I sozial · 20 Begleitung auf dem Weg in den Arbeitsmarkt Flüchtlinge erhalten beim...

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sozial Das Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg Ausgabe 2 I 16 Wir können Kunst Mit Kulturarbeit Potenzial entfalten Aktuelles: Die BruderhausDiakonie berät Kommunen zur Flüchtlingsarbeit Nachrichten: Automobilzulieferer hat inklusive Arbeitsplätze aufgebaut SCHWERPUNKT

Transcript of I sozial · 20 Begleitung auf dem Weg in den Arbeitsmarkt Flüchtlinge erhalten beim...

sozial Das Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg

Ausgabe 2 I 16

Wir können Kunst Mit Kulturarbeit Potenzial entfalten

Aktuelles: Die BruderhausDiakonie berät Kommunen zur Flüchtlingsarbeit

Nachrichten: Automobilzulieferer hat inklusive Arbeitsplätze aufgebaut

SCHWERPUNKT

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IMPRESSUM

SCHWERPUNKT

KOLUMNE

AKTUELLES

SPENDENPROJEKTE

NACHRICHTEN

DIAKONISCHER IMPULS

INHALT

3 Kultur und Kunst für alle Kulturarbeit weckt Potenziale und entfaltet Talente

4 Die Kunst macht mich frei Künstler des Ateliers Halle 016 finden zunehmend Anerkennung

6 Kunst leistet einen großen Beitrag zur Inklusion Thomas Röske, Leiter der Prinzhorn Sammlung, über Outsider-Art

7 Einladungen zu internationalen Festivals Enrico Urbanek, Intendant, über Theater von Menschen mit Behinderung

8 Auf der Bühne geschehen „kleine große Wunder“ Schauspieler mit Behinderung wachsen beim Spielen über sich hinaus

10 Theaterkrimi stärkt Dorfgemeinschaft Inklusives Theater bringt Menschen mit und ohne Handicap zusammen

12 Als Sängerin und Musiker selbstbewusst auftreten Schüler der Oberlinschule gewinnen beim Musizieren Selbstvertrauen

14 Tanzen mit Albina ist für Grace sehr prima Für geflüchtete Mädchen ist die Hip-Hop-Gruppe eine Orientierungshilfe

15 Hass und Gewalt in einer Demokratie

16 Ängste abbauen, die aus Ungewissheit entstehen Die BruderhausDiakonie betreut Flüchtlinge im Auftrag von Kommunen

18 Integration voranbringen, den Hausalltag bereichern Ein Flüchtling arbeitet im Bundesfreiwilligendienst

20 Begleitung auf dem Weg in den Arbeitsmarkt Flüchtlinge erhalten beim Ausbildungsverbund berufliche Orientierung

22 Schöpferisch das Selbstbewusstsein stärken Spenden ermöglichen Menschen mit Behinderung literarisches Texten

23 Entwicklungen in der BruderhausDiakonie

24 Bewegt, bunt und einfach genial: Lieder und Musik Johannes Roth, Pfarrer, Komponist und Liedermacher

HerausgeberPfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender

BruderhausDiakonieStiftung Gustav Werner und Haus am BergRingelbachstraße211, 72762 ReutlingenTelefon: 07121278-225, Telefax: 07121278-955Mail: [email protected] 1861-1281,erscheint dreimal jährlich

RedaktionSabine Steininger (verantwortlich), Martin Schwilk, Karin Waldner

Gestaltung und SatzMees + Zacke, Susanne Sonneck

Druck und VersandGrafische Werkstätte der BruderhausDiakonie,Werkstatt für behinderte Menschen

FotonachweisTitel, S.7,10,11: Theater Die Tonne; S. 3: Kultur vom Rande; S. 6:privat; S. 12,13:Raphaela Weber; S. 18,19: factum/Weise; S. 20: Ulla Hanselmann; S. 24: privat; alle anderen: Archiv und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BruderhausDiakonie

SpendenkontoEvangelische Kreditgenossenschaft KasselIBAN DE31520604100000004006

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Menschen mit Handicap bessere Zugänge zu Kunst und Kultur zu ermöglichen – als Kulturschaffende wie als Kulturkonsumenten – ist ein Ziel der Inklusions-bemühungen im Kulturbereich. Dafür engagiert sich die BruderhausDiakonie beispielsweise in Reutlingen mit dem Projekt „Kultur ohne Ausnahme“. Bildnerisch tätige Künstler mit Handicap finden immer mehr Anerkennung. Künstler aus der BruderhausDiakonie haben beispielsweise schon im Rahmenprogramm der Documenta in Kassel ausgestellt oder im Museum Würth in Künzelsau. Und sie haben Preise für ihre Kunst bekommen. Auch Theaterensembles, in denen Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung spielen, sind in den vergangenen Jahren populär geworden. Tausen-de Besucher zieht das von der BruderhausDiakonie mitveranstaltete internationale Festival „Kultur vom Rande“ an. Es präsentiert alle drei Jahre in Reutlingen

Kultur und Kunst für alleUmfassende Teilhabe heißt auch: Teilhabe an Kunst und Kultur – als Produzent wie als Kulturgenießer. Das Bewusstsein dafür ist gewachsen, die Förderung von bildender Kunst, Musik und Theater weckt Potenziale und Talente.

Tanz, Musik, bildende Kunst und vor allem Theater von Menschen mit Behinderungen. Die Werkstätten der BruderhausDiakonie fördern Kunst, indem sie Beschäftigte für die künstlerische Arbeit im Atelier freistellen oder am Reutlinger Theater Die Tonne sogenannte Außenarbeitsplätze für Schauspieler mit Behinderung einrichten. In der Literatur-Werkstatt, einem Bildungsangebot der Werk-stätten, dichten und schreiben Werkstattbeschäf- tigte literarische Texte. Unter anderem über Musik- und Tanzprojekte finden die Mitarbeiter des Fach-dienstes Jugend, Bildung, Migration Zugang zu Jugendlichen. Einrichtungen der BruderhausDiakonie in Baden-Württemberg veranstalten gemeinsam mit den örtlichen Gemeinden Theaterprojekte, die das ganze Dorf auf die Beine bringen – etwa in Fluorn- Winzeln im Nordschwarzwald. I Martin Schwilk

Kultur vom Rande in Reutlingen: Kunst hat viele Gesichter.

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Johannes Joliet (Mitte) mit Susanne Zeschmann und Erich Rosenberger.

Die Künstlerin im Atelier steht zu ihrer Vorliebe für tief-gründige, etwas skurrile Szenerien: Ein Mädchen mit rotem Kopftuch geht durch den Wald. Es ist dunkel. Hinter einem Baum lauert ein Wolf. „Rotkäppchen“, ist der erste Gedanke. Aber das Mädchen trägt unter dem Arm einen Totenkopf, aus dem helle Flammen schie-ßen. Das kann nicht Rotkäppchen sein. „Nein“, klärt Su-sanne Zeschmann die erstaunte Besucherin auf, „das ist die schöne Wassilissa, eine russische Version von Aschenputtel.“ Die junge Künstlerin hat die mystisch anmutende Szene mit Buntstiften exakt auf Zeichen-papier gebannt. Es ist eines ihrer neueren Werke.Seit sieben Jahren gehört Susanne Zeschmann zum festen Stamm im Atelier Halle 016 der Bruderhaus-

Diakonie. Dort arbeiten rund 20 Beschäftigte der Reut-linger Werkstätten als Künstler. Susanne Zeschmann ist als Beschäftigte der BruderhausDiakonie jeweils zur Hälfte im Büroservice und in der Kreativwerkstatt beschäftigt. Den halben Dienstag verbringt sie im hel-len, großzügig ausgestatteten Kunstraum. „Ich habe alles ausprobiert, was mir in die Finger kam: Öl, Kreide, Plakatfarben.“ Das hat nicht nur ihre Bilder verändert, sondern auch ihrer Persönlichkeit gut getan. So wie die schöne Wassilissa, die in der gleichnamigen Mär-chenerzählung bei der Hexe Baba Jaga Feuer holt und damit ihr Leben verändert, hat Susanne Zeschmann ihr Lebensfeuer entzündet: Sie hat im Atelier ihren Prin-zen, den Künstler Erich Rosenberger, gefunden.

Die Kunst macht mich freiWährend das Experimentalorchester bei Konzerten Erfolge feiert, finden bildende Künst-ler des Ateliers Halle 016 über regionale Grenzen hinaus Anerkennung. Die Werkstätten der BruderhausDiakonie fördern Künstler in ihrer kreativen Arbeit.

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Die Kunst hat Susanne Zeschmann selbstbewusst gemacht.

Aus dem schüchternen Mädchen von einst ist eine selbstständige Frau und erfolgreiche Künstlerin gewor-den, bestätigt Atelierleiter Johannes Joliet. „Die Kunst macht mich frei“, sagt Susanne Zeschmann. „Hier kann ich so sein, wie ich bin.“ In der Tat strahlt die 31-Jäh-rige im Gespräch Selbstvertrauen und Offenheit aus. Neben Motiven aus alten Märchen und Sagen zeich-net sie Tiere und Fabelwesen. Manchmal gibt sie auch einem Traum Gestalt. „Das hier zum Beispiel“, Susanne Zeschmann zieht unter einem Sta-pel ungerahmter Bilder eine großformatige Zeichnung hervor, „habe ich nach einem Traum ge-malt.“ Zu sehen ist die obere Körperhälfte eines Vam-pirs, der trotz seines stechenden Blicks eher freund-lich wirkt. Neben der detailreichen Ausarbeitung fällt besonders die Leuchtkraft der Farben auf. Die junge Künstlerin benutzt hochwertige Buntstifte, die ihr das Atelier zur Verfügung stellt. Im Laufe der Jahre hat Susanne Zeschmann eine besondere Fertigkeit entwi-ckelt, ihren Bildern mit diesen Stiften Intensität und Tiefe zu verleihen. „Es kommt auf den Strich an“, er-klärt Johannes Joliet, „damit die Farben so kräftig und ausdrucksstark wirken.“Der Atelierleiter sieht seine Aufgabe vor allem darin, „eine Atmosphäre zu bilden, in der man kreativ sein kann“. Natürlich sei er kunsterzieherisch tätig, gebe handwerkliche Tipps und vermittle Wissenswertes über sinnhaftes Gestalten, Farben- und Materialkunde. Ein „lehrerhaftes Reinschwätzen“ mag er nicht. Auch wenn es sich um eine arbeitsbegleitende Maßnahme der Werkstätten handelt: Bei dem seit 1999 erfolgrei-chen Kunstprojekt dominieren weder pädagogische noch therapeutische Motive. „Im Vordergrund steht die künstlerische Freiheit“, betont Johannes Joliet, „und das mit Unterstützung der Werkstattleitung.“Von dieser künstlerischen Freiheit profitiert auch Erich Rosenberger. Seit drei Jahren hat er im Atelier einen

Teilzeitarbeitsplatz Kunst – neben der Arbeit im Ge-müsebau der Reutlinger Werkstätten. Seine abstrakt-expressiven, überdimensional großen Kunstwerke haben schon viele Ausstellungswände geziert. Der 56-Jährige experimentiert: Die Farben rührt er nach selbst entwickelten Rezepturen aus Pigmenten, Salz, Mehl und Leinöl an. Sobald die leere Leinwand vor ihm liegt, beginnt er die Farben darauf zu verteilen – eine

Schicht nach der anderen. Was dabei entsteht, über-rascht ihn manchmal selbst. „Malen ist für mich eine an-dere Art von Liebe“, schwärmt Erich Rosenberger. In der Ma-

lerei findet er die Ruhe und Gelassenheit, nach der er sich lange gesehnt hat. Sie bereichert ihn ähnlich wie die Liebe zu seiner Partnerin Susanne Zeschmann. „Meine Lebensqualität ist deutlich gestiegen.“ I Karin Waldner

„Es kommt auf den Strich an, damit die Farben so kräftig und ausdrucksstark wirken.“Johannes Joliet, Atelierleiter Halle 016

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Thomas Röske leitet die Samm-lung Prinzhorn in Heidelberg.

Was zeichnet die Kunst von Menschen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung aus?Es gibt hier sicherlich kaum etwas Typisches in Form und Inhalt. Wie bei anderer Kunst geht es darum, sich mit dem eigenen Inneren, der äußeren Welt und der Erinnerung auseinanderzusetzen. Psychische Erkran-kung oder Behinderung kann aber dazu beitragen, dass eine kreative Äußerung noch dringlicher wird – auch in Auseinandersetzung mit Reaktionen der Gesellschaft darauf. Eines ist festzustellen: Zu künstle-rischem Tun führt nicht Behinderung oder Krankheit, sondern eine Begabung. Diese Begabung bewirkt, dass die Menschen auf künstlerischem Wege ihre Erfahrungen mit dem Selbst und der Welt verarbeiten. Ohne diese Begabung würden sie dafür einen ande-ren Weg suchen.

Was leistet künstlerische Betätigung in der Therapie von psychischen Erkrankungen?Künstlerische Medien in der Therapie psychischer Erkrankungen dienen als Brücke zur Kommunikation mit dem Therapeuten. Viele der Patienten würden sonst nicht künstlerisch tätig. Die Werke, die wir in der Sammlung Prinzhorn zeigen, sind fast ausschließlich aus freien Stücken entstanden. Viele dieser Menschen haben gar nicht daran gedacht, dass sie Kunst ma-chen. Vielmehr wollten sie mit ihrem Tun ihre Existenz sichern, sie stützen oder ermög-lichen. Sie wollten etwas zeigen, belegen oder wissenschaftlich beweisen und dachten nicht an einen Ausstellungskontext.

Wie unterscheiden sich die Werke von Künstlern mit und ohne Handi-cap?Das Erstaunliche an Werken von Psychiatrie-Erfahrenen: Menschen ohne künstlerische Ausbildung schrecken nicht davor zurück, künstlerische Mittel einzusetzen. Dabei gehen sie häufig sehr ori-ginell und ungewöhnlich vor, weil sie quasi das Rad neu erfinden

Kunst leistet einen großen Beitrag zur InklusionSein Interesse an der Kunst von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung hat Thomas Röske früh entdeckt – in einer Ausstellung der Sammlung Prinzhorn, die er heute leitet. Er forscht zu dieser Kunst, veranstaltet Ausstellungen und gibt Publikationen heraus.

müssen. Das meint die Bezeichnung Outsider-Art für diese Kunst. Sie bezieht sich nicht auf ein gesell-schaftliches Außenseitertum der Künstler, sondern darauf, dass sie sich außerhalb von etablierten Kunst-formen und Traditionen bewegen.

Kann Kunst einen Beitrag zur Inklusion leisten?Mittlerweile geht die Kunstwelt sehr stark auf Outsi-der-Art zu. Vor kurzem haben wir erfahren, dass Vanda Vieira-Schmidt, eine Künstlerin, die wir entdeckt und unterstützt haben, im New Yorker „New Museum“ ausstellt. Einen großen Beitrag zur Integration von Menschen mit Handicap leistet Kunst aber in einem anderen Bereich: in semiprofessionellen Ausstellun-gen, wo häufig Werke von Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung gezeigt werden. Für diese Menschen ist es sehr wichtig, nicht für sich allein künstlerisch tätig zu sein, sondern über ihre Arbeiten ins Gespräch zu kommen.I Interview: Johannes M. Müller

Die Sammlung Prinzhorn, eine Einrichtung der Uni-versität Heidelberg, vereint Zeichnungen, Gemälde, Collagen, Textilien, Skulpturen und Texte, die zwischen 1880 und 1920 in psychiatrischen Anstalten entstan-den sind.

Erläutert Studierenden die Outsider-Kunst der Sammlung Prinzhorn: Thomas Röske (links).

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Schauspieler mit Behinderung bre-chen mit gewohn-ten Arbeitsformen.

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Einladungen zu internationalen Festivals

Menschen mit Behinderung sind seit bald fünf Jahren Schauspieler am Theater Die Tonne. Wie kam es dazu?Professorin Elisabeth Braun von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg hatte mich gefragt, ob ich mir die Theatergruppe ihrer Studierenden mit Menschen mit Behinderung anschauen könnte. Das habe ich getan und fand es so toll, dass ich angebo-ten habe, mitzumachen. Herausgekommen ist dabei das Stück „Revue Fatale“. Nach der Premiere hat mich einer der Schauspieler am Ärmel gezupft und gefragt: „Und was machen wir nächste Woche?“ Da war klar: Es geht weiter.

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung – und welche Entwicklungen beob-achten Sie?Die Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinde-rung bricht mit gewohnten Arbeitsformen. Norma-lerweise sind Stück, Konzept, Bühnenbild und Rollen vorgegeben. Hier gilt dagegen: Je freier der Kopf von

Seit Januar 2012 treten Werkstattbeschäftigte der BruderhausDiakonie als Schauspie-ler beim Reutlinger Theater Die Tonne auf. Intendant Enrico Urbanek erklärt, was es mit diesen „künstlerischen Arbeitsplätzen“ auf sich hat.

festen Vorstellungen, umso besser – man kann den Schauspielern nicht einfach etwas aufdrücken. Texte werden zum Beispiel anders interpretiert, durch Singen, Tanzen oder Musik. Das führt zu einer großen Ausdrucksstärke.

Wie kommt das Theater mit Menschen mit Behinde-rung beim Publikum an?Die meisten reagieren positiv: Beim Theaterfestival „sicht:wechsel“ in Linz Ende Juni haben die Leute nur drei Sekunden auf den Stühlen gesessen, dann gab es stehende Ovationen. Manche finden das Theater mit Menschen mit Behinderung aber auch verstö-rend. Insgesamt ist es toll, dass wir inzwischen eine Art Durchbruch hatten, dass wir zu internationalen Festivals eingeladen werden und in einem Atemzug mit großen Theaterensembles genannt werden. Auch bei Feierlichkeiten wie Jubiläen wird unsere Gruppe gebucht.I Interview: Dorothee Lürbke

Enrico Urbanek ist Intendant am Reutlinger Theater Die Tonne.

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Auf der Bühne geschehen „kleine große Wunder“Menschen mit Behinderung wachsen als Schauspielerinnen und Schauspieler im Reut-linger Theater Die Tonne über sich hinaus – dank der „künstlerischen Arbeitsplätze“ der Werkstätten der BruderhausDiakonie.

Ein langgezogenes „Uuuuuuuuuh“ schallt durch den Probenraum im Reutlinger Theater Die Tonne. Zehn spitze Münder lassen den Ton an diesem Julinachmit-tag aufbranden und abebben. Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters Die Tonne trainieren mit Gesangspädagogin Ulrike Härter ihre Stimmen. Alle Darsteller leben mit einer Behinderung. In dem licht-durchfluteten Raum haben sie aber vor allem eins: ein besonderes Talent, das sie mit der richtigen Förderung zu Bühnenstars macht.Dahinter steht das Konzept der „künstlerischen Arbeitsplätze“. Seit Januar 2012 kooperieren die BruderhausDiakonie-Werkstätten Reutlingen mit dem Theater Die Tonne und der Fakultät für Sonderpäda-gogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg/ Reutlingen. An zwei Tagen in der Woche tauschen die

Schauspieler ihren Werkstatt- oder Betriebsarbeits-platz mit dem Theater, um an Bewegungen, Stimmen und Texten zu feilen. Nach einem Jahr ist jeweils Pre-miere. In den Wochen davor wird jeden Tag geprobt.

Auf dem Spielplan: Online-DatingJobcoach Maria Stroppel von der BruderhausDiakonie begleitet die Darsteller im Theater, hilft bei der Orga-nisation und den Proben. So wie bei der Spiegelübung an diesem Donnerstag: Einer macht ein Geräusch, eine Bewegung vor, der Sitznachbar ahmt sie nach und improvisiert eine neue Szene. Im Stuhlkreis geht es reihum: bellen, krähen, rufen, wispern, winken, klat-schen. Das Lernen geht nahtlos in Spielfreude über. Die Übung läuft gut, nur selten greifen Maria Stroppel und Gesangspädagogin Ulrike Härter ein.

Geschafft – das Theaterensemble lässt sich nach der Aufführung feiern.

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Auf die Wirkung kommt es an: Jeder Schritt sitzt, die Mimik ist einstudiert, die gemeinsame intensive Vorbereitung ist unerlässlich.

Die nächste Premiere ist an diesem Tag noch weit entfernt. Nach der letzten Aufführung von „Die Blinden“ tastet sich das Ensemble an ein neues Stück heran. Um Online-Dating soll es gehen, verrät Enrico Urbanek, Intendant des Theaters Die Tonne. Genau-eres müsse noch besprochen werden – im Team, versteht sich. Ein Stück, Bühnenbilder oder Rollen ohne Absprache festzulegen, sei tabu, die Begegnung auf Augenhöhe Programm. Dazu gehöre, sich auf die Interessen und Fähigkeiten der Beteiligten einzulas-sen. „Den Schauspielern etwas aufzudrücken geht nicht. Hier gilt: Je freier der Kopf von festen Vorstel-lungen ist, desto besser“, meint Enrico Urbanek. „Das bricht mit den gewohnten Arbeitsformen am Theater, bringt aber auch eine große Authentizität mit sich.“

Schauspieler träumen von New YorkDie Teamarbeit funktioniert. Davon konnten sich bereits zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauer überzeugen – nicht nur in Reutlingen, sondern auch bei Theaterfestivals in München und zuletzt Ende Juni in Linz. Auf der Bühne wachsen die Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung über sich hinaus. „Es ist einfach nur ein tolles Gefühl, Theater zu spie-len“, sagt Seyyal Inal. Seine Schauspielkollegin Alfhild Karle ergänzt: „Vor allem, wenn die Aufführung gut war, denke ich: Wow, jetzt haben wir was geschafft.“Erfahrungen wie diese stärken das Selbstbewusst-sein und schärfen das Bewusstsein der Zuschauer für eine inklusive Gesellschaft. Und nicht nur das. Eine Schauspielerin, die kaum gehen kann, stieg nach dem Auftritt im österreichischen Linz nach langer Zeit wieder auf ihr Fahrrad. „Dabei hatte ihre Physio-therapeutin gemeint, dass das nicht mehr geht“,

erzählt Enrico Urbanek – eines von „vielen kleinen großen Wundern, die auf der Bühne passieren“.Vieles haben die Schauspieler schon erreicht. Vieles wünschen sie sich noch: In New York oder Rom wür-den einige gern einmal auftreten, andere möchten vom Theaterspielen leben können. Der Intendant wie-derum hofft, dass Menschen mit und ohne Behinde-rung künftig öfter gemeinsam auf der Bühne stehen.Zunächst geht es an diesem Tag aber darum, die Stimmübungen abzuschließen. Ulrike Härter be-ginnt, eine Melodie zu singen, die Männer stimmen ein, dann die Frauen. Ein Kanon. Die vier Stimmlagen ergänzen sich harmonisch. Text und Takt sitzen – auch bei den Darstellern, denen das Sprechen sonst schwerfällt. Noch ein kleines großes Wunder in einem Theater, in dem Inklusion längst Wirklichkeit ist. I Dorothee Lürbke

www.theater-die-tonne.de

INFO

Sichtwechsel besonderer Art: Im Sommer 2016 traten die Schauspielerinnen und Schau-spieler mit Behinderung des Reutlinger Theaters Die Tonne beim integrativen Festival „sicht:wechsel“ im österrei-chischen Linz auf. Rund 200 Zuschauer verfolgten begeistert die Aufführung von „Charlie – Begegnung mit Chaplin, dem

Meister der Komik“. Weitere professionelle und inklusive Ensembles wie „RambaZamba“ aus Berlin standen auf der Bühne, außerdem renommierte Schauspieler wie Eva Mattes. 6.000 Besucher erlebten wäh-rend des fünftägigen Festivals 53 Veranstaltungen aus den Bereichen Theater, Tanz, Litera-tur und Performance.

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In der kleinen Schwarzwaldgemeinde Fluorn-Winzeln ist wieder Ruhe eingekehrt. Nichts erinnert mehr an die aufregenden Ereignisse der letzten Monate, die das halbe Dorf auf die Beine gebracht haben. Und doch hat sich etwas verändert, das auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. „Das Zusammengehörig-keitsgefühl der Menschen in Fluorn und in Winzeln ist spürbar stärker geworden“, freut sich Christina Keller, die selbst aus Winzeln kommt und bei der Be-hindertenhilfe der BruderhausDiakonie im Landkreis Rottweil für den Bereich Arbeit von Menschen mit Behinderung zuständig ist.

Spurensuche mitten im OrtChristina Keller deutet auf den frisch renovierten Pausenhof der Heimbachschule, die auf einer Anhöhe mitten im Grünen liegt. „Das war unser Marktplatz“, sagt sie lächelnd, „hier hat der Theaterspaziergang be-gonnen.“ Sie läuft weiter. „Und hier lag die Leiche von Adalbert Schrader.“ Direkt neben der Schule, in unmit-telbarer Nähe der fast fertigen neuen Mehrzweck- halle. In drei restlos ausverkauften Vorstellungen führ-ten hier Menschen mit und ohne Behinderung jeweils 300 Zuschauerinnen und Zuschauer mit Mord,

Spurensuche und Aufklärung um die Schule herum. Alle paar Meter wartete eine weitere spannende Sze-ne, bis der Theaterkrimi in der „Adalbert-Schrader-Hal-le“ zu Ende ging. Der Theaterspaziergang spielte von Anfang bis Ende mitten im Ort. „Das war zwar wegen der Klientinnen und Klienten ein größerer Organisationsaufwand für uns“, sagt Iris Wößner, stellvertretende Leiterin der Behindertenhilfe im Landkreis Rottweil, die im Stück eine Reporterin spielte. Dafür beteiligten sich Bürge-rinnen und Bürger aus beiden Ortsteilen, freut sich Iris Wößner: „Der Vereinsring war als Mitveranstalter von Anfang an dabei und hat zudem die komplette Bewirtung übernommen.“ Der Akkordeonverein Fluorn-Winzeln und der Popchor Winzeln unterstütz-ten das Projekt musikalisch, weitere Bürgerinnen und Bürger mit ihrem schauspielerischen Einsatz. Insge-samt wirkten mehr als 100 Kinder und Erwachsene beim Theaterspaziergang mit.

Inklusion als NormalitätFür Iris Wößner und Christine Trein, Leiterin der Behin-dertenhilfe im Landkreis Rottweil, zeigt das kulturelle Gemeinschaftsprojekt auf ideale Weise, wie Inklusion umgesetzt werden kann. „Alle waren gleich wichtig – egal, ob mit oder ohne Handicap“, sind sich Trein und Wößner einig. Inklusion als Normalität also: Das hat in Fluorn-Winzeln nicht zuletzt deshalb funktioniert, weil neben den Organisatoren – BruderhausDiakonie, Vereinsring und Gemeinde – auch Förderer wie „Akti-on Mensch“ die Finanzierung gesichert haben. Zum Vorteil aller. „Viele Menschen im Ort sind zum ersten Mal mit unseren Klienten in Kontakt gekommen“, berichtet Jenny Seidel, die den Sozialdienst der Behindertenhil-fe leitet und während der Probenarbeit „viele schöne Begegnungen“ miterlebt hat. Ihre Kollegin Annette Wurster vom Fachdienst erinnert sich vor allem an „lange Probennächte“, bei denen Regisseur Paul Siemt die Darstellerinnen und Darsteller immer wieder an-gespornt und herausgefordert habe. Das sei anstren-gend gewesen und ermutigend zugleich. Alle seien über sich selbst hinausgewachsen.

Theaterkrimi stärkt DorfgemeinschaftGelungenes Beispiel für Inklusion: Die Behindertenhilfe im Landkreis Rottweil, der Vereinsring und die Gemeinde Fluorn-Winzeln haben einen Theaterkrimi mit Regisseur Paul Siemt realisiert. In Rottweil war die Theatergruppe „Herzrasen“ erfolgreich.

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Die Reporterin (links) fühlt der Bürgermeisterin auf den Zahn.

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„Jeder war hundertprozentig in seiner Rolle“, fin-det Nadja King, die für die BruderhausDiakonie im Mehrgenerationenhaus Kapuziner in Rottweil tätig ist. Zusammen mit ihrer Kollegin Mirjam Pfau hat sie parallel zum Theaterspaziergang in Fluorn-Winzeln den Theaterspaziergang der Gruppe „Herzrasen“ in Rottweil organisiert. Dieser ist wie im rund 25 Kilome-ter entfernten Fluorn-Winzeln das gemeinsame Werk aller Beteiligten. Paul Siemt spricht von einer Ensemb-leproduktion. „Aus anfänglichen Gesprächen ent-standen Figuren und Rollen, später Theaterszenen“, erläutert der Regisseur und lobt die „tolle Leistung des Ensembles“. 19 zumeist junge Menschen der Theatergruppe „Herzrasen“, 16 davon mit Behinderung, führten „Das ist ungerecht“ auf. Das Stück thematisiert gesell-schaftliche Ungerechtigkeiten, darüber hinaus geht es um die Liebe von Katharina und Martin. Beide gehen in die 9. Klasse, beide werden von ihren Mitschülern ungerecht behandelt und von ihrer Lehrerin und ihren Eltern nicht verstanden. Gemeinsam fliehen sie von zu Hause und öffnen damit den Verantwortlichen die Augen. Mitschüler, Eltern und Lehrerin entschuldigen sich für ihr ungerechtes Verhalten, der Beziehung steht nichts mehr im Wege. Zehn Jahre später läuten die Hochzeitsglocken, weitere zehn Jahre später er-tönt Babygeschrei.

Herausforderung gemeinsam gemeistert„Diese Schlussszene, das war meine Idee“, sagt Kevin Wagner stolz. Der junge Mann hat zum ersten Mal Theater gespielt und gleich die männliche Haupt-rolle übernommen. Obwohl er dafür sehr viel Text lernen musste. „Das war aber nicht schwer für mich“,

versichert er, „ich kann gut auswendig lernen.“ Andere Akteure mit Behinderung, die nicht wie Kevin Wagner lesen und schreiben können, mussten die Texte stän-dig wiederholen, um sie sich einzuprägen. „Wir haben uns gegenseitig geholfen.“

Ideen und Lebensfreude als AntriebAuch Daniela Fiedler, Klientin der Behindertenhilfe in Fluorn-Winzeln, hat die Theaterarbeit in guter Erinne-rung: „Es war sehr lustig.“ Vor allem die Szene, als der Dorfpolizist den Rollstuhlfahrer Ralf ins Röhrchen bla-sen ließ, weil dieser in Schlangenlinien fuhr. Die junge Frau lacht und erzählt von ihrem Auftritt als Mitglied einer Touristengruppe in der Schnapsbrennerei des späteren Mordopfers Adalbert Schrader. „Ich hatte ein Sommerkleid an und war geschminkt.“ Sie lächelt versonnen. Wie recht Paul Siemt doch hat mit seiner Feststellung: „Wir bieten allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit diesem Projekt eine gesellschaftli-che Teilhabe, die jeder und jede mit seinen und ihren Fähigkeiten nutzen und mit Ideen und Lebensfreude bereichern kann.“ Dieses Angebot haben alle Beteilig-ten, ob mit oder ohne Handicap, genutzt.Übrigens: Die neue Mehrzweckhalle in Fluorn-Win-zeln ist inzwischen fertiggestellt und unter dem Namen Heimbachhalle eingeweiht worden. Nach der monatelangen intensiven Probenarbeit um die Bau-stelle herum glaubt Iris Wößner aber jetzt schon zu wissen: „Für mich wird sie die Adalbert-Schrader-Halle aus dem Theaterstück bleiben.“I Karin Waldner

www.fluorn-winzeln.de/data/fotogalerie.php

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Viele der Schau-spieler sind über sich selbst hinaus-gewachsen.

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Es sind nur noch wenige Minuten vor ihrem Auftritt beim Schulbegegnungskonzert in Reutlingen: Selina ist aufgeregt und macht daraus kein Geheimnis. Immer wieder läuft die Sängerin hinaus auf die Terrasse des Gemeinschaftshauses der Bruderhaus-Diakonie. „Du packst es“, muntert sie ein Bandkollege auf. Als Selina dann am Mikrofon auf der Bühne steht, wirkt sie überhaupt nicht mehr angespannt. Sie schließt die Augen und konzentriert sich. Dann füllt ihre kräftige Stimme den Raum. Ihre Mitschüler und die jungen Musiker der anderen Bands applaudieren nach jedem der drei Lieder begeistert.Auch die zweite Band der Oberlinschule erntet für ihren Auftritt viel Beifall. Als es die Neuntklässler zum Abschluss des Konzertes so richtig krachen lassen, kommen vor allem die Fans wummernder Bässe voll auf ihre Kosten. Die Stimmung ist gut, der Band-Tag

Als Sängerin und Musiker selbstbewusst auftretenGegenseitiges Vertrauen, im gleichen Takt bleiben, aufeinander achten: In den beiden Bands der Oberlinschule in Reutlingen erfahren Schüler, wie aus diesen Zutaten gemeinsame Musikstücke entstehen.

eine willkommene Abwechslung zum Unterricht in dem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungs-zentrum der BruderhausDiakonie.Bei der Generalprobe am Tag zuvor überwiegt noch konzentrierte Spannung. Marc Vorndran, Lehrer an der Oberlinschule, und Rektor Daniel Reiber geben den Bandmitgliedern Tipps, was sie verbessern können. „Ihr habt gleich angefangen, aber dann ging es ausei-nander. Auf den Schluss müsst ihr noch achten, sonst war es gut“, sagt Reiber und lässt das Stück wieder-holen, damit es am nächsten Tag sitzt. Seit über zehn Jahren gibt es das Bandprojekt an der Oberlinschule, einer Einrichtung der BruderhausDiakonie für Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf im sozial-emotio-nalen Bereich. „Die Band ist für sie ein ganz wichtiges Lernfeld, weil sie hier üben können, aufeinander zu achten“, erläutert Sonderpädagoge Vorndran.

Trotz Lampenfieber: Selina meistert den Auftritt mit der Schülerband.

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Zugehörigkeit zur Gruppe wird gefördertVom Schlagzeug bis zur Gitarre: Das musikalische Angebot ist bei den Schülerinnen und Schülern gefragt. Wenn sie zu Beginn eines Schuljahres in die neu zusammengesetzte Gruppe einsteigen, haben sie bis auf wenige Ausnahmen keine Erfahrung, ein Instrument zu spielen. „Wir bringen ihnen bei, damit einen Titel zu spielen“, sagt Marc Vorndran. Für viele sei es eine unglaubliche Leistung, über eine Schul-stunde lang an einer Sache dranzubleiben. Welches Instrument möchte ich spielen? Komme ich mit den anderen klar? „Das erste Halbjahr ist oft schwierig, es läuft für alle Beteiligten erst einmal ein Findungspro-zess ab.“ Wenn dann alle ihre Rolle entdeckt haben, gelingt es den Bands, entweder eigene Stücke zu spie-len oder Vorschläge aus ihren Reihen umzusetzen. Die 16-jährige Selina singt am liebsten Balladen. Die Texte beherrscht sie auswendig. So kann sie sich voll auf die Musik konzentrieren, mit der die anderen sie begleiten. Marc Vorndran und Daniel Reiber spielen oder singen bei den Proben oft mit, um den Schülern ein Grundgerüst und Sicherheit zu geben. „In einer Band zu spielen bedeutet, dass man seine eigenen Bedürfnisse zurückstellen muss. Man muss sich an Taktabläufe halten, sich gegenseitig vertrauen und

sich aufeinander verlassen können, sonst ist Musik in dieser Form und ein Auftritt als großes gemeinsames Ziel unmöglich“, hebt Reiber die sonderpädagogi-schen Aspekte des Projektes hervor. „Wenn das gut läuft, wächst die Zugehörigkeit zur Gruppe.“

Außergewöhnliche ErfahrungDamit das Projekt einen Abschluss hat, gibt es seit einigen Jahren den Band-Tag, bei dem sich Schul-bands gegenseitig ihre Stücke vorspielen. In diesem Jahr sind die Kinder der Jos-Weiß-Grundschule und Jugendliche des Diasporahauses Bietenhausen Gäste der Oberlinschule. Dabei gibt es bei den Auftritten nicht wie bei einem Wettbewerb Sieger und Verlierer. Die Schüler sollen Spaß an der Musik haben und zei-gen, was sie können. Viele kostet es Überwindung, vor Publikum zu spielen. Dennoch trauen sie es sich an diesem Tag zu. „Es gibt Kinder bei uns, die sich sonst nie auf der Bühne präsentieren würden“, weiß Daniel Reiber. „Für sie ist es etwas ganz Besonderes und ein Erfolgserlebnis.“ Diese außergewöhnliche Erfahrung nehmen sie mit nach Hause. Marc Vorndran: „Wir versprechen uns von dem Band-Tag eine Stärkung des Selbstbewusstseins.“I Raphaela Weber

Gemeinsam Musik machen stärkt den Teamgeist der Jugendlichen.

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„Fünf, sechs, sieben, acht …“, zählt Tanzlehrerin Albina Krügler den Takt ein, und acht Mädchen schütteln ihre Schultern im Musiksaal der Hoffmannschule in Betzingen, schwenken Arme und Hände, laufen. Seit September vergangenen Jahres tanzen die Schülerin-nen der internationalen Vorbereitungsklasse Hip-Hop. Vom Hip-Hop übers Kickboxen, von Video- und Fotoprojekten über Musikbands: Seit über 20 Jahren organisiert der Fachdienst in Reutlingen, Münsingen und im Ermstal Gruppenangebote für Jugendliche, die sich in ihrer Freizeit sportlich, künstlerisch oder musikalisch engagieren wollen. Tanzlehrerin Albina Krügler, 21, entdeckte den Hip-Hop für sich als Schülerin in einem Tanzprojekt des Fachdienstes an der Hoffmann-Schule. Mit 14 Jahren tanzte sie dort Hip-Hop. Sieben Jahre später bringt sie Schülerinnen, die noch nicht lange in Deutschland sind, die ersten Tanzschritte bei. Sie habe auch in Syrien getanzt, sagt die 13-jähri-ge Hiami: „Ich liebe Tanzen.“ Und Grace reimt zum Tanzschritt: „Tanzen mit Albina – ist sehr prima.“ Die Mädchen lachen scheu, sie sprechen erst wenig Deutsch und sind es nicht gewohnt zu sprechen. Aber wenn sie sich bewegen, blühen sie auf. Ursprünglich war das Hip-Hop-Angebot für alle Schüler der Klasse geplant. Als Albina Krügler aber sah, dass die Jungs eher störten und nicht mit dem gleichen Ernst dabei waren wie die Mädchen, entwickelte sie eine spezielle Choreographie nur für die Schülerinnen.

Tanzen mit Albina ist für Grace sehr primaTheater, Musik, Tanz und Sport: Künstlerische Projekte helfen den Mitarbeitern des Fachdienstes Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie, mit Jugendlichen in Kontakt zu kommen. Dabei arbeitet das Team eng mit Schulen zusammen.

Lieben das Tanzen: die Hip-Hop-Mäd-chen von Albina Krügler (Mitte).

Sie sind allein oder mit ihren Eltern aus Syrien, Afgha- nistan, Kroatien und Mazedonien geflohen. Nach einer schweren Zeit gibt ihnen das Tanzen, das einmal pro Woche während der Unterrichtszeit stattfindet, wieder Selbstsicherheit und Stabilität. „Hier können sich die Mädchen entfalten und machen, was ihnen Spaß macht“, sagt Projekt-Koordinatorin Tatjana Naumann vom Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie. Die Mädchen schaffen sich Freiräume und entwickeln Selbstbewusstsein. Die Jungs bevorzugen eher sportliche Aktivitäten wie Kickboxen und Fußballspielen. In den Sportgruppen, die der Fachdienst vorwiegend gemeinsam mit den Schulen entwickelt, lernen sie Disziplin – und über sich selbst zu sprechen. Das schafft Ablenkung von der Langeweile und Frustration des Alltags. „Wir neh-men die Jugendlichen so, wie sie sind, und schauen, was sie mitbringen: Talente, Interessen, Hobbys“, erzählt Tatjana Naumann. Dass in der Hip-Hop-Gruppe der Hoffmann-Schule nur Flüchtlings-Mädchen zusammen tanzen, ist eher eine Ausnahme. Langfristiges Ziel sind immer gemischte Gruppen: jugendliche Migranten und einheimische Jugendliche, Mädchen und Jungs. „Unser Ziel ist, Jugendliche miteinander in Kontakt zu bringen“, sagt Christa Herter-Dank, Bereichsleiterin des Fachdienstes Jugend, Bildung, Migration. Für das kommende Schuljahr plant der Dienst deshalb in Kooperation mit der Reutlinger Fachhochschule ein ambitioniertes Modeprojekt, wo Jungs und Mädchen nicht nur schneidern lernen, sondern auch Stoffe herstellen, filzen und färben. Oft gehen die Gruppenprojekte weit über die bloßen freizeitpädagogischen Angebote hinaus: Ein Musik-projekt kann für Jugendliche auch eine erste Anlauf-stelle sein, um sich über schulische Probleme auszu-tauschen, sich beruflich zu orientieren oder Hilfe für die persönliche Entwicklung zu holen. So wie für die Mädchen in Albina Krüglers Hip-Hop-Gruppe.I Marianne Mösle

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KOLUMNE

Pfarrer Lothar Bauer, Vorstands vor-sitzender der BruderhausDiakonie.

Lothar Bauer

Hass und Gewalt in einer Demokratie

Wir sind auf der Heimfahrt vom Besuch bei den En-keln. „Reutlingen“, hören wir als Nachrichtenstichwort aus dem Autoradio. Der Deutschlandfunk berichtet, ein Mann aus Syrien habe in der Reutlinger Innen-stadt mit einer Machete eine Frau getötet. Wir wollen es nicht glauben. Die Dinge finden nicht mehr in Kabul oder Bagdad statt. Sie sind vor unse-rer Haustür angekommen. Sorgen drängen an die Oberfläche. Werden die Offenheit des Landes und die Willkommenskultur davon unangetastet bleiben? Werden sich die Perspektiven der über 100 jugendli-chen Flüchtlinge, die wir in der BruderhausDiakonie betreuen, negativ verändern? Wie gefährdet sind die jungen Menschen für Radikalisierungen, vergleichbar der Radikalisierung des jungen Mannes, der bei Würz-burg zur Axt gegriffen hat?Die jungen Flüchtlinge sind aus großer Not und Gefahr gekommen und mit großen Hoffnungen. Die Wohlstandsversprechungen sind über die digitalen Werbewände weltweit präsent. Dass diese Welt eine andere Seite hat, erfahren sie hier.

Sich selbst motivieren, ist notwendigDamit die Hoffnungen sich einlösen, muss man sich mit der Sprache abmühen, eine Schulbildung ab-schließen, einen Beruf lernen und ausüben. Können sie die großen Hürden nehmen, die vor ihnen stehen?Hinter den vielen Einzelfragen steckt eine große Sor-ge. Woher kommen Hass und Gewalt, die sich in den letzten Wochen auch in unserer Nähe, in Frankreich und in Deutschland entladen haben? Gewalt und Hass haben mit der Erfahrung von Exklu-sion zu tun. Eine junge Tunesierin zeigt Verständnis für den Attentäter von Nizza. Sie habe sich um Inte-gration bemüht, werde aber immer noch und immer wieder als Fremde gesehen.

Familie, Gemeinde und Gemeinschaft pflegenDemokratie ist ein einziges Teilhabeversprechen.

Durch die Dynamik von Wahlen und Wahlversprechen werden Erwartungen zusätzlich gedehnt und auch überdehnt. Das demokratische Teilhabeversprechen beinhaltet ein überschießendes Moment. Wenn es den Bürgern nicht gelingt, die Grenze zu definieren zwischen Teilhabefragen, die Gegenstand der Politik sind und sein müssen, und den Fragen, auf die Politik keinen Einfluss hat, wird es zu einer offenen Flanke.Die Lösung existenzieller Erfahrungen wie Krankheit, Leiden und Tod darf nicht dem politischen System aufgebürdet werden. Insofern lebt Demokratie auch davon, dass die Bürger ihre schicksalshaften Lebens-fragen in einer religiösen oder philosophischen Hal-tung selbst abarbeiten. Das Heil- und Trostpflaster gegen die Widerwärtigkei-ten des Schicksals ist die verlässliche, kleine Gemein-schaft – etwa die Familie, Freundschaften oder die Gemeinde: Menschen, die uns die Zugehörigkeit nicht aufkündigen und uns Hilfe anbieten, wenn wir von schicksalshaften Exklusionserfahrungen betroffen sind. Diese Lebensdimensionen zu pflegen, die des sozialen Nahraumes und des Religiösen, ist ein Ge-waltpräventionsprogramm und ein Programm für den Bestand von Demokratie.

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AKTUELLES

Sid-Ahmed Serour (Mitte) berät junge Flüchtlinge.

In Aichtal betreut er die Anschluss- unterbringung.

Gespannt lauschen die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8b der Realschule in Oberlenningen, als Tarik Karim* von seiner Flucht aus Afghanistan berichtet. Der heute 22-Jährige hatte sich auf einen ungewis-sen Weg gemacht, nachdem Terroristen seine Mutter ermordet hatten, und war schließlich in Filderstadt gelandet. Statt des üblichen Unterrichts lernen die Achtklässler an diesem Dienstagvormittag Karim und seine Geschichte kennen. Sabine Treyz begleitet ihn. Die Mitarbeiterin des Fachdienstes Jugend, Bildung, Migration (FJBM) der BruderhausDiakonie betreut im Auftrag der Kommune Flüchtlinge in Lenningen, einer Gemeinde südlich von Kirchheim/Teck. „Ich habe gemerkt, wie berührt die Schüler waren“, berichtet Treyz. Mit Aktionen wie dieser will die Sozialarbeiterin Verständnis für Flüchtlinge wecken. „Wir wollen ein Miteinander schaffen und die Ängste abbauen, die aus Unwissenheit entstehen.“Neben Lenningen haben auch andere Kommunen den Fachdienst beauftragt, Flüchtlinge vor Ort zu be-treuen, und sich so eine Expertise von außen geholt. Als Erstes ist die Sozialberatung des FJBM in Aichtal angelaufen, einer Kleinstadt südlich von Stuttgart. Seit Dezember vergangenen Jahres begleitet und berät Sid-Ahmed Serour dort Flüchtlinge in der An-schlussunterbringung. Seine Kollegin Anita Wimmer koordiniert die mehr als 100 freiwilligen Helfer vor Ort. Ein Vorteil der Kooperation mit dem FJBM: Benö-tigt die Gemeinde mehr Sozialbetreuung, kann der Stundenumfang erhöht werden.

In Lenningen ist der Fachdienst seit Juni tätig. Der Lenninger Ortsteil Oberlenningen mit 2500 Bewoh-nern erwartet im Oktober 149 anerkannte Flücht-linge. Dagegen gab es im Vorfeld Widerstand in der Bevölkerung. Als klar war, dass an der Zahl nicht zu rütteln ist, votierte der Gemeinderat einstimmig für die Beauftragung des Fachdienstes. Sabine Treyz und ihre Kollegin Madeline Lessourd nut-zen die viermonatige Vorbereitungszeit. Sie knüpfen Kontakte mit Vereinen, Kirchengemeinden, Feuerwehr und freiwilligen Helferinnen und Helfern. Gemeinsam überlegen sie, wie Flüchtlinge bestehende Angebote nutzen können und welche neuen Angebote benötigt werden – etwa ein Treffpunkt. Mit den ersten Freiwilli-gen formt sich ein lokales Netzwerk, das den Flücht-lingen das Ankommen in Oberlenningen erleichtern soll.Und was nehmen die Achtklässler von Karims Besuch mit? Wie gut sie sich mit ihm verstanden haben – und dass man nicht aufgeben darf: Karim hat inzwischen einen Ausbildungsplatz als Fliesenleger gefunden. Die Begegnung weckt die Erinnerung daran, dass einige Migrationsgeschichten aus der eigenen Familie erzäh-len können. Sabine Treyz hofft, dass sich aus Begeg-nungen wie dieser Sprachpatenschaften und mehr ergeben. Der erste Schritt ist getan, meint die Sozial-arbeiterin: „Der Besuch hat Verständnis und Offenheit erzeugt.“ Eine gute Grundlage, damit die Flüchtlinge in Lenningen willkommen geheißen werden. I Johannes M. Müller

Ängste abbauen, die aus Ungewissheit entstehenEine Expertise von außen holen: Was in der Wirtschaft alltäglich ist, kommt auch bei Kommunen gut an. Der Fachdienst Jugend, Bildung, Migration begleitet Flüchtlinge im Auftrag von Gemeinden in der Region.

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AKTUELLES

Ingrid Gunzen-hauser leitet den Fachdienst Jugend, Bildung, Migration.

Beim Billard geht es auch um die Perspektiven der jungen Flüchtlinge.

Welche Kompetenzen bringt der Fachdienst für die Arbeit in den Kommunen mit?Wir bringen unser Erfahrungswissen und unser fachliches Know-how ein. Gemeinsam mit allen Akteuren vor Ort analysieren wir die Bedarfe und unterstützen die Vernetzung in den Gemeinden. Wir knüpfen dort an, wo unsere Expertise gebraucht wird, in welcher Form auch immer. Integration findet dort statt, wo Menschen zusammenkommen: in Vereinen, am Arbeitsplatz, in Schulen. Synergieeffekte erzeugen wir, wenn wir auf das gebündelte Know-how des Fachdienstes zurückgreifen. Sei es um Sprachkurse, Programme zur interkulturellen Sensibilisierung oder Angebote zur beruflichen Orientierung auf die Beine zu stellen.Mittlerweile beschäftigen wir auch Menschen mit Fluchthintergrund. Wir geben ihnen eine Berufsper-spektive – und ihre Rolle als Dolmetscher, Brücken-bauer und Kulturmittler hat sich zu einem wichtigen Baustein für unsere erfolgreiche Integrationsarbeit entwickelt.

Wie ist Ihre Bilanz für die Flüchtlingsarbeit des Fach-dienstes im vergangenen Jahr?In der Not rücken die Menschen zusammen, das spie-gelt sich überall in unserer täglichen Arbeit wider. Im Spätsommer vergangenen Jahres haben wir zunächst nur reagiert und funktioniert, zum Jahresende dann bewusst geplant und organisiert. Derzeit befinden wir uns in einer Phase, in der wir unsere Arbeit stärker strukturieren und strategisch für die Zukunft aus-

richten. Beim Zusammenwirken der Akteure in der Flüchtlingsarbeit steht inzwischen das Miteinander im Vordergrund. Wir kooperieren noch mehr, regeln Schnittstellen und schaffen Kommunikationswege mit dem gemeinsamen Ziel, Flüchtlingen den Weg in unsere Gesellschaft zu ebnen. Gleichzeitig dürfen wir aber die von Armut bedrohten Menschen bei uns nicht aus den Augen verlieren.

Wie bereitet sich der Fachdienst auf zukünftige Heraus-forderungen in der Flüchtlingshilfe vor?Aktuell arbeiten wir an einem landkreisweiten Integ-rationskonzept mit. Gemeinsam erörtern alle Akteure, wie sie zusammenarbeiten können und wer für wel-che Aufgaben zuständig sein soll. Wir wollen Klarheit für alle Beteiligten schaffen und den Übergang von der Erst- in die Anschlussunterbringung möglichst nahtlos organisieren.Eine große Unsicherheit besteht im Hinblick auf den Familiennachzug. Spürbar ist, dass die Asylanträge nun schneller bearbeitet werden und die Zahl der bleibeberechtigten Flüchtlinge steigt. Damit wächst auch der Bedarf an Sozialbetreuung in Städten und Gemeinden.Wenn wir unsere Unterstützungsleistungen in Kom-munen vorstellen, vermitteln wir, was es braucht, um Flüchtlinge ins Gemeinwesen zu integrieren: geeigne-te Rahmenbedingungen wie Finanzen und Räumlich-keiten, einen langen Atem und starke Schultern. I Interview: Johannes M. Müller

Ingrid Gunzenhauser über die Aufgaben des Fachdienstes

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AKTUELLES

Bori Maneh hilft im Seniorenzentrum mit, wo er kann.

Die Bewohner sind von dem Gambier sehr angetan.

Mittwochvormittag ist Männerstammtisch. Für das gute Dutzend Bewohner des Seniorenzentrums Schönberg, das daran teilnimmt, ist es das Highlight der Woche. Auch Bori Maneh hat riesigen Spaß daran, wenn der Leiter der Tagespflege beispielsweise „euro-päische Länder“ als Thema für die Runde vorgibt und die betagten Männer ins Erzählen kommen. Bori Maneh ist ein 39-jähriger Asylbewerber aus Gambia, der im Seniorenzentrum seit Mitte Januar als Bundesfreiwilligendienstler, kurz: „Bufdi“, im Rahmen einer halben Stelle mitarbeitet. An fünf Vormittagen kommt Maneh aus der Flücht-lingsunterkunft in Stuttgart-Plieningen in den benachbarten Stadtteil Schönberg, um dort von 8 bis 12 Uhr mitanzupacken. Die Flure mit Hilfe einer Reinigungsmaschine säubern, Müll entsorgen, Schmutzwäsche einsammeln, saubere Kleidung verteilen, Inkontinenzmaterial auffüllen – das sind die Aufgaben des Gambiers, wie die Leiterin des Senio-renzentrums der BruderhausDiakonie in Schönberg, Doris Alford, erzählt. Die 19,5-Stunden-Stelle erlaube es ihm, nachmittags weiterhin seinen Deutschkurs an der Volkshochschule zu belegen, so Alford. Die Finan-zierung dieses Sprachkurses hat das Seniorenzentrum übernommen.

Das Hausgemeinschaftskonzept wird gestärktBori Maneh lebt seit zwei Jahren in Deutschland. In das Schönberger Seniorenzentrum kam er zunächst über ein Projekt, das innerhalb der BruderhausDia-konie einmalig ist. Dabei betätigen sich Flüchtlinge ehrenamtlich: Bori Maneh und zwei weitere gambi-sche Kollegen ziehen auf dem Dachgarten Gemüse, sie jäten Unkraut, fegen, schneiden Hecken oder entsorgen defekte Pflegebetten. Für die Helfer gebe es immer etwas Sinnvolles zu tun, sagt der Haustechni-ker des Seniorenzentrums, Horst Lüders. Die Idee für das Projekt geht auf die stellvertretende Bezirksvorsteherin des Stadtteils Plieningen zurück. Ziel ist, den häufig zu Untätigkeit verurteilten Flücht-lingen auf diese Weise zu ermöglichen, ihrem Gastge-berland etwas zurückzugeben. Wegen der noch mangelhaften Deutschkenntnisse der drei Asylbewerber kostet es die Angestellten des Seniorenzentrums zwar Zeit, deren ehrenamtliche Mitarbeit zu organisieren. Gleichzeitig werden sie durch die Mithilfe der Gambier aber auch entlastet. Und das kommt den Bewohnern der Schönberger Einrichtung zugute. Dass die Ehrenamtlichen den Hausalltag bereichern, steht für Hausleiterin Doris Alford außer Frage: Sie begegneten den älteren Men-

Integration voranbringen, den Hausalltag bereichernDer gambische Asylbewerber Bori Maneh ist als sogenannter Bundesfreiwilligendienst-ler im Seniorenzentrum Schönberg tätig. Zudem arbeitet er im Rahmen eines einmali-gen Projekts innerhalb der BruderhausDiakonie ehrenamtlich in dem Haus mit.

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AKTUELLES

Bori Maneh hat schon in seiner Heimat gerne gegärtnert.

schen ohne Berührungsängste, sagt sie. „Da kommt es schon mal vor, dass gemeinsam Mensch-ärgere-dich- nicht gespielt wird.“ Der Einsatz der Flüchtlinge stärkt so auch das Hausgemeinschafts-Konzept, nach dem das Seniorenzentrum Schönberg organisiert ist.

Ein Praktikum war der Einstieg Während einer Praktikumswoche, die Teil des Deutschkurses war, den der Gambier besuchte, über-nahm Maneh dann weitere Aufgaben in der Pflege-einrichtung. Schnell habe sich dabei herausgestellt, dass der Asylbewerber, der in seinem Heimatland als Journalist tätig war und auch Erfahrung als Gärtner hat, vielfältig einsatzfähig sei, berichtet Doris Alford. So kam die Anstellung im Rahmen des Bundesfreiwil-ligendienstes zustande. Zunächst für ein halbes Jahr angelegt, wolle man die Zusammenarbeit nun um weiteres halbes Jahr verlängern, kündigt die Hauslei-terin an. Davon profitieren beide Seiten.Durch die Mitarbeit als Bundesfreiwilligendienstler stehe Maneh in weit engerem Kontakt zu Bewohnern und Kollegen als bei der ehrenamtlichen Arbeit. So könne er seine Sprachkenntnisse weiter vertiefen und seine Integration schneller voranbringen, sagt Doris Alford. Die Leiterin wiederum konnte mit Bori

Maneh ihre freie Freiwilligendienstler-Stelle beset-zen – andere Bewerber gab es nicht. Sie ist mit dem engagierten Mitarbeiter hoch zufrieden – auch wenn klar sei, dass der Gambier durch die mangelnden Sprachkenntnisse noch viel Anleitung brauche.

Die „Bufdi“-Stelle wird um sechs Monate verlängert „Er ist sehr fleißig, motiviert, nimmt jede Arbeit an und setzt sie ohne zu murren um. Und egal, wo er hinkommt: Von seiner offenen, unkomplizierten und freundlichen Art sind die Bewohner sehr angetan“, sagt Doris Alford. Umso bedauerlicher sei es für sie, dass Bori Maneh nicht im Rahmen einer regulären Stelle beschäftigt werden könne. Dafür reichten die finanziellen Mittel nicht.Durch die geplante Verlängerung der „Bufdi“-Stelle hat der Gambier nun zumindest für weitere sechs Monate eine Perspektive. Darüber hinaus ist er weiter-hin als ehrenamtlicher Helfer im Einsatz. „Die Arbeit im Dachgarten wollte er sich auf keinen Fall nehmen lassen“, freut sich Doris Alford über den Einsatzeifer und den grünen Daumen des „Bufdis“.I Ulla Hanselmann

20 sozial 2 I 2016

AKTUELLES

Der Miniatur-Lkw aus Metall ist fast fertig: Räder, La-defläche, Führerhaus – alles dran. Gerade macht sich Arsen Tscham mit der Metallsäge in der Fahrradwerk-statt der BruderhausDiakonie in Reutlingen am letz-ten Bauteil zu schaffen. Vor ihm auf dem Werktisch liegt ein Leitz-Ordner, gefüllt mit Aufgabenblättern des Metallbau-Grundlehrgangs. Die meisten davon hat er abgearbeitet. „Die Arbeit mit Metall ist interes-sant und macht mir viel Spaß“, sagt Arsen Tscham. Seinem Ziel, Metallbauer zu werden, ist der osteuro-päische Asylbewerber damit ein gutes Stück näher gekommen. Der Ausbildungsverbund der Bruderhaus-Diakonie unterstützt ihn dabei. Der Verbund ist an verschiedenen Projekten beteiligt, die Flüchtlingen helfen, sich beruflich zu orientieren, zu qualifizieren und einen Arbeitsplatz zu finden. „Wir haben bislang 20 Flüchtlinge in Praktika vermittelt, die in zwei Fällen in eine Ausbildung und einmal in einen Arbeitsplatz mündeten. Wir gehen davon

Begleitung auf dem Weg in den ArbeitsmarktDer Ausbildungsverbund der BruderhausDiakonie unterstützt Flüchtlinge bei der Berufswahl, vermittelt Praktika und Arbeitsplätze und bildet aus. Arsen Tscham steht in der Fahrradwerkstatt in Reutlingen in den Startlöchern für eine Metallbau-Ausbildung.

aus, dass im Herbst sieben bis zehn Flüchtlinge eine Ausbildung beginnen werden“, zieht der Leiter des Ausbildungsverbunds, Thomas Wied, eine erste Zwischenbilanz. Arsen Tscham steht im Rahmen des Projekts NIFA in den Startlöchern für die Metallbau-Ausbildung. NIFA ist die Abkürzung für „Netzwerk zur Integration von Flüchtlingen in Arbeit“. Ziel ist, Flüchtlinge nachhaltig in Ausbildung und Arbeit zu bringen, wie Paul Merz vom Ausbildungsverbund der BruderhausDiakonie erklärt. Der Ausbildungsverbund ist dabei Teil des lokalen Netzwerks Reutlingen/Tübingen – eines von dreien in Baden-Württemberg. Paul Merz hatte Arsen Tscham zunächst vorgeschla-gen, bei einem einwöchigen Praktikum in der Fahrrad-werkstatt Metallbau-Luft zu schnuppern. Weil dem gelernten Buchhalter die Arbeit mit dem Werkstoff gefiel, schloss sich daran die sechsmonatige Vor-schaltmaßnahme an, in der er sich gerade befindet.

Der Asylbewerber Arsen Tscham will Metallbauer werden.

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AKTUELLES

Dabei kommen Berufseignung, Kompetenzen und Sprachkenntnisse auf den Prüfstand. Bei einer posi-tiven Beurteilung wird die Maßnahme dann auf die Ausbildung angerechnet, die als Umschulung vom Jobcenter oder der Agentur für Arbeit finanziert wird. Der Asylbewerber sei „sehr schnell, sehr gut und sehr willig“, lobt Ausbildungsmeister Jan Schweizer. Einzi-ges Handicap: die Sprache. Aber auch hier befinde sich Tscham, der bereits den Deutschkurs B1absolviert hat, auf einem guten Weg: „Die nötigen Berufsfachbe-griffe lernt er bei der täglichen Arbeit“, sagt Paul Merz.

Ohne die Unterstützung durch das NIFA-Projekt wäre es für den Flüchtling schwierig, die berufliche Umori-entierung anzugehen. Tscham habe keinerlei Erfah-rung im Metallbau mitgebracht und sei mit seinen 36 Jahren vergleichsweise alt für einen Azubi, benennt Paul Merz die Hürden. Dazu kommt: „Flüchtlinge wie er sind alleine gar nicht in der Lage, sich zu bewer-ben, sie haben keine Kontakte und wissen auch nicht, welche Förderungen es seitens der Agentur für Arbeit oder des Jobcenters gibt.“I Ulla Hanselmann

Thomas Wied über Angebote für FlüchtlingeWie hat der Ausbildungsverbund auf den starken Zuzug von Flüchtlingen reagiert?Die aktuellen Flüchtlinge sind meist nicht in der Lage, direkt nach einem Sprach- oder Integrationskurs in eine Ausbildung einzusteigen. Dafür sind die Schwel-len zu hoch. Unser Ziel ist deshalb, sie für eine Aus-bildung fit zu machen. Wir sind quasi das Qualifizie-rungsscharnier zwischen Sprachkurs und Ausbildung.

Welche Art der Förderung bieten Sie an?Die Projekte PerF und PerjuF sind Maßnahmen, die von der Agentur für Arbeit ausgeschrieben wurden und für die wir den Zuschlag bekommen haben. PerF heißt Perspektiven für Flüchtlinge, dauert sechs Monate, richtet sich an erwachsene Flüchtlinge und hat zum Ziel, deren berufsbezogene Sprachkenntnisse zu verbessern und sie in Arbeit oder Ausbildung zu bringen. Wir helfen bei der Berufswahl, suchen nach Praktikums- und Ausbildungsplätzen, machen eine Berufswegeplanung sowie Bewerbungstrainings. PerjuF richtet sich an 18- bis 25-jährige Flüchtlinge. Hier steht die Berufsorientierung im Fokus. Dafür bieten wir beispielsweise Übungswerkstätten in ver-schiedenen Berufsfeldern an. Zudem sind wir an NIFA beteiligt, dem Netzwerk zur Integration von Flüchtlin-gen in Arbeit.

Gibt es auch speziell vom Ausbildungsverbund ent-wickelte Angebote? Ja. Wir haben festgestellt, dass der berufsbezogene

Sprachunterricht viel zu spät einsetzt, weshalb die Flüchtlinge in den Handwerksbetrieben und Be-rufsschulen große Verständigungsprobleme haben. Deshalb haben wir eine Maßnahme entwickelt, die in acht Monaten die Grundlagenqualifizierung Metall mit intensivem, integriertem Spracherwerb verbindet. Dabei sind an drei Tagen in der Woche der Ausbilder und eine Sprachlehrerin im Tandem in der Werkstatt – so lernen die Flüchtlinge die Sprache viel effizienter.

Wie nehmen die Flüchtlinge diese Angebote an? Ihnen dürfte es häufig vor allem auch darum gehen, schnell Geld zu verdienen?Richtig. Und wenn wir ihnen erzählen, dass sie erst einen Integrationskurs, einen Vorkurs und dann noch eine dreieinhalbjährige Ausbildung machen müs-sen, sind sie erst einmal geschockt. Da müssen wir Überzeugungsarbeit leisten und ihnen etwa erklären, dass sie als Ungelernte bei der ersten Wirtschaftskrise wahrscheinlich zum Heer der Langzeitarbeitslosen gehören würden.

Worin besteht die größte Schwierigkeit für Sie als Aus-bildungsträger?Klar ist, dass in diesem Herbst eine große Zahl von Flüchtlingen im Arbeitsmarkt auftauchen wird. Aber keiner weiß, wie viele es sein werden. Deshalb können wir als Ausbildungsträger den Personal-, Raum- und Ausstattungsbedarf nur bedingt planen.I Interview: Ulla Hanselmann

Leitet den Ausbil-dungsverbund der BruderhausDiako-nie: Thomas Wied.

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Schöpferisch das Selbstbewusstsein stärken

Irmgard Lehmann und Adelheid Allgeier schließen die Augen. Die Stimme der Lyrikerin Rotraut Schnee-mann lenkt die Konzentration der beiden Frauen mit Behinderung auf ihre Füße: „Verbindet euch mit der Erde. Spürt eure Fußsohlen, eure Fersen, eure Zehen.“ Nach der Meditation als Einstieg in die Schreibwerk-statt sammeln die Teilnehmerinnen Wörter zum Grundmotiv „Füße“. Die Diakonin und Theaterpäda-gogin Angelika Janssen, die die Wortwerkstatt leitet, schreibt sie auf. Vielfältige Assoziationen tauchen auf: Wege und Pfade, kitzeln, hüpfen, barfuß gehen, Blasen und Hornhaut. Die Wortwerkstatt „Wir“ ist ein Mitmachangebot des therapeutischen Fachdienstes der Bruderhaus-Diakonie Buttenhausen. Sie besteht im vierten Jahr. Zwei bis sechs Klientinnen und Klienten mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung treffen sich einmal pro Woche im hellen Gemeinschaftsraum der Häuser am Roßbach für eine Stunde, die Besetzung wechselt. „Wörter sind die Auslöser unserer Poetik“, erklärt Rotraut Schneemann. Die pensionierte Mathe-matiklehrerin und Dichterin begleitet die Gruppe ehrenamtlich. Sie fährt fort: „Wir bringen Wörter in Fluss. Unsere Gedichte entstehen ohne vorherige Festlegung. Das Denken ist hier nebensächlich, das Spontane und das Fühlen treten in den Vordergrund.“Dabei entstehen bemerkenswerte Gedichte. An diesem Julivormittag picken sich die Teilnehmerinnen ein paar Lieblingsbegriffe heraus und spielen damit. „Die Stiefel an meinen Füßen sind weich wie im Winter. Der Schnee kühlt die Blasen kalt. Die Füße kriechen in den süßen Sand. Er massiert meine Zehen.“ Zweimal liest Angelika Janssen das Gedicht vor. Irmgard Lehmann, die 43-jährige Autorin, lächelt. „Schön, gell?“, sagt sie und stellt fest: „Zufrieden bin ich.“

Einige prämierte Gedichte wurden bereits in Gedicht-bänden und Kalendern veröffentlicht. Eine Auswahl aus dem reichen Fundus wird als Pyxi-Lyrik im Format der beliebten Kinderbüchlein publiziert. „Es macht die Klientinnen und Klienten stolz, wenn sie ihre Gedichte vortragen oder bei einer Lesung hören“, betont Angelika Janssen. „Die Wortwerkstatt stärkt ihr Selbstbewusstsein, ihre Sprache sowie ihre Schreib- und Lesefähigkeit.“ I Silke Fehrenbach

Der Druck der Pyxi-Lyrik oder die Teilnahme an Preisverleihungen und Lesungen muss aus Spenden finanziert werden – wie viele der künstlerischen und kreativen Zusatzangebote der BruderhausDiakonie. Denn hierfür gibt es keine Regelleistungen.

Spenden für die Wortwerkstatt sind möglich auf das Spendenkonto der BruderhausDiakonie, IBAN DE31520604100000004006, Stichwort Wortwerkstatt.

Informationen zu Spenden unter www.spenden.bruderhausdiakonie.de

In der Wortwerkstatt „Wir“ der BruderhausDiakonie Buttenhausen entstehen jede Woche kurze Gedichte über Gott und die Menschen, Liebe und Trauer, Schmerz und Glück. Sie finden bei Lesungen Gehör, und einige darunter sind preisgekrönt.

In der Wortwerkstatt „Wir“ bringen die Frauen Wörter in Fluss.

SPENDENPROJEKT

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NACHRICHTEN

Für Nachhaltigkeitspreis nominiertReutlingen – Beschäftigte der BruderhausDiakonie- Werkstätten für Menschen mit Behinderung bieten in Reutlingen besondere Stadtführungen an: Mit Rap, Tanz und Theater zeigen sie Besuchern ihre Sicht auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Das Projekt ist unter die drei Erstplatzierten des von der Evange- lischen Bank bundesweit ausgelobten Nachhaltig-keitspreises gerückt. Dieser ist mit Preisgeldern zwi-schen 3.000 und 10.000 Euro dotiert. 138 Projekte aus Kirche und Diakonie haben sich beworben. Welchen Platz die Reutlinger Stadtführer erreichen, erfahren sie bei der Preisverleihung im September in Kassel.

Dettingen/Erms – Der Automobilzulieferer Elring-Klingler hat in Zusammenarbeit mit der Bruder-hausDiakonie im Unternehmen Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung eingerichtet. Mehr als 30 Beschäftigte der BruderhausDiakonie-Integrati-onsfirma Intego und der Werkstätten arbeiten mit unterschiedlichen Arbeitsprozenten in der Behäl-terwaschanlage, erfüllen dort Dienstleistungen, die großen Kunden der Automobilindustrie zugute-

Inklusive Arbeitsplätze geschaffenkommen. In den zu reinigenden Transportbehältern werden kleine Autoteile transportiert, die Behälter müssen also äußerst sauber sein: Schon ein Mücken-beinchen an einer Schraube verändert deren präzisen Sitz im Fahrzeug. „Die Reinigung erledigte früher ein anderer Dienstleister“, erläuterte Ulrich Bauer, Leiter der ElringKlinger-Logistikplanung bei einem Besuch von Bürgermeistern aus dem Ermstal sowie von Vorstand und Mitarbeitern der BruderhausDiakonie. „Der Dienstleister war jedoch träger und teurer.“ Die Vorgabe zu Beginn der Kooperation 2015war, 1100 Transportbehälter für Autozubehör in einer Arbeits-schicht zu waschen. Die Beschäftigten der Bruder-hausDiakonie, so Bauer, schafften bereits ein halbes Jahr später die doppelte Anzahl Kisten pro Schicht. ElringKlinger-Finanzvorstand Thomas Jessulat bewer-tete die Zusammenarbeit als positiv: „Unser soziales Engagement hat Tradition, für uns ist das Team eine prima Ergänzung.“ Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzen-der der BruderhausDiakonie, ergänzte: „Wir freuen uns über die Arbeitsplätze mitten in der Industrie.“

BruderhausDiakonie-Beschäftigte arbeiten bei ElringKlinger.

Die Stadtführer der BruderhausDiako-nie freuen sich über die Nominierung.

Förderung für unterstützende TechnikReutlingen – Die Entwicklung intelligenter Technik für zu Hause schreitet rasch voran. Nicht immer sind Entwickler, Produzenten und Anwender solcher Tech-nik – etwa gehandicapte Menschen oder Pflegekräfte – dabei auf dem gleichen Stand: Handwerker verlegen Kabel, die für die neuen Anwendungen nur bedingt taugen. Bauplaner übersehen, dass die notwendigen Installationen entsprechenden Platz benötigen. Ent-wickler haben das Funktionieren der Technik im Blick, nicht aber den Menschen, der damit umgehen muss. Pflegekräfte und Sozialarbeiter kennen die Bedürf-nisse ihrer Klienten, wissen aber nicht, welche Voraus-setzungen die technische Unterstützung braucht. Das zu ändern und beispielhaft Möglichkeiten zu erpro-ben, wie alle Beteiligten wirkungsvoll Hand in Hand arbeiten können, ist ein wesentliches Ziel des Projekts KoBial. Dieses Kürzel steht für „Kooperative Bauvor-haben im Sozialwesen“. Knapp 370.000 Euro hat das baden-württembergische Wirtschaftsministerium dem Projekt unter Federführung der Bruderhaus- Diakonie zur Verfügung gestellt. „Das ist ein wichtiges Signal aus dem Wirtschaftsministerium, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, sagt Günter Braun, Fach-licher Vorstand der BruderhausDiakonie.

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DIAKONISCHER IMPULS

sozial 1 I 2016

Bewegt, bunt und einfach genialAuch wenn er nur noch zehn Prozent Sehvermögen besitzt: Tim hat sich mit einem Kollegen als Tandem- Rennfahrer zum weltgrößten Triathlon in Roth ange-meldet. Als Staffel-Läufer bin ich mit ihm und einem Schwimmer im Team. Er erzählt mir von sportlichen Erfolgen. „Der Glaube und die Familie haben mir die Kraft gegeben, dass ich heute hier bin“, sagt er – und fährt eine weitere Spitzenzeit heraus. Während des Marathonlaufs merke ich, wie ich für ihn laufe, trotz Krämpfen, schweren Beinen: Ich laufe voller Respekt, singe, kämpfe, hoffe – und halte als Team-Läufer durch. „Nehmt einander an. Baut Brücken zueinander. Springt mit Gottes Hilfe gemeinsam über Mauern. Geht gemeinsam an eure Grenzen.“Als Liederpfarrer sind mir genau diese Imperative am liturgisch-spirituellen Sonntag und im Alltag wichtig.Die Gemeinschaft soll im Lied spürbar werden: ein-gängige Rhythmen, Bewegung und Tanz, Melodien, an denen alle teilhaben – Gesunde und Kranke, Men-schen mit und ohne Behinderung, Mitarbeitende und Angehörige. Das Sommerfest einer großen Behinderteneinrich-tung: Mit hunderten Gläubigen gestalte ich einen Mitsinggottesdienst. Ich lade zum Singen, Klatschen und Tanzen ein. Nach Beginn der Predigt kommt ein hünenhafter junger Mann geradewegs auf mich zu. Entschlossen wie einst Bud Spencer packt er mich und lässt mich über dem Boden zappeln: „Florian, lass den Herrn Pfarrer los“, ruft seine Betreuerin. Er lächelt mich an: klare Botschaft, die Predigt doch bitte bald zu beenden und weiterzusingen.

Auf einer Reise nach Paraguay besuche ich den Stamm der Guarani. Mein ins Spanische und Guarani übersetztes Lied „Du bist ein Gott, der mich sieht“ singen wir in einer ärmlichen Kirche. Jung und Alt bewegen sich dazu, verstehen auf Anhieb, was ich als Theologe und Komponist sagen will. Das Lied begeis-tert einen Jungen mit Down-Syndrom so, dass er den Rest des Gottesdienstes pfeifend durch den Kirchen-raum geht, die Hände zum Himmel erhoben: „Du bist ein Gott, der mich liebt ...“Es sind Jesu klare Impulse, die mir Wegweisung für diese bunten Gottesdienste sind und – modern ge-sprochen – etwa so lauten könnten: „Was ihr meinen Schwestern und Brüdern mit Behin-derung im gottesdienstlich-musikalischen Vollzug getan habt, das habt ihr mir getan. Tragt die Last des andern, sprecht seine Sprache, singt seine Lieder. Selig seid ihr, wenn ihr auf Augenhöhe vom Glauben singt und erzählt, wenn ihr euch vom Geist der Liebe beflü-geln lasst, tanzt, springt und euch die Hände reicht ...“Menschen leuchten und blühen beim Singen und Tan-zen auf. Und wir, die Verantwortlichen, die Entschei-der, Theologen, Pädagogen, Musiker, die scheinbaren Allein-Akteure, werden mit Glück und Freude ebenso reich beschenkt.Am Ende der Mitmachgottesdienste stehen wir oft mit bunten Regenschirmen am Altar, singen uns einem Glaubensbekenntnis gleich eines meiner Lieder zu: „Beschirmt, beschützt in deiner Hand, geh ich getrost in ein neues Land ...“, und gehen bunt und be-wegt weiter – in Gedanken bei Tim, Florian und dem pfeifenden jungen Guarani.

Johannes Roth, Pfarrer, Komponist und Liedermacher, lebt in Nürnberg. Er gestaltet mit „Neuen bewegten Mit- und Mutmach-liedern“ Konzerte und Gottesdienste (www.johannes-music.de).

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