en u lassen. Dasist eine schlimme Situation,das nenne ich ps chischenTerror.Konnte Sie mit dem Mann

ungestört sprechen?GRÄF: Nein. Es ar immer

ein Vernehmer des MfS dabei.Und ie ir heute issen,sind ahlreiche Gespräche

ischen An alt und Man-dant auch abgehört und ge-filmt orden.Waren die Angeklagten also

rechtlos?GRÄF: Sie aren dem Minis-

terium für Staatssicherheitquasi schut los ausgeliefert.Von einem irkungs ollenRecht auf Verteidigung konn-te keine Rede sein.

VON WOL FGANG B L I E F F E R T

U nter dem SED-Regimeurde die Rechtsspre-

chung als schlagkräfti-ges Instrument ur Sicherungdes totalitären Machtapparatsmissbraucht. Darüber spra-chen ie mit Dieter Gräf, der –ob ohl parteilos – in der DDRselbst jahrelang als Rechtsan-

alt tätig ar.

Herr Gräf, Sie schildern in Ih-rem Buch, wie die anwaltlicheTätigkeit durch die Staatsorga-ne massiv behindert wurde.War das der Normalfall?GRÄF: Wenn die Stasi ermit-

telte, ar das so. Das Ministe-rium für Staatssicherheit(MfS) hatte die Rechte einesErmittlungsorgans, bereiteteVerfahren or und beeinfluss-te das gerichtliche Haupt er-fahren massi . Einem Ver-dächtigen urde es sch er ge-macht, überhaupt mit einemAn alt Kontakt auf uneh-men. Und dem An alt ur-den Knüppel ischen die Bei-ne ge orfen beim Versuch,überhaupt eine An alts oll-macht u bekommen.

„Das war damals psychischer Terror“Rechtsanwalt Dieter Gräf spricht über die Schwierigkeiten eines Strafverteidigers in der DDR

In Berlin urde Santos beiAußentemperaturen on mi-nus 2 Grad die Nacht über ineinem unbehei ten Glaskäfigfestgehalten. „Eine Decke be-kam ich nicht. Die Poli istenlachten nur“, erinnert sich der54-Jährige. Einen Tag späterbegannen die Verhöre. „Weilich mich eigerte, aus usa-

er eine künstleri-sche Ausbildungbeginnt. Santosent ickelte sichom Vor eige-Bür-

ger um unliebsa-men Zeitgenosse.

1979 stellte erseinen ersten ondrei Anträgen aufAusreise in dieBundesrepublik –alle urden ohneBegründungenabgelehnt. „Dannmachte ich dengrößten Fehlermeines Lebens“,sagt er. Um eineAusreisegenehmi-gung u bekom-men, über eugteer seine damaligeFreundin da on,eine Scheinehemit einem Ameri-kaner ein uge-hen, den er ufäl-lig in einer Knei-pe in Berlin-Pan-ko kennenlern-te. „Drei Monatespäter konnte Jut-ta tatsächlich aus-reisen.“

Von Westberlinaus, ersuchte sie,Harr Santos usich u holen. „Es

ar ein nai erPlan“, meint dergebürtige Leip i-ger heute. SeineAusreise urdenicht be illigt,nachdem bekanntge orden ar,dass die Ehe fin-giert ar. Santos:„Meine Gesprächemit Jutta on ei-ner Telefon elleaus, urden abge-hört.“

Also schmiedete er Flucht-pläne – und machte einen

eiten großen Fehler: Er er-traute sich einer Bekanntenan, die ihn an das Staatsminis-terium für Staatssicherheit er-riet. Wochenlang urde San-tos on der Stasi bespit elt undobser iert und Ende 1982 er-haftet. Der Terror begann.

VON MARC RADK E

V erfallene, farblose Stra-ßen, Tristesse und eindiktatorischer Un-

rechtsstaat. Das sind HarrSantos Erinnerungen an dieDDR. Oft reichte ein kritischesWort, ein erdächtiger Le-benslauf oder der Verrat einesNachbarn, um festgenommenund inhaftiert u erden.Auch Santos urde Opfer desStasi-Regimes.

„Aber ich hatte nochGlück“, sagt er. Ein Sat , dernoch häufiger u hören ist,

ährend er über seine Vergan-genheit er ählt. Doch Glückist in seinem Fall relati : Derdamals 28-Jährige urde 1982u einer einjährigen Haftstra-

fe mit anschließender Poli ei-aufsicht erurteilt. Man arfihm eine „Vorbereitung undPlanung um illegalen Gren -übertritt im sch eren Falle“or. Nach neun Monaten Hafturde Santos on der Bundes-

republik freigekauft – ieet a 34 andere inhaftier-te DDR-Bürger. Was er jedochbis dahin in der Stasi-Haft er-lebt hatte, ar reinster „Ps -choterror“, meint er.

Santos ollte mit seiner da-maligen Lebensgefährtin inden Westen, um sich seinerLeidenschaft, der abstraktenKunst u idmen. Schon als Ju-gendlicher interessierte er sichdafür. „Diese Kunstform ar inder DDR jedoch erdächtig,

urde bearg öhnt“, sagt er.Sein Vater - ein höherer SED-Funktionär - ollte nicht, dass

Mit Mördern in einer ZelleHarry Santos wurde zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er die DDR verlassen und sich der Kunst widmen wollte

gen, sperrten sie mich in einekleine dunkle Zelle im Keller.“Von dort aus kam er in die sogenannte grüne Hölle – eineZelle, in der rund um die Uhrgrelles Neonlicht brannte.„Später brachte man michdann in eine überhit te, mitHäftlingen überfüllte Zelle.Man bekam dort kaum Luft.“

Während der Untersu-chungshaft in Berlin-Rum-melsburg sperrte man Santosusammen mit einem Mörder

in eine Zelle und behandelteauch ihn ie einen solchen.Dann musste Santos seine ei-gentliche Haftstrafe antreten.

Drei eitere Gefängnissum-üge folgten. In der Haftan-

stalt in Neustrelit teilte ersich Zellen mit Kinderschän-dern und musste ie einSch er erbrecher ölf Stun-den am Tag im AußeneinsatAkkordarbeit leisten. „Sie er-passten einem Handschellen,drückten sie so fest u, dasssich das Blut staute.“

Von Neustrelit aus ging eseiter: „Ohne Kommentar

steckten sie mich in einen alsLieferfahr eug getarnten Ge-fangentransporter ohne Fens-ter. Ich usste nicht, o siemich hinbringen“, sagt San-tos. Es ar die berüchtigte Un-tersuchungshaftanstalt desMinisteriums für Staatssicher-heit in Berlin-Hohenschön-hausen.

„Aber ich hatte Glück. Ichurde dort in einer kleinen

Ein el elle nur einige Tageischengeparkt“, meint der

mittler eile 54-Jährige. In ei-ner eiteren Nacht-und-Nebel-Aktion urde er dann in dieStraf oll ugsanstalt nach Karl-Mar -Stadt, dem früheren undheutigen Chemnit , überführt.Von dort aus urden Stasi-Häftlinge on der Bundesregie-rung freigekauft.

Am 4. August 1983 ar esauch für Santos so eit. Frei-heit. „Bis ur Gren e, o dieier Stasi-Männer den Bus er-

ließen, hatte ich Angst. Als ichdann die Gren e überquerte,

ar das ein unbeschreiblichesGefühl, mein eiter Geburts-tag“, erinnert er sich.

Einsicht in seine Stasi-Aktehat Santos, der mittler eile inWestberlin lebt, nie bean-tragt. „Ich ill das nicht. Ich

eiß, dass man in meinem In-timleben rum schnüffelte, dasreicht mir“, sagt der heutigeKünstler. Außerdem habe er janoch Glück gehabt, anderehat es schließlich noch härtergetroffen als ihn.

Menschenunwürdige Zustände: Eine Zelle im Zellentrakt „Das U-Boot“ im ehe-maligen Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen. Foto: dpa

Harry Santos wurde zu einereinjährigen Haftstrafe mit an-schließender Polizeiaufsichtverurteilt.

Foto: Gedenkstätte Hohenschönhausen

Samstag, 1. August 2 920 Jahre MauerfallSZ-ZG5

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Page 6: HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

Vor 20 Jahren: Leben mit der Mauer

VON SY LV I A GR I F F I N

A ls meine Kindheit ende-te, ar ich neun Jahrealt. Der Einschnitt

durch die Flucht aus der DDRar so abrupt, dass damit einöllig anderes Lebensstadium

begann, das kein unbesch er-tes Heran achsen mehr ar.Ich ar Flüchtling. Außensei-ter. Anders als die anderen.

Der Verlust on Freunden,om gesamten gesicherten Le-

bens usammenhang, ondem ein Kind unbe usst aus-geht, ar unumkehrbar.Nicht das Fortgehen ar dra-matisch, sondern die Unmög-lichkeit der Rückkehr.

Mein Anderssein eigte sichnicht nur in dem leichten Thü-ringer Dialekt, den ich balderlor, sondern im Kontrast u

frühen Erfahrungen. Manmusste in der Schule nichtmehr ersch eigen, elcherRadiosender u Hause lief.Man urde nicht ausgefragt,

elche Haltung die Eltern ubestimmten Themen hatten.Man musste sich nicht recht-fertigen, eil man sonntags indie Kirche ging.

E s gab keine kollekti eSchulung im „richtigen“Denken, mit blauem Pio-

nierhalstuch und langen, un-erständlichen Phrasen, die

alle irgend ie mit So ialis-mus u tun hatten. Eine De-monstration ar et as, dasauch gegen die Regierung ge-richtet sein durfte. Ich kannteDemonstrationen nur als An-treten in geordneten Fünfer-reihen mit Transparenten, dieden Aufbau des So ialismusund die Staatsführung unter-stüt ten.

Das Wirtschafts under arnach dem Neuanfang mit dembescheidenen Inhalt on eiKoffern für uns besondersfühlbar. Pflichtbe usstschickten ir Päckchen an Be-kannte „nach drüben“, eilon dort eiter Berichte der

Mangel ersorgung kamen.Weihnachten stellten ir Ker-en ins Fenster, um an die

Deutschen hinter dem Sta-cheldraht u erinnern. MitTränen in den Augen hörten

ir Rundfunkreportagen überden Mauerbau. „Diese Sch ei-ne“ sagte mein ortkarger Va-ter ein ums andere Mal.

Der Blick nach drübenDie Flucht aus der DDR als zentrale Erfahrung eines Lebens - eine persönliche Betrachtung

Mein frühes Interesse fürPolitik ar Reaktion auf dieErfahrung erordneten Den-kens. Welcher Lu us, Bundes-tagsdebatten u hören, in de-nen Konrad Adenauer, FritErler und Fran Josef Straußtatsächlich um Inhalte strit-ten! Keine heruntergeleiertenParolen um Fortschritt derBraunkohle- und Stahlproduk-tion!

D ie frühe Berührung mitdem real e istierendenSo ialismus entfremde-

te mich ein Stück on meinereigenen Generation. Die 68erhatten in ielem recht - abergegen ihre Helden Mao undHo Tschi Minh ar ich im-mun. Mein Blick nach drüben

ar nüchterner: Ein kleinerGemüsehändler ie mein Va-ter konnte über Nacht als „Ka-pitalist“ enteignet erden.Die Sch ester durfte nichtstudieren, eil sie kein „Ar-beiter- und Bauernkind“ ar.Also ist Ideologie kein Ersatfür Freiheit.

Mit heißem Her en unter-stüt te ich hingegen die Ost-politik Will Brandts. Endlicheine schritt eise Annäherungon West und Ost. Endlich je-

mand, der nicht nur on den„Brüdern und Sch estern“ inder DDR sprach, sondern ihreBedürfnisse im Auge hatte. Je-mand, der für Be egung imerstarrten Nebeneinander derS steme sorgte.

Die mutige Re olution derOstdeutschen ist eine Stern-stunde unserer Geschichte.Als kleinen Nebeneffekt hatsie mein Leben an manchenBruchstellen ieder an ach-sen lassen, eil ich die er-trauten Wege der Kindheit,die erloren schienen, heute

ieder gehen kann.

Blick nach drüben: US-Präsident Kennedys Berlin-Berater Lucius D. Clay imNovember 1962 amBran-denburger Tor. Foto: dpa

Unsere AutorinSylvia Griffin (61), in Weimargeboren, verließ die DDRmit ih-

rer Familie1956. Das jour-nalistischeHandwerk inStudium undPraxis lernte siein den Vereinig-ten Staaten.

Seit 37 Jahren arbeitet sie für dieHNA; seit 1991 als Hauptstadt-Korrespondentin.

ten sich in Richtung Abferti-gungsbaracke in Be egung...da stürmten mehrere Solda-ten aus der Baracke und trie-ben uns mit orgehaltenenMaschinenpistolen ieder u-rück in die britische Besat-ungs one, erschlossen die

Schranke und gingen ur Ba-racke urück. Ab sofort ur-den ir mit Lautsprecher mitMusik und politischen Parolenberieselt.

Nach geraumer Zeit er-schien ein so jetischer Sol-dat, Alter et a 18 bis 2 Jahre,und hielt uns einen Vortragüber die „Dis iplin des So jet-menschen und des DeutschenMenschen“... Später urde derSchlagbaum geöffnet und dieGren -Übertrittspro edurkonnte beginnen. Der Zug abArenshausen ar natürlichabgefahren, so bin ich erst am1. Weihnachtstag spätnach-mittags in Halberstadt ange-kommen...Karl Ebel, Hann. Münden

W enige Jahre nachKriegsende ollten

ir - meine Frau, un-ser kleiner Sohn und ich - dieWeihnachtstage gemeinsambei ihren Eltern in Halberstadt(so jetische Besat ungs one)erbringen. Frau und Sohnaren schon einige Tage or

Weihnachten nach „drüben“gefahren. Ich sollte am Heilig-abend nachkommen.

Mit gemischten Gefühlenmachte ich mich in aller Frü-he auf den Weg ur Gren -übergangsstelle Niedergan-dern/Kirchgandern. Innerhalbkur er Zeit hatten sich eitmehr als 1 Personen amSchlagbaum eingefunden. Wiralle arteten auf die Einreise-Kontrollabfertigung... DerGren übergang irkte ieausgestorben.

Plöt lich ar es mit derRuhe orbei, denn einigeKriegs ersehrte (Beinampu-tierte) hoben den Schlagbaumhoch und alle Wartenden set -

Verspätet zum FestErfahrungen mit sowjetischen Soldaten

Unsere Leserüber die DDRAnfang Juli hatten wir Sie, liebeLeserinnen und Leser, gebeten,uns von Ihren Erinnerungen andie DDR undMauer zu berich-ten. Hier Auszüge aus dem zahl-reichen Zuschriften, für die wiruns herzlichen bedanken.

Seltsame Schikanenbeim Transit„Als gebürtiger West-Berliner,Jahrgang 1950, habe ich viele Er-innerungen an die Zeit der Mau-er. Nach Einführung der Ver-wandtenbesuche ausWest-Ber-lin in die DDR habe ich natürlichauchdieGrenzkontrollenerlebt.Ebenso die Transitfahrten in dieBRDmit den damit verbunde-nen Kontrollen und teilweisedoch recht seltsamen Schika-nen.Da ich auch oft in der DDR zu

Besuch war, bin ich heute frohdass ich dieDDRerlebt habewiesie wirklich war. Ich habe da-durch nicht die verklärte undseichte Ostalgiementalität.“

Gerhard Heintze,Witzenhausen

Die DDRwareinfach Ausland„Die damalige Ostzone war miraus düsteren SchilderungenDritter bekannt, da wir keinerleiverwandtschaftliche oderfreundschaftlicheVerbindungendorthin hatten. Es war von Be-drohungen, Bespitzelungen undäußerst knappemWarenange-bot die Rede. Für mich war ein-fach Ausland, und zwar eines, indas ich nie reisen wollte.Bei Transitstrecken und

Grenzkontrollen bot sich einähnlich finsterer Anblick: Ver-hangene Fenster, schroffe Be-handlung durch Grenzer, keineStopps, Grenzkontrollen bis aufdie bloße Haut und Durchsu-chen von PKW, die bis zu einerDemontage des Chassis führ-ten“.Und zur Wiedervereinigung:

„Wir konnten es lange nichtglauben, was da passierte ... Erstdie kilometerlangen Auto-schlangen, die sich aus Mündenbis über Witzenhausen hinausbildeten, zeigtenuns, es istwahr,die Entwicklung wird sich nichtaufhalten lassen.... So ist es auchgekommen, aber der Preis dafürist hoch. IreneWegmann,

Hann.Münden

Jahreswechselder EmotionenSilvester 1989/90 hatte die DDRfür kurze Zeit die Grenze bei Ho-hengandern geöffnet. Wildfrem-de Menschen aus beiden TeilenDeutschlands lagen sich in denArmen und begrüßten das NeueJahr. Ein derartiges Silvesterhabe ich noch nie erlebt. Es warein Jahreswechsel der Emotio-nen. Angst hatte ich nur, ob ichheil aus der DDR wieder raus-kommen würde. Als Bundes-wehrangehöriger war es mirstrikt untersagt, den Boden derDDR zu betreten.

Karl Wetzel, Calden

Zwei Deutschlandskommen zusammenMir fällt der Ausruf eines ägypti-schen Arbeitskameraden ein :„Two Germanies come toget-her!“ Ichmusste damals nach er-folgter Übergabe einer Stuck-gipsfabrik im Sinai ab Oktober89 bis Weihnachten zur Einar-beitung der einheimischenMannschaft an der Anlage blei-ben. Radio und TV hatte ichnicht. Ich konnte dem jungenMann aus einem kleinen Bedui-nendorfnichtglauben. Eswar fürmich unvorstellbar, das dieserPolizeistaat sang- und klanglosaufgeben sollte.Emil Bornemann, Bad Hersfeld

A n eine Jahr ehnte langeTrennung Deutschlandsdachte nach Kriegsende

niemand on uns. Das arUtopie. Aber die Welt ar imUmbruch, da konnte man sichals Kriegs erlierer keinen Illu-sionen hingeben und Progno-sen anstellen.

Ich erinnere mich noch ge-nau an den Tag, als uns die

Meldungen om Mauerbau ander DDR-Gren e erreichten.Wir aren da on emotionalstark be egt, schockiert undmaßlos empört über die Tei-lung des Landes... Für mich

ar es ein historischer Wider-sinn, ein Volk illkürlich überlange Zeit u teilen.

Als ich später die DDR be-suchte, ar ich erschrocken

über den Zustand des Landes,über die ollkommen unge-pflegten Städte und Dörfer.Aber ich ar immer on einerWieder ereinigung über eugt– trot eisernen Vorhangs...

Nachdem ich 1987 MichailGorbatscho s Buch „Peres-troika“ gelesen hatte, ussteich: das ist der Mann, der dieWelt erändern ird... Auchdie DDR ar reif für einenWandel. Aber die erkruste-ten SED-Gehirne klammertensich an ihre Ideologie.

Was dann jedoch geschahist beispiellos in der Geschich-te. Ge altlose Aufständebrachten ein diktatorischesRegime um Stur . Atemloshaben ir dies erfolgt, undals die Mauer brach, ar eineGefühlsflut die Folge. Beson-ders ir Älteren aren be-

egt: Wir aren ieder ein ei-niges Deutschland, ie ir esals Kinder kannten.

Horst Buchborn-Klos,Hatzfeld/Eder

Unvergessen der 3. Oktober 1990: Mit Fanfaren und Feuerwerkenfeierten die Menschen dieWiedervereinigung. Foto: dpa

Beispiellos in der GeschichteDer Mauerfall sorgte besonders bei Älteren für Gefühlsausbrüche

Samstag, 1. August 2 9 20 Jahre MauerfallSZ-ZG6

e-paper für: 10216894

Page 7: HNA-Spezial: Die innerdeutsche Grenze und das Leben im geteilten Deutschland

Vor 20 Jahren: Leben mit der Mauer

Die Mauer ist offen: Am Abend des 9. November strömen DDR-Bürger zu Fuß oder mit ihren Autos in denWesten. Foto: dpa

die Bühne. Bei dem Funktio-när keimt sogar ieder dieHoffnung auf: Ist die Friedfer-tigkeit nicht auch ein Aus-druck dafür, dass die Men-schen die ruinierte DDR ir-gend ie doch respektieren?Die Reisefreiheit könnte demStaat schließlich S mpathieneinbringen.

Auf dem HolzwegSpäter erkennt Schabo ski,

damit auf dem Hol eg ge e-sen u sein. „So bin ich in die-ser Stunde ischen Bangen,Ängsten und Selbstbesch ich-tigung onen eit entfernton den Gefühlen der Men-

schen, die nur einige Meteron mir da on beseelt sind,

endlich den Schritt in jeneFreiheit u tun, die sie uns ab-getrot t haben“, schreibt er inder „Zeit“

Und Schabo ski räumt spä-ter auch mit der Legende auf,der Mauerfall sei so usagenein unge ollter Versprecherge esen. Auf der ZK-Sit ungam 9. No ember habe Hone-cker-Nachfolger Egon Krendarauf gedrängt, die neue Rei-seregelung bekannt u geben.Eine entsprechende Durch-führungsbestimmung, die al-les genau regelte, sollte am1 . No ember um ier Uhrfrüh on einem Rundfunk-sprecher bekannt gegeben

erden.Doch da u kam es nicht

mehr. Am 1 . No ember ur-de schon längst in ganDeutschland gefeiert.

schen, die in den Westen ol-len. Alle sind in aufgekrat terStimmung, der Funktionärbleibt unbehelligt. Schließlichdie Meldung on der Gren e:„Genosse Schabo ski, sie las-sen sie jet t durch. Keine be-sonderen Vorkomnisse.“

Es bleibt alles friedlich, esgibt keinen ge alttätigen Aus-bruch der aufgestauten Gefüh-le. Schabo ski fällt ein Steinom Her en. Die Gren öff-

nung geht reibungslos über

agentur Ansa geliefert. Derollte on Schabo ski is-

sen, ob nicht das or einer Wo-che eröffentlichte Reisege-set ein Fehler der DDR-Füh-rung ge esen sei.

„PrivatreisennachdemAusland können ohneVorliegen von Voraus-set ungen, Reiseanläs-sen und Verwand-schaftsverhältnissenbeantragt werden. DieGenehmigungen wer-den kur fristig erteilt“.

GÜNTER SCHABOWSKI ,POL ITBÜROMITGL I ED ,

AM 9. NOVEMBER 1989

Dieses Reisegeset ar einWortungetüm, das kaum je-mand erstand und das aufden DDR- eiten Montagsde-mos eine neue Protest elleausgelöst hatte. Schabo ski

ollte auf der Pressekonfe-ren nun die Absichten des Po-litbüros darstellen und dieReiseregelung auf eine ein-deutige, knappe Formel brin-gen. Er liest or: „Pri atreisennach dem Ausland könnenohne Vorliegen on Vorausset-ungen, Reiseanlässen und

Ver andschafts erhältnissenbeantragt erden. Die Geneh-migungen erden kur fristigerteilt.“

Überset t bedeutet dies: DieMauer ar gefallen.

Die Menschen haben daserstanden. Sie strömen u

VON FRANK THON I CK E

BERLIN. Es ist der 9. No em-ber 1989, 2 Uhr. Der Vol oon Günter Schabo ski pas-

siert die Wache am Eingangur Waldsiedlung Wandlit

im Norden on Berlin. Hierohnen die Mitglieder des

SED-Politbüros in erschiede-nen Villen - heute ist es eineReha-Klinik, in der unter an-derem Schlaganfall-Patientenbehandelt erden.

Günter Schabo ski be-kommt uhause on seinerFrau einen Topf Kaffee. Er illsich entspannen nach einemturbulenten Tag - es ist der 24.seit der Entmachtung onErich Honecker.

Loses MundwerkSchabo ski, als Parteichef

der Hauptstadt ein hoher SED-Funktionär mit losem BerlinerMund erk, hat eine denk ür-dige Pressekonferen hintersich. Später, im Rückblick,

ird er in der „Zeit“ schrei-ben: „Wer on den Illumina-ten des Politbüros hat schoneinen solchen un ensiertenAuftritt or der Weltpresse ab-sol iert?“

Die Ant ort ist einfach:Niemand. Denn nach der Pres-sekonferen ar die DDR end-gültig am Ende. Die Mauerfiel, die Menschen erließenihr Land.

Den Anstoß u den legendä-ren Folgen der Pressekonfe-ren hatte der Korrespondentder italienischen Nachrichten-

Erste Schritte in die FreiheitAls SED-Politbüromitglied Schabowski die neue Reiseregelung bekannt gab, war klar: Die Mauer ist offen

den Gren übergängen - underden unächst abge iesen.

Bei Schabo ski in Wandlitklingelt das Telefon. Ein SED-Mann meldet sich om Über-gang Bornholmer Straße inBerlin: „Hunderte haben sichhier ersammelt. Aber die Pos-ten machen keine Anstalten,sie durch ulassen.“

Günter Schabo ski machtsich auf den Weg on derWaldsiedlung hinein nachBerlin. Überall sieht er Men-

Zur PersonGünter Schabowski (80) warvon 1978 bis 1985 Chefredak-teur des „Neuen Deutschland“.1984 wurde er Mitglied im Polit-büro des Zentralkomitees derSED. Ein Jahr später wurde erSED-Chef von Berlin. Eine zeit-lang war er als Honecker-Nach-folger im Gespräch.Nach der Wende arbeitete

Schabowski bei den „Heimat-Nachrichten“ in Rotenburg ander Fulda als Redakteur. Er sahdies nicht als Abstieg an, sondernals eine Arbeit, die „meine per-sönliche Situation berücksich-tigt“, sagte er in einem Interviewunserer Zeitung.1997 wurde Schabowski zusammenmit Egon Krenz wegen Tot-

schlags zudrei JahrenGefängnis verurteilt - er sei für den Schießbe-fehl an derMauermitverantwortlich. Schabowski erkannte seinmo-ralische Schuld an. Er akzeptierte - anders als Krenz - das Urteil so-fort. Schabowski trat seine Haftstrafe an, und wurde im September2000 vom Berliner Bürgermeister Diepgen (CDU) begnadigt.Schabowsi ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in Berlin. Dem

Vernehmen nach ist er nach Herzattacken sehr krank. Er soll dem-nächst zu einer Reha nach Rotenburg kommen, heißt es. (tho)

Unsere Leserüber die DDRHier weitere Auszüge aus denZuschriften unserer Leser:

Keine Reiseerlaubniszu Omas BeisetzungKurz nach demMauerbau ist dieGroßmutter, die in Ost-Berlinlebte, verstorben. Zu dieser Zeitbestand keine Möglichkeit, alsWestberliner eine Besuchser-laubnis zu erhalten. Die Omawurde ohne uns beigesetzt. Daswar unmenschlich.

Regelmäßig bin ich in dieserZeit von Kassel nach Berlin mitdem Auto gefahren. Bei einerdieser Fahrtenwurde ich inMari-enborn aus der auf die Abferti-gung wartenden Autoschlangevon Volkspolizisten heraus ge-wunken. Bei einerHallemusstenmeine Frau und ich unser Auto -einen VW-Käfer - völlig ausräu-men und alles auf die Rampestellen.Meine Fraumusste sämt-liche Gepäckstücke auspacken,ich musste nicht nur die hintereSitzbank, sondern auch die bei-den vorderen Sitze des Käfersausbauen und ebenfalls auf dieRampe stellen.

Eine Erklärung, warumwirkontrolliertwurden, istunsnichtgegeben worden. Die einzige Er-klärung, die wir uns überlegt ha-ben, ist: Wir haben bei unserenhäufigen Fahrten nach und vonBerlin den am Rand der Auto-bahn stehenden Kindern immerkleine Geschenke, kleine Tütenmit Bonbon, Schokolade, imVorbeifahren zugeworfen, dennanhalten durfte man nicht.

Klaus-Jürgen Krasselt,Fuldabrück

Mit dem Gewissennicht vereinbarVon 1946 bis 1955 war ich immecklenburgischen Schuldiensttätig, zuletzt als Leiter einerzweiklassigen Dorfschule imLandkreis Teterow. Anfang der50iger Jahre waren die Anfein-dungen des Staates gegen alles,was Kirche hieß, bis in das dörfli-che Leben hinein zu spüren... Ei-nes Tages fragtemichder Pastor,ob ich ihm für einen Diavortragaus Schulbeständen eine Lein-wand leihenkönnte... ich konnteihm eine alte Landkarte anbie-ten.Diesewurde - falschherum -am hölzernen Kartenständeraufgehängt. Nach der Veranstal-tung, die in der kleinen Filialkir-chestattfand,brachteerStänderund Landkarte ordnungsgemäßzurück.Es war jedoch nicht in Ord-

nung. Irgendjemandhatte „nachoben“ berichtet, und ich wurdeindieKreisstadt, Schulabteilung,zitiert. Dort hieß es, wie ich esverantworten könne, Volksei-gentum der Kirche zur Verfü-gung zu stellen. Es gab weiterebedrückende, mit dem Gewis-sen unvereinbare Vorfälle.Schweren Herzens habe ich da-mals mit meiner Familie Meck-lenburg verlassen.Gerhard Möller, Hann. Münden

Der DDR-Beamteschaute gar nicht hinEine sehr negative Kontrollehabe ich bei einem neu errichte-ten Übergang in Norddeutsch-land erfahren. Dort mussten wiralle unsere Taschen auf einerTheke ausleeren, der DDR-Be-amte aber sah gar nicht hin, waswir hatten, sondern sah aus demFenster. Auf seine Frage, ob wirfertig seien und wir dies bejah-ten, durften wir alles wieder ein-räumen... Mir wurden 15 Musik-kassetten weggenommen, mitdem Hinweis, die dürften nichtmitgenommen werden. Als ichwieder zu Hause war habe, ichHonecker angeschrieben. DreiWochen später hatte ich meineKassetten wieder, ohne Kom-mentar und sehr unschön ver-packt. Manfred Dehn, Bebra

Straftatbestand „Republik-flucht“ so ie der Verkauf onunliebsamen Bürgern armenschenun ürdig.

Weil nach dem Mauerbau

te. Dinge, die für einen i ili-sierten Menschen auf Dauerunerträglich sind. Da u kamdie Rechtsprechung, die onder SED gelenkt urde: Ein

D er Mauerfall ar auchfür unsere Familie einGlücksfall. Nachdem

ich 1948 mit 2 Jahren ausThüringen flüchten musste(ich hatte in den Semesterferi-en eine Z angsein eisungum Uranbergbau nach Aue

erhalten), ar unsere Familiegetrennt. Meine Eltern unddrei Gesch ister mussten inder DDR bleiben. Der Kontaktu ihnen ar immer sehr in-

tensi .Im Osten durfte man nicht

sagen, as man gern gesagthätte; man durfte nicht lesen,

as man ollte, und konntenicht reisen, ohin man oll-

Mit den Eltern und Geschwistern wieder vereintWestflüchtlinge mussten den Kontakt zur Familie aufrecht erhalten – 40 Jahre lang Kontrollschikanen an der Grenze

die DDR-Bürger mit Stachel-draht, Minen und Selbst-schussanlagen om Westenabgeschnitten aren, muss-ten ir Westbürger den Kon-takt aufrecht erhalten. Das

ar nicht immer einfach. EinDDR-Besuch ar nicht güns-tig: Das Visum kostete 15 DMbis 25 DM pro Tag. Hin u kam- je nach Entfernung - eineStraßengebühr on bis u 3DM. Auch beim Z angsum-tausch legte man drauf. Unddann kamen noch die unendli-chen Kontrollschikanen ander Gren e da u. Die DDR-Bür-ger bekamen ar eineGrund ersorgung, dennoch

ar der Arbeiter- und Bauern-staat nicht in der Lage, seineBürger mit höher ertigen Gü-tern u ersorgen: Ein PfundKaffee kostete 4 Ostmark beieinem Monats erdienst onet a 5 Ostmark.

Vor der Wende musstenir, enn ir einen gemein-

samen Urlaub erbringenollten, diesen im Ostblockerbringen. Jet t nut en mei-

ne Ver andten das freie Rei-sen aus... Wenn auch heuteiele Dinge nicht in Ordnung

sind, iegen sie doch eniggegen die Freiheit, die jederEin elne nun hat.

Anton Dressler, KasselUngläubige Minen der DDR-Grenzer: Nach der Grenzöffnung wur-den provisorische Übergangsstellen eingerichtet. Foto: dpa

Samstag, 1. August 2 920 Jahre MauerfallSZ-ZG7

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