hören, was dahinter steckt! Fürsorgliche Gewalt Von …hören, was dahinter steckt! © Radio...

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hören, was dahinter steckt! © Radio Bremen 2014// Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Radio Bremen unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z. B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Fürsorgliche Gewalt Von Günter Beyer Besetzung Erzählerin 1: Cornelia Schramm Erzählerin 2: Ulrike Knospe Erzählerin 3: Svenja Pages Sprecher: Peter Kaempfe Zitator: Guido Gallmann Ton und Technik: Klaus Schumann und Adrian Eichmann Regieassistenz: Ilka Bartels Regie: Hans Helge Ott Redaktion: Michael Augustin Die Sendetermine im Überblick: SWR 19.02. I 22.05 Uhr I SWR 2 SR 22.02. I 9.05 Uhr I SR 2 BR 22.02. I 13.05 Uhr I 23.02. I 21.05 Uhr I BR2 RB 23.02. I 16.05 Uhr I 27.02. I 21.05 Uhr I Nordwestradio NDR 23.02. I 11.05 Uhr I NDR Info WDR HR 23.02. I 23.02. I 11.05 Uhr I 18.05 Uhr I 24.02. I HR 2 20.05 Uhr I WDR 5

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hören, was dahinter steckt!

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Fürsorgliche Gewalt Von Günter Beyer

Besetzung Erzählerin 1: Cornelia Schramm Erzählerin 2: Ulrike Knospe Erzählerin 3: Svenja Pages Sprecher: Peter Kaempfe Zitator: Guido Gallmann Ton und Technik: Klaus Schumann und Adrian Eichmann Regieassistenz: Ilka Bartels Regie: Hans Helge Ott Redaktion: Michael Augustin Die Sendetermine im Überblick: SWR 19.02. I 22.05 Uhr I SWR 2 SR 22.02. I 9.05 Uhr I SR 2 BR 22.02. I 13.05 Uhr I 23.02. I 21.05 Uhr I BR2 RB 23.02. I 16.05 Uhr I 27.02. I 21.05 Uhr I Nordwestradio NDR 23.02. I 11.05 Uhr I NDR Info WDR HR

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Ansage: Fürsorgliche Gewalt Von den Abgründen häuslicher Pflege Feature von Günter Beyer TAKE 01 (ATMO HALLIGER GERICHTSFLUR, SCHRITTE) oder MUSIKMOTIV 1 (JAZZ-KLAVIERMUSIK) UNTERLEGEN BIS ... ERZÄHLERIN 1 Die Halbschuhe? Die hätte er schon gern wieder. Auch seine Weste. Die Lederjacke. Seine Kleidung, die die Polizei beschlagnahmt hatte. Sein Oberhemd mit anhaftendem getrocknetem Blut? Das will er nicht zurück <haben>. Auch nicht das Nachthemd der Mutter. Nicht ihre Nackenrolle. Die Kopfkissen- und Bettbezüge. Das kann alles vernichtet werden, sagt der Angeklagte. MUSIKMOTIV 2 UNTERLEGEN BIS ... SPRECHER Fürsorgliche Gewalt Von den Abgründen häuslicher Pflege Feature von Günter Beyer ZITATOR "Die Staatsanwaltschaft wirft dem 50-jährigen Angeklagten vor, [am 12. Februar 2013 in den frühen Morgenstunden] seine 82-jährige pflegebedürftige Mutter in ihrer Wohnung [in der Bremer Neustadt] getötet zu haben. Motiv der Tat soll gewesen sein, dass der Angeklagte seine Mutter nicht mehr pflegen und durch die Tat die Betreuung beenden wollte." MUSIKMOTIV 2 UNTERLEGEN ERZÄHLERIN 2

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Erich hat niemanden getötet. Das letzte Kapitel im gemeinsamen Leben von Erich und Ilse Niemann ist trotzdem eine sehr bittere Geschichte. Erich Niemann hat sich über Jahre um seine kranke Frau gekümmert. Er hat hilflos mit angesehen, wie die Demenz Ilses Persönlichkeit zerstörte. Wie die Krankheit ihrer beider Leben völlig umwälzte. Wie ihm bei der Pflege von Ilse Kraft und Selbstachtung abhanden kamen. TAKE 02: BLÄTTERN, RASCHELN, RAUMATMO ERZÄHLERIN 2 Erich Niemann blättert in seinen Notizen. Ein Protokoll über die letzten Jahre mit Ilse. Damals ist sie 60 Jahre alt. TAKE 03: O-TON ERICH N. LIEST "Acht Uhr. Vor dem Aufstehen Zyprexa. Das ist ein Antidepressivum. Aufstehen, Zähne putzen, duschen, relativ angstfrei. Ein wenig Wehleidigkeit und Jammern. 8.30 Uhr Frühstücken, verweigert, Beschimpfung und Rumschreien, Schlagen. 9.30 Zehn Tropfen Rivutril. Zehn Uhr Wirkung: große Müdigkeit, kaum noch Laufen oder Sprechen können. 11 Uhr: Langsam wieder etwas munter, <erzählt unzusammenhängend, 12 Uhr erste kurze Beschimpfungen setzen wieder ein. 12.30 Uhr Ilse will Kuchen und Kaffee. Kuchen wird geholt, Kaffee soll gemacht werden. Ilse soll oben bleiben, kommt trotzdem die Treppe hinunter. „Was machst du denn da?“ - „Du wolltest doch Kaffee!“ - „Ich will keinen Kaffee, du Arschloch!“ Trommelt auf der Anrichte herum. Schmeißt die Tür zu. ATMO: BLÄTTER RASCHELN." TAKE 04: ATMO: TICKENDE UHR + LEICHTE RADIOMUSIK INSTRUMENTAL (DUDELFUNK?).o.ä. UNTERLEGEN

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ERZÄHLERIN 3 Auch Geschichten wie die von Hans und Lina Becker tragen sich tausendfach hinter verschlossenen Türen zu. Lina ist schwer krank. Ihr Herzrhythmus ist gestört. Und sie leidet nach einem Aufenthalt im Krankenhaus an fortschreitender Demenz. Sie will aber nicht ins Heim. Auf keinen Fall. Deshalb wird Hans Lina bis zu ihrem Tod pflegen. Zu Hause. Das letzte gemeinsame Erlebnis zweier Menschen, die mehr als 50 Jahre zusammen sind. TAKE 05 O-TON HANS B. "Ich habe mir gesagt: Sie hat immer hier gelebt, und ich wollte versuchen, dass sie noch weiterhin in der Wohnung leben kann, so lange ich das schaffe als gleichaltriger Mensch und nicht krank werde, um ihr das nun zu ermöglichen. Sie war äußerst lieb und hat sich ewig bedankt: "Dass du das alles für mich machst!" und so weiter. ERZÄHLERIN 3 Jeden Morgen kommt ein Pflegedienst und teilt Lina Becker ihre Tabletten zu. Alles andere erledigt Hans. TAKE 06 O-TON HANS B. „Dann haben wir gefrühstückt. Und anschließend, meine Frau wollte immer mithelfen, ich musste dann natürlich drauf achten, dass sie nur unzerbrechliche Sachen wie Holzbretter oder Messer und Gabel oder meinetwegen Brot oder Toast transportierte, aber keine Butter, keine Marmelade, keinen Honig, also den wollte ich nicht vom Teppich abkratzen dann.“ MUSIKMOTIV 1 (JAZZ-KLAVIERMUSIK) SPRECHER Raum 218 ist der größte Saal im Landgericht. Mit dunklem Holz getäfelt, von der Kassettendecke hängen schimmernde Messing- Kandelaber herab. Hinter dem Richtertisch halten zwei grimmig dreinschauende Löwen einen goldenen Schlüssel in ihren Pranken. Durch hohe bleiverglaste Fenster dringt Tageslicht. Wenn draußen die Straßenbahn sich in die Kurve legt, zittern sacht die Scheiben. Im Viertelstundenrhythmus dröhnt der Bass der Domglocke. Prozesseröffnung. Zwei schwarz uniformierte Justizwachleute bringen den Angeklagten herein, lösen seine Handschellen. Blitzlichter. Seit knapp sechs Monaten sitzt der "Beschuldigte" in Untersuchungshaft. ERZÄHLERIN 1

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Michael Kaiser, 50 Jahre alt, ledig, keine Kinder. Brillenträger. Nicht vorbestraft. Er ist schlank, trägt ein schwarzes Hemd und eine dunkle Hose. Kaiser reibt sich die Handgelenke, schaut sich im Saal um. Sein Blick wandert über die Bänke der Richter und Schöffen, der Staatsanwaltschaft ihm gegenüber und über die Zuschauerränge. Er setzt sich neben seinen Verteidiger. TAKE 07: O-TON MICHAEL K. "Es war nichts Außergewöhnliches an diesem Morgen. Gar nichts Außergewöhnliches, außer, dass ich in diesem Moment gedacht habe: Nun beenden wir das ganze Drama mal. ATMO" ERZÄHLERIN 1 Michael Kaiser hat in den letzten Jahren nichts mehr auf die Reihe gekriegt. Beruflich wie privat. Bis vor zehn Jahren hat er noch freiberuflich als Aufnahmeleiter beim Fernsehen gearbeitet. Das war sein Brotjob. Tief im Innern aber fühlt er sich als Musiker, als Jazzpianist. Aber üben oder gar vor Publikum spielen kann er nicht mehr. Eine Sehnenscheidenentzündung und sein Tennisarm machen ihm zu schaffen. Bis losbricht, was er "das Geschehen" oder "das Drama" nennt, lebt er meistens in Berlin. Von Hartz IV. In dieser Zeit telefoniert er jeden Tag mehrere Male mit seiner Mutter in Bremen. Knapp die Hälfte des Jahres ist er ohnehin bei ihr. Michael Kaiser führt ein Leben im Spagat: Der eine Fuß in Berlin, der andere in Bremen.

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TAKE 08: O-TON MICHAEL K. "Ich habe in 29 Jahren, die ich jetzt in Berlin lebe, zwei Weihnachten nicht in Bremen verbracht. Also die enge Bindung und eine gewisse moralische Verpflichtung meiner Mutter gegenüber, die ja immer alleine gelebt hat (RÄUSPERT SICH), die war schon immer da. "Verpflichtung" klingt hart, ist es aber sicherlich gewesen. Ich kann sie ja nicht allein zu Hause sitzen lassen. <Ich hab´s eben einfach gemacht. > Aber ich hab´s natürlich auch gerne gemacht, weil ich finde, das sollte man für seine Mutter tun." ERZÄHLERIN 2 Erich Niemann blättert in seinen Protokollen über das Zusammenleben mit Ilse. TAKE 09: O-TON ERICH N. LIEST ATMO: BLÄTTER RASCHELN. "Ab 13.30 Uhr wechselt sich aggressives Verhalten mit Wehleidigkeit und Weinerlichkeit ab. „Ich bring mich um. Ich habe soviel geweint.“ Oder sehr diffuse Drohungen: „Ich bring sie um, diese Schweinehunde, diese Kühe, diese Arschlöcher.“ Gegen 15 Uhr beruhigt sie sich, hört Pu, das ist von dem Rowohlt so ein intoniertes Hörspiel. Schläft fast ein, kommentiert: „Ist niedlich!“ BLÄTTERT ... Und wie heiße ich? / Du heißt Ilse. / So heiße ich nicht. /Und wie heißt du? / Das geht dich gar nichts an. Halt die Schnauze." TAKE 10: (ATMO TICKENDE UHR, KEINE RADIOMUSIK) UNTERLEGEN BIS … ERZÄHLERIN 3 Der Alltag ist zäh und jeder Handgriff folgt einer bleiernen Routine. Es ist immer Alltag bei Hans und Lina Becker. TAKE 11 O-TON HANS B. "Und dann habe ich ihr nun geholfen im Badezimmer. Ne. Also Zähne putzen, die beiden Prothesen oben und unten vorne, die habe ich ihr rausgenommen, die habe ich dann gesäubert, und die Backenzähne, die sie noch alle hatte, die musste sie selber putzen dann und spülen und gurgeln, und dann konnten die Prothesen wieder eingesetzt werden. Und mit dem Waschen: Sie stand im Badezimmer vorm Waschbecken und wusch sich so wo sie ran konnte, was sie schaffte, und aber mit‘m Bücken war es ja schwierig schon durch die kaputte Hüften, so dass ich dann selber zum Waschlappen greifen musste." ERZÄHLERIN 3 (IN DER ROLLE VON LINA B.) "Dass du das alles für mich machst!" MUSIKBRÜCKE / MUSIKMOTIV 2

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SPRECHER Zweieinhalb Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Was man darunter versteht, ist nachzulesen Paragrafen 14 des "Elften Sozialgesetzbuches". ... ZITATOR "... Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen." SPRECHER Nur knapp ein Drittel aller Pflegeabhängigen lebt in Heimen. Die übergroße Mehrheit wird in der eigenen Wohnung oder im eigenen Zimmer von Angehörigen betreut. Das ist hierzulande vom Gesetzgeber so gewollt. ZITATOR "Die Pflegeversicherung soll vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können." SPRECHER "Soziale Pflegeversicherung", Paragraf 3. ZITATOR "Es war ein Mensch, der fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen." SPRECHER In der abendländisch-christlichen Tradition ist die hingebungsvolle Pflege von Kranken tief verwurzelt. ZITATOR

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"Ein Samariter aber ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn." SPRECHER Wer pflegt, tut ein gutes, gottgefälliges Werk und empfiehlt sich damit selber für das "ewige Leben". In der Altenpflege heute sind die barmherzigen Samariter keine zufällig Vorbeikommenden, sondern nahe Familienangehörige - Ehepartner, Lebensgefährtinnen oder die Kinder. Selten die Söhne, meistens die Töchter. Wer pflegt, muss einen Strich unter sein bisheriges Leben ziehen. Wer pflegt, muss den Alltag neu erfinden. Pflegen heißt: Verzichten. Pflegen heißt: alte Interessen begraben. Heißt: Freunde verlieren. Das hört niemand gern. Deshalb hat das Bundesgesundheitsministerium im Internet die Seite "www.ich-pflege-weil.de" geschaltet. Positive Impulse online sind da gefragt. Wer die Seite anklickt, soll den Satz ergänzen: "Ich pflege, weil..." ZITATOR: "<Ich pflege,> weil ich mich über die strahlenden Augen der Älteren freue!" SPRECHER Oder, wer beruflich pflegt: ZITATOR: "<Ich pflege,> weil mich ein Lächeln von den Bewohnern in meiner Arbeit bestätigt." SPRECHER Solche Bekenntnisse liest man im Ministerium gern. Per Mausklick kann man sich gleich als "Pflegebotschafter" anmelden. Die frischgebackene Exzellenz darf per E-Mail Fragen direkt an den Herrn Gesundheitsminister stellen. Auch ohne staatliche Ermunterung lassen sich viele auf die häusliche Pflege ein. TAKE 12: O-TON JUTTA B. "Für mich war es selbstverständlich. Und für mich kam das nie in Frage, meine Mutter alleine zu lassen oder in eine Einrichtung zu geben."

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TAKE 61: O-TON JUTTA L. "Ich vertraue anderen nicht so viel, dass ich meine Mutter in die Obhut völlig fremden Menschen geben würde. Ich glaub, ich mach das am allerbesten (LACHT). TAKE 13: O-TON MARLENE K. "Das ist mein Partner, mit dem bin ich verheiratet, in guten und in schlechten Zeiten, hab mich bemüht, das alles selber auf die Reihe zu kriegen. Hab auch keine Hilfe angenommen, was jetzt zum Beispiel Pflegedienst anbetrifft, hab das alles selber gemacht. Ich war schon immer so!" SPRECHER Manche, die zu Hause pflegen, erzählen, dass sie das gern tun. Aber niemand behauptet, dass dieser Einsatz leicht fällt. Besonders schwer ist die Pflege von Angehörigen, die an Demenz leiden. Dann kann das traute Heim zum Boxring werden. Wer Demente pflegt, muss vor allem eines können: einstecken. MUSIKMOTIV 2 UNTERLEGEN … ERZÄHLERIN 2 Erich Niemann hat gelernt einzustecken. TAKE 14: O-TON ERICH N. "Ich war in Bad Aibling, diesem Alzheimer-Therapiezentrum. Hat mir also sehr viel gebracht. Grundsatz: Der Kranke hat immer Recht. Und wenn er zu mir sagt: Du bist ein Arschloch, dann hat er Recht. Dann müssen Sie das aushalten. Es gibt keine anderen Strategien, das zu überwinden, um nicht noch in eine Eskalation von Gewalt zu kommen, als das auszuhalten. " ERZÄHLERIN 2 Erich Niemann sitzt im lichten Dachgeschoss seiner Wohnung. In diesem Reihenhaus hat er viele Jahre mit Ilse gelebt. Er wird hier nicht mehr lange anzutreffen sein. Das Haus ist schon verkauft. Er zieht bald um in eine Hausgemeinschaft, die sich Ältere in einer geräumigen Villa gemeinsam einrichten. Ohne Ilse. Die lebt inzwischen in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke. Erich Niemann macht seiner Frau keine Vorwürfe. Schon aus Prinzip nicht. Und aus Einsicht.

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Dennoch, nüchtern betrachtet: Seine kranke Frau hat ihm den Alltag zur Hölle gemacht, Natürlich, das war ihr nicht bewusst, ruft er sich zur Ordnung. Und doch … Wie Ilse, die ehemalige Deutschlehrerin, darauf bestand, dass es "der Wasser" und nicht "das Wasser" heißt. Weiß doch jeder, nur Erich weiß es nicht! Wie sie Freunden mit dem Ausruf "Was willst du denn hier?" barsch die Tür vor der Nase zuschlug. "Der Kranke hat immer Recht". So weit die Theorie. MUSIKMOTIV 1 (JAZZ-KLAVIER) UNTERLEGEN BIS ... ERZÄHLERIN 1 82 Jahre alt ist Rosemarie Kaiser, die Mutter, geworden. Der Vater, von Beruf Fahrlehrer, stirbt schon 1967, da ist Michael erst fünf Jahre alt. Die Mutter arbeitet als Sekretärin an einer Hochschule. Eine Zeitlang lebt noch die Großmutter mit in der Wohnung. Nach deren Tod und Michaels Übersiedlung nach Berlin hat die Witwe ihre 160 Quadratmeter große, verwinkelte Etagenwohnung nahe der Bremer Innenstadt für sich allein. Im hohen Alter bleibt Rosemarie Kaiser geistig fit, aber die Augen spielen nicht mehr mit. TAKE 15: O-TON MICHAEL K. "Meine Mutter war zeitlebens sehr stark kurzsichtig. Und trotz einer Operation, die vor fünf Jahren stattgefunden hat, hat sie rechts das Augenlicht fast verloren, konnte also eigentlich nur noch hell und dunkel unterscheiden. Links hatte sich das nach einigen Tagen auch erheblich wieder verschlechtert, dass man eigentlich von "fast blind" sprechen könnte dabei schon." ERZÄHLERIN 1 Ist die sehbehinderte Frau pflegebedürftig? Oder kommt sie noch allein klar? Obendrein hört sie schlecht, ein Hörgerät lehnt sie aber vehement ab. Einen Notfall-Pieper, mit dem sie auf Knopfdruck den Rettungsdienst alarmieren könnte, hat sie nicht. Will sie nicht. Braucht sie nicht. Rosemarie Kaiser kann die Wohnung noch ohne Hilfe verlassen, um in der Nachbarschaft Zigaretten zu besorgen oder ihren Hausarzt aufzusuchen, der praktiziert schräg gegenüber der stark befahrenen Straße. Das schafft sie noch allein. Für alles andere im Leben seiner Mutter fühlt Sohn Michael sich zuständig. Seit fünf Jahren fährt er alle paar Wochen auf Versorgungsmission von Berlin ins 400 Kilometer entfernte Bremen. Die Mutter zahlt ihm gelegentlich Benzingeld und Reparaturen fürs Auto.

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TAKE 16: O-TON MICHAEL K. "Ich hatte ihr immer große Vorräte angelegt, so dass sie doch immer, was also Konserven, Tiefkühlkost und sowas anbelangte, ein halbes Jahr gut über die Runden gekommen wäre. Also bis vor zwei, drei Jahren, konnte sie auch noch allein zu ihrem Supermarkt um die Ecke gehen. Da brauchte sie ja immer nur an der Wand entlang zu gehen und keine Straße mehr zu überqueren." ERZÄHLERIN 2 Erich Niemann hat mit Ilse viele Situationen erlebt, die aus dem Ruder zu laufen drohten. Szenen, in denen eine Spirale aus Aggression sich immer bedrohlicher hochschraubte. TAKE 17: O-TON ERICH N "Also Schuhe anziehen! Das ist nicht durchaus selbstverständlich, dass man den rechten Schuh an den rechten Fuß anzieht und den linken an den linken. Wenn man sie da alleine lässt, dass sie den am rechten einen hochhackigen hat und am linken einen mit flachem Absatz ... man darf sie auch eigentlich nicht mehr sich allein anziehen lassen. Weil das konfliktträchtig ist. Wenn sie dann tatsächlich sich die Hose anzieht, meinetwegen die Pyjamahose, und darüber dann die Unterhose, und dann vielleicht darauf noch die Slipeinlagen befestigt und Sie die Rückmeldung geben: "Du, es geht nicht so ganz! Wir müssen das nochmal anders machen." Da hat sie zum Schluss sehr ungehalten reagiert. Diese Reaktion müssten Sie eigentlich vermeiden." TAKE 10: (ATMO TICKENDE UHR) UNTERLEGEN BIS ... EVTL. ZUMISCHEN: TAKE 62: ATMO KARTOFFELN SCHÄLEN ERZÄHLERIN 3 Im Gleichklang der Tage gibt es für Lina Becker noch eine Aufgabe.

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TAKE 18: O-TON HANS B. "Ihre Domäne war Kartoffeln schälen, da war sie, weil sie das konnte, da war sie ganz wild so, dass sie immer schälte und schälen wollte, da habe ich ihr denn schon die Kartoffeln zugeteilt, ich wollte nicht jeden Abend Bratkartoffeln essen, nech. Und denn ist es auch schon mal vorgekommen, meinetwegen, sie lag im Bett, und denn ging sie zur Toilette und kam gar nicht wieder, ich sag: "Mensch, wo ist sie denn?" Und denn war sie in der Küche und schälte nachts um drei schon Kartoffeln, nech." ERZÄHLERIN 1 Bis Dezember 2012 hat Rosemarie Kaiser noch selbst geputzt und selber gekocht, wenn sie allein war. TAKE 19: O-TON MICHAEL K. "Sie hat unzählige verschiedene Konserven gehabt, die wir vorher immer schon ausprobiert haben. Das konnte sie machen. Und sie hatte Frischware im Kühlschrank, die bestimmt immer noch für vier Wochen gehalten hat." ERZÄHLERIN 1 (IN DER ROLLE VON MICHAEL K.) Dass du nur immer genug zu essen im Haus hast, Muddi! TAKE 20: O-TON MICHAEL K. " Und jedes Produkt wurde auch auf Praktikabilität geprüft, und wenn es nur eine Folie, die abzuziehen war: das mussten wir natürlich testen, ob sie das konnte. Ich habe das mit ihr getestet, damit sie sich nicht mit dem Messer da dann womöglich noch verletzt hat. Das ist jahrelange Anstrengung gewesen für mich." ERZÄHLERIN 1 (IN DER ROLLE VON MICHAEL K.) Dass du dir bloß nicht weh tust! TAKE 21: O-TON MICHAEL K. "Für mich war das eine moralische Verpflichtung, es zu tun! Und wer hätte es sonst tun sollen?" TAKE 10: ATMO: TICKENDE UHR

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SPRECHERIN 3 Hans Becker sagt, was getan werden muss. Seine Frau macht Unordnung. TAKE 22: O-TON HANS B. "Meinetwegen: Wäsche ordnen so, nech. Wenn ich denn sag: "Zusammenlegen die Wäsche, da, die Frotteehandtücher alle schön auf Kante, zack! Ja, manchmal wurde es auch schon ein bisschen luschiger, da musste ich denn sagen: "So nicht! Denn passt es da nicht rein, nech". Und schwierig war es dann, ich sag: "Meine Schlüpfer hier, deine Schlüpfer, nech, und meine Unterhemden und deine Unterhemden", ja, und denn war das alles durcheinander plötzlich. Ich sag: "Meine, die haben einen Eingriff! Und deine nicht." ERZÄHLERIN 1 Anfang Dezember 2012 kommt es im Badezimmer von Rosemarie Kaiser zu einem Unfall. Sie stürzt und zieht sich einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch zu. Ihre Tochter Sabine Seifert findet die hilflose Frau und lässt sie ins Krankenhaus einliefern. Dort muss die 82-Jährige mehrmals operiert werden. Michael Kaiser hält sich zu dieser Zeit in Berlin auf. Und bleibt auch dort. Er hat einen Termin bei der Arbeitsagentur. Nach Jahren ohne Job will sich der 50-jährige früh verrenten lassen. Der Sohn, der sich sonst, ohne mit der Wimper zu zucken, wegen einer drohenden Leere im Kühlschrank jederzeit auf den Weg zur Mutter gemacht hätte, trifft erst zwölf Tage nach ihrem Sturz in Bremen ein. TAKE 23: O-TON MICHAEL K. "Ich kann jetzt sowieso nichts für sie tun, so lange sie im Krankenhaus ist, warte ich also die paar Tage noch ab, denn dann werde ich sehr lange Zeit hier in Bremen sein müssen. <Das war völlig klar.> Ich kann mich nicht erinnern, ob ich überhaupt mit ihr persönlich sprechen konnte, doch, ich hab sie einmal angerufen, sie wusste aber sowieso von dem Termin, und das war völlig klar: "Dann komm man, wenn du kannst." ERZÄHLERIN 1 Nach dem Unfall, fürchtet Michael Kaiser, wird es mit der Mutter nie mehr so sein wie früher. Dann wird sie vollends zum "Pflegefall". Dann ist er dran. Ade Berlin! TAKE 24: O-TON MICHAEL K. "Das wäre ja für mich persönlich ja die absolute Kapitulation gewesen, denn ich hatte, so lange ich meine Wohnung in Berlin noch hatte, nur in Berlin die Möglichkeit, meine Arbeit irgendwie auszuführen. Und Berlin ist nun mal mein Zuhause. Und ich als Klavierspieler hätte

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in Bremen sowieso nie leben können." ERZÄHLERIN 1 Kaiser sitzt in der Falle. Der Pflege-Falle. Denn Hilfe von Fremden nimmt seine Mutter nicht an. Und ins Heim will sie schon gar nicht. TAKE 25: O-TON MICHAEL K. "Das war für meine Mutter eine schreckliche Vorstellung, mit der ich auch Zeit meines Lebens gelebt habe. Habe immer nur gehört: "Gebt mir bitte früh genug was ein!" Oder: "Dann spring ich lieber vorher vom Balkon!" Das sind ihre Formulierungen gewesen. Für sie war es ein Graus, überhaupt ihre Wohnung verlassen zu müssen, geschweige denn jetzt in diesem Zustand also tatsächlich in ein Heim zu müssen. Oder aber sie wäre, wenn sie noch in solch ein Heim gekommen wäre, dort innerhalb kürzester Zeit geradezu in sich zusammengefallen." ERZÄHLERIN 1 Es gibt keine Lösung. Es gibt … nur einen Ausweg. MUSIKBRÜCKE/MUSIKMOTIV 2 SPRECHER Wer zu Hause Angehörige pflegt, kann sich von ambulanten Pflegediensten professionelle Unterstützung holen. Inzwischen tummeln sich auf dem Pflegemarkt in Deutschland über 12.000 zugelassene Serviceunternehmen. Sie beschäftigen knapp 300.000 Angestellte, ganz überwiegend Frauen, meist in Teilzeit. Mit ihren kleinen, mit Firmenlogos beklebten Autos spurten die Hauskrankenpflegerinnen von Wohnung zu Wohnung. Medikamente verabreichen, Stützstrümpfe anziehen, Stützstrümpfe auszuziehen, Waschen, Duschen, Füttern - das ist ihr Job. Alles im Minutentakt. Nur selten übernehmen Pflegedienste die komplette Versorgung eines Kranken, meist teilen sie sich die Arbeit im "Hilfemix" mit Angehörigen. Pflegedienste kommen herum, blicken hinter sonst verschlossene Türen. Andrea Hugo ist Inhaberin eines solchen Pflegedienstes. Sie kennt die Konflikte zwischen Angehörigen und ihren hilfebedürftigen Familienmitgliedern. TAKE 26 O-TON ANDREA HUGO "Da gibt es halt auch einen gewissen Rollenkonflikt. Und ich kann das auch von mir selber

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sagen: Ich hab also meine eigenen Großeltern mit gepflegt, und ich war nachher dankbar, als ich das abgeben konnte. Weil: Für meine Oma war das fast unmöglich, dass ich sie zur Toilette gebracht hab, weil sie das früher mit mir getan hat. Wir hatten es wieder sehr entspannt, wenn ich morgens zum Frühstück gekommen war und ich wirklich die Pflege an meine Mitarbeiter abgegeben hab. Also, das ist schon ... schon heftig." SPRECHER Pflege von Angehörigen - das bedeutet: Rollenumkehr. Genauer: Rolle rückwärts! TAKE 27: O-TON ANDREA HUGO "Natürlich steht man dann in der Situation, sagt: Mensch, das war mal anders rum. Das hat meine Mutter für mich getan, und jetzt tu ich´s für sie."

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SPRECHER So sieht die Realität in zahlreichen Pflegekonstellationen aus: Die längst erwachsene Tochter mit eigenen Kindern füttert die demenzkranke Mutter, wischt ihr den Kot ab und steckt sie in eine frische Windelhose. Einmal Mutti, immer Mutti. Gerade Inkontinenz, also die verloren gegangene Kontrolle der Schließmuskulatur, ein Symptom fortgeschrittener Demenz, löst bei vielen Angehörigen Ekel aus. TAKE 28 O-TON ANDREA HUGO "Das ist ja schon auch ne andere Hausnummer, ob ich ´n kleines Kind wickel, oder ob ich einem großen erwachsenen Menschen regelmäßig solche Vorlagen oder Hosen anziehe. Das ist einfach auch etwas Intimes. Ich bin zum Beispiel auch so aufgewachsen, dass wir unsere Eltern also nackig gar nicht so gesehen haben. Das war ja ein Tabuthema. Also vor ‚ner Krankenschwester oder ‚ner Pflegekraft ist das noch okay im Krankenhaus, <ne, das ist so.> Aber vor der eigenen Tochter oder vor dem eigenen Sohn, das ist natürlich auch schon ‚ne Riesen-Hemmschwelle, die man da zu überwinden hat." SPRECHER Rollentausch oder Rollenumkehr - das kann grandios scheitern. Andrea Hugo erinnert sich an einen Fall. Eine erwachsene Tochter hatte die Pflege ihrer Mutter verzweifelt aufgegeben. Die Versorgung der betagten Dame übernimmt an Stelle der Tochter nun Andrea Hugos Pflegedienst. Mit der Entscheidung gegen das Selbst-Pflegen ist der Tochter ein Stein vom Herzen gefallen. TAKE 30 O-TON ANDREA HUGO "Eine Angehörige kam zu mir und sagte: Mensch, Frau Hugo, "Ich kann jetzt wieder Tochter sein!" Und ich finde, dieser Satz sagt viel. Weil, sie hat vorher ihre Mutter wirklich aufopfernd zu Hause gepflegt, und ist auch über ihre Grenzen gegangen, gerade, wenn es um das Thema Ausscheidungen geht. Und es war für beide zum Teil auch eine Not. Weil: Sie ist nicht die Pflegerin ihrer Mutter, sondern sie ist die Tochter ihrer Mutter." SPRECHER "Rollentausch" ist eine verharmlosende Bezeichnung für die Dramatik, die in vielen Pflegebeziehungen zwischen nahen Angehörigen losbricht. Wer die Pflege eines nahen Angehörigen übernimmt, begibt sich womöglich auf dünnes Eis, sagt die Göttinger Sozialwissenschaftlerin Barbara Nägele:

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TAKE 31 O-TON NÄGELE "Die haben ´ne Beziehungsgeschichte. Das ist ja nicht so wie ‘ne ambulante Pflegekraft, die neu in ‘ne Beziehung kommt, sondern das sind eben langjährige Partnerschaften, bis zu 40, 50, 60 Jahre lange, gemeinsame Geschichten, bei Kindern sind es auch lebenslange Beziehungen. Und das ist der Hintergrund, vor dem Verhalten wechselseitig interpretiert wird in diesen Pflegesituationen." SPRECHER Und Claudia Schacke, Professorin für Soziale Gerontologie an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin, ergänzt: TAKE 32: O-TON SCHACKE "Es gibt schon solche Konstellationen, wo das, was Kinder erlebt haben an Unrecht, an Gewalt selber auch, dass das in gewisser Weise heimgezahlt wird, wenn sich die Konstellation verändert. Also auch da: Ne grundsätzlich gute Beziehung ist kein Garant dafür, aber macht es sicherlich wahrscheinlicher, dass man auch mit dieser Pflegesituation ohne ganz große Konflikte zurechtkommt. Ansonsten, wenn es da noch offene Rechnungen gibt in der Geschichte, dann ist es einfach ne Gelegenheit dafür, ohne dass das bewusst sein muss oder dass das mit Absicht passiert, wo es ans Bezahlen geht." <<SPRECHER TAKE 01: (ATMO GERICHTSSAAL) oder MUSIKMOTIV 1 (JAZZ-KLAVIERMUSIK) UNTERLEGEN BIS ...

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ERZÄHLERIN 1 Der Saal 218 im Schwurgericht ist das Bühnenbild eines surrealistischen Dramas. Michael Kaiser, der Angeklagte, spricht unberührt von "dem Geschehen". Als habe das, was sich am 12. Februar in der Wohnung seiner Mutter zutrug, mit ihm nur beiläufig zu tun. Er habe nur eine "dramatische Situation" beendet. Er sei kein Krimineller. SPRECHER Als Zeugin ist Claudia Bauernfeind geladen. Die 48-Jährige arbeitet im "Sozialdienst" jenes Krankenhauses, in dem Rosemarie Kaiser nach ihrer Operation geriatrisch weiterbehandelt wurde. "Unsere Aufgabe ist es, Ihnen die Rückkehr in Ihr gewohntes soziales Umfeld oder die Gestaltung einer neuen Lebensplanung zu erleichtern..." …heißt es auf der Homepage des Krankenhaus-Sozialdienstes. Claudia Bauernfeind, eine gepflegte, modisch gekleidete selbstbewusste Frau, hat die Krankenakten im Fall Kaiser mitgebracht. Eine persönliche Erinnerung an die Patientin ist ihr nicht haften geblieben. Aus ihren Notizen geht aber hervor, dass Rosemarie Kaiser "ziemlich ruhig", "in sich gekehrt" und "antriebslos" gewesen sei. Gleichwohl, das hat Claudia Bauernfeind damals notiert, habe sich die Patientin darauf gefreut, bald in ihre Wohnung zurück zu kehren. Sie sei wohl stark auf ihren Sohn fixiert. "Mein Sohn kauft ein, und falls er nicht da ist: Ich habe Läden in der Nachbarschaft, die bringen, was ich bestelle!" habe Rosemarie Kaiser ihr versichert. Die Krankenhaus-Mitarbeiterin vermerkt auch: "Sohn wohl nicht dauerhaft in Bremen." Die Patientin habe sich gut erholt, nach zwei oder drei Wochen Tagesklinik würde sie "relativ viel hinkriegen". SPRECHER Eine Ausbildung zur professionellen Altenpflegerin dauert drei Jahre. Wer zu Hause Angehörige pflegt, kann das aus dem Stand. Das ist die Logik der Pflegeversicherung.

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ERZÄHLERIN 1 Der Sozialdienst macht sich auch ein Bild vom "häuslichen Umfeld", in das ein Patient zurückkehrt. Dort steht der Sohn bereit, erfährt Claudia Bauernfeind. Den hat sie allerdings nie persönlich kennen gelernt, sie hatte nicht einmal eine Telefonnummer. Das meiste, was sie über das "häusliche Umfeld" weiß, hat sie von Sabine Seifert, Michael Kaisers Schwester, erfahren. Claudia Bauernfeind kann die Patientenakte schließen. Sie hat ihren Job erledigt. "Wenn ich feststelle, da sind zwei Kinder, bin ich zufrieden", sagt sie dem Richter. SPRECHER In Pflegebeziehungen geht es immer auch um Macht. Macht, die der Pflegende ausübt und die in Gewalt umschlagen kann. Der Pflegende sagt, wo es lang geht. Er bestimmt den Tagesablauf, ist Herr über Wohnungsschlüssel. Über Macht verfügt aber auch der Pflegeabhängige. Er fordert Zuwendung ein, Versorgung mit allem Lebensnotwendigen, besteht darauf, dass die Angehörigen seine Stimmungen und Launen ertragen. Seine Tabusetzungen, seine Neins akzeptieren: "Ich will nicht ins Heim." TAKE 36: O-TON UTA K "Wie es mit der Krankheit schlimmer wurde, da kam eine gewisse Gereiztheit bei ihr vor. Sie war mir gegenüber sehr aggressiv, oder böse, und ich war immer die Schlimme." SPRECHER Die Menschen in ihrer Umgebung nahmen die Mutter von Uta Kremer lange als liebenswerte ältere Dame wahr. Symptome ihrer Demenz blieben Nachbarn und Freunden lange verborgen. Die Fassade wurde gewahrt. Anders sprang sie mit der eigenen Tochter um.

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TAKE 37: O-TON UTA K. "Sie rief mich zum Beispiel an und sagte: "Du warst heute Morgen hier, und wieso hast du jetzt meine Ringe alle inne Kaffeetassen reingetan? Was sollen denn die Nachbarn denken?" Oder einmal sprach sie auf unseren Anrufbeantworter: „Du musst sofort hier herkommen, weil: du hast meinen Suppenlöffel versteckt. Ich will den sofort wiederhaben.“ Und für jede Kleinigkeit, wo ihr Portemonnaie verlegt war oder der Schlüssel: ich war immer Schuld. Wahrscheinlich, weil ich die nächste und engste Angehörige bin. Ich werde wohl nicht weglaufen. Die Tochter wird immer da sein." ERZÄHLERIN 2 Es läuft nicht gut bei Erich und Ilse Niemann. Ilse ist uneinsichtig und aggressiv. Das wühlt Erich auf. Die Nerven liegen blank. TAKE 38 O-TON ERICH N. "Sie sagen ganz friedlich, bemühen sich jedenfalls oder glauben es friedlich zu sagen: "Du, so geht das nicht!" / "Doch!" / "So können wir nicht spazieren gehen!" / "Ich will aber!" Immer ein bisschen lauter. Und zum Schluss kommt dann die Hand und sagt: "Ich will aber!" und schlägt. Und Sie halten sie fest, und dann ist die Eskalation dieser Art der Gewalt einfach gegeben. Sie wird dann nur gelöst, wenn Sie loslassen, sie kann durchatmen, und dann nehmen Sie sie nehmen in die Arme und dann geht´s wieder." ERZÄHLERIN 2 Aber immer geht "es" nicht. Damals zum Beispiel, als die beiden in der Alzheimer-Klinik in Bayern waren. Er schäme sich heute noch, sagt Erich Niemann. TAKE 39 O-TON ERICH N. "Da hat sie mir ein Glas aus der Hand geschlagen. Ich war sowieso im Stress, weil wir zum Frühstück wollten, und da hab ich zurückgeschlagen, das heißt, ... sie hat mir das Glas aus der Hand geschlagen, das fiel auf den Boden, zersplitterte in tausend Stücke, und ich hab ihr auf die Hand geschlagen, hab gesagt: "Das tut weh! Merkste das?" Sie hat geweint und hat das nicht verstanden“ TAKE 10: ATMO TICKENDE UHR UNTERLEGEN BIS ... ERZÄHLERIN 3 Hans Becker würde seine sanfte, duldsame Lina niemals schlagen. Aber unter dem Druck von Linas Krankheit haben sich die Gewichte in der Ehe einseitig verschoben. Das Sagen hat Hans.

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Das Amtsgericht hat Lina entmündigt. Zum Vormund wird allerdings nicht Hans, sondern der gemeinsame Sohn bestellt. Hans schränkt Linas Aktionsradius ein, er verbietet, kappt Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt. Maßregeln der Fürsorge. Akte fürsorglicher Gewalt. Hätte er das besser nicht getan? TAKE 40: O-TON HANS B. "Ich hab ja jeden Morgen, werktags, eingekauft, eine Stunde konnte ich denn wohl weggehen, bin denn weg, ich sag: "Aber niemandem aufmachen! Niemanden reinlassen! Und auch nicht Telefon abnehmen, nech," ich wollte keine Zeitungsbestellungen haben. Und nachher hab ich auch dann die Klingel abgestellt, hab sie auch in der Zeitung lesen lassen, dass naja, wieder diese Trickdiebe da waren, und aber trotzdem: "Ja, hat geklingelt, hab kurz mal rausgeguckt." Ich sag: "Ja, dann hauen sie dir schon aufn Kopp oder so, nech." Und Telefon auch. Ich sag: "Brauchst du nicht, wir haben Anrufbeantworter." ZITATOR "Pflegende Angehörige können zu übersteigerter Kontrolle neigen." SPRECHER Mitteilung des Senats der Freien Hansestadt Bremen zum Thema: "Gewalt in der Pflege."

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ZITATOR "[Pflegende Angehörige] ... vermeiden Öffentlichkeit, zum Teil aus Scham wegen eines manchmal unpassenden Verhaltens des Erkrankten. Bekannte werden nicht mehr eingeladen, weil übliche Ordnungsstandards nicht eingehalten werden können. Aus gleichem Grund lehnen pflegende Angehörige professionelle Hilfe ab. Sie überschätzen und überschreiten ihre Belastbarkeit und ziehen sich in die häusliche Situation zurück, mit der Folge, dass nicht nur dem Erkrankten notwendige Außenanregungen fehlen, sondern auch ihre eigene Isolation zu Krankheitssymptomen führen kann. Diese Einengung und Reduzierung von wertvollen sozialen Kontakten und das einhergehende faktische Unterbinden von notwendiger Förderung stellen vermeidbare und unzulässige Gewaltmaßnahmen dar." MUSIKMOTIV 1 (JAZZ-KLAVIERMUSIK) ERZÄHLERIN 1 Freitagnachmittag, 8. Februar. Rosemarie Kaiser wird endgültig aus der Tagesklinik nach Hause entlassen. TAKE 41 O-TON MICHAEL K "Ich hab irgendwie versucht, den Haushalt in Ordnung zu halten. Ich hab täglich gewaschen und mich manchmal auch ein, zwei Stunden dann nochmal hingelegt wieder oder auch einfach nur dagesessen und vor mich hin gestarrt und mir überlegt, was denn wohl passieren könnte. Die Situation war so ungewiss, ich konnte ja auch nichts planen und natürlich, ich hätte gern gewusst, wann ich denn mal wieder nach Hause fahren könnte. Letztendlich: allein hätte sie niemals bleiben können." ERZÄHLERIN 1 Michael Kaiser hat eine zehn Jahre ältere Schwester, Sabine. Sie lebt in der Nähe der Mutter und ist berufstätig. Sie hält regelmäßig Kontakt zu ihrer Mutter, holt sie gelegentlich zum Besuch in ihrem Haus ab. Zu ihrem Bruder pflegt Sabine ein Nichtverhältnis. "Wären wir nicht familiär verbunden, hätten wir nichts miteinander zu tun", sagt sie bei der Polizei.

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"Michael war unzuverlässig, unpünktlich oder kam gar nicht. Ich war immer die Dumme, die jeden Tag aufsteht." Über das Verhältnis von Mutter und Bruder urteilt sie: "Die waren symbiotisch. Aber wenn die beiden ein Ehepaar wären, würde die Eheberatung zur Scheidung raten." Als die Mutter aus der Tagesklinik entlassen wird, steht die Tochter als Pflegerin nicht zur Verfügung. Sie ist berufstätig und will das auch bleiben. So ist das, darüber reden Bruder und Schwester nicht. Im Prozess gegen ihren Bruder ist Sabine Seifert Nebenklägerin, erscheint aber nicht persönlich vor Gericht. Sie ist schwer krank und lässt sich von einem Rechtsanwalt vertreten, ihrem früheren Ehemann. <<Zu einem Interview ist sie nicht bereit.>> ERZÄHLERIN 2: Wer Demente pflegt, wird einsam. Kontakte brechen ab. Erich Niemann hat das erlebt. Freunde und Nachbarn ziehen sich zurück. Enge Familienangehörige können häufig nicht ertragen, dass der einst vertraute Mensch zur Fremden wird. So anstrengend ist die Mutter geworden! So unzugänglich. Unheimlich. TAKE 42: O-TON ERICH N. "Unsere Tochter wohnt in Hamburg, die war zwar sehr häufig zu Besuch, fühlte sich damit aber völlig überfordert, weil einfach damit ihr Mutterbild ganz aus dem Leim ging. Da war ne gewisse Fassungslosigkeit: Das ist jetzt meine Mutter! <<Meine Geschwister wohnen auch weiter weg. Von den vielen Freunden blieb eigentlich nur einer oder zwei übrig, die sich dann intensiv und regelmäßig drum gekümmert haben, z.B. eine gute Freundin von früher, die da mit ihr regelmäßig schwimmen gegangen ist.>>" TAKE 43: O-TON JUTTA L. "Mein Freundeskreis verkleinert sich natürlich, weil ich auch nicht mehr so viel Freizeit habe. Ich stehe nicht zur Verfügung."

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SPRECHER Jutta Laudowitz pflegt seit Jahren ihre 91 Jahre alte demente, bettlägerige Mutter. TAKE 44: O-TON JUTTA L. "Und generell denke ich, dass Menschen auch lieber mit gesunden Menschen zusammen sind. Wenn jetzt eine kranke Person da ist, oder ich erzähle davon, "ich muss jetzt dies und das machen", dann denke ich, ist das zunächst für andere auch ein bisschen unangenehm. Meine Freunde sind berufstätig, haben natürlich auch nicht so viel Zeit. Und die Zeit, die sie haben, verbringen sie mit sich oder mit anderen." SPRECHER Günther, der Ehemann von Anna Buschmann, leidet seit 14 Jahren an Multipler Sklerose. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen. Das Paar zieht um in einen anderen Stadtteil, in ein Hochhaus mit behindertengerechtem Badezimmer und Fahrstuhl. TAKE 45 O-TON ANNA B. "Wie wir ausgezogen sind, da haben sie uns einen sehr guten Abschied gemacht, der ganze Block war da, haben Blumen gebracht, die haben Musik gemacht, der eine spielte Akkordeon. Und war alles schön! Mit dem größten Versprechen, sie besuchen uns! Bis heute ist keiner da gewesen. Sie waren alle verschwunden. Ein Jahr hat sich keiner gemeldet. Zweite Jahr keiner. Jetzt sind vier Jahre. Keiner hat mal angerufen oder... Eine Dame schrieb einmal eine Weihnachtskarte, entschuldigt sich, dass sie nicht gekommen sind, „hat noch nicht geklappt“ ... am Ende kann man die ja nicht herbeizaubern".> MUSIKMOTIV 1 (JAZZ-KLAVIER)MUSIK UNTERLEGEN.

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ERZÄHLERIN 1 Montag. Tag drei nach der Tagesklinik. Er kocht, wäscht, räumt auf. <<Am Vormittag besucht er den Hausarzt seiner Mutter. Er kennt den Doktor, Michael Kaiser hat mit ihm ein paar Jahre gemeinsam die Grundschule besucht. Er schildert die jüngsten Kapitel aus der Krankengeschichte seiner Mutter: Oberschenkelhalsbruch, Operationen, Reha, Tagesklinik. Und was machst du denn so, will der Arzt wissen. Ich lebe in Berlin von Hartz IV, erwidert Michael Kaiser.>> Am Montagabend beschließt Michael Kaiser, seinen Cousin Rudolf zu besuchen. Der ist Gastwirt im Versammlungshaus einer Freimaurerloge. TAKE 48: O-TON MICHAEL K. "<Ich kenn dieses Haus, bin da quasi auch aufgewachsen, das ist ja wie ein zweites Zuhause.> Ich hab mich da hingesetzt, um ein paar Bier zu trinken. Dass da jetzt keine Unterhaltung stattfinden würde, das war mir auch klar. Und ich da auch gar nicht hingegangen bin, um irgendwelche Probleme loszuwerden, was mir auch völlig klar war, da ist mein Cousin auch nicht der Ansprechpartner für gewesen, das wollte ich auch gar nicht. <Also ich bin da nicht hingefahren, um mich auszuweinen.>" ERZÄHLERIN 1 Das Gericht versucht zu klären, wie viele Biere bei Rudolf es nun gewesen sind. Sieben, acht, oder noch mehr? "Können auch neun gewesen sein", erwidert der Angeklagte gleichmütig. Und wie viel Kräuterlikör hatte er am Ende des Besuchs bei seinem Cousin intus? Michael Kaiser kann einiges ab. Er ist Quartalssäufer, ätzt seine Schwester. Zur Tatzeit hat er mindestens 1,9 Promille im Blut. Er selber fühlt sich nicht betrunken. Er nimmt die letzte Straßenbahn, schaut noch auf die Schnelle in einem Imbiss vorbei, trinkt ein weiteres Pils. Dann, gegen Mitternacht, kehrt er in die stille Wohnung zurück. Die Mutter schläft. Er selber geht nicht zu Bett. Tigert in der Wohnung herum. Räumt auf, macht sauber. Trinkt Bier und Kräuterlikör. Sieht fern. Spielt Klavier. MUSIKMOTIV 1 (AUFBLENDEN UND RUNTER) ERZÄHLERIN 2 Das Amtsgericht hat Erich Niemann weitgehende Betreuungsvollmachten für seine Frau übertragen. Er verfügt über das Aufenthaltsbestimmungsrecht, er darf über ihre medizinische Versorgung entscheiden und über ihr Vermögen.

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TAKE 49: O-TON ERICH N "Eigentlich ist das auch eine subtile Form von Gewalt. Ich entscheide alles für sie. <Wir, die früher alles einstimmig praktisch haben entschieden. Nun ist die "einstimmige Entscheidung", bin ich. > Ich frag sie nicht mehr. Mir kommt es schon mal doch wie Gewalt vor. Ich sage: „Wir gehen jetzt spazieren.“ Ich frag sie manchmal pro forma: "Hast du Lust?" Aber ich meine es eigentlich nicht ernst. Ich guck auf das Wetter, und sage: "Frische Luft ist gut für dich." Und dann wird sie, das ist jetzt ein Pflegerollstuhl, da rein gesetzt, und dann gehen wir los. <Oder: "Wir machen jetzt das! Wir singen jetzt." Oder, oder. "Wir lesen jetzt vor."> Dieses Wir ist <tatsächlich, ist jetzt> kein pädagogisches Wir mehr, ich bestimme, was wir machen. "Wir lesen". MUSIKMOTIV 1 (JAZZ-KLAVIERMUSIK) UNTERLEGEN BIS ... ERZÄHLERIN 1 Dienstag, 12. Februar. Tag vier nach der Tagesklinik. Um sechs Uhr in der Frühe klingelt bei Rosemarie Kaiser der Wecker. Wie jeden Morgen um diese Zeit. Michael Kaiser hört das Läuten und geht zum Bett seiner Mutter. TAKE 07: O-TON MICHAEL K. "Es war nichts Außergewöhnliches an diesem Morgen. Gar nichts Außergewöhnliches, außer, dass ich in diesem Moment gedacht habe: Nun beenden wir das ganze Drama mal."

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ERZÄHLERIN 1 Die Mutter ist wach, erkennt ihren Sohn. Bei der Polizei gibt Michael Kaiser später an: Seine Mutter habe in diesem Augenblick gesagt: "Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber." <Wie bitte?> TAKE 50: O-TON MICHAEL K. "Ja, die üblichen Sätze, die sie gesagt haben kann oder gesagt haben muss: "Bist du noch gar nicht im Bett gewesen? Bist du jetzt erst nach Hause gekommen?" "Du musst doch mal schlafen!" <Oder so was in dieser Art.>" ERZÄHLERIN 1 Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber. Michael Kaiser sitzt im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt. An der Wand hängt das Foto eines Schneeleoparden, ausgeschnitten aus der Zeitschrift "Tierfreund". In der Ecke Holzspielzeug für Kleinkinder. Ein Justizwachtmeister in Schwarz passt auf, dass nichts "Sicherheitsrelevantes" gesprochen wird. Michael Kaiser trägt zivile Klamotten, keine Anstaltskleidung. Durch die vergitterten Fenster sieht man Strafgefangene bei der Gartenarbeit. Kaiser wirkt ruhig. Unbeteiligt. Als spräche er über jemanden, der gar nicht er, nicht Michael Kaiser ist. TAKE 51 O-TON MICHAEL K. "Es war nichts Außergewöhnliches an diesem Morgen und an dieser Situation. Außer meinem spontanen Entschluss." ERZÄHLERIN 1 Er will jetzt töten. Kaiser versucht zunächst, seine zugedeckt im Bett liegende Mutter zu erdrosseln. Dann lässt er davon ab. Er hält sie mit einer Hand fest und presst ihr mit der anderen ein Kissen auf Mund und Nase. Etwa drei Minuten lang, vielleicht auch sechs, bis er sicher sein kann, dass seine Mutter erstickt ist. Das Kissen habe er nicht genommen, um sie nicht ansehen zu müssen. Sondern um sie nicht zu verletzen, behauptet er vor Gericht. Gerichtsmediziner Olaf Cordes hat den Leichnam des Opfers untersucht. Gegenwehr nach dem überraschenden Angriff ihres Sohnes habe die alte Frau vermutlich nicht geleistet. TAKE 52: O-TON CORDES "Im ersten Moment wird natürlich die Panik Oberhand gewinnen. Und dann muss man ein

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bisschen differenzieren, ob jetzt wirklich die Atemwege komplett verlegt werden, <dass also der Gasaustausch in beide Richtungen unterbunden wird,> sprich: kein Sauerstoff aufgenommen wird, und gleichzeitig kein Kohlendioxid abgegeben wird. Denn sobald Kohlendioxid auch nicht abgegeben werden kann, steigt dieser Gehalt im Blut an. Und das macht Todesangst." MUSIK HOCH UND WEG

ZITATOR Sinsheim. Für die tödlichen Schüsse auf seine pflegebedürftige Frau hat das Landgericht Heidelberg einen 85-Jährigen zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. SPRECHER "Düsseldorf. Seit Freitag steht eine 49-Jährige wegen fahrlässiger Tötung vor dem Landgericht. Der Staatsanwalt warf ihr vor, ihre pflegebedürftige Mutter vernachlässigt, schließlich beim Heben im Bett tödlich verletzt zu haben. Sie habe keine Hilfe geholt, um den schlechten Pflegezustand der Mutter zu verbergen. Denn die 77-Jährige soll bei 1,53 Metern Größe auf 31,5 Kilo abgemagert sein." ZITATOR Memmingen. Weil er seiner Mutter Abflussreiniger in den Tee gemischt und damit ihren Tod verursacht hat, ist ein 42 Jahre alter Mann vom Landgericht Memmingen zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Nach Überzeugung des Gerichts trug sich der 42-Jährige bereits mehrere Tage vor der Tat mit dem Gedanken, seine 65 Jahre alte, pflegebedürftige Mutter zu töten.

SPRECHER Von tödlicher Gewalt in der häuslichen Pflege erfährt die Öffentlichkeit aus der Zeitung. Von weniger drastischen Fällen bekommt sie nichts mit. Weil es kaum Zeugen gibt. Und: Weil Täter so gut wie nie zur Verantwortung gezogen werden. TAKE 53: O-TON NÄGELE "Man weiß, dass es so gut wie überhaupt keine Konsequenzen hat, wenn da höchst problematische Pflegesituationen aufgedeckt werden." SPRECHER

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Barbara Nägele, die Göttinger Gewaltforscherin. TAKE 54: O-TON NÄGELE "Wir haben das untersucht, wie eigentlich Interventionen in Fällen von Gewalt in der Pflege vonstatten gehen. Und das Ergebnis war einigermaßen ernüchternd: Es gab eigentlich nur selten wirklich positiv verlaufende Interventionsketten, wo die erste Institution die Kenntnis von ´nem Fall hatte, das sinnvoll weitergegeben hat und es am Ende zu ‘ner Lösung kam. In aller Regel sind die Informationen nicht weiter gegeben worden." SPRECHER Niemand fühlt sich zuständig, beklagt auch Pflegedienstleiterin Andrea Hugo: TAKE 55 O-TON HUGO "Wir bräuchten ein Jugendamt für zu Pflegende. Wo die sich hinwenden können. Also das war´ nicht schlecht." ZITATOR "Unterstützt wird dieses "Nichtstun" durch Gesetze, die die Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellen und eine Einmischung von außen kaum zulassen. Damit ist jedoch niemand in der betroffenen Familie geholfen…"

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SPRECHER … kritisiert der Bonner Gerontopsychiater Rolf D. Hirsch. Ambulante Pflegedienste sind oft nah dran, wenn Angehörige gegen Pflegeabhängige Gewalt anwenden. TAKE 56 O-TON HUGO "Dann fragt man schon mal: Warum ist der so voller blauer Flecken? Aber es ist häufig dann auch so, wo wir dann auch interveniert haben. Dann werden wir auch der Tür verwiesen und gesagt: "Also wir möchten nicht mehr, dass Sie hier her kommen." <Und dann wird eben der Pflegedienst gewechselt.>" SPRECHER Die Dunkelziffer bei Gewalttaten gegen alte, pflegebedürftige Menschen ist hoch. Im Jahr 2012 wurden hierzulande - quer durch alle Altersgruppen - 2100 Menschen Opfer von Mord und Totschlag. Nach einer Studie sind diesen aufgedeckten Fällen weitere 1000 Tötungsdelikte hinzuzurechnen, die schlicht übersehen wurden. Welcher Arzt macht sich schon die Mühe, genauer hinzusehen? Gerade bei Hochbetagten. TAKE 57 O-TON CORDES "In Deutschland ist ja im Moment noch jeder Arzt berechtigt, den Tod festzustellen und eine Todesbescheinigung auszustellen. Und je nach individueller Veranlagung macht der eine oder andere das mehr oder weniger gern und hat mehr oder weniger Erfahrung. Es gibt viele Fallberichte, wo tatsächlich offensichtliche Strangulations-marken am Hals übersehen wurden. Da kann man halt nur mutmaßen: Entweder hat der Arzt nicht hingeguckt, oder er wollte es nicht sehen." MUSIKMOTIV 1 (JAZZ KLAVIERMUSIK) ERZÄHLERIN 1 Nachdem er seine Mutter erstickt hat, sitzt Michael Kaiser noch eine Weile an ihrem Bett. Er spürt Ruhe und Wärme in sich aufsteigen, eine lange nicht mehr gekannte Entspannung, sagt er vor Gericht. TAKE 58 O-TON MICHAEL K. "Das war so, weil mir in dem Moment bewusst gewesen ist, dass jetzt das Drama tatsächlich beendet ist. Nicht durch ihren Tod, denn meiner stand ja noch bevor." ERZÄHLERIN 1

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Kaiser kritzelt ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier, sein Testament: Ein Freund in Berlin soll sein Klavier erben, sein Neffe das Fahrrad. Dann legt er sich in die Badewanne, nimmt Tabletten ein und schneidet sich mit einem Cuttermesser in die Pulsadern. TAKE 59 (O-TON MICHAEL K. II SD 023 T 006 Z 40:00) "Ich habe ja nicht diese Tat begangen, und dann mich aus Verzweiflung selber umbringen wollen. Sondern das gehörte ja zusammen. Nur dass der zweite Schritt gescheitert ist." ERZÄHLERIN 1 Die Blutung aus den oberflächlichen Schnittwunden hört bald auf, die Selbsttötung misslingt. Michael Kaiser ist wieder wach. Gegen neun Uhr ruft er bei der Polizei an. TAKE 60 O-TON MICHAEL K. "An den genauen Wortlaut kann ich mich <ehrlich gesagt> nicht erinnern. “Ich habe meine Mutter umgebracht", ja. Es gab ja nichts zu verheimlichen oder zu verschleiern.“ ERZÄHLERIN 1 Zehn Minuten später treffen vier Polizisten am Tatort ein. Michael Kaiser empfängt sie bereits im Treppenhaus mit den Worten: "Ich habe meine Mutter getötet. Sie liegt im Schlafzimmer." Und: "Ich habe sie erlöst." Er wirkt auf die Beamten aufgekratzt, redselig, gibt sich kooperativ. "Ich hatte den Eindruck, ihm ist ein Stein vom Herzen gefallen", sagt einer der Polizisten. Auf seinen Kollegen wirkt Kaiser, als habe er ein gutes Werk getan. Später, im Streifenwagen, habe der "Verdächtige" erklärt: "Mutter ist stark pflegebedürftig. Das ist mir über den Kopf gewachsen." Handschellen werden dem "Beschuldigten" weder in der Wohnung noch im Streifenwagen angelegt. Michael Kaiser läuft nicht weg. SPRECHER Drei Geschichten, dreimal ohne Happy End. ERZÄHLERIN 2 Erich Niemann bringt seine Frau in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke unter. Inzwischen ist Ilse verstorben. ERZÄHLERIN 3 Hans Becker pflegt seine Lina vier Jahre, bis sie einen Darminfarkt erleidet und kurz darauf im

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Krankenhaus stirbt. ERZÄHLERIN 1 Bei Michael Kaiser konstatiert der psychiatrische Gutachter eine "schizoide Persönlichkeitsstörung" minderen Grades. Mildernde Umstände seien nicht zu erkennen. Für die Tat sei der Angeklagte voll verantwortlich. Die Große Strafkammer lässt den Mordvorwurf fallen und verurteilt Kaiser wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft. Sein Verteidiger hatte für zwei Jahre auf Bewährung plädiert. Inzwischen hat Kaisers Rechtsbeistand Revision eingelegt. SPRECHER Alle Personen, die Angehörige pflegen, heißen in dieser Sendung anders als in Wirklichkeit. TAKE 01 (ATMO HALLIGER GERICHTSFLUR, SCHRITTE SD T)

ERZÄHLERIN 1 Die Halbschuhe? Die hätte er schon gern wieder. Auch die Weste. Die Lederjacke. Seine Kleidung, die die Polizei beschlagnahmt hatte. Sein Oberhemd mit anhaftendem getrocknetem Blut? Das will er nicht zurück <haben>. Auch nicht das Nachthemd der Mutter. Nicht ihre Nackenrolle. Die Kopfkissen- und Bettbezüge. Das kann alles vernichtet werden, sagt der Angeklagte. ABSAGE: Fürsorgliche Gewalt Von den Abgründen häuslicher Pflege Feature von Günter Beyer Es sprachen: Cornelia Schramm, Peter Kaempfe, Ulrike Knospe, Svenja Pages und Guido Gallmann Musik: Serge Weber Technische Realisation: Klaus Schumann und Adrian Eichmann Regieassistenz: Ilka Bartels

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Regie: Hans Helge Ott Produktion Radio Bremen 2014 Redaktion: Michael Augustin ATMO: GERICHT