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IGNIS VERLAG NEWSLETTER 1 8. Mai 2017 Liebe Leser, liebe Freunde des IGNIS Verlags, Angesichts der breiten Resonanz auf die im IGNIS Verlag erschienene Neuausgabe von „Mein Lebensgang“ Rudolf Steiners ist uns die Notwendigkeit deutlich geworden, eine Plattform zu be- gründen, von der aus wir uns in unregelmäßigen Abständen direkt an unsere Leser wenden können. Diese Newsletter sollen die Grundidee des Verlags, dem Werk Rudolf Steiners zu dienen, einer breiteren Leserschaft zugänglich und verständlich machen. Im ersten dieser Briefe wird die Geschichte, die zur Neuausgabe von „Mein Lebensgang“ geführt hat, im Mittelpunkt stehen. Sie ist bei unseren Lesern zumeist auf großes Interesse, ja oft auf Begeisterung gestoßen. Immer wieder schrieb man uns, dass in der ursprünglichen, von Rudolf Steiner angelegten Form, die durch die Buchausgabe wiederhergestellt wurde, „Mein Lebensgang“ überhaupt erst zugänglich geworden ist. Vorher hatten viele Leser Mühe, das Buch, so wie es seit Ende 1925 bestanden hat, durchzulesen. Nun aber, dank der Wiederherstellung der Einteilung in 70 Artikel, hat sich dies grundlegend geändert! Doch liegt es im Wesen einer solchen Buchausgabe, dass diese nicht nur auf Freude und Begeis- terung, sondern auch auf Kritik und Infragestellungen stoßen muss. Tatsächlich haben sich zwei Herausgeber der Werke Rudolf Steiners in diesem Sinne geäußert: Roland Halfen als Mitherausge- ber der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) und Pietro Archiati als Herausgeber der Rudolf Steiner Ausgaben. – Um unseren Lesern die von uns veranstaltete Neuausgabe näher zu bringen, soll in einem ersten Artikel die Geschichte, die dazu geführt hat, beschrieben werden. In einem zweiten Artikel folgt eine Auseinandersetzung mit den oben genannten Herausgebern. Wir freuen uns, Sie als die ersten Empfänger dieser Briefe begrüßen zu dürfen! © 2017 Ignisverlag, Paulsborner Strasse 24, 10709 Berlin, Deutschland Inhalt: - Wie und warum die Neuausgabe von „Mein Lebensgang“ Rudolf Steiners zustande kam - Welche Verantwortung hat ein Herausgeber der Werke Rudolf Steiners?

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8. Mai 2017

Liebe Leser, liebe Freunde des IGNIS Verlags,

Angesichts der breiten Resonanz auf die im IGNIS Verlag erschienene Neuausgabe von „MeinLebensgang“ Rudolf Steiners ist uns die Notwendigkeit deutlich geworden, eine Plattform zu be-gründen,vonderauswiruns inunregelmäßigenAbständendirektanunsereLeserwendenkönnen.Diese Newsletter sollen die Grundidee des Verlags, dem Werk Rudolf Steiners zu dienen, einerbreiteren Leserschaft zugänglich und verständlich machen.

Im ersten dieser Briefe wird die Geschichte, die zur Neuausgabe von „Mein Lebensgang“ geführthat, im Mittelpunkt stehen. Sie ist bei unseren Lesern zumeist auf großes Interesse, ja oft aufBegeisterung gestoßen. Immer wieder schrieb man uns, dass in der ursprünglichen, von RudolfSteiner angelegten Form, die durch die Buchausgabewiederhergestellt wurde, „Mein Lebensgang“überhaupt erst zugänglich geworden ist. Vorher hatten viele Leser Mühe, das Buch, so wie es seitEnde 1925 bestanden hat, durchzulesen. Nun aber, dank der Wiederherstellung der Einteilung in70 Artikel, hat sich dies grundlegend geändert!

Doch liegt es im Wesen einer solchen Buchausgabe, dass diese nicht nur auf Freude und Begeis-terung, sondern auch auf Kritik und Infragestellungen stoßen muss. Tatsächlich haben sich zweiHerausgeberderWerkeRudolf Steiners indiesemSinnegeäußert:RolandHalfen alsMitherausge-berderRudolf SteinerGesamtausgabe (GA)undPietroArchiati alsHerausgeberderRudolf SteinerAusgaben. – Um unseren Lesern die von uns veranstaltete Neuausgabe näher zu bringen, soll ineinem ersten Artikel die Geschichte, die dazu geführt hat, beschrieben werden. In einem zweitenArtikel folgt eine Auseinandersetzung mit den oben genannten Herausgebern.

Wir freuen uns, Sie als die ersten Empfänger dieser Briefe begrüßen zu dürfen!

© 2017 Ignisverlag, Paulsborner Strasse 24, 10709 Berlin, Deutschland

Inhalt:

- Wie und warum die Neuausgabe von „Mein Lebensgang“ Rudolf Steiners zustande kam

-Welche Verantwortung hat ein Herausgeber der Werke Rudolf Steiners?

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Die ersten Entdeckungen

In seinen letzten 70 Lebens-Wochen schrieb Rudolf Steiner all-wöchentlich Aufsätze unter demTitel „Mein Lebensgang“ nieder, die biszu seinem Tod am 30. März 1925 als Leitartikel in der Wochenschrift„Das Goetheanum“ erschienen sind. Im September 1925 wurde „MeinLebensgang“ von Marie Steiner zu einem Buch umgeformt, dessen in-nereStruktur sich starkvonderjenigenunterscheidet, dieRudolf Steinerin der Artikelfolge angelegt hatte: Das Buch besteht aus 38Kapitel; dazuwurden viele der 70 Artikel zusammengefügt, andere auseinan-dergenommen.

ImZugemeinerRecherchen zumWerkRudolf Steiners stieß ich – vollerVerwunderung – auf dieses bis heute nur wenig bekannte Schicksal von„Mein Lebensgang“. Mich interessierten die Veränderungen außerord-entlich, lenktensiedochdenBlicknicht (nur)aufdenInhalt, sondernvorallem auch auf den Aufbau der Schrift. Dieser Aufbau wurdemir immermehr zur Frage, an der entlang ich entdeckte, dass „Mein Lebensgang“,angesichts dieser beiden Aufbau-Formen, in denen er existierte, auchzwei verschiedene Lesarten möglich macht. Neue Gesichtspunkteeröffneten sich mir, die „inneren Linien“, die den Leser durch ein Buchhindurchführen, erschienen in einer anderenGestalt, anhandderer, gle-ichsam wie aus einem Dunkel herauftauchend, bisher Unbekanntes er-ahnt werden konnte. Angesichts der Erzähl-Rhythmen, die im Blick aufden Aufbau dieser Schrift erlebbar wurden, zeigten sich neue Zusam-menhänge undFragen; erschien dasKind,welchesRudolf Steiner gewe-sen ist, in einemneuen, deutlicheren Licht; wurde derHeranwachsendegreifbar und gestaltete sich die Dramatik des inneren Ringens RudolfSteiners in einerLebendigkeit,wie ich sie bishernochnichtwahrgenom-men hatte. Was lag hier vor?

Je länger ich mich mit den beiden Aufbau-Formen beschäftigte, destodeutlicher wurde mir: Im Blick auf den Aufbau verändert der lesendeBetrachter seinen eigenen Standpunkt. Versucht er, seinen so veränd-erten Standpunkt zu verstehen, wird ihm deutlich, dass sein Blick vonden einzelnen „Informationen“ hinübergelenkt wird auf etwas, das ihmgewöhnlich verborgenbleibt: auf seine eigene– lesendeunddenkende–Tätigkeit nämlich! Was geschieht mit mir, dem Leser, wenn ich einenbestimmten Text einmal in dieser Aufbau-Form, ein andermal aber ineiner anderen Aufbau-Form lese? Wie lebt ein bestimmter Text in mir,

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Wie und warum die Neuausgabe von „Mein Lebensgang“Rudolf Steiners zustande kam

Irene Diet

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welcheZusammenhänge tretenhervor undwelche treten zurück?Worinunterscheidet sich mein Erleben als Leser, lese ich „Mein Lebensgang“einmal in der Form der 70 Artikel, so wie er von Rudolf Steiner angelegtworden ist, ein anderesMal aber in der Formder 38Buch-Kapitel, wie erbis heute gelesen wurde?

Dank dieser Entdeckungen erschien auch die Geschichte von „MeinLebensgang“ in einem neuen Licht. Nun erstaunte es mich nicht mehr,dass sogar die BiographenRudolf Steiners in ihr nicht immer das gefun-denzuhabenschienen,wonachsiesuchten.SoerklärtChristophLinden-berg, einer der wichtigsten Biographen Rudolf Steiners, gleich auf denersten Seiten seiner Monographie:

„So fehlt in dieser Autobiographie vieles von dem, was andereBiographien füllt.“ 1

Nach Lindenberg fehlt in „Mein Lebensgang“ die Darstellung persönl-icher Verhältnisse Rudolf Steiners ebenso wie die der äußeren und in-neren Kämpfe, Widerstände und Überwindungen. Er möchte seiner„verborgenenBiographie“ nachgehen 2 und glaubt, sie gerade in demzufinden, worüber „Mein Lebensgang“ schweigt. Wenn aber die „verbor-gene Biographie“ in „Mein Lebensgang“ gleichsam hineingeheimnisstwäre; wenn sie nicht außerhalb desselben zu finden wäre, sondern –innerhalb, „verborgen“ indem„Wie“ , indemGeheimnisseinesAufbaus?Ein „Wie“, das allerdings nur im inneren Erleben, im bewusst gesuchtenEr-Denken und Er-Fühlen des Gelesenen aufgespürt und sichtbargemacht werden kann.

Diese Entdeckungen erweckten inmir denWunsch, den Text von „MeinLebensgang“ neu herauszugeben, und zwar in seiner ursprünglichen,vonRudolf Steiner angelegtenForm.UmdieseNeu-Ausgabe vorzubere-iten,begannichmichfürdasManuskriptdesTexteszu interessieren,warich doch auf bestimmte Unterschiede zwischen dem Text der Erstaus-gabe in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ und der heutigenBuchausgabe gestoßen. Wie sind diese Unterschiede zustande gekom-men? – Diese Frage führte mich ins Archiv der Rudolf Steiner Nach-lassverwaltung, in der sich ein Großteil derManuskripte befindet. Dochbald wurde deutlich: Die Veränderungen, die an den Manuskriptenvorgenommen worden waren, sind weitaus zahlreicher, als ich bisherangenommen hatte!

Die Textunterschiede zwischen Manuskript und Erstdruck:Wahrheit oder Irrtum?

Schon nach kurzer Zeit hatte ich derart viele Textunterschiede entdeckt,dass eindeutig festzustehen schien: Die Manuskripte, so wie sie imArchiv der Nachlassverwaltung vorliegen, können nur von sekundäremInteresse sein. Es muss ein Zwischenstadium zwischen diesenManuskripten und dem Druck gegeben haben; wahrscheinlich in Formvon sogenannten „Druckfahnen“, die Rudolf Steiner vor dem endgültig-en Druck eingesehen, und an denen er selbst die zahlreichen Veränd-erungenvorgenommenhätte.DieVerantwortlichenallerArchive,die ich

1) Lindenberg, Christoph, RudolfSteiner – Eine Biographie,Stuttgart 2011, S. 16.

2) Ebenda, S. 18.

3) Pietro Archiati, der im Jahr 2015„Mein Lebensgang“ ebenfalls in derForm neu herausgegeben hat, inder diese Schrift in derWochenschrift „Das Goetheanum“erschienen ist, geht als einziger soweit, die Existenz vonDruckfahnen, welche von RudolfSteiner selbst korrigiert wordenseien, auch schriftlich zubehaupten. Er erklärt, allerdingsohne seine Behauptungnachzuweisen, folgendes: „RudolfSteiner hat jede Woche dieDruckfahnen durchgesehen undmöglicherweise letzte Änderungengegenüber seiner eigenenhandschriftlichen Fassungvorgenommen.“ Siehe RudolfSteiner, Für alle Menschen, Bd. 1:Mein Lebensgang, Bad Liebenzell2015, S. 471.

4) Die Druckerei Emil Birkhäuser,in der „Das Goetheanum“ vonAnbeginn bis heute gedruckt wird,befand sich zur Zeit des Druckesvon „Mein Lebensgang“ in Basel,heute ist sie nach Reinachumgezogen.

5) Von den Verantwortlichen desArchivs am Goetheanum wurde ichauf Albert Steffen, dem damaligenHerausgeber der Wochenschrift,verwiesen. Von Steffen liegt einumfassendes Tagebuch über dieseZeit vor, und so erschien esmöglich, dass, im Falle derExistenz von Druckfahnen, die vonRudolf Steiner regelmäßig hättenkorrigiert werden müssen, AlbertSteffen in seinem Tagebuch dazuBemerkungen gemacht habenkönnte. Die Verantwortlichen derAlbert-Steffen-Stiftung, die dieserFrage nachgegangen sind,versicherten wir allerdingswiederholt, dass bisher keinederartige Bemerkung gefundenwerden konnte.

6) Im Kapitel XXVI der von MarieSteiner herausgegebenenAusgaben; im LVII. Artikel der

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daraufhin befragte, bestärkten mich in dieser Annahme: Alle sprachenmit großer Sicherheit von derartigen, von Rudolf Steiner eingesehenenDruckfahnen,3 die einst existiert hätten, vom Drucker aber nach demDruck vernichtet worden seien. Trotz intensiver Nachforschungen kon-nte ichallerdingskeinerleiHinweiseaufdieseDruckfahnen finden;wed-er in der ehemaligen Druckerei der Wochenschrift,4 noch im um-fassenden Tagebuch Albert Steffens, der der Herausgeber der Wochen-schrift gewesen ist.5 Die zahlreichen und oft bedeutsamenUnterschiedezwischen den Manuskripten und dem Erstdruck führten jedoch immerwieder zu der Annahme, dass die Veränderungen von Rudolf Steinerselbst vorgenommen sein mussten. Denn wie sollten sie sonst zustandegekommen sein? Wenn die Manuskripte von Rudolf Steiner selbst sokorrigiert wordenwären, dass daraus der uns bekannte Text entstandenist: Warum dann die Arbeit an den Manuskripten fortsetzen?

Schonwollte ich die Arbeit abbrechen, als ich auf einen Textunterschiedstieß, der meinen Blick für die Situation vollständig veränderte. Inner-halb des entscheidenden und oft zitierten Kapitels über die StellungRudolf Steiners zumChristentum 6 finden sich folgende Sätze, die bisherin sämtlichen Druckfassungen von „Mein Lebensgang“ sowiedergegeben worden sind:

„Für denjenigen, der nichtwie ich erlebend in derGeistwelt ste-ht, bedeutet ein solches Sich-Versenken in eine Denkrichtungeine bloßeGedankenbetätigung. Für den, der dieGeist-Welt er-lebt, bedeutet sie etwaswesentlich anderes. Erwird indieNähevonWesen inderGeist-Weltgebracht,die eine solcheDenkrich-tung zur allein herrschenden machen wollen. Da ist Einseit-igkeit in der Erkenntnis nicht bloß der Anlass zu abstrakterVerirrung; da ist geist-lebendiger Verkehr mit Wesen, was inder Menschenwelt Irrtum ist. (…)“

Der letzte Satz lautet im Manuskript aber anders, und zwar so:

„Da ist Einseitigkeit in der Erkenntnis nicht bloß der Anlass zuabstrakter Verirrung; da ist sie geistlebendiger Verkehr mitWesen, die einer Welt angehören, in der als Wahrheiterscheint,was in der Menschenwelt Irrtum ist.“

Sehen wir uns den Unterschied zwischen den beiden Aussagen genaueran:

Rudolf Steiner berichtet – imAnschluss an seine vorigen Ausführungen– von einem „Sich-Versenken“ in die naturwissenschaftliche Denkrich-tung, die damals vorherrschend war und sich dagegen wehrte, zurGrundlage der Geist-Erkenntnis zu werden.7 Er berichtet davon, dassdieses „Sich-Versenken“ für denjenigen, der so wie er „erlebend in derGeistwelt steht“,etwasganzanderes istalseine „bloßeGedankenbetätig-ung“. Ein solcher, die Geist-Welt nicht nur Erdenkender, sondern sieErlebender, wird nämlich „in die Nähe von Wesen der Geist-Welt ge-bracht“. In den folgenden Sätzen – auch in dem Satz, welcher für denDruck verändert wurde und der uns daher ganz besonders interessiert –werden dieseWesen charakterisiert, welche die damals vorherrschendenaturwissenschaftliche Denkrichtung „zur allein herrschenden“

Wochenschrift „Das Goetheanum“vom 4. Januar 1925.

7) Durch die Veränderung derKapiteleinteilung, wie sie für dieBuchausgabe vorgenommenworden war, bleibt unklar, umwelche Denkrichtung es sich hierhandeln soll. In der Buchformbeginnt das XXVI. Kapitel nämlichmitten im LVII. Artikel RudolfSteiners, das heißt, dasswesentliche Zusammenhänge nichtin einem, sondern in zweiverschiedene Kapitel aufgeteiltwurden. Dies aber hat einenEinfluss auf die Verständlichkeitder Sätze: Der Leser des Bucheskann schon den Hinweis auf ein„solches Sich-Versenken in eineDenkrichtung“ nicht verstehen,denn Rudolf Steiner bezieht sichdabei auf dasjenige, was er in derersten Hälfte des LVII. Artikelsausführlich erarbeitet hat, und wasdie Grundlage der nun folgenden,soeben zitierten Aussagen bildet.Erst aus der ursprünglichen, vonRudolf Steiner veranlagten Lektüredes vollständigen Artikels ergibtsich: Mit der besagten„Denkrichtung“ meint RudolfSteiner das damaligenaturwissenschaftliche Denken, andas er – trotz wiederholterVersuche – nicht anknüpfenkonnte, da es sich vehement demGeist widersetzte, und mit denWesen jene, die mit dieserDenkrichtung verbunden sind.

8) Siehe u.a. in: Prokofieff, SergejO., Rudolf Steiner und dieGrundlegung der neuen Mysterien,Stuttgart 1982, S. 52; Reuveni,Amnon, Scheinwissenschaftlichkeitund Dogmatismus. Wie manBiographie und geistige ForschungRudolf Steiners umschreibt, in: DasGoetheanum, 18. Juni 1995, S. 129;Eisenhut, Stephan, Das Nietzsche-Bild Rudolf Steiners und die„Aufklärung in derAnthropospophie“, in:Mitteilungen aus deranthroposophischen Arbeit inDeutschland, 1996. S. 228ff.;Lindenberg, Christoph, RudolfSteiner. Eine Biographie, Stuttgart1997, S. 287; Ravagli, L./Röschert,G., Kontinuität und Wandel. ZurGeschichte der Anthroposophie imWerk Rudolf Steiners, Stuttgart

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machenwollen. Dennwie kann ihnen das gelingen?Und an dieser StellesetztderUnterschiedein,derzwischenderbisherigenDruckfassungundder des Manuskripts besteht.

ImManuskript wird deutlich, dass dieWelt, der jeneWesen angehören,eine ganz besondere Eigenart hat: Hier erscheint nämlich „alsWahrheit(…),was in derMenschenwelt Irrtum ist“ !DieErscheinungdes Irrtumsim Gewande der Wahrheit: Dies ist die wichtigste Charakteristik jenerWelt, der die Wesen angehören, von deren Begegnung Rudolf Steinerberichtet; eine Charakteristik, die in der bisherigen Druckfassung desTextes allerdings fehlt.

Dieser im Druck veränderte Satz gehört bis heute zu den viel-zitiertenSätzen aus „Mein Lebensgang“; man kann ihn immer wieder in Biogra-phien oder biographischen Abhandlungen zu Rudolf Steiner lesen.8Wieist die Veränderung zustande gekommen? Wäre es möglich, dass demDrucker eine Zeile „weggerutscht“ ist? Ein derartiger Unterschied zwis-chen Manuskript und Erstdruck wird seit der Ausgabe von 1962 im An-hang des Buches nachgewiesen.9Aber ist dem tatsächlich so? Fehlt dochin dem vonmir gefundenen Fall nicht nur der eingeschobeneNebensatz(„die einer Welt angehören, in der als Wahrheit erscheint“ ), sondernauch das Wörtchen „sie“ im vorangehenden Hauptsatz. Während dasWegfallen des ganzenNebensatzes nochmit einemunbewusst gebliebe-nen Druckfehler zu erklären wäre, deutet das fehlende „sie“ daraufhin,dass die Veränderung auch bewusst herbeigeführt worden sein könnte.

Meine darauf folgende, eingehende Beschäftigungmit zahlreichenweit-eren Unterschieden zwischen Manuskript und Erstdruck von „MeinLebensgang“ zeigte mir, dass das oben angeführte Beispiel bei weitemnicht alleine steht. Immer wieder stieß ich auf Unterschiede, diemich inmeiner Annahme bestärkten, dass es, neben den eindeutig berechtigtenKorrekturen, auch viele Veränderungen gibt, an denen sich stets dieFrage entzündet: War es Rudolf Steiner selbst, der diese vorgenommenhat?

Naheliegend war, die Suche nach den ehemals vorhandenen Druckfah-nen fortzusetzen.Währenddieser Suchemachte ich viele überraschendeEntdeckungen, unter anderem die, dass die bisherigen Ausgaben von„Mein Lebensgang“ (ebenso wie z.B. die der „Anthroposophischen Leit-sätze“ undder „Mitgliederbriefe“, welche ebenfalls in derWochenschrift„Das Goetheanum“ erschienen waren) stets so angefertigt worden sind,als ob es derartige, von Rudolf Steiner korrigierte Druckfahnen nichtgegebenhätte. Sohatman indenBändenderRudolf SteinerGesamtaus-gabe, indiedieseSchriften inden sechziger Jahrendes vorigenJahrhun-derts aufgenommen wurden, sogar angegeben, die Texte vor dem Neu-druck mit dem Manuskript verglichen zu haben!10 Die damaligen Her-ausgeber sind also davon ausgegangen, dass die Unterschiede zwischenManuskript und Erstdruck nicht auf Korrekturen Rudolf Steinerszurückgehenwürden. ZumeinemErstaunenbegriff ich aber imgleichenAtemzug, dass der in der Ausgabe von 1962 für „Mein Lebensgang“angegebene Vergleich mit dem Manuskript gar nicht (vollständig)vorgenommen worden sein konnte. Gab es doch zahlreiche wesentlicheUnterschiede, die in dieser Ausgabe nicht nachgewiesen sind. Und so

2003, S. 203; Koepke, Ewald,Rudolf Steiner und dasGralsmysterium, Stuttgart 2005, S.44; Dieckmann, Malte, September1900. Das ‚Gestanden-Haben vordemMysterium von Golgatha‘ imLebensgang Rudolf Steiners,Sammatz 2006, S. 19; Selg, Peter,Rudolf Steiner 1861-1925. Lebens-und Werkgeschichte, 3 Bde., Bd. 1,S. 584; Meyer, Thomas,Wegmarken im Leben RudolfSteiners und der Entwicklung derAnthroposophie, Basel 2012, S. 65.

9) Für die Ausgabe von „MeinLebensgang“ von 1962 wurde imXXXVII. Kapitel (bzw. LXIX.Artikel) folgende Ergänzung nachdemManuskript vorgenommen: In„Das Goetheanum“ vom 29. März1925 befanden sich die Sätze: „ImPariser Zyklus von Vorträgenhabe ich eine Anschauungvorgebracht, die eine lange‚Reifung‘ in meiner Seele hatdurchmachen müssen. Nachdemich auseinandergesetzt hatte, wiesich die Glieder derMenschenwesenheit: physischerLeib, Ätherleib – als Vermittler derLebenserscheinungen – und der‚Ich-Träger‘ im allgemeinen zueinander verhalten, teilte ich dieTatsache mit, dass der Ätherleibdes Mannes weiblich; derÄtherleib der Frau männlich ist.“Die Korrektur nach demManuskript veränderte den 2. Teildes 2. Satzes so: «physischer Leib,Ätherleib – als Vermittler derLebenserscheinungen –, Astralleibals Vermittler der Empfindungs-und Willenserscheinungen – undder ‚Ich-Träger‘ im allgemeinen zueinander verhalten».Hier scheintes sehr sicher zu sein, dass derSatzteil „Astralleib als Vermittlerder Empfindungs- undWillenserscheinungen – “ demDrucker „weggefallen“ war.

10) In der Ausgabe von „MeinLebensgang“ von 1962 steht unter„Hinweise“ folgendes: „Zurvorliegenden Auflage wurde derText mit dem – zum größeren Teilnoch vorhandenen – Manuskriptverglichen. Drei den Sinnbetreffende Korrekturen, die sichdaraus ergaben, werden an Ortund Stelle angemerkt. Satzzeichenund Schreibweise, insofern sie als

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wurdedieFrage immerdringlicher:WenndieSuchenachdenDruckfah-nen ergebnislos bleiben sollte: Wie kann dann jemals die Authentizitätder Texte festgestellt werden?

Doch gibt es noch einen anderen Weg, dies herauszufinden.

Schon einmal – imZusammenhangmit demAufbau der Schrift –warenin „Mein Lebensgang“ zwei Möglichkeiten sichtbar geworden, wie ergelesen werden kann, nämlich diejenige, die sich aus der Artikelfolgeergibt, sowiediejenige,diederBuchausgabeentspricht.Befindenwirunsnicht – angesichts der Unterschiede zwischen Manuskript und Erst-druck – erneut vor einer zweifachen Möglichkeit, den Text zu lesen?Kann der Text angesichts der unterschiedlichen Formulierungen nichtebenfalls in zweierleiWeise gelesenwerden?Und sollte es nichtmöglichsein, sich selbst so weit in die unterschiedlichen Formulierungen derbeiden Varianten hinein zu vertiefen, dass sich das „Wahre“ ebenso wieder „Irrtum“ imNach-Denken und Erleben der Sätze zu zeigen vermag?

Um dies möglich zu machen, entschied ich, die Schrift „Mein Lebens-gang“ so herauszugeben, dass der Leser selbst suchen kann.11 Denn wasist die Suche nach der Unterscheidung von Irrtum und Wahrheit imWerkRudolf Steiners, denWortlaut ebensowie denAufbau diesesWerkbetreffend, anderes als Geistes-Suche? Führt doch diese Suche in dieGründe hinein, aus denen dieses Werk entstanden ist. – Mit der vomIGNIS Verlag veranstalteten Ausgabe von „Mein Lebensgang“ möchteich dem Leser die Möglichkeiten eröffnen, zu einem Suchenden, ja, zueinem „Geistes-Suchenden“ zu werden.

Stil-Elemente empfunden werdenkönnen, sind nach dem erstenDruck oder demManuskriptwiedergegeben.“ Zit. nach Steiner,Rudolf, Mein Lebensgang, Dornach1962, S. 485. Dasselbe gilt für die„AnthroposophischenLeitsätze“ (heute GA 26); auch siewurden für die Auflage von 1962)mit dem Erstdruck in «Was in derAnthroposophischen Gesellschaftvorgeht» vom Januar 1924 bisApril 1925 und mit den im RudolfSteiner-Archiv damalsvorhandenen Manuskriptenverglichen. Für die Text-Unterschiede, die sich darausergaben, hat der damaligeMitarbeiter der Rudolf SteinersNachlassverwaltung, HansArenson, gezeichnet.

11) Im Nachwort der Buchausgabedes IGNIS-Verlags werden einigeweitere Beispiele vonTextunterschieden angeführt unddiese anfänglich besprochen. Dasendgültige Urteil über „wahr“ und„irrtümlich“ sei aber immer demLeser überlassen.

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Fast zeitgleich haben zwei verschiedene Herausgeber vonTextenRudolfSteinersmeineNeuausgabevon„MeinLebens-gang“ 1vehement kritisiert. Dabei offenbart ihre Kritik, dasssie u.a. meine Publikation nicht gewissenhaft gelesen habenund, was noch schlimmer ist, dass sie über die editorischenFragen und Probleme, die bisherige Veröffentlichungendieser Schrift beinhalten, gar nicht im Bilde sind. Hiermöchte ich nur ein Element ihrer Kritik herausgreifen,2 dasbeide in gleichemMaße als zentral empfinden, und das auchmich viele Monate lang – während umfangreicher Nach-forschungen, Studien und Überlegungen – beschäftigt hat.Die Frage nämlich, wie die zahlreichen TextunterschiedezwischendenManuskriptenvon„MeinLebensgang“,diezumgroßenTeil erhaltensindund imRudolfSteinerArchiveinge-sehen werden können, und dem Erstdruck der Schrift in derWochenschrift „Das Goetheanum“ zu erklären sind. Treffendoch diese Textunterschiede auf einen Nerv jeder Herausge-bertätigkeitderWerkeRudolfSteiners:WieauthentischsinddieseDrucke? – ImRahmen dieses Artikels kann nicht näherauf die vielen damit zusammenhängenden Fragen eingegan-genwerden; dies soll in einem zukünftigen Buch ausführlichgeschehen.

Sowohl Pietro Archiati, der Herausgeber der Rudolf Steiner Ausgaben,als auch Roland Halfen, seit 2002 einer der Herausgeber der RudolfSteinerGesamtausgabe(GA),sinddirektoder indirektmitEditionenvon„Mein Lebensgang“ verbunden, die vor der des IGNIS-Verlags er-schienen sind.3Wichtig ist nun, dass keiner von beiden von den umfan-greichen Textunterschieden zwischen den Manuskripten von „MeinLebensgang“unddemErstdruckderSchriftgewussthat.Archiatikonntenichts davon wissen, weil er die entsprechenden Manuskripte nichteingesehen hat. Die drei Unterschiede, die er in seiner Buchausgabedokumentierte, sinddieselben, die auch in allenAusgaben innerhalb derGA als solche angegeben werden. R. Halfen aber wusste ebenfalls nichtsdavon, wie seinemBeitrag zu entnehmen ist. Für beidemuss es also eineÜberraschung gewesen sein, in meinem Buch davon zu erfahren. Ganzbesonders unangenehmwerden die vielen vonmir angegebenen Unter-schiede für Archiati gewesen sein, denn sie stellen die im Anhang seinerBuchausgabe gemachte Behauptung in Frage, dass es „Druckfahnen“gegeben hätte, welche Rudolf Steiner selbst eingesehen habe.4 Einesolche Aussage haben die Herausgeber des Bandes der Rudolf SteinerGesamtausgabe (GA) bisher wohlweislich vermieden; R. Halfen bricht

1) Rudolf Steiner, Mein Lebens-gang, IGNIS-Verlag 2016. Bestel-lung unter www.ignisverlag.com ;Tel. 0049 3089540394.

2) Halfen, R., Edition und Projek-tion. Zu einer neuen Ausgabe vonRudolf Steiners „Mein Lebens-gang“; www.rudolf-steiner.com/> resonanzen > Rezensionen.Archiati, P., ZumManuskript vonRudolf SteinersMein Lebensgang,www.rudolfsteinerausgaben.com/texte-von-rudolf-steiner/trilogien/media/rudolf-steiner-lebensgang-beilage-2.pdf .Die Kritik Archiatis beschränkt sichauf die Manuskript-Frage, die R.Halfens aber geht viel weiter; siebeinhaltet den Charakter und denprinzipiellen Platz, den ich „MeinLebensgang“ zuschreibe. Ich be-haupte nämlich, dass es ein Irrtumsei, „Mein Lebensgang“, so wiebisher üblich, als eine „unvollen-dete Autobiographie“ anzusehen.Damit könne man der Individual-ität Rudolf Steiners nicht gerechtwerden. Hier aber treffen zwei Auf-fassungen über Rudolf Steineraufeinander, die sich wesenhaftvoneinander unterscheiden: DasBild eines Rudolf Steiner als „einMensch wie du und ich“ trifft aufdasjenige, welches in Rudolf Stein-er den zukünftigen MENSCHENsehen muss. Sämtliche Einwände,die Halfen gegen das Nachwortmeiner Buchherausgabe macht,haben diese prinzipielle Ver-schiedenheit als Ursache.

3) Die letzte, von der Rudolf Stein-er Nachlassverwaltung edierte Aus-

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als erster mit dieser Tradition. Woran mag das liegen?

Im Jahr 1962 wurde von den Herausgebern der GA 28 („Mein Lebens-gang“) einManuskriptvergleich vorgenommen, bei demviele dieserUn-terschiede sichtbar geworden sind. Die ganze Schwierigkeit, vor der wirstehen, besteht nundarin, dass dieserManuskriptvergleich nicht konse-quent durchgeführt und/oder dokumentiert worden ist. Die Frage nach„Druckfahnen“, dieRudolf Steiner selbst korrigierthabenkönnte,wurdenicht öffentlich gestellt, sondern man ging – ohne es auszusprechen –wohl eher davon aus, dass dies nicht so gewesen sei. Wenn nämlich dieHerausgeber von 1962 gemeint hätten, dass es von Rudolf Steiner kor-rigierte „Druckfahnen“gegebenhätte, sowiesichbeide–Archiati ebensowie Halfen – sicher zu sein scheinen, wäre ein Manuskriptvergleich garnicht nötig gewesen. Gleiches gilt übrigens für die sogenannten „Mit-gliederbriefe“ (in GA 26 undGA 260a), sowie für die „Leitsätze“ (GA 26;das heißt also für alle in derWochenschrift „Das Goetheanum“ und dembeiliegendenMitgliederblatt erschienenen Beiträge). Auch hier verglichman für die Ausgabe von 1962 den Text des Erstdruckes mit denManuskripten und korrigierte vom Manuskripttext ausgehend dengedruckten Text. Dabei hat sich besonders der damalige HerausgeberHans Arenson einenNamen gemacht; wie imAngang von früherenAus-gaben der „Anthroposophischen Leitsätze“ zu lesen ist, hat er einegrößere Anzahl derartiger Unterschiede festgestellt und in den neuenDrucktext eingearbeitet.

All dies scheintPietroArchiati, aberauch–unddieswiegtnochschwerer– dem Mitherausgeber der GA, Roland Halfen, bis heute unbekannt zusein, obwohl sich jeder Leser der GA-Bände, der die „Hinweise der Her-ausgeber“mitliest,darüberunterrichtenkann. Immerwiederbehauptenbeide mit beeindruckender Sicherheit, dass es von Rudolf Steiner kor-rigierte Druckfahnen gegeben haben müsste, könnten doch sämtlicheVeränderungennur von ihmselbst stammen!Überlesenhaben aber bei-de in gleichem Maße, dass dies von den bisherigen Herausgebern von„Mein Lebensgang“ innerhalb der GA anders gesehenwurde. Von ihnenwurden nämlich wesentlich mehr Manuskript-Elemente in den Druck-Text eingearbeitet, als nur die drei dokumentierten, wobei deren Anzahlim Laufe der verschiedenen Ausgaben sogar noch zugenommen hat.

Allerdings wurden diese Veränderungen nicht als solche gekennzeich-net, so dass sie nur dann sichtbar werden, wenn, wie in meiner Ausgabeversucht, sämtliche bisher gedruckte Textversionen dahingehendmiteinander verglichenwurden. Schade ist aber, dass selbst derMither-ausgeber derGAdieArbeit seinerKollegennicht zu kennen scheint! Gabes doch, neben H. Arenson, noch weitere Herausgeber der GA, die sichder vonmir aufgeworfenen Problematik bewusst gewesen sind. Nennenmöchte ich hier die Herausgeber von „Friedrich Nietzsche, ein Kämpfergegen seine Zeit“ (GA 5), Edwin Froböse und Caroline Wispler, die imAnhang ihrer 1963veranstaltetenAusgabedieserSchriftTeile von„MeinLebensgang“ sowohl in ihrer ursprünglichen Form veröffentlicht haben(d.h. nicht in der von Marie Steiner für die Buchausgabe von 1925 an-gelegten, sondern inderursprünglichen, vonRudolf Steiner veranlagtenForm der 70 Artikel), als auch einen Manuskript-Vergleich vorgenom-

gabe des Werkes erschien im Jahr2000; P. Archiati veröffentlichteeine Ausgabe 2014.

4) Siehe ebenda, S. 471.

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men haben müssen. In ihrem Text erscheint nämlich eine weitere Kor-rektur nach dem Manuskript, die erst 1982 in die Neu-Ausgabe von„Mein Lebensgang“ übernommen wurde.5Und ganz besonders interes-sant ist die Arbeit desHerausgebers des Seelenkalenders Julius Zoll, derzu ähnlichen Schlüssen wie ich gekommen ist. In einem Aufsatz im An-hang des dazugehörigen GA-Bandes (GA 40) geht Zoll den Unter-schieden nach, die zwischen dem Manuskript des Seelenkalenders unddem Erstdruck desselben von 1912 bestehen. Und er kommt zu demErgebnis, dass Rudolf Steiner „keine Abzüge für den ‚Seelenkalender‘bekam, die er noch hätte korrigieren können. Man kann also nichtdavon ausgehen, dass die Abweichungen desDruckes vomManuskriptvon Rudolf Steiner herrühren.“ 6 Es ist sehr bedenklich, dass derartigvorbildliche Arbeiten wie die von Julius Zoll selbst unter denHerausge-bern der Rudolf Steiner Gesamtausgabe nicht bekannt zu sein scheinen.

Doch damit nicht genug: Halfen behauptet außerdem mehrmals, ichwürde meinen, dass die Textunterschiede auf Albert Steffen oder garMarie Steiner zurückgehen würden. An keiner Stelle behaupte ich dies,so dass in mir nun die Frage aufkommt:Wie genau hat R. Halfen meineAusführungeneigentlichgelesen?R.Halfen,der sichalsMitherausgeberder GA doch bewusst sein müsste, dass die Fragen, die ich mit meinerAusgabe öffentlich mache, eigentlich von der Rudolf Steiner Nach-lassverwaltung schon lange hätten öffentlich gemacht werden müssen.R. Halfen, der besser als alle anderen die Vorarbeiten seiner Kollegenkennen müsste, dem alltäglich der Zugang zu den Original-Manuskripten offensteht, der also die allerbesten Bedingungen, ja, aufGrund seiner Stellung sogar die Pflicht dazu hätte, sachkundiger zu seinals jeder andere!

*

R. Halfen gilt als höchster, von ihm als „wissenschaftlich“ bezeichneterGrundsatz dasjenige, was oft als ein „kritischesHerangehen“ bezeichnetwird. Dieses „kritische Herangehen“ bezieht sich aber nicht, so wieRudolfSteiner in„WahrheitundWissenschaft“erklärt, aufeinVerhaltender eigenen Denk- und Erkenntnistätigkeit gegenüber (kritisch ist der,der sich seiner denkenden Tätigkeit bewusst ist; naiv aber jener, derdieser unbewusst gegenübersteht).7 Nein, diese Kritik bezieht sich inFortsetzung der von Christoph Lindenberg begründeten Tradition …ausschließlich auf Rudolf Steiner selbst. Das Wesen jener „Kritiker“Rudolf Steiners besteht nun darin, dass sie, anstatt sich ihres eigenenDenk-undErkenntnisvermögensbewusst zuwerden, invölligerNaivitätdavonausgehen,Rudolf Steiner beurteilen, erklären–undkorrigieren–zu können, die Zusammenhänge besser zu kennen als dieser selbst. DieVorstellung,dass es etwasgebenkönnte, zudemmanersthinaufstreben,in das man in harter Arbeit (und vielleicht sogar über mehrere Inkarna-tionen) erst hineinwachsen muss – diese Vorstellung ist ihnen fremd.Und so bleibt ihnen nichts anders übrig, als alles dasjenige, was sie anRudolf Steiner und seinem Leben nicht begreifen, als seinen Irrtumhinzustellen.

Noch naiver als das Herangehen R. Halfens ist allerdings dasjenige vonP. Archiati. Er behauptet, dass Rudolf Steiner die Veränderungen im

5) Siehe in der Ausgabe des IGNISVerlags, S. 175, FN 177.

6) GA 40, S. 381.

7) GA 3, S. 47f.

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gedruckten Text in demFalle, dass sie nicht auf ihn selbst zurückgingen,nachverfolgt und den „Verfälscher“ gestellt habenwürde.Damit beweistArchiati, wie wenig er sich mit dem Leben und Wirken Rudolf Steinersbeschäftigt hat. Denn nicht nur, dass es dessen Zeitplan gar nicht er-möglicht haben kann, allwöchentlich die Druckfahnen ebenso wie dieschon gedruckten Text zu lesen und zu überprüfen, wie sich das einheutiger Herausgeber anhand seiner eigenen Arbeit wohl vorstellenmag. Jeder, der besonders die letzte Lebenszeit Rudolf Steiners genauerkennt, entdecktmitErstaunendieungeheureDichteundIntensität sein-er Aufgaben, die die Vorstellung eines am Schreibtisch sitzenden undDruck- bzw. Druckfahnen-kontrollierenden Rudolf Steiner lächerlichwerden lässt. (ZumalRudolf Steiner vieleWochen indieserZeit garnichtin Dornach gewesen ist.) Außerdem aber – und dies ist noch wichtiger –meintArchiati, dassRudolf Steiner denjenigen, der dann solcheVeränd-erungen vorgenommen hätte, zur Rechenschaft gezogen haben würde.Diese Vorstellung widerspricht aber der besonderen Wesenheit RudolfSteiners, der stetsmit demVorhandenen gearbeitet hat, der in den aller-meisten Fällen die Mängel und Unzulänglichkeiten seiner Mitarbeitereinbezogen hat, der an dasjenige anknüpfte, waswar, und nicht an das-jenige, was er sich „vorgestellt“ und gewünscht haben mag. Und der –und auch dies dürfen wir annehmen – davon ausgegangen ist, dass wir,die Nachfolgenden, diese Unterschiede entdecken, sie thematisieren,und an ihnen unsere Erkenntnisfähigkeit erproben würden.

Wiewesens-fremddieVorstellungen, die sichArchiati vonRudolf Stein-er und seinem Werk gebildet hat, geblieben sind, wird ganz besondersanhand eines Textes deutlich, der seiner neuestenBuchausgabe, den so-genannten „Klassenstunden“ beigefügt, und auch auf seiner Web-Seitezu finden ist.8Dort kannman folgendes lesen: „Was istAnthroposophie?Woher hatRudolf Steiner die Fülle seinerErkenntnisse? (…) ImZusam-menhang mit der Führerschaft Michaels gebraucht Rudolf Steiner (…)das Bild des Diktierens, um seine Aufgabe als Vermittler zwischen dergeistigen und der irdischenWelt zu charakterisieren. (…) ImDiktierengibt es jemand, der diktiert, und jemand, der das Diktierte empfängt.Der Empfänger hat keinen Anteil amZustandekommen des Inhalts desDiktats und der Tätigkeit des Diktierens selbst. Er kann den Inhalt nurwahrnehmen bzw. hören. (…) Dies beeinträchtigt in keiner Weise dieGleichheit der Menschen. Wenn Mensch A in der Sterbestunde seinenletzten Willen dem Menschen B mitteilt, kann B das Mitgeteilte ge-treulich aufschreiben und es dem Menschen C zu lesen geben, der fernvon Mensch A wohnt. B und C sind dem Inhalt des von A Diktiertengegenüber ganz gleichgestellt. C nimmt vom letztenWillen von A nichtmehr und nicht weniger wahr als B. Unterschiedlich können sie nur imdenkerischenDurchdringen desWahrgenommenen sein. C kann sogarim Vorteil gegenüber B sein, wenn sein Denken weiter entwickelt ist.Nicht anders ist es inBezugaufMitteilungen, die vondergeistigenWeltstammen und die Rudolf Steiner ‚diktiert‘ worden sind.“

Archiati meint also, dass Rudolf Steiner seine Anthroposophie vonMichael (oder anderen höheren Wesenheiten) „diktiert“ bekommenhätte; dass er nichts als ein „Vermittler zwischen der geistigen und derirdischen Welt“ gewesen sei. Und er behauptet sogar, dass dieses von

8) https://www.rudolfsteineraus-gaben.com/texte-von-rudolf-stein-er/trilogien/media/rudolf-steiner-innere-entwicklung-beilage-1.pdf

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Rudolf Steiner empfangene „Diktat“ von einer anderen Person (demMenschen C) besser verstanden werden könne als von Rudolf Steinerselbst, weswegen dieser Mensch C „sogar im Vorteil gegenüber B sein“könne, „wenn sein Denken weiter entwickelt ist“. Und dass P. Archiatidamit tatsächlich das ganze Leben undWerk Rudolf Steiners charakter-isieren möchte, beweist folgender Schlusssatz: „Wenn jemand wieRudolf Steiner ein Leben lang die Aufgabe hat, zur Orientierung derMenschen zukünftige Entwicklungsstufen des Denkens und der Liebevon geistigen Wesen gezeigt oder ‚diktiert‘ zu bekommen und in men-schliche Sprache zu übersetzen, kann er sich nur danach sehnen, beimnächsten ‚Lebensgang‘mehr imHinblickaufdie eigene individuell-frei-heitliche Weiterentwicklung damit umgehen zu dürfen.“ 9

Diesem unglaublichen Gedanken, dass es Rudolf Steiner in seinem„nächsten Lebensgang“ nun endlich auch einmal um die „eigene indi-viduell-freiheitliche Weiterentwicklung“ gehen müsse, liegt eineVorstellung zugrunde, die dasWesenderAnthroposophie selbst betrifft.Unter der Überschrift „Wahrnehmung und Denken“ erklärt Archiati:„KeinMensch ist gegenüber dem Inhalt eines solchen Engelgesprächesschlechter oder besser gestellt als Rudolf Steiner. Auch dieser hatzunächstnichtsanderesalsdieWahrnehmungzurVerfügung. (…)“Wiealso stellt sich Archiati einen solchen Vorgang vor? So, wie er sein ph-ysisch-sinnliches Wahrnehmen und Denken zu erleben meint; aufGrund ungenügender Selbst-Beobachtung erlebt er nämlich beide voll-ständiggetrennt.Dochselbst imphysisch-sinnlichenErkenntnisprozesssind Wahrnehmen und Denken stärker verflochten als Archiati an-nimmt; in jeder unsererWahrnehmung steckt – zunächst – das (begrif-fliche)Denkenmit drin. Das Ergebnis seiner nicht-beobachtetenErken-ntnistätigkeit überträgtArchiati auf dieVorstellung, die er sich voneinerübersinnlichen Erkenntnis macht, und heraus kommt ein Bericht einermedialen Beeinflussung, der Rudolf Steiner ausgesetzt gewesen wäre.

Gewisshabenwir eshiermit einemder schwierigsten, aberauchwichtig-sten Elementen des übersinnlichen Erkennens zu tun, das der Anthro-posophie Rudolf Steiners zugrunde liegt. Hier nämlich wirdWahrnehmen und Denken zu Eins; es geht um die „Wahrnehmung desDenkens“,welchesebenso(denkend)wahrgenommenwird,wiees selbstwahrnehmen kann. Ich bin mir bewusst, wie vereinfachend eine solcheDarstellung ist, doch sei der Leser damit nur auf etwas verwiesen, das inderSpracheRudolfSteinerssoklingt: „(…)darfausdemGesichtspunkte,der sich bloß aus dem intuitiv erlebten Denken ergibt, berechtigt er-wartet werden, dass der Mensch außer dem Sinnlichen auch Geistigeswahrnehmenkönne?Dies darf erwartetwerden.Denn,wennauch ein-erseits das intuitiv erlebte Denken ein im Menschengeiste sich vol-lziehender tätiger Vorgang ist, so ist es andererseits zugleich einegeistige, ohne sinnliches Organ erfasste Wahrnehmung. Es ist eineWahrnehmung, inderderWahrnehmendeselbst tätig ist,undes ist eineSelbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird. Im intuitiv er-lebten Denken ist der Mensch in eine geistige Welt auch alsWahrnehmender versetzt. (…)“ 10

*

9) Die vielen Veränderungen, die erimmer wieder in seine Buchaus-gaben einarbeitet, werden ausdieser Sicht verständlich: Kanndoch der Mensch C (hier Archiati)dem Menschen B (Rudolf Steiner)gegenüber „sogar im Vorteil“ sein.

10) Rudolf Steiner: Die Philosophieder Freiheit, GA 4, S. 256.

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Eine dem Wesen Rudolf Steiners angemessene Herausgabe seinerWerke bedarf ein ungemein ernsthafteres und professionelleresHerangehen, als es R. Halfen und P. Archiati unter Beweis stellen. Dennnach Ausgabeformen zu suchen, die diesem Wesen gerecht werden,gehörtgewiss zudenwichtigstenAufgabenallderer, fürdieRudolfStein-er nicht ein „Vergangener“ ist, sondern derjenige, der in die Zukunft derMenschheit hineinzuführen vermag.

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