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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte II. Anfänge und Antike 1 II. Anfänge der Wirtschaft und die Wirtschaft der Antike (Cameron/Neal (2003), Kapitel 2, mit zahlreichen Ergänzungen) Dieser Teil (II) enthält vier Kapitel: die Anfänge der Zivilisation (1), einige Eigenheiten der grossen Zivilisationen und Imperien (2); die griechische Zivilisation ist von besonderer Bedeutung, weil mit ihr die europäische Achsenzeit (Karl Jaspers 1955/49) verbunden ist [Achsenzeit gleich Wendezeit, Zeit des Umbruchs]; die nächsten beiden Kapitel sind zwei grossen, völlig unterschiedlichen Imperien gewidmet, Kapitel (3) dem Persischen Grossreich und Kapitel (4) dem Römischen Imperium. 1. Anfänge der Zivilisation ....................................................................................................... 2 1.1. Agrarrevolution................................................................................................................ 2 1.2. Die erste Zivilisation: Sumer in Mesopotamien .............................................................. 5 2. Wirtschaft und Gesellschaft in den alten Zivilisationen und Imperien ........................... 8 2.1. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlagen .......................................................... 9 2.2. Handelsvölker: Phönizier und Griechen ........................................................................ 11 2.3. Europäische Achsenzeit in Griechenland (800 – 200 vor Christus) .............................. 18 3. Das Altpersische Grossreich (550 bis 330) ....................................................................... 21 4. Wirtschaft und Gesellschaft in Rom ................................................................................. 26 4.1. Königreich, Republik und Kaiserreich .......................................................................... 27 4.2. Römisches Recht und soziale und politische Struktur ................................................... 30 4.2.1 Römisches Recht und Staatsform (Dominanz des Privatrechts) ............................. 30 4.2.2. Charakteristika und Implikationen des römischen Rechts ..................................... 31 4.2.3. Recht, Wirtschaft und Sozialstruktur...................................................................... 32 4.3. Aufstieg und Fall des (West-)Römischen Kaiserreiches ............................................... 34

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II. Anfänge der Wirtschaft und die

Wirtschaft der Antike

(Cameron/Neal (2003), Kapitel 2, mit zahlreichen Ergänzungen)

Dieser Teil (II) enthält vier Kapitel: die Anfänge der Zivilisation (1), einige Eigenheiten

der grossen Zivilisationen und Imperien (2); die griechische Zivilisation ist von besonderer

Bedeutung, weil mit ihr die europäische Achsenzeit (Karl Jaspers 1955/49) verbunden ist

[Achsenzeit gleich Wendezeit, Zeit des Umbruchs]; die nächsten beiden Kapitel sind zwei

grossen, völlig unterschiedlichen Imperien gewidmet, Kapitel (3) dem Persischen Grossreich

und Kapitel (4) dem Römischen Imperium.

1. Anfänge der Zivilisation ....................................................................................................... 2

1.1. Agrarrevolution ................................................................................................................ 2

1.2. Die erste Zivilisation: Sumer in Mesopotamien .............................................................. 5

2. Wirtschaft und Gesellschaft in den alten Zivilisationen und Imperien ........................... 8

2.1. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlagen .......................................................... 9

2.2. Handelsvölker: Phönizier und Griechen ........................................................................ 11

2.3. Europäische Achsenzeit in Griechenland (800 – 200 vor Christus) .............................. 18

3. Das Altpersische Grossreich (550 bis 330) ....................................................................... 21

4. Wirtschaft und Gesellschaft in Rom ................................................................................. 26

4.1. Königreich, Republik und Kaiserreich .......................................................................... 27

4.2. Römisches Recht und soziale und politische Struktur ................................................... 30

4.2.1 Römisches Recht und Staatsform (Dominanz des Privatrechts) ............................. 30

4.2.2. Charakteristika und Implikationen des römischen Rechts ..................................... 31

4.2.3. Recht, Wirtschaft und Sozialstruktur ...................................................................... 32

4.3. Aufstieg und Fall des (West-)Römischen Kaiserreiches ............................................... 34

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1. Anfänge der Zivilisation

Die Anfänge der Zivilisation setzen ein mit dem Entstehen der Landwirtschaft, bewirkt durch

die Agrarrevolution. Die Landwirtschaft produziert mit der Zeit einen Überschuss

(landwirtschaftliche Produktion minus Verbrauch an landwirtschatlichen Produkten durch die

Produzenten). Sobald der Überschuss in bestimmten Regionen substantiell wird, setzen

Zivilisation ein, die ihren äusseren Ausdruck im Bau von Städten finden. Obwohl in diesem

Zusammenhang von Städtezivilisationen gesprochen wird, bezeichnet man den Zeitraum von

etwa 6000 v.Chr. bis zur Industriellen Revolution (etwa 1800 n.Chr.) als Agrarzeitalter, weil

um die 90% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig war. Der landwirtschaftliche

Überschuss reichte als gerade aus, um die restlichen 10% der Bevölkerung, d.h. die

Stadtbevölkerung, zu ernähren.

1.1. Agrarrevolution Die Landwirtschaft entsteht also, grob gesprochen, um 6000 v.Chr. herum. Das ist auch etwa

der Beginn des Neolithikums (Jungsteinzeit), das bis etwa 3000 v.Chr. dauert. In der

Jungsteinzeit werden geschliffene Steine als Werkzeuge verwendet, z.B. Äxte (mit Holzstiel).

Dann folgt die Bronzezeit, etwa 3000 v.Chr. bis 1200 v.Chr., gefolgt von der Eisenzeit (1200

v.Chr. bis gegen 400 v.Chr. im Mittleren Osten, bis 600 n.Chr. in Europa).

Vor dem Neolithikum bestanden das Mesolithikum (mittlere Steinzeit) und das

Paläolithikum (Altsteinzeit). In der Altsteinzeit gab es Jäger und Sammler; es wurden vor

allem ungeschliffene Steine (neben Holz und Knochen) als eine Art Rohwerkzeuge

verwendet. Die Altsteinzeit (2,5 Millionen Jahre v.Chr. bis 8000 v.Chr. !) macht bei weitem

den grössten Teil der Vorgeschichte der Menschheit aus. Wirtschaftsgeschichtlich ist die

Altsteinzeit von Bedeutung, weil etwa 500'000 Jahre vor Christus das Feuer entdeckt wurde.

Man vermutet, dass dies gleichzeitig im heutigen Frankreich und in China geschah. Das

Feuer brachte mit Sicherheit bereits gewaltige Umwälzungen im Leben der Menschen (als

Wirtschaftshistoriker – nicht als Archäologe ! - kann man hier ein wenig die Phantasie

spielen lassen). In der Mittleren Steinzeit (8000 – 6000 v.Chr.) wurden die Stein- und

Knochenwerkzeuge verfeinert, aber die Menschen waren immer noch Jäger und Sammler.

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Die Landwirtschaft entstand also ungefähr um 6000 v.Chr. durch das Heranzüchten von

Nutzpflanzen und durch das Zähmen von Tieren, die zu Haustieren wurden.

Es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass ab 6000 v.Chr. der Anbau von Weizen und

Gerste sowie das Halten von Schafen, Ziegen, Schweinen eventuell sogar des Rindes im

Mittleren Osten, vor allem zwischen Euphrat und Tigris (etwa dem gegenwärtigen Irak), und

in Kleinasien (der heutigen Türkei) gängig war. Von hier aus breitete sich die Landwirtschaft

graduell nach Ägypten, Indien, China, Westeuropa, usw. aus. Es gibt Theorien, wonach die

Landwirtschaft in China und Südostasien unabhängig entstanden sei. Diese sind allerdings

nicht gesichert. Die Landwirtschaft (inklusive die Tierhaltung) war wichtig für den Menschen

und die Gesellschaft. Die Jäger und Sammler wurden sesshaft, eine Voraussetzung für das

Entstehen einer höheren Zivilisation.

Die Leistungen, die bei der Entstehung der Landwirtschaft erbracht wurden, kann man

ohne Übertreibung als gigantisch bezeichnen, ähnlich den Leistungen, die im Zuge der

Industriellen Revolution zustande kamen. Wir nehmen heute Haustiere und Nutzpflanzen und

die Nahrungsmittel, die daraus hergestellt werden, gedankenlos als völlig selbstverständlich

hin. Kaum jemand denkt daran, dass es eine Zeit gab, in der Haustiere und Nutzpflanzen nicht

existierten. Sicher konnten damalige Menschen diese Leistungen vollbringen, weil sie auf

engste mit der Natur verbunden waren, sozusagen mit dem Pulsschlag der Natur lebten.

Allmählich entstanden in der Landwirtschaft Überschusse. Nicht alles produzierte, wurde

verbraucht. Dies schuf Zeit für künstlerische und religiöse Tätigkeiten (der

landwirtschaftliche Überschuss ermöglichte es, Menschen zu ernähren, die nicht in der

Landwirtschaft tätig waren: Handwerker, Künstler, Priester). So konnten Reichtümer

aufgehäuft werden, vor all mit der (Natur-)Religion verbundene Kunstgegenstände und

Gebäulichkeiten (Tempel). Jedoch existieren in der Neusteinzeit noch keine Schriften, und die

Jagd bleibt noch für Jahrtausende von zentraler Bedeutung.

Werkzeuge und Erfindungen:

Es gibt aber im Neolithikum einfache Werkzeuge, die das Handwerk ermöglichten, z.B.

Äxte; es gab primitive Sensen und Hacken. Der (Holz-) Pflug, von Ochsen oder Eseln

gezogen, taucht allerdings erst im 4. oder 3. Jahrtausend v.Chr. auf.

Zu Beginn des 5. Jahrtausend (4...) wurde bereits Leder bearbeitet. Noch sehr brüchige

Töpfereien wurden hergestellt, ebenso rauhes Tuch aus Flachs. Im 5. Jahrtausend v.Chr.

wurde auch das Rad erfunden, ebenfalls eine Erfindung von grösster Bedeutung. Es konnten

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nun Karren hergestellt werden, die Transporte ermöglichten. In der Folge setzten

Arbeitsteilung und Handel ein. Man kann vermuten, dass Dörfer sich zu spezialisieren

begannen und dass Produkte ausgetauscht wurden.

Im 5. und im 4. Jahrtausend vor Christus setzte auch die Metallbearbeitung ein (Beginn

der Bronzezeit). Der Einsatz von Metall ermöglichte es nun, das Rad und die Karren zu

verbessern. Aber entscheidend war natürlich, das nun die verschiedenen Werkzeuge für

Handwerk und Landwirtschaft aus Bronze hergestellt werden konnten.

Das Weben sezte relativ spät ein. Wolltücher gab es erst um die Mitte des 3. Jahrtausends

vor Christus (um 2500).

Zusammen mit der Entstehung der Landwirtschaft im Neolithikum entsteht auch das

Dorf, die grundlegende sozio-ökonomische Einheit der ersten Gemeinschaften. In diesen

ersten Dörfern haben vielleicht um 50 - 100 Familien gelebt haben, mit etwa 100 - 300

Einwohnern. Die Sesshaftigkeit war offensichtlich ein entscheidender Schritt in der

Geschichte der Menschheit; eine materielle Zivilisation und höheres Kulturleben wurden

möglich. Vorher, im Paläolithikum, lebten die Menschen (Jäger und Sammler) als Nomaden.

Im Rahmen des Dorfes werden Nahrung und Behausung allmählich verbessert. Lange

glaubte man, dass die Dörfer des Neolithitums relativ gleichartig waren. Jüngere

Entdeckungen zeigen jedoch, dass vermutlich schon in der Mitte des 7. Jahrtausends

städteähnliche Siedlungen bestanden. In Catal Hüyük in Anatolien gab es eng

zusammengebaute Häuser; es bestanden Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation.

Das biblische Jericho ist vielleicht die älteste Siedlung der Welt, eine neolithische

Siedlung, die bereits 8000 v.Chr. bestand (6000 v.Chr. ist nur ein Markstein, der eine stärkere

Intensität der Neusteinzeit anzeigt). Vermutlich war Jericho von einer gewaltigen

Schutzmauer umgeben, die sicher für eine Stadt bestimmt war; zudem setzte der Bau einer

derartigen Schutzmauer bedeutende landwirtschaftliche Überschüsse voraus, sowie eine

erhebliche Arbeitsproduktivität, die ihrerseits auf einer Stadt-Land-Arbeitsteilung beruhte.

Es besteht also die starke Vermutung, dass die Stadt nicht aus dem Dorf entstanden ist,

sondern dass sich Dörfer und Städte parallel entwickelt haben.

Schlussbemerkung:

Entscheidend ist, dass aus der Agrarrevolution des Neusteinzeit-Alters (etwa 6000 bis

3000 v.Chr.) allmählich ein ständig wachsender landwirtschaftlicher Überschuss

hervorgegangen ist.

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Der landwirtschaftliche Überschuss ist gleich der landwirtschaftlichen Produktion (der

Ernte) minus dem notwendigen Konsum der Produzenten (landwirtschaftliche Arbeiter,

Bauern).

Der landwirtschaftliche Überschuss steht sozusagen zur freien Verfügung einer

Gemeinschaft (etwas Natürliches: Stamm, Volk – bestehend aus mehreren Stämmen) oder

später einer modernen Gesellschaft (bestehend aus im Prinzip unabhängigen und freien

Individuen). Mit dem Überschuss können Menschen ernährt werden, die nicht in der

Landwirtschaft arbeiten: Handwerker, Künstler, Priester, Soldaten, Beamte, den Fürsten und

sein Gefolge.

Wird der Überschuss aus bestimmten Gründen substantiell, dann können grössere

Vorhaben realisiert werden. So können Städte gebaut werden. Das ist der Beginn der

Zivilisation.

1.2. Die erste Zivilisation: Sumer in Mesopotamien Die Zivilisation der Sumerer entstand zwischen bezeichnenderweise zwischen zwei grossen

Flüssen, Euphrat und Tigris, nordwestlich des Persischen Golfs.

Um etwa 4500 v.Chr. war dieses Gebiet noch eine ressourcenarme Wüste. Im 4.

Jahrtausend. (ungefähr ab 4000 v.Chr.) entstand hier die erste Zivilisation der

Menscheitsgeschichte, das Reich SUMER, mit belebten Städten, einer monumentalen

Architektur, mit Wohnbauten, Tempeln und Palästen und mit einer reichhaltigen Kultur sowie

einer Religion. Was die Kunst betrifft gab es beispielsweise Skulpturen (Tierskulpturen,

Jagdszenen) und eine Literatur.

Vor allem im British Museum finden sich Tierskulpturen (z.B. Löwen von 4 bis 5 Metern

Länge) und Architekturelemente (z.B. Eingangstore zu Palästen). Alles wirkt monumental

und majestätisch. Man hat den Eindruck, hier seien nicht Menschen, sondern Halbgötter am

Werke gewesen!

Wie die sumerische Zivilisation entstanden ist, ist unbekannt. Eine Theorie besagt, dass

Menschen aus Nordindien nach Mesopotamien gekommen sein. Eine andere Theorie könnte

davon ausgehen, dass es in Afrika schon vor Millionen von Jahren Menschen gab, vor 2.5

Millionen in Ostafrika (Kenya) und vor etwa 6 Millionen in Zentralafrika. Vielleicht gab es in

Afrika Zivilisationen, von denen jede Spur verloren ging. Aber diese verlorenen

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Zivilisationen könnten erklären, wieso in Ägypten und in Mesopotamien (Sumer)

Zivilisationen entstanden. Aber das sind Spekulationen. Das Entstehen von Zivilisationen

bleibt ein Geheimnis. Man kann sich tatsächlich nur schwer vorstellen, dass Jäger und

Sammler, die sesshaft wurden und begannen, Landwirtschaft zu betreiben, auf einen Schlag

hochstehende Zivilisationen schaffen konnten. Jedenfalls besteht eine gewisse Einigkeit

darübr, dass das Entstehen einer grossartigen Zivilisation wie der sumerischen, tausende von

Jahren vor Christus der Evolutionstheorie widerspricht.

Die sumerische Zivilisation beruhte auf einer sehr hohen landwirtschaftlichen

Produktivität. Diese wurde bewirkt durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem, durch das

der Schlamm von Euphrat und Tigris auf die Felder geleitet wurde, die dadurch intensiv

gedüngt wurden. Auf den Feldern arbeiteten zahlreiche landwirtschaftliche Arbeiter (Knechte,

Bauern, Handwerker) unter kompetenter Leitung und Aufsicht. Die Leiter der

landwirtschaftlichen Arbeiten sowie die Aufsehen entstammten der Klasse der Priester und

der Krieger, also der herrschenden Oberschicht. Die landwirtschaftlichen Arbeiten (Aussäen,

bewässern und ernten) waren vermutlich fast militärisch organisiert.

Das Land war Gemeineigentum der herrschenden Schicht (König und sein Gefolge,

Krieger, Beamte, Priester). Man könnte von einem aristokratischen Sozialismus sprechen.

Tatsächlich waren starke Planelemente vorhanden: militärische Organisation der

Landwirtschaft, ein Teil der Ernte wurde in staatlich Lagerhallen gehalten; Lagerhallen gab es

auch für gesellschaftlich notwendige Produkte, wie Werkzeuge und Waffen.

Zudem gab es ein Steuersystem, das im Zusammenhang mit Kreditgeld stand. Zum

Beispiel, wenn ein Handwerker Werkzeuge oder Waffen für die staatlichen Lagerhallen

lieferte, erhielt er als Zahlung ein Lieferungsversprechen beispielsweise für eine bestimmte

Menge Getreide. Dieses Versprechen konnte z.B. auf einem Tontäfelchen eingeritzt sein. Der

Handelwerker konnte nun dieses Täfelchen verwenden, um seinerseits Zahlungen zu leisten.

So zirkulierten Zahlungsversprechen als Geld in der Form von Tontäfelchen, solange bis ein

Geldempfänger mit dem Tontäfelchen zu einem Bauern (oder einem Leiter der

landwirtschaftlichen Produktion) ging, um das Lieferungsversprechen an Weizen einzulösen.

Der Bauer (oder der Produktionsleiter) brachte dann das Tontäfelchen zur königlichen

Steuerverwaltung als Beleg für bezahlte Steuern. Die königliche Finanzverwaltung konnte

dann das Tontäfelchen brauchen um eine neue Zahlung zu leisten.

Dieses kleine Beispiel ist wirtschaftsgeschichtlich gesehen aus zwei Gründen von

ausserordentlicher Bedeutung. Zum Ersten zeigt es, dass das erste Geld stoffwertloses

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Kreditgeld war, damit auch Gesetzesgeld, weil die Gläubiger von Gesetzes wegen zur

Annahme gezwungen waren. Dieses Geld war natürlich nur im Innern eines gut geordneten

Staatswesens möglich und konnte im Aussenhandel nicht verwendet werden; für den

Aussenhandel brauchte es Warengeld (Gold- und Silbermünzen); Münzen wurden erst sehr

viel später geprägt, nämlich von den Griechen, die einen intensiven Aussenhandel betrieben.

Zweitens, das Geld wird über den staatlichen Haushalt (Staatsausgaben) in Umlauf gebracht.

Andererseits zwingt damit der Staat die landwirtschaftlichen Produzenten ihre Steuern in Geld

zu bezahlen. Um die Steuern zu bezahlen, müssen die landwirtschaftlichen Produzenten einen

Teil des landwirtschaftlichen Überschusses vermarkten.

(Dieser Mechanismus wurde im 19. und 20. Jahrhundert gebraucht, um die

wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. So hat z.B. der japanische Staat den Aufbau der

Industrie in die Wege geleitet, indem mit staatlicher Unterstützung Fabriken gebaut wurden.

Die Löhne wurden in stoffwertlosem Geld bezahlt, mit dem die Arbeiter landwirtschaftliche

Produkte kauften. Die Bauern mussten das Geld annehmen, also die Produkte (den

landwirtschaftlichen Überschuss) liefern, weil sie die Steuern in Geld bezahlen mussten.)

Die sumerischen Herrscher eignen sich also den landwirtschaftlichen Überschuss über

Steuern, Abgaben und Sklavenarbeit an. Der Überschuss wird verwendet, um Tempel und

öffentliche Gebäude (Paläste) zu bauen und um Kunstwerke zu schaffen. Auch wird ein

Luxuskonsum für die herrschende Schicht möglich. Schliesslich diente der Überschuss auch

der Kriegsführung.

Die erste Zivilisation führt bereits zu einer ausgedehnten Arbeitsteilung, gesellschaftlich

und wirtschaftlich: Der Städtebau erforderte Maurer, Zimmerleute und Schreiner. In der

wirtschaftliche Basis gab es noch weitere Handwerker, vor allem Spinner und Weber für die

Herstellung von Tuch, Töpfer, die z.B. Vasen herstellten und Schmiede in der

Metallbearbeitung (Kupfer): Herstellung von Werkzeugen und Waffen.

Im gesellschaftlichen Überbau gab es höhere Berufe: Architekten, Ingenieure und Ärzte.

Wenn man sich diese reich gegliederte Gesellschaft vor Augen hält und ihre Leistungen

betrachtet, wird die plötzliche Entstehung der sumerischen Zivilisation noch geheimnisvoller

und unbegreiflicher. Die Sumerer haben damit zusammen mit den Ägyptern die Grundlagen

für die zivilisatorische Entwicklung des gesamten Westens, inklusive des Mittleren Ostens,

gelegt.

Aber es kommt noch etwas hinzu. Der Hauptbeitrag der Sumerer zur zivilisatiorischen

Entwicklung der Menschheit ist nämlich die Erfindung der Schrift. Die sumerische Schrift ist

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nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern aus Erfordernissen des täglichen Lebens

entstanden. Man vermutet, dass diese erste Schrift im Rahmen der staatlichen (königlichen)

Buchhaltung (registrieren von Einnahmen – Steuern und Abgaben - und Ausgaben) und der

allgemeinen Verwaltung (Ein- und Ausgänge von Gütern in königlichen Lagerhallen:

landwirtschaftliche Produkte, Werkzeuge und Waffen) entstanden ist. (Vielleicht etwas

bösartig wurde später gesagt, die Erfindung der Schrift sei die einzige wichtige Erfindung, die

von einer Bürokratie gemacht wurde.)

Die sumerische Schrift war eher eine logographische oder synthetische Schrift: Man

orientierte sich am Inhalt dessen, was durch die Sprache ausgedrückt wird. Die chinesische

Schrift ist das beste Beispiel für eine logographische Schrift: der zu schreibende Inhalt (das

Objekt) wird in stilisierter Form durch ein Schriftzeichen festgehalten (gezeichnet).

Bei der phonetischen oder analytischen Schrift, schreibt man unabhängig von der

Bedeutung die Laute der Sprache (Buchstabenschrift). Das schreibende Subjekt bezeichnet

einen Inhalt mit einem Wort. Dabei entsprechen die einzelnen Buchstaben gesprochenen

Lauten.

Jedenfalls ist die Entdeckung der Schrift für die Entwicklung der menschlichen

Zivilisation (Technik, Wissenschaft) und Kultur (Literatur, Kommunikation) von

grundlegender Bedeutung.

Nach dem sumerischen Reich sind in Mesopotamien, im mittleren Osten und im

Mittelmeeraum weitere Zivilisation entstanden, die zu Reichsbildungen führten, z.B. Babylon,

Assyrien, Ägypten, Persien; Rom; weitere Zivilisationen wurden durch die Phönizier und die

Griechen geschaffen. Im folgenden beschäftigen wir uns ganz kurz mit einigen

wirtschaftlichen und sozialen Charakteristika dieser Zivilisationen und Imperien.

(Grundlegend ist hier Die Geschichte der Alten Welt, Band I, von Michael Rostovtzeff,

1941).

2. Wirtschaft und Gesellschaft in den alten Zivilisationen und Imperien

(Babylon, Assyrien, Ägypten: alle vor der ersten Achsenzeit (800-200 v.Chr.); Persien –

altpersisches Reich (550-330), Reich Alexanders des Grossen (330-280 v.Chr.), beide Reiche

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während der Achsenzeit; Rom (753 Gründung; 510-27 v.Chr. Republik; 27 v.Chr. bis 476

n.Chr. Kaiserreich, Imperium: erstes westliches Reich nach der ersten Achsenzeit)

2.1. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlagen Der landwirtschaftliche Überschuss (SL = surplus in der Landwirtschaft) bildet die Grundlage

für Prunk und die Entfaltung innerer und äusserer Macht; SL wird ergänzt durch

Plünderungen und Handelsgewinne. Entscheidend waren jedoch Eroberungen, die die

Beschäftigung und den Output (Sozialprodukt) erhöhten und vor allem den sozialen

Überschuss (S) steigerten.

Die ägyptischen Pyramiden (entstanden etwa zwischen 2620 bis 2500 v. Chr.) sind das

Paradebeispiel für die Verwendung des sozialen Überschusses. Dieser fiel in der Form von

Geld (Kreditgeld) und Naturalabgaben an den Herrscher (unter den Naturalabgaben befanden

sich wahrscheinlich auch Edelmetalle befinden – vermutlich in der Form von Schmuck oder

Skulpturen). Der Herrscher hat den Überschuss zum grössten Teil wieder ausgegeben um

Projekte zu finanzieren (Bauten, Kunstwerke, vor allem für religiöse Zwecke; dazu kamen die

laufenden Ausgaben für die Verwaltung und den Unterhalt des Heeres).

Man vermutet dass die gigantischen Arbeiten, die mit dem Pyramidenbau verbunden

waren, nicht von Sklaven, sondern von Lohnarbeitern ausgeführt wurden. Der Pyramidenbau

hatte verschiedene Dimensionen. Einmal eine religiöse: Grabstätten für die Pharaonen. Mit

der religiösen Dimension hängt die künstlerische zusammen: Wieso gerade diese äusserst

einfache, modern anmutende Form (Glas-Pyramiden im Louvre in Paris!)? Die Proportionen

sind über die Wahl der Neigungswinkel so gewählt, dass diese riesigen Bauwerke nicht

schwerfällig, sondern elegant wirken. Dann kommt eine naturwissenschaftliche Dimension

hinein: Die alten Ägypter waren ausgezeichnete Astronomen, und die Astronomie spielte bei

der Ausrichtung der Pyramiden eine Rolle. Der Pyramidenbau hatte auch politische

Dimensionen; er schweisste nämlich Unter- und Oberägypten zu einer politischen Einheit

zusammen. Und last but not least die wirtschaftliche Dimension: Die gigantischen

Staatsausgaben zur Realisierung der Pyramiden sind autonome Ausgaben, die die Wirtschaft

in Gang setzen. Der Pyramidenbau schafft Einkommen, die einen kumulativen Prozess der

Konsumgüternachfrage in Gang setzen (Ausgabenmultiplikator). Das bedeutet eine starke

Belebung der Wirtschaft. Modern ausgedrückt impliziert der Pyramidenbau und seine

Auswirkungen den internen Beschäftigungs- und Entwicklungsmechanismus (Teil I –

Einleitung).

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In den alten Zivilisationen und Imperien bestand eine differenzierte Gesellschaft. In der

Regel sind ethnische Faktoren ausschlaggebend: Die Eroberer dominieren die Eroberten. Die

Unterworfenen sind in der materiellen Basis, in der Wirtschaft, als Sklaven, Arbeiter und

Handwerker tätig. Die Eroberer besetzen die leitenden Positionen im Überbau als Herrscher,

Administratoren, Heerführer, Architekten, Ärzte, Künstler.

Die grossen Imperien haben nur wenige Beiträge zur technischen und wirtschaftlichen

Entwicklung geleistet. Die meisten Techniken und Verfahren, die die Büte der grossen

Zivilisationen bestimmen, […] wurden beim Ausgang der Vorgeschichte entdeckt

[Nutzbarmachung von Pflanzen und Tieren, Monumentalarchitektur, das Rad, das Segelschiff,

… . Die Eisengewinnung und -verarbeitung wurde wahrscheinlich zwischen 1400 und 1200

v.Chr. von barbarischen Bergvölkern Anatoliens oder des Kaukasus erfunden.

Bezeichnenderweise wurde Eisen lange vor allem gebraucht, um Waffen herzustellen, nicht

Werkzeuge] (vgl. Cameron/Neal 2003, p. 31).

Die grossen Zivilisationen und Imperien wenden bestehende Kenntnisse im grossen Stil

an, erbringen also organisatorische Leistungen; so haben die Römer Städte, Strassen und

Wasserleitungen (Viadukte) gebaut; sie bauten eine äusserst effiziente Armee auf; im

Mittelmeer fuhren zahlreiche Handelsschiffe herum; Kriegsschiffe schützten diese gegen

Piraten. Die Römer entwickelten ein Rechtssystem, das heute noch Grundlage für das

Privatrecht ist; es gab eine Polizei, eine Feuerwehr und eine Post. Die organisatorischen

Leistungen umfassen auch Verfeinerungen von bestehenden Kenntnissen; es gibt kleinere

Fortschritte, vor allem im Bereiche der Landwirtschaft und der Herstellung von

Nahrungsmitteln; z.B. enthielt die berühmte Bibliothek von Alexandrien um die 50

Manuskripte über die Herstellung von Brot!

Abschliessend noch eine grundlegende Frage zu den grossen Zivilisationen: Wieso gab

es Zivilisationen in bestimmten wasserreichen Regionen, etwa in Mesopotamien und in

Ägypten, aber nicht am Mississippi in Nordamerika? Der Bevölkerungsdruck ist eine

mögliche Antwort. Die Indianer Nordamerikas sahen keine Notwendigkeit am Mississippi

Ackerbau zu betreiben. Die Jagd in den riesigen Weiten Nordamerikas genügte, um ihren

Lebensunterhalt zu sichern. Aber vielleicht kommt noch etwas mehr hinzu: der Wille eine

Zivilisation aufzubauen, deren materielle Grundlage die Stadt ist. Dieser Faktor könnte mit

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der Sozialnatur des Menschen zusammenhängen. Er impliziert, dass es aussergewöhnliche

Eliten gegeben haben muss, die eine Vision einer aufzubauenden Zivilisation hatten.

2.2. Handelsvölker: Phönizier und Griechen Ab 3000 v.Chr. setzt im Mittelmeer eine ausgedehnte Handelstätigkeit ein, betrieben vom

ältesten Handelsvolk der Welt, den Phöniziern. Die Phönizier stammen aus der Gegend des

heutigen Libanon und betrieben zuerst Handel im östlichen Mittelmeer. Die Handelstätigkeit

der Phönizier verband Sumer und Ägypten.

Die Phönizier sind dann allmählich nach Westen vorgedrungen: Sizilien, Sardinien,

Gründung von Karthago (im Nordosten des heutigen Tunesien). Vermutlich haben die

Phönizier sogar den Atlantik befahren; einerseits fuhren sie entlang der afrikanischen Küste,

andererseits haben sind auch nach Norden gefahren und haben so wahrscheinlich England

erreicht.

Karthago wurde im neunten oder achten Jahrhundert v. Chr. von phönizischen

Siedlern aus der südlibanesischen Stadt Tyros (heute Tyrus) gegründet, vermutlich in der

zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts vor Christus (zwischen 750 und 700). Die Stadt

entwickelte sich zu einer bedeutenden See- und Handelsmacht und gründete Kolonien auf

Sizilien, Sardinien, Korsika, den Balearen, an der nordafrikanischen Küste und an der

südlichen Mittelmeerküste Spaniens. Während des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. kam es

zu Konflikten mit griechischen Kolonien, Syrakus auf Sizilien und Nikaia (Nizza, Nice)

im heutigen Südostfrankreich. In diesen beiden Jahrhunderten wurde Karthago stark von

der im Mittelmeerraum dominierenden griechischen Kultur geprägt. Die Stadt prosperierte

in der Folge durch eine starke Zunahme des Seehandels. Im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr.

ist Karthago die reichste und grösste Stadt des Mittelmeerraums geworden (400'000

Einwohner).

Die Expansion Karthagos führte zu einem Konflikt mit Rom, einer anderen

aufstrebenden Stadt im Mittelmeerraum. Es kam zu Handelskriegen um die Vorherrschaft

im Mittelmeerraum (Punische Kriege), die mit der Eroberung und Zerstörung Karthagos

durch Rom endeten.

Im 1. Punischen Krieg (264-241 v.Chr.) eroberten die Römer Sizilien.

Im Zuge des 2. Punischen Krieges (218-201) zog der karthagische Feldherr Hannibal von

Spanien ausgehend mit Elephanten über die Alpen nach Italien; im Jahre 216 schlug Hannibal

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die Römer vernichtend bei Cannae (südöstlich von Rom, an der italienischen Adriaküste); es

war eine Einkreisungsschlacht, in der die Römer 60'000 (von 70'000 !) Soldaten verloren, die

Karthager 10'000 (von 50'000). Rom wurde bedroht, aber nicht eingenommen (wegen

Nachschubproblemen wagte es Hannibal nicht, Rom zu belagern). Schliesslich behielten die

Römer unter ihrem Feldherrn Scipio Africanus nach der Schlacht von Zama (202), im

heutigen Tunesien die Oberhand (das karthagische Heer wurde von Hannibal geführt).

Im 3. Punischen Krieg (149-146) wurde Karthago belagert und zerstört. Damit wurde

Rom die dominierende Handelsmacht im Mittelmeer. Dieses wurde sozusagen ein römisches

Meer (mare nostrum).

Die grosse zivilisatorische Leistung der Phönizier war die Entwicklung einer

phonetischen (analytischen) Schrift, der Lautschrift, die auf dem Alphabet beruht. Die

phönizische Schrift wurde von den Griechen und Römern übernommen (siehe dazu das

faszinierende Buch von Walter Burkert: Die Griechen und der Orient – Von Homer bis zu den

Magiern, München (Verlag C.H. Beck) 2003, vor allem pp. 23-27). Das Alphabet löste die

(eher logographischen) Hieroglyphen ab, die in Mesopotamien und Ägypten verwendet

wurden.

Die Buchstabenschrift hat gegenüber der Zeichenschrift (Hieroglyphen, chinesische

Schriftzeichen) sehr grosse Vorteile. Sie erlaubt es, Begriffe zu prägen, Urteile zu fällen und

Schlüsse zu ziehen, also komplexe Argumente klar und verständlich darzulegen. Dabei kann

der Komplexität der Realität und den individuellen Sichtweisen dieser Realität Rechnung

getragen werden. Die ungemein reichhaltige wissenschaftliche Aktivität des Westens und die

Vielfalt der Literatur ist auf die Buchstabenschrift zurückzuführen. All dies kann mit einer

logographischen Schrift im Prinzip auch gemacht werden. Aber alles ist viel schwieriger und

kann nur von einer sehr hochstehenen geistigen Elite durchgeführt werden. Ohne

Übertreibung kann man sagen, dass die Buchstabenschrift in hohem Masse zu den

grossartigen und vielfältigen Leistungen Europas in den Bereichen der Kunst (Literatur), von

Wissenschaft und Technik und der Wirtschaft beigetragen hat. Diese Schrift hat damit auch

dazu beigetragen, dass Europa Laboratorium der Weltgeschichte geworden ist (siehe

wiederum Burkert 2003 sowie Mitterauer 2003).

Weiter ist die Buchstabenschrift viel demokratischer. Sie kann mit Leichtigkeit von allen

erlernt werden. Um eine logographische Schrift (z.B. Chinesisch) gut zu beherrschen, braucht

es dagegen jahrelange Arbeit und Übung, die nur von relativ wenigen erbracht werden kann.

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Schliesslich kann man sich noch die Frage stellen, warum gerade die Phönizier die

Buchstabenschrift entdeckt haben, vielleicht besser, geschaffen oder entwickelt haben. Es ist

sehr wahrscheinlich, dass sich phönizische Handelsleute über sehr weite Strecken

Geschäftsbriefe geschrieben haben. Wenn dann der Empfänger einen Brief erhalten hat, der

vielleicht wochenlang unterwegs war, musste er natürlich genau wissen, was gemeint war.

Hieroglyphen hätten nicht ausgereicht, die entsprechende Präzision der Kommunikation zu

gewährleisten, ausser durch vorherige Absprache; aber man hätte nicht sicher nicht alle

Möglichkeiten des Geschäftslebens voraussehen können. Also, nur eine Buchstabenschrift

war präzis genug, um den Anforderungen einer weiträumigen Geschäftstätigkeit zu genügen.

Das zweite grosse Handels- und Kolonialvolk des hohen Altertums waren die Griechen.

Ihre Kolonisationstätigkeit geht vom Schwarzen Meer (Handel mit den Skythen im heutigen

Südwestrussland!) bis nach dem heutigen Südfrankreich (Marseille ist eine griechische

Gründung).

Griechische Seehändler aus Phokäa (Phocée) [Phäaken – Phocéens (auch der

Fussballklub Marseille!)] in Kleinasien (heutige westliche Türkei) kamen im 7. Jahrhundert v.

Chr. an die Südküste Frankreichs, um Handel zu treiben. Die Griechen wollten vor allem

Zinn, das als Bestandteil der Bronze wichtig war (grössere Festigkeit); im Gegenzug lieferten

sie Töpferwaren und Schmuck an die lokalen (ligurischen) Fürsten (ein Beispiel für den

Tausch von Rohstoffen und Handwerksprodukten, später Industrieprodukten!). An der

schroffen und felsigen Küste waren geschützte Landeplätze rar, und so steuerten Griechen

immer wieder den natürlichen Hafen des heutigen Marseille an, wo ihre Schiffe vor Wind und

Wellen geschützt waren. Um 620–600 v. Chr. erhielten die Griechen Land vom dortigen

ligurischen Fürsten und richteten an diesem Hafen einen dauerhaft bewohnte Handelsplatz

ein, den sie Massalia nannten, das heute Marseille heisst.

Süditalien und Sizilien wurden dermassen intensiv kolonisiert, dass beide zusammen

Grossgriechenland genannt wurden (Magna Graecia). Der griechische Philosoph Platon lebte

lange in der sizilianischen Stadt Syracusa (Syrakus).

Um 500 v.Chr. herum war Athen das Handels- und Finanzzentrum des Mittelmeerraumes

(wie später Antwerpen und Amsterdam die Finanzzentren Europas wurden und heute London

und New York für die ganze Welt; vielleicht werden beide bald abgelöst werden durch

Shanghai und Tokyo). Es wurden wichtige ökonomische Institutionen geschaffen: es

entstanden Banken und Versicherungen, vor allem Seeversicherungen; diese basierten auf

dem Solidaritätsprinzip: alle Kaufleute bezahlten bestimmte Geldbeträge in eine gemeinsame

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Kasse (die heutige Prämie); erlitt ein Kaufmann einen Verlust, z.B. durch den Untergang

eines Schiffes, wurde er aus diesem gemeinsamen Fonds entschädigt. Es wurden sogar

Kommanditgesellschaften geschaffen, d.h. Personengesellschaften, in der sich zwei oder mehr

natürliche Personen oder juristische Personen zusammenschliessen, um unter einem

gemeinsamen Namen (Firma) ein Gewerbe zu betreiben; dabei haftet für Verbindlichkeiten

der Gesellschaft mindestens ein Gesellschafter unbeschränkt und mindestens ein weiterer

Gesellschafter nur beschränkt.

Wahrscheinlich die wichtigste wirtschaftliche Institution, die von den Griechen

geschaffen wurde, war die Münzprägung. Die ersten Prägungen von Geld fanden vermutlich

in Kleinasien, der heutigen Westtürkei um 600 v.Chr. statt, dies unter anderen durch die

Könige Midas und Krösus. Beide Namen sind mit Reichtumsstreben in der Form von Geld

und mit gewaltigem Reichtum verbunden.

[Auch gibt es über beide Könige Anekdoten: König Midas soll sich gewünscht haben,

dass alles, was er berühre zu Gold werde und soll dabei verhungert sein. – In

unveröffentlichten Manuskripten von Maynard Keynes, der sich sehr gut in der griechischen

Sagenwelt auskannte, gibt es eine Sage über dem griechischen König Krösus: Als der

persische Grosskönig Xerxes mit seinem Heer gegen Griechenland zog, stellte er fest, dass die

griechischen Könige Kleinasiens gewaltige Geldsummen horteten, währenddem ihre Völker

in grösster Armut lebten. Dies widersprach der mittelöstlichen (persischen, mesopotamischen

und ägyptischen) Doktrin, wonach der Fürst nur wenige Reichtümer horten solle; er solle

seine Reichtümer ausgeben, um Grossprojekte zu verwirklichen (Pyramiden, Tempel,

Monumentalskulpturen); durch diese autonomen Ausgaben und dem damit verbundenen

positiven Effekt auf die Wirtschaft in der Form von kumulativ zunehmender

Konsumgüternachfrage würden neue Arbeitsplätze geschaffen und das Sozialprodukt erhöht.

Angesichts des königlichen Reichtums und der gleichzeitigen Armut des Volkes im

Königreich von Krösus, soll Xerxus in Wut geraten sein, habe Gold schmelzen lassen und

Krösus gezwungen das heisse flüssige Gold zu trinken, bis der Tod eingetreten sei.

In seinem Buch A Treatise on Money – Vom Gelde (1930) ist dann Keynes von dieser

Sage ausgegangen und hat vom realen Sektor, dem Industriesektor, und dem finanziellen

Sektor gesprochen. Im realen Sektor werden neue Güter produziert, das Sozialprodukt; hier

werden neue Werte geschaffen; dem Geld steht immer ein realer Gegenwert gegenüber. Im

finanziellen Sektor dagegen werden keine neuen Werte geschaffen und dem Geld steht kein

realer Gegenwert gegenüber. Hier werden beispielsweise durch spekulative Transaktionen nur

Reichtümer umverteilt; es gibt Gewinner und Verlierer, aber das Ganze ist ein

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Nullsummenspiel. Im Treatise on Money von Keynes steht nun eine berühmte Feststellung:

„Wenn Geld vom realen Sektor in den Finanzsektor abfliesst, dann ist die Krise

vorprogrammiert“ (in einer modernen Wirtschaft kann Geld vom realen in den Finanzsektor

abfliessen, wenn zuviel gespart wird, das Sparen also die Investititionen übersteigt; hohe

Sparvolumen implizieren in der Regel eine ungleiche Einkommensverteilung).]

Das bekannteste und berühmteste griechische Geld war das athenische. In die

athenischen Münzen war als Symbol eine Eule eingeprägt, die berühmte Eule von Athen.

Dieses Symbol verbürgte die Reinheit des Metalls.

Die ersten Prägungen erfolgten vermutlich durch griechische Bankiers. Dann schaltet

sich aber sofort der Staat (Stadtbehörden) ein und errichtete das Münzprägungsmonopol des

Staates. Das Prägen von Münzen verschaffte den griechischen Stadtstaaten Einnahmen: Der

Wert der geprägten Münzen war viel höher, als das eingekaufte Rohmetall (z.B. Gold- und

Silberbarren). Mit diesen Zusatzeinkommen konnte der Staat Güter und Dienstleistungen

bezahlen.

Betreffend das Geld kann man sich abschliessend fragen, warum gerade die Griechen

begonnen haben, Münzen zu prägen und damit Geld mit Stoffwert (Warengeld) herzustellen.

Wieso nicht die ersten Zivilisation, Sumer, Babylon und Ägypten beispielsweise?

In den ersten Zivilisationen gab es neben dem Kreditgeld (Forderungen,

Lieferungsverspechen) auch Warengeld: Getreide, Muscheln; Schmuckstücke, allgemeine

Gebrauchs- und Nutzgegenstände, sogar Haustiere [Warengeld als Naturgeld wurde in

isolierten Regionen bis zum Ende des Agrarzeitalters verwendet, auf bestimmten

Pazifikinseln heute noch]. Aber alle diese Warengeldarten waren für den internen Gebrauch

(innerhalb einer Gesellschaft oder eines Staatsgebietes) bestimmt und konnten im

Aussenhandel nicht verwendet werden. Zudem spielte der Aussenhandel in den alten

Zivilisationen vermutlich eher eine untergeordnete Rolle, weil der Selbstversorgungsgrad

relativ hoch war. Ein hoher Grad an Autarkie wurde auch aus Sicherheitsgründen angestrebt.

In den griechischen Kleinstaaten war das anders. Der Selbstversorgungsgrad war relativ

niedrig. So mussten sich die griechischen Staaten wahrscheinlich in einem ersten Schritt

Güter, die nicht in ausreichendem Masse hergestellt wurden, im Ausland beschaffen. Das

brauchte ein allgemein anerkanntes Warengeld, das bestimmte wünschenswerte Eigenschaften

hatte, vor allem die Teilbarkeit; auch musste das Warengeld volumenmässig klein und leicht

zu transportieren sein. Der Aussenhandel war wahrscheinlich der Hauptgrund warum die

griechischen Kleinstaaten begannen Münzen zu prägen. So gesehen ist es auch kein Zufall,

dass die bekanntesten griechischen Münzen aus Athen kommen. Athen und der griechische

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Seebund beherrschten vor allem im 5. Jahrhundert vor Christus den Handel im östlichen

Mittelmeerraum. Ausgeführt wurden beispielsweise Töpferwaren (Vasen) und Schmuck;

diese Handwerksprodukte wurden unter anderem gegen Rohstoffe (z.B. Metalle wie Eisen

und Zinn) und landwirtschaftliche Produkte eingetauscht.

Viele moderne Autoren haben den Aussenhandel als friedensfördernd bezeichnet

(Montesquieu und alle liberalen Autoren – Klassiker und Neoklassiker). Handel zwischen

Ländern ist aber langfristig nur mehr oder weniger konfliktfrei wenn sich alle Handelspartner

in der Nähe der Vollbeschäftigung befinden und wenn sich kein zu grosses

Handelsbilanzdefizit einstellt.

Wenn aber um Arbeitsplätze gekämpft wird (Absatz von Endprodukten) und wenn es um

die Beschaffung lebensnotwendiger Produkte geht, z.B. von Nahrungsmitteln, dann kann es

im internationalen Handel um Existenzfragen, zumindest um relative Machtpositionen gehen.

Erbitterte Kriege können zustande kommen. Wir haben schon von den Punischen Kriegen

zwischen Rom und Karthago als von Handelskriegen gesprochen. Bei beiden Weltkriegen in

der ersten Hälfte des Zwangigsten Jahrhunderts war das Wirtschaftliche ein entscheidender

Faktor für das Zustandekommen dieser Kriege. Das war auch so beim Peloponnesischen

Krieg, wie aus dem ausgezeichneten 19. Kapitel (Der Peloponnesische Krieg) von Michael

Rostovtzeffs Geschichte der Alten Welt [1941] (Band I, pp. 306 ff.) hervorgeht. Rostovtzeff

argumentiert hier, dass das Wirtschaftliche wichtiger war als das Politische, [gleich wie beim

Zustandekommen des Ersten Weltkrieges]. [Die tieferliegenden Gründe sind, dass in

monetären Produktionswirtschaften keine Tendenz zur Vollbeschäftigung besteht, dass also

Arbeitsplätze erkämpft werden müssen, und dass die Beschaffung lebensnotwendiger Güter

unter allen Umständen sichergestellt werden muss.]

Auszug aus Michael Rostovtzeff: Geschichte der Alten Welt (Band I)

„[p. 306:] 19. Der Peloponnesische Krieg [432-404 v.Chr.]

Das Bestehen des athenischen Reiches [des Seebundes] stellte der griechischen Politik ein

Problem. Wer war stärker, die in diesem Reich vertretenen Kräfte des Zusammenschlusses

oder der entgegengesetzte Drang zur Unabhängigkeit jedes einzelnen Gemeinwesens?

Bemerkenswerterweise unterstützte die athenische Demokratie, während sie sich auf der Bahn

des Imperialismus bewegte, gleichzeitig in allen von Athen abhängigen Staaten die

demokratische Sache. Sie rechnete damit, dass die Demokraten, die meist der industrie- und

handelstreibenden Schicht angehörten, den Handelsimperialismus Athens unterstützen

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würden, selbst wenn die politische Unabhängigkeit der einzelnen Gemeinwesen Schaden litt.

Wie selbstsüchtig auch die Politik Athens sein mochte, so sicherte sie doch den Kaufleuten

die Meere und gab den Verbündeten einen gewissen Anteil an den Vorteilen der

Überlegenheit des athenischen Handels.

‚Selbstbestimmung’ und ‚Gleichgewicht der Kräfte’ – das waren einst die Losungsworte

der meisten griechischen Städte gewesen. Jetzt wurden sie hauptsächlich von den Anhängern

der Aristokratie, den grösseren und kleineren Grundeigentümern, vertreten. [p. 307:] Sparta

[der grosse Gegner Athens] trat in gewissem Ausmass für diese Forderungen ein: es war

bereit, seinen Verbündeten selbst in politischen Angelegenheiten ein grösseres Mass an

Selbstregierung zuzugestehen, als Athen sie gewähren wollte. Es unterstützte daher auf jede

Weise die aristokratischen und oligarchischen Parteien, die in jedem griechischen

Gemeinwesen, auch in Athen, bestanden. Es liess nichts unversucht, damit die konservative

Politik, die zu dem athenischen Imperialismus in scharfem Gegensatz stand und der

spartanischen Verfassung, wenn auch nicht dem spartanischen Militärbunde, günstig war, die

Politik möglichst vieler griechischer Staaten wurde.

[Nun wichtig:] Aber der Unterschied zwischen der spartanischen und der athenischen

Haltung zu diesen Grundfragen erklärt nicht, weswegen es zwischen beiden Mächten

unausweichlich zu einem bewaffneten Zusammenstoss kommen musste – zu einem Streit, der

bis zur äussersten Erschöpfung der Kräfte beider Parteien beider Parteien dauern und mit dem

vollständigen Sieg der Selbständigkeitsbestrebungen enden sollte. [Trotzdem sich Athen 432

v.Chr. in einer viel besseren Ausgangsposition befand, endete der Peloponnesische Krieg 404

v.Chr. mit dem totalen Sieg Spartas.]

Die Erklärung des Zusammenstosses ist daher nicht nur in der grundsätzlich

verschiedenen politischen Anschauung von zwei fast gleich starken griechischen [p. 308:]

Mächten zu suchen, sondern zugleich in einer Abfolge von begleitenden Vorfällen, die zur

bewaffneten Auseindersetzung hindrängten. Die Ausweitung des Handels und der Industrie in

Athen und den verbündeten Staaten, einschliesslich der Inseln und der kleinasiatischen Städte,

spitzte die durch die Kriege von 500 bis 450 nicht gelöste Frage der westlichen Märkte

[Süditalien und Sizilien] weiter zu. Korinth und Megara wollten und konnten es nicht mit dem

steigenden Wettbewerb Athens in Italien und Sizilien aufnehmen. Den Erfolg Athens im

Handel mit dem Westen beweist die eine Tatsache, dass seit 500 die athenische Keramik in

ganz Italien die Erzeugnisse aller anderen griechischen Herstellungsorte verdrängt. Wenn die

Einfuhr aus Athen sich so steigerte, so musste die Ausfuhr aus Italien und Sizilien – Getreide,

Vieh, Metalle – in Kürze ausschliesslich in den Piräus gelangen [es entstanden also typisch

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koloniale Handelsbeziehungen, wie sie viel später nach der Industriellen Revolution in

England 1770-80 zwischen England und Indien und dann zwischen Westeuropa und der

übrigen Welt bestanden: Athen exportierte Handwerksprodukte und importierte

landwirschaftliche Produkte und Rohstoffe]. Dann musste Athen der entscheidende nicht nur

wirtschaftliche, sondern auch politische Einfluss im ganzen Norden und Westen des

Peloponnes zufallen [Sparta befindet sich auf dem Peloponnes]. Denn diese Gebiete konnten

ihre eigene Bevölkerung nicht ernähren und waren ganz von der Nahrungszufuhr aus dem

Westen abhängig; dieser Handel drohte nun von Athen monopolisiert zu werden“

(Rostovtzeff 1941, Band I, pp. 306-08). Die Einfuhr von lebensnotwendige Produkten aus

Süditalien-Sizilien nach Sparta war also durch Athen bedroht; das löste den Peloponnesischen

Krieg aus.

Dieser Krieg zerstörte die politische und militärische Bedeutung der griechischen Welt.

Aber es ist bezeichnend, dass inmitten und im Gefolge dieser Kriegswirren und dem

Untergang des alten Griechenland die europäisch-griechische Achsenzeit mit den Philosophen

Platon und Aristoteles ihren Höhepunkt erreichte. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts vor

Christus (um 330 herum) wird Griechenland vom mazedonischen König Alexander dem

Grossen beherrscht. Dieser unternimmt anschliessend ein Feldzug gegen Osten (Persien) um

die griechische Kultur nach Osten zu tragen. Damit beginnt das Zeitalter des Hellenismus:

Griechenland wird politisch weitgehend bedeutungslos. Aber seine in der Achsenzeit

geschaffene Zivilisation (Philosophie und Wissenschaft) wird im Osten (mittlerer Osten,

Persien, bis weit nach Indien) wirksam, verbreitet sich über das Römische Reich, verbindet

sich mit Christlicher Theologie und wird grundlegend für das Denken im Mittelalter, aus dem

sich Neuzeit und Moderne entwickeln, in der die griechische Philosophie weiterhin eine

grundlegende Referenz bildet.

2.3. Europäische Achsenzeit in Griechenland (800 – 200 vor Christus) Gemäss dem deutschen Philosophen Karl Jaspers (Ursprung und Ziel der Geschichte,

1949/55) fand die Achsenzeit (Zeit der Wende, des Umbruchs) im Zeitraum 800 bis 200 vor

Christus unabhängig voneinander in Europa (Griechenland), Indien und China statt. Wie

bereits angedeutet, fand in der Achsenzeit der Durchbruch von der Welt von Mythos und

Magie, in der alles selbstverständlich war, zu einer Welt des Zweifels, des Infragestellens

statt; dieses Zweifeln und Fragen wurde sicher auch durch die Kriege und Wirren bewirkt, das

in der Achsenzeit in den drei Regionen vorherrschte; auch in Griechenland fanden grosse

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Kriege statt, der Kampf gegen die Perser um 500 herum, dann der bereits erwähnte

Peloponnische Krieg (432-404).

Die Erkenntniskräfte der Intuition und der Phantasie werden zurückgedrängt und

Verstand und Vernunft rückten in der Vordergrund. Das Problem der Wahrheit tauchte auf.

Unterschiedliche philosophische Systeme entstanden. Die Skeptiker verneinten die

Möglichkeit, absolute Wahrheiten finden zu können; die grossen griechischen Philosophen

Platon und Aristoteles behaupteten das Gegenteil. Weiter wurde die Grundlagen für die

sozialen und politischen Wissenschaften gelegt (Platon und Aristoteles); auch die

Naturwissenschaften wurden grundgelegt (griechische Naturphilosophie, Aristoteles).

Die griechische Achsenzeit hat mit Abstand am stärksten die weitere Entwicklung des

menschlichen Geistes geprägt. Die griechische Philsophie verband sich mit Christlicher

Theologie und hat durch das Sytem der Scholastik (Albert der Grosse, Thomas von Aquin)

die Grundlagen für das mittelalterliche Denken gelegt. Die scholastische Methode bestand

darin auf dem Gebiete der Philosophie und Theologie alle Theorien zu hinterfragen; die

Scholastiker suchten nach dem solidesten und plausibelsten philosophisch-theologischen

System. In der Neuzeit wurde nun diese scholastische Methode auf die Natur und die

menschliche Gesellschaft und den Menschen selber angewandt. So entstanden etwa seit 1500

(Beginn der Neuzeit) die modernen Wissenschaften (Naturwissenschaften, soziale und

politische Wissenschaften, Humanwissenschaften, Geisteswissenschaften). Wiederum sieht

man, dass das christliche Mittelalter Grundlage und Ausgangspunkt für die moderne

Entwicklung ist.

Man kann sich nun fragen, wieso gerade in Griechenland die Achsenzeit derart

fruchtbare Ergebnisse hervorgebracht hat. Walter Burkert nennt in seinem ausgezeichneten

kleinen Buch, Die Griechen und der Orient, erschienen 2003, drei Gründe:

Erstens, Griechenland konnte einen materiellen und vor allem geistigen Neuanfang

machen. Um etwa 1200 v.Chr. wurde die mykenisch-kretische Kultur aus unbekannten

Gründen zerstört. Vielleicht handelte es sich um eine Naturkatastrophe, z.B. dass ein

Vulkanausbruch einen Tsunami verursachte, der dann Kreta zerstörte; oder es handelte sich

um eine soziale Katastrophe (ein Sklavenaufstand); eventuell war es auch ein politisch-

militärischer Grund – ein Krieg.

Diese Katastrophe brachte auch das Ende der mythisch-magischen Welt, und das

Denken, das auf Intuition und Phantansie beruhte, wurde zurückgedrängt. Verstand

(analytisches Denken) und Vernunft (ganzheitliches Denken) rückten in den Vordergrund.

Die (erste) Achsenzeit konnte also in Griechenland ohne allzugrossen Ballast der mythisch-

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magischen Vergangenheit beginnen. Das allein könnte aber nicht die glanzvolle denkerische

Leistung der Griechen in der ersten Achsenzeit erklären. Burkert erwähnt einen zweiten

wichtigen Grund.

Dieser zweite Grund ist gegeben durch den Einfluss des Mittleren Ostens (Mesopotamien

und Ägypten) auf Griechenland. Die Griechen nehmen Ideen aus dem mittleren Osten auf

verarbeiten diese kreativ weiter. So führt ein Weg von der mittelöstlichen Weisheitsliteratur

und der Lehre von der Entstehung der Welt (Kosmogonie) zur Philosophie, wie sie im alten

Griechenland allmählich entstanden ist (Burkert 2003, Kapitel III). Von zentraler Bedeutung

für die Art und Weise des griechischen Denkens war natürlich die Lautschrift, die

Buchstabenschrift, die von den Phöniziern konzipiert wurde. Diese erlaubte präzises und

systematisches Denken: Von bestimmten Prämissen ausgehend einen Argumentationsgang

entwickeln und schliesslich Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit Platon und Aristoteles

entstand die Grundlage der Philosophie, die auch heute noch besteht. Aus der Philosophie

heraus, später in Verbindung mit der Theologie, entstanden die modernen Wissenschaften

(Naturwissenschaften, soziale und politische Wissenschaften, Humanwissenschaften,

Geisteswissenschaften). Schliesslich kommt hinzu, dass die grossartige Leistung der Griechen

auf dem Gebiete des systematischen Denkens auch auf der Kleinräumigkeit des Landes und

seiner Strukturierung durch Gebirge beruht. So entstanden unabhängig voneinander zum Teil

widersprüchliche philosophische und naturwissenschaftliche Theorien und die moderne

Mathematik und Geometrie wurden begründet. Diese Vielfalt des oft widersprüchlichen

Denkens führte zu Diskussionen, die wiederum Fortschritte im systematischen

philosophischen und wissenschaftlichen Denken bewirkten.

Burkert nennt noch einen dritten Punkt. Griechenland war gerade nahe genug beim

Mittleren Osten, um von dessen Ideen zu profitieren und gleichzeitig weit genug weg, um

nicht von der militärischen Macht der mittelöstlichen Mächte (z.B. Assyrien) zerstört zu

werden.

So haben verschiedenste einmalige Faktoren zusammengewirkt, damit im alten

Griechenland in der (ersten) Achsenzeit die geistigen und intellektuellen Grundlagen für den

europäischen Sonderweg geschaffen werden konnten, die dann im Verlaufe der (zweiten)

Achsenzeit (800-2000) nach langer Vorbereitung (800-1750) den Durchbruch von der

Tradition zur Moderne herbeiführten (1750-1830). In diesem Zeitraum fanden die Englische

Industrielle Revolution und die Französische Politische Revolution statt, deren Effekte sich in

etwa ab 1830 bis heute über die ganze Erde verbreiteten.

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Im Zuge der Achsenzeit bildete sich das erste Grossreich der Weltgeschichte heraus,

nämlich das persische Reich. Nach der Achsenzeit wurde das Römische Kaiserreich

gegründet. Beide, Persien und Rom, sind völlig unterschiedlich und es ist aufschlussreich

diesen Unterschieden ein wenig nachzugehen. In der Vorlesung über das Mittelalter werden

wir dann nur gerade andeuten, dass aber gewissen Ähnlichkeiten zwischen dem altpersischen

(550-330) und dem karolingischen Reich (800-43) bestehen.

3. Das Altpersische Grossreich (550 bis 330)

Das altpersische Grossreich, das sich von Griechenland bis nach Indien erstreckte, wurde um

550 v.Chr. von Kyros I (der Grosse) gegründet, von Dareios (Darius) I (521-485) ausgebaut

und vom mazedonischen König Alexander dem Grossen 330 zerstört. Das Persische Reich

war das erste Reich der Weltgeschichte. Es ist bezeichnend, dass dieses Reich auf ethischer,

wir würden heute sagen, auf sozialethischer Grundlage beruhte. Den Gründern des Reiches

ging es darum, einen guten Staat zu schaffen, mit Institutionen, die es den einzelnen Völkern

des Riesenreiches erlaubte, ihren eigenen Lebensstil zu praktizieren, vor allem auf religiösem

Gebiet; Individuen und Völker sollten auf gesellschaftlicher Grundlage prosperieren können.

So hat z.B. Kyros der Grosse im Jahre 539 v.Chr. das Volk Israel aus der Babylonischen

Gefangenschaft befreit und heimziehen lassen. Darius I hat das Reich in 20

Verwaltungsbezirke unterteilt, die von Satrapen regiert wurden. Die Satrapen waren also eine

Art von königlichen Statthaltern, die zum Wohle des Volkes regieren sollten. Ihr Amt war

nicht erblich, was impliziert, dass der König sie jederzeit abberufen konnte. Die

Regierungsarbeit der Satrapen wurde regelmässig von königlichen Inspektoren kontrolliert.

Das Leben der Menschen im persischen Reich und die politische Organisation sind

einem hervorragenden Buch von Heidemarie Koch festgehalten: Es kündet Dareios der König

– Vom Leben im Persischen Grossreich (Mainz 1992). Das Kapitel III dieses Buches

behandelt die [sehr gut ausgebaute] Verwaltung des Reiches, die auch im wirtschaftlichen

Bereich Vorschriften aufstellte, z.B. betreffend Lohnverhältnisse (Lohnstrukturen) und

Steuern. Das Kapitel IV ist über „Monumentale Anlagen und Bauten“. Wie wir in der

Einleitung im Zusammenhang mit den Pyramiden angedeutet haben diese grossen Bauwerke

neben der religiösen, politischen und künstlerischen Dimension auch eine wirtschaftliche

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Dimension. Sie stellen autonome Ausgaben (Staatausgaben) die kumulative multiplikative

Effekte auf die Nachfrage und Produktion von Konsum- und Investitionsgütern ausüben

(Investitionsgüter waren etwa Werkzeuge, Handwerksstätten und königliche oder regionale

Manufakturen). Dies deutet an, dass der interne Beschäftigungs- und

Entwicklungsmechanismus in Gang gesetzt wurde, um die Güterversorgung und einen

bestimmten materiellen Wohlstand der Bevölkerung sicherzustellen. Darius I hat im 520

herum die ersten Gold- und Silbermünzen prägen lassen, um das Wirtschaftsleben, vor allem

den Güteraustausch zu erleichtern. (Man kann vermuten, dass die Idee, Münzen zu prägen

von den Griechen übernommen wurde, deren kleinasiatische Königreiche von den Persern

erobert worden waren.) Jedoch haben aber die persischen Herrscher Geld nicht gehortet,

sondern dieses auszugeben, eben um monumentale Anlagen und Bauten zu realieren und so

auch die Wirtschaft zu stimulieren.

Erstaunlich ist auch die soziale und wirtschaftliche Stellung der Frauen im Perserreich

(Heidemarie Koch 1992, Kapitel VI). „[Die Betrachtung der Lohnverhältnisse zeigt,] dass

Männer und Frauen nebeneinander arbeiteten und offenbar völlig gleichgestellt waren. Dieses

hatte [allerdings] zur Folge, dass die Frauen teilweise auch schwere Arbeiten auszuführen

hatten. So werden grosse Gruppen von Landarbeiterinnen genannt. Arbeiterkolonnen von

„Steinschleifern“ bestehen immer zum überwiegenden Teil aus Frauen. Wir können allerdings

nicht genau sagen, was diese Frauen wirklich zu tun hatten. Es mag sein, dass sie für die letzte

Politur der Oberfläche bei fertiggestellten Reliefs und dergleichen zu sorgen hatten. Dafür

waren vielleicht behutsame Frauenhände besser geeignet als Männerhände“(p. 233).

„Am häufigsten waren die Frauen, die auf den Täfelchen aus Persepolis genannt werden,

als Schneiderinnen beschäftigt. Dort begegnen sie mit vielfältigen Aufgaben, die von der

Herstellung ganz einfacher Gewänder bis hin zu der von Prunkgewändern reichte, die

vermutlich nicht nur genäht, sondern auch kunstvoll bestickt wurden.

Die Frauen hatten offenbar die dieselben Möglichkeiten, in besonderen Fertigkeiten

ausgebildet zu werden, wie die Männer, und sie erhielten die gleiche Bezahlung. Dafür haben

wir Beispiele insbesondere bei den Kunst- und Feinhandwerkern [...]. Für die Höhe der

Löhne war lediglich die ausgeübte Tätigkeit entscheidend. Wir haben es also im persischen

Grossreich unter König Dareios mit einer Gleichberechtigung zu tun, um die im Europa des

20. Jahrhunderts noch immer gekämpft wird!“(pp. 233-34). Das ist ein weiterer Beleg dafür,

dass die Idee des absoluten Fortschrittes unhaltbar ist.

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Zum Thema Frau und Familie sagt Heidemarie Koch: „Gleichzeitig trug man aber auch

der Tatsache Rechnung, dass Frauen neben ihrem Beruf noch andere Tätigkeiten im Rahmen

ihrer Familie auszuführen hatten. So wurden sie [...] bei der Geburt eines Kindes zeitweilig

von ihren Dienstpflichten befreit. Während dieser Zeit erhielten sie einen Mindestlohn, mit

dem sie den Lebensunterhalt bestreiten konnten und zusätzlich „Wunschkost“ in Form von

Getreide und Wein, gleichsam als Belohnung dafür, dass sie dem König einen neuen Untertan

geschenkt hatten. In diesem Zusammenhang treffen wir indessen auf einen Unterschied: Über

Jungen freute sich der König offenbar noch mehr als über Mädchen. Denn es wird die

doppelte Menge an „Wunschkost“ für einen Jungen gezahlt, 20 Liter Getreide und 10 Liter

Wein oder Bier. Soweit wir bisher sehen, ist dieses aber der einzige Unterschied in der

Behandlung der Geschlechter, den wir mit Hilfe der Verwaltungstäfelchen fassen können“(p.

234). (Aber auch das ist verständlich: Knaben konnten später Krieger (Soldaten) werden, die

gebraucht wurden, um das Reich zu erhalten, zu verteidigen, oder um es auszuweiten, also

neue Eroberungen zu machen, wenn sich die Möglichkeit dafür bot. Und das altpersische, wie

später auch das römische Reich, hatte verlustreiche Kriege durchzustehen, so dass ein

permanenter Mangel an Männern bestand.)

„Der „Mutterschaftsurlaub dauerte anscheinend fünf Monate lang. Ansschliessend hatten

die Frauen die Möglichkeit, eine kürzere Zeit am Tage zu arbeiten, damit sie auch ihren

hausfraulichen Pflichten nachkommen konnten. Eine kürzere Dienstzeit drückte sich dann

allerdings in der Bezahlung aus. Während der Arbeitszeit wurden die kleinen Kinder von

„Ammen“ versorgt [vielleicht meistens Familienmitglieder, z.B. Grossmütter]“(p. 234).

Frauenkarrieren:

„Wie wir anhand der Täfelchen aus Persepolis sehen können, konnten Frauen auch in

höhere Positionen aufsteigen. So sind beispielsweise die Vorgesetzten in den

grossköniglichen Manufakturen immer Frauen. Sind dort, zumal in den Schneiderwerkstätten,

auch überwiegend Frauen beschäftigt, so haben sie doch auch eine ganze Reihe Männer unter

sich. Und die leitenden Damen verdienen höhere Rationen als alle aufgeführten Männer“(p.

234).

Frauen, Familie und Arbeit:

„Auf der anderen Seite gibt es aber auf den Täfelchen auch eine Reihe von Berufen, in

denen keine einzige Frau begegnet. So finden wir sie nicht in den leitenden Stellen der

Intendaturen [Intendant = Verwalter] der einzelnen Verwaltungsbezirke oder bei den

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Rechnungsführern- und prüfern. Man gewinnt den Eindruck, dass die Frauen nicht mit

Tätigkeiten betraut wurden, bei denen es nötig war, in einem kleineren oder grösseren Gebiet

herumzureisen, um die Kontrolle über verschiedene Verwaltungsinstanzen behalten zu

können. Frauen wurden offenbar immer nur an einem festen Dienstort eingesetzt. Hier spielt

anscheinend die Überzeugung eine Rolle, dass die Frauen bei ihrer Familie sein müssen. Der

Familie und den Aufgaben der Frau in ihr wurde ja überhaupt von der Verwaltung grosse

Beachtung geschenkt [...]“(p. 235).

Frauen der Königsfamilie:

„Eine andere Stellung nehmen dagegen die Frauen der königlichen Familie ein. Auch sie

waren aber nicht hinter Haremswänden verborgen, wie uns Plutarch [griechischer

Schriftsteller, um 46-125 n.Chr.] versichert, sondern hatten im Gegenteil ein grosses Mass an

Freiheit. Sie hatten nicht nur beträchtlichen Landbesitz, sondern ihnen waren auch ganze

Manufakturen mit all ihren Arbeitern unterstellt. Von diesen Einrichtungen gingen ihnen

natürlich grosse Mengen an Einnahmen zu“(p. 235).

Allgemeine soziale und wirtschaftliche Position der persischen Frauen:

„Neben den Frauen, die in öffentlichen Diensten standen und [...] und den königlichen

Damen gab es noch Tausende weiterer Frauen, die gar nicht oder nur in Ausnahmefällen von

der Verwaltung erfasst wurden. Es waren dieses die Frauen der Handwerker und Bauern, aber

auch selbständige Grundbesitzerinnen. [Aus bestimmten Gebieten des altpersischen]

Grossreichs, z.B. aus Babylonien oder aus Ägypten, haben sich Rechtsurkunden erhalten, die

zeigen, dass die Frauen dort durchaus als freie Rechtspersonen angesehen wurden. Sie

konnten Prozesse führen, sich scheiden lassen, ohne dabei ihr ganzes Eigentum zu verlieren,

oder auch frei über ihren Grundbesitz verfügen. [Diese günstige soziale und wirtschaftliche

Stellung der Frau in Mesopatamien und Ägypten ist durch] Urkunden belegt und unter den

Historikern anerkannt. [Es wurde die Ansicht vertreten, die Perser hätten in diesen Gebieten

des Reiches bestehende Traditionen erhalten wollen, dass aber im persischen Kernland die

Frauen viel schlechter gestellt gewesen seien.] Eine genaue Untersuchung der

Verwaltungstäfelchen aus Persepolis hat nun zeigen können, dass gerade die persischen

Frauen unter der Herrschaft Dareios d. Gr. eine Stellung innehatten, wie sie für antike Völker

einmalig ist“(p. 241).

Dieser ganze Abschnitt über die Frauen im persischen Reich zeigt, dass das Konzept des

absoluten Fortschritt unhaltbar ist. Die alten Zivilisationen haben auf bestimmten Gebieten

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Leistungen vollbracht, die über denjenigen der modernen Zivilisation stehen. So die alten

Perser in den Bereichen Sozialethik und Politik. Dabei haben die persischen Herrscher bereits

bereits klar gesehen, dass Gesellschaft und Staat viel mehr sind als die Summe der

Individuen, weil durch das Ausüben von verschiedenen Funktionen (in den Bereichen der

Wirtschaft, der Politik und Verwaltung, Philosophie und Wissenschaft sowie Kunst)

gemeinsame Ziele erreicht werden können, die isolierte Einzelne nicht erreichen könnten.

Diese Einsicht der persischen Elite in die soziale Natur des Menschen sowie ihre

sozialethische Grundhaltung kommt aus den Schlussbetrachtung von Heidemarie Koch sehr

klar zum Ausdruck:

„Fürsorge für den Einzelnen und Schwachen und absolute Gerechtigkeit für alle,

das waren die Grundprinzipien des Königs [Dareios]. Jeder, auch der Schwächste konnte und

sollte an dem gemeinsamen Werk mitwirken [d.h. die gute Gesellschaft und den guten Staat

schaffen]. Jeder sollte mit seinen Fertigkeiten hervortreten und sie einsetzen. Das

Zusammenwirken aller Bewohner des Weltreichs [sozusagen um das Gemeinwohl zu

bewirken, wie die christliche Soziallehre heute sagt] wurde auch immer bildlich Ausdruck

verliehen“(p. 298).

Die sozialethischen Prinzipien wurden politisch umgesetzt durch ein hervorragendes

Verwaltungssystem, das zum Teil von älteren Zivilisationen (z.B. Babylon) übernommenen

wurde und dann verbessert wurde. Dieses Verwaltungssystem war die Voraussetzung für das

Bestehen des persischen Riesenreiches überhaupt. Nicht nur dem persischen Reich „hat diese

Verwaltung unschätzbare Dienste geleistet, sondern sie wurde auch noch von den Arabern

übernommen [aber sicher auch vom oströmischen Reich (Byzanz)]“(p. 299). Über Byzanz

und die Araber kam dann das altpersische Verwaltungsystem auch nach Westeuropa.

Vielleicht hat es die Organisation des karolingischen Reiches beeinflusst. Das wäre ein

faszinierendes Forschungsthema. Jedenfalls bestehen Ähnlichkeiten zwischen dem

altpersischen und karolingischen Reich; vor allem standen beide auf sozialethischer

Grundlage.

Recht:

„Wie bei der Verwaltung, so übernahmen die Perser auch die Gesetze der einzelnen

Länder, die zu dem Grossreich gehörten. Sie wurden neu bearbeitet und dann als Gesetze des

Königs den Ländern zurückgegeben. Dabei aber nahm man immer Rücksicht auf die

Eigenheiten der einzelnen Länder und ihre traditionelle Rechtsprechung und berücksichtigte

diese in der Gesetzgebung. [...]

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Die tolerante Haltung des Königs gegenüber den ihm untergebenen Völkern wird ganz

besonders im Hinblick auf die verschiedenen Religionen deutlich. Obwohl der König selbst

fest in seinen Glauben verankert war [Gott als Repräsentant Weisheit, Vernunft,

Wahrhaftigkeit, des Lichtes, der Erleuchtung und eines geordneten Lebens] und aus diesem

Glauben auch seine unerschütterlichen Prinzipien entwickelte, so liess er doch die Bewohner

des Reiches ihre althergebrachten Götter verehren. So wurden zum Beispiel die Juden [nach

der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft 537 v.Chr.] bei ihrem Tempelbau in

Jerusalem unterstützt. Die angestammten Rechte der griechischen Götter wurden geschützt,

und vor allem dem Orakelgott Apollon brachte der König Ehrenbietung entgegen’’(p. 299).

Altpersien und Rom

Der Charakter des römischen Reiches zu dem wir nun kommen, ist dem altpersischen

Reiches diametral entgegengesetzt. War Altpersien sozial und human, so war Rom mit fast

kalter individueller Rationalitat organisiert. Die perfekte Organisation des römischen Reiches

sollte seinen Bürgern so viel Reichtum wie nur möglich bringen, dies vor allem durch

Eroberungen und Ausbeutung der Provinzen. Alterpersien war wirklich ein Staat, dessen

oberstes Ziel das Gemeinwohl war. «Rom war kein Staat», hat der Kirchenvater Augustinus

gesagt; Rom war eine Ausbeutungsmaschine; der deutsche Philosoph Hegel spricht von einem

Räuberstaat. Gleichzeitig haben die Römische Republik und das Römische Kaiserreich

grossartige Leistungen vollbracht: Experimente mit allen Regierungsformen (siehe Christ

1984); Rom hat auch die Grundlagen für die moderne materielle Zivilisation geschaffen

(Städte mit umfassender Wasserversorgung und mit ausgezeichneten Strassenverbindungen–

Viadukte; fast moderne Wohnhäuser; Monumentalskulputuren und gigantische Bauten, wie

z.B. Arenen (Colosseum in Rom !); Theater; das römische Recht; Institutionen wie Polizei,

Feuerwehr und Post; hervorragende Heeresorganisation.)

4. Wirtschaft und Gesellschaft in Rom

Eine grosse Wirkung der Achsenzeit war der Durchbruch der Rationalität des Individuums.

Auf wirtschaftlicher Ebene kommt die Chremastistik von Aristoteles voll zum Durchbruch.

Ziel ist nun nicht mehr die Güterversorgung der staatlichen Gemeinschaft, sondern der

Reichtum der römischen Bürger. Aus Geld soll mehr Geld gemacht werden. Im Handel gilt

(G – W – G’), in der Produktion (G-W ... P ... W’-G’). Das zeigt sich sehr deutlich am

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Zusammenhang zwischen sozialer und politischer Struktur und dem Wirtschaftsleben

einerseits sowie dem römischen Recht anderseits (4.2). Im Abschnitt (4.3) behandeln wir dann

ein grosses geschichtliches, auch bedeutendes wirtschaftsgeschichtliches Thema, nämlich den

Aufstieg und den Fall des Römischen Kaiserreiches. Doch vorerst ein ganz kurzer Abriss der

römischen Geschichte (4.1).

4.1. Königreich, Republik und Kaiserreich Rom wurde 753 v.Chr. gegründet (Sage der beiden Brüder Romulus, dem Gründer Roms, und

Remus, die als Knaben beide von einer Wölfin ernährt wurden). Die Sage geht weiter mit

sechs weiteren Königen nach Romulus; der letzte wurde davongejagt und dann die Republik

gegründet (510 v.Chr.). Die Staatsleitung wurde zwei Konsuln übertragen. Ihre Vollmachten

waren aber zeitlich limitiert. Zudem standen die Konsuln unter engster Kontrolle der Reichen

des Landes, den Optimaten. Später sind dann auch römische Büger aus den unteren

Bevölkerungschichten Konsuln geworden, die Popularen oder Volkskonsule. Als diese den

Latifundienbesitz (Grossgrundbesitz) bekämpfen wollten, kam es zu einem Bürgerkrieg (132-

121). Bei diesem Bürgerkrieg ging es also um Verteilungsprobleme, vor allem um die

Verteilung von Land. [Man sieht hier schon sehr deutlich: Das Verteilungsproblem ist nicht

ein Marktproblem, wie in der heutigen ökonomischen Theorie postuliert wird, sondern ein

Machtproblem!]

Römisches Recht

Das Jahr 451 v.Chr. gilt als das Gründungsjahr des römischen Rechts: Die

Zwölftafelgesetze mit Familien-, Erb- und Schuldrecht. Zu dieser Zeit war das römische Recht

noch auf eine Agrargesellschaft zugeschnitten. Das entspricht dem Charakter der

ursprünglichen Römer, die ein Kleinbauernvolk sind, das sehr stark mit dem angestammten

Boden verbunden ist. Ursprünglich spielt der Handel eine untergeordnete Rolle; der Handel

wurde deshalb Ausländern und Sklaven überlassen.

Die zunehmende Expansion Roms und der Kontakt mit anderen Völkern führte zu einer

Zunahme der Handelstätigkeit und zu einer Modifikation des Rechts. Bei der Entwicklung des

Rechtssystems waren vor allem griechische Einflüsse entscheidend. Unbeschränkte Handels-

und Gewerbefreiheit sowie Zinsnehmen wurden schliesslich fundamentale Grundlagen des

römischen Privatrechts. Im besonderen sieht das römische Privatrecht eine strikte Einhaltung

von Verträgen vor (pacta sunt servanda). Die Nichteinhaltung von Verträgen wird streng

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bestraft. Auch wird das Eigentum (Privateigentum) vorbehaltlos respektiert. Die Römer haben

das Privateigentum als absolute Verfügungsgewalt über eine Sache definiert, ohne soziale

Einschränkungen. So konnte ein Hauseigentümer ein Haus, das er nicht mehr braucht, einfach

verbrennen. – Die scharfe und genaue Formulierung des römischen Rechts ermöglicht, dass

Konflikte rasch geregelt werden können. Die sehr grosse Rechtssicherheit, die mit dem

römischen Recht verbunden war, bildete die Grundlage für die sich ständig ausweitene

Handelstätigkeit der römischen Republik und dann des römischen Imperiums.

Römische Expansion

Im Jahre 270 v.Chr. sicherte sich Rom die Herrschaft über ganz Italien. Etwa zu diesem

Zeitpunkt spitzte sich der Konflikt zwischen Rom und Karthago um die wirtschaftliche und

politische Vorherrschaft im Mittelmeerraum zu.

Die Expansion Karthagos führte also zu einem Zusammenstoss mit Rom, der anderen

aufstrebenden Stadt im Mittelmeerraum. Es kam zu Handelskriegen um die Vorherrschaft

im Mittelmeerraum (Punische Kriege), die mit der Eroberung und Zerstörung Karthagos

durch Rom endeten.

Im 1. Punischen Krieg (264-241 v.Chr.) eroberten die Römer Sizilien.

Im Zuge des 2. Punischen Krieges (218-201) zog der karthagische Feldherr Hannibal von

Spanien ausgehend mit Elephanten über die Alpen nach Italien; im Jahre 216 schlug Hannibal

die Römer vernichtend bei Cannae (südöstlich von Rom, an der italienischen Adriaküste); es

war eine Einkreisungsschlacht, in der die Römer 60'000 (von 70'000 !) Soldaten verloren, die

Karthager 10'000 (von 50'000). Rom wurde bedroht, aber nicht eingenommen (wegen

Nachschubproblemen wagte es Hannibal nicht, Rom zu belagern). Schliesslich behielten die

Römer nach der Schlacht von Zama (202), im heutigen Tunesien die Oberhand (der römische

Feldherr Scipio Africanus siegte gegen den Karthager Hannibal).

Im 3. Punischen Krieg (149-146) wurde Karthago belagert und zerstört. Damit wurde

Rom die dominierende Handelsmacht im Mittelmeer. Dieses wurde sozusagen ein römisches

Meer (mare nostrum). Wirtschaftsgeschichtlich sind die Punischen Kriege von grosser

Bedeutung, weil es Wirtschaftskriege waren, bei denen es um die Handelsvorherrschaft im

Mittelmeer ging.

[Dies deutet an, dass der internationale Handel nicht immer friedensfördernd ist, wie die

modernen liberalen Ökonomen vom 18. Jh bis zum 20. Jahrhundert immer wieder behaupten.

Im Gegenteil, die Merkantilisten (1500 – 1750) und Maynard Keynes, der die Merkantilisten

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als seine Vorläufer betrachtete, sahen den Aussenhandel als Konflikt- und sogar

Kriegsursache. Wir haben bereits gesehen: der schreckliche Peloponnesische Krieg, aber auch

der der Erste und der Zweite Weltkrieg waren grundlegend auch Wirtschaftskriege.]

Es ist bezeichnend, dass die Römische Republik in einem fürchterlichen Bürgerkrieg

endete. Die Grossen des Reiches kämpften um wirtschaftliche und politische Macht (siehe

dazu das ausgzeichnete Buch des grossen Altertumshistorikers Karl Christ: Krise und

Untergang der römischen Republik, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchanstalt) 1979).

Schliesslich kam durch Caesar die Einsicht, dass der innere Friede nur gesichert werden

könne, wenn eine starke Staatsgewalt über den Partikularinteressen stehe. Caesar wurde von

Anhängern der Republik ermordet (44 v.Chr.). Sein Nachfolger Augustus wurde dann

konsequenterweise der erste römische Kaiser (27 v.Chr. bis 14 n.Chr.). Damit war das

römische Imperium geschaffen, das im Westen bis 476 n.Chr. dauern sollte.

Römisches Sendungsbewusstsein:

Ähnlich wie Europa (das Britische Imperium, Frankreich, Deutschland) nach der Grossen

Transformation 1750-1830 bis zum ersten Weltkrieg, Russland unter den Zaren und als

Sowjetunion und die Vereinigten Staaten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, so hatte

auch Rom ein zivilisatorisches Sendungsbewusstsein, das sich in einer römischen

Weltherrschaft ausdrücken sollte. Karl Christ schreibt dazu: „[Der Altertumshistoriker] Josef

Vogt hat einst den Nachweis geführt, dass die Vorstellung, die römische Herrschaft umfasse

die gesamte Oikoumene, die gesamte bewohnte und bekannte Welt, auf griechische

Konzeptionen des 2. Jahrhunderts v.Chr. zurückgeht, und er hat belegt, dass die Vorstellung

einer römischen Weltherrschaft, so wie sie vor allem Cicero vielfältig artikulierte, durchaus

dem römischen Selbstverständnis der späten Republik entsprach. Wie immer die römische

Herrschaft legitimiert wurde, ob als Gabe der Götter für die peinlich genaue Respektierung

ihres Willens, als Lohn überlegener römischer Moral [...] und der Römertugenden, oder als

Folge der ausgewogenen Verfassung der römischen Republik, die Überzeugung der

Rechtmässigkeit dieser Herrschaft war tief gegründet und allgemein verbreitet. Die römische

Vorstellung des gerechten Krieges, das heisst eines Krieges, der in rechtmässiger Form erklärt

worden war, eines Krieges, der entweder der eigenen Verteidigung, der Wahrung eigener

Rechte, der eigenen Ehre oder der Unterstützung von Verbündeten dienen sollte, trug

wesentlich dazu bei, dass keine Zweifel and der Legimität der Ausdehnung der römischen

Herrschaft aufkamen. Es war kein Zynismus, wenn Cicero konstatierte: „Unser Volk hat sich

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schon durch die Verteidigungskriege für seine Verbündeten die ganze Welt angeeignet [...]“

(Christ 1984, p. 66).

4.2. Römisches Recht und soziale und politische Struktur

4.2.1 Römisches Recht und Staatsform (Dominanz des Privatrechts) Das Römische Recht ist von grösster Bedeutung für das moderne Wirtschaftsleben. Die

Römer haben das Privatrecht sozusagen entdeckt und es in scharfen Gegensatz zum

Staatsrecht (öffentlichen Recht) gestellt. "Staatsrecht und Privatrecht sind in Rom selbständig

nebeneinander stehende Sphären mit eigenem Befugniskreis. Diese Unterscheidung wurde für

das Volkswirtschaftsleben von grösster Erheblichkeit. Sie begründete eine unabhängige

individuelle Handelungs- und Eigentumsphäre, welche sich zum Staate gegebenen Falls auch

in Gegensatz stellen konnte. [Die 'Politik' zerfiel hinfort in zwei Hälften], in die Lehre vom

öffentlichen Recht und in diejenige des privaten Rechts [...] Eine Unentschiedenheit blieb in

der späteren Zeit höchstens darüber bestehen, welcher Abteilung der Vortritt gebühre"

(August Oncken, Geschichte der Nationalökonomie, Leipzig (Hirschfeld) 1902, p.58/59).

"Diese Rechtsauffassung ergänzt den universalistischen Grundgedanken. Der Staat

ordnet durch das Staatsrecht ein möglichst umfangreiches Staatsgebiet, im Idealfall das

Universalreich. Dieses[, das Staatsrecht,] besteht vor allem in der Gewährleistung von innerer

und äusserer Sicherheit. Das Staatsgebiet bildet für die (wirtschaftlich starken) Individuen den

Freiraum für ihre Entfaltung; das gegenseitige Verhalten der einzelnen wird teilweise geregelt

durch das Privatrecht" (Bortis, EWR und EG – Irrwege in der Gestaltung Europas, Freiburg

i.Ü. (Universitätsverlag) 1992, p. 60).

Im wirtschaftlichen Bereich stützte sich das römische Recht (Privatrecht) auf zwei

Pfeiler, das Eigentumsrecht und das Vertragsrecht. Die Eigentumsform war das

Privateigentum, definiert als absolute Verfügungsgewalt über eine Sache, ohne soziale

Dimension (z. B. kann ein Hauseigentümer sein Haus verbrennen, statt es Obdachlosen zu

überlassen). Das Vertragsrecht regelte Verhältnisse zwischen Individuen und stand unter der

Devise ‚Pacta sunt servanda’. Verträge mussten eingehalten werden, sonst erfolgten strenge

rechtliche Sanktionen.

Im Rahmen des Staatsrechts wurde etwa die soziale Grundstruktur der römischen

Gesellschaft festgelegt, auch die Verteidigung des Reiches (Militärorganisation, Strassen), das

Verhältnis Roms mit den Provinzen, die Verwaltung der Provinzen, die Staatsausgaben- und

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einnahmen (Steuern). Besonders in Steuerfragen konnten damals wie heute Spannungen

zwischen dem Staat und den Staatsbürgern auftreten.

4.2.2. Charakteristika und Implikationen des römischen Rechts Es bestand also in Rom, sowohl in der Republik wie im Kaiserreich, eine scharfe Trennung

zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht.

Die Trennung der Lebenssphären geht jedoch noch weiter: "Das römische Civilrecht

sucht alles rein Ethische einerseits und alles rein Ökonomische anderseits aus dem Recht als

solchen hinauszuschieben, so dass der Ordnungsbegriff in seiner formalen Reinheit übrig

bleibt. Nicht als ob man diese beiden Faktoren in ihrer Bedeutung für das Volksleben hätte

leugnen wollen, allein es handle sich bei ihnen um selbständige Sphären, die nicht zum Recht

im eigentlichen Sinne gehörten" (Oncken, 1902, p.58). Die römische Betrachtungsweise ist

also partiell und individualistisch.

Hier tritt der Gegensatz zur griechischen Sicht von Recht und Wirtschaft besonders krass

zutage. In der letzteren dominiert die Ethik sowohl die Politik wie auch die Wirtschaft. Die

grieschische Betrachtungsweise ist ganzheitlich und die einzelnen Bereiche wie Recht und

Wirtschaft üben gesellschaftliche Funktionen aus.

Das römische Recht regelt also die Verhältnisse zwischen den Einzelnen, die nicht durch

die ausgleichende Gerechtigkeit, sondern durch Kräfteverhältnisse geregelt werden. Bei der

griechischen Gerechtigkeit geht es in erster Linie um die Verhältnisse zwischen Einzelnen

(und Klassen) und der Gesellschaft (Verhältnisse von Teilen zum Ganzen); erst wenn die

Probleme der verteilenden Gerechtigkeit geregelt sind, können die Verhältnisse zwischen

Individuen bestimmt werden (ausgleichende Gerechtigkeit).

Eigentum: Im römischen Recht gibt es nur Privateigentum, im Gegensatz zu der später

auftretenden germanischen Rechtsauffassung, ergänzt durch christliche Ethik, in der das

Gemeineigentum dominiert, an dem für Individuen Nutzungsrechte bestehen (vor allem im

Frühmittelalter – Karolingisches Reich).

Das römische Privatrecht kann angesehen werden als das Recht des "bürgerlichen

[dritten] Standes" (Oncken), wie er vorwiegend zur Zeit des römischen Kaiserreiches

bestanden hatte: "Der absoluten Gewalt des Imperators [im Staat] ging eine ebenso absolute

Gewalt des Hausvaters [des Bürgers] in seiner Familiensphäre zur Seite"(Oncken, p.59).

Das römische Privatrecht war Ausdruck eines ganz bestimmten Verhältnisses zwischen

Personen und Sachen, nämlich dem Eigentumsverhältnis. "Keine andere Nation hat den

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Begriff des Privateigentums ... so absolut gefasst wie die römische. Derselbe gipfelt in dem

Rechte des Gebrauchs und Missbrauchs einer Sache ..." (Oncken, p.59).

Der Begriff des Privateigentums stellt einen Pfeiler des römischen Privatrechts dar, ein

zweiter ist das Vertragsrecht, das rechtliche Beziehungen zwischen Individuen regelt, mit

strengen Sanktionen bei Nichteinhalten eines Vertrages.

Nun wird auch verständlich, warum die Römer das Phänomen des Zinses akzeptierten,

im Gegensatz zu den griechischen Philosophen und den mittelalterlichen Theologen. Jede

Sache, ob Boden oder bewegliches Kapital, kann durch produktiven Einsatz einen Ertrag

abwerfen. Geld ist nicht nur Wertmesser, sondern steht auch stellvertretend für den Wert von

Sachen (Realkapitalgütern). Jemand, der Geld ausleiht, hat demnach ein Recht auf einen Teil

des Ertrages, den mit diesem Geld finanzierte Sachgüter erbringen. Dies ist nichts anderes als

der Zins.

Es wird nun begreiflich, warum das römische Privatrecht und der in ihm implizierte

Begriff des Privateigentums im Anschluss an das Mittelalter ständig an Bedeutung gewonnen

hat. Dies ging einher mit dem sozialen Aufstieg jenes Standes, dem dieses Recht entsprach,

nämlich dem Bürgerstande. Mit seinem Aufstieg fiel auch das mittelalterliche Zinsverbot.

Die soeben skizzierte Entwicklung zeigt, dass es sich bei den Wirtschaftswissenschaften

essentiell um eine Sozialwissenschaft handelt. Grundkategorien, die unser heutiges

Wirtschaftsleben beherrschen und in die Prämissen ökonomischer Theorien eingehen, wie

etwa Privateigentum und Zins, sind eines gewissen Wandels fähig, der mit sozialen

Veränderungen einhergeht. Heute können z.B. Umweltschutz- und Sozialgesetze die

Verfügbarkeit von Privateigentum einschränken.

4.2.3. Recht, Wirtschaft und Sozialstruktur Die soziale und politische Grundstrukur, die Staatsform des römischen Reiches war die

Timokratie. In einer Timokratie sind die Staatsbürgerrechte nach dem Vermögen oder

Einkommen abgestuft, um die die Herrschaft der Besitzenden zu sichern. Im römischen

„timokratischen Schema verbanden sich militärische mit sozialen und politischen Normen.

Doch entscheidend bleibt die Tatsache, dass diese Ordnung von der einen römischen classis,

dem einen römischen Heeresverband der Bürgerphalanx, ausging, von einer immer stärker

untergliederten Einheit und nicht von einer Dichotomie der Gesellschaft, von einem

Antagonismus verschiedener Klassen. Natürlich gab es politische und gesellschaftliche

Polarisierungen wie die [,,,] Gegensätze zwischen Patrizier und Plebeier, Patron und Klient,

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Optimat [adeliger Senator] und Popular [Volkssenator]. Priorität besass jedoch die Einheit der

politisch-sozialen Formation aller freien Bürger und nicht der Antogonismus verschiedener

Klassen nach moderner Definition“(Karl Christ: Die Römer – Eine Einführung in ihre

Geschichte und Zivilisation, Zürich (Ex libris) 1984; orig. C.H. Beck, 1979, p. 70). Die

Gesamtheit der römischen Bürger bildete also eine auf Erhaltung von Macht und Besitz

ausgerichtete Schicksalsgemeinschaft, eben eine Timokratie. Der Staat steht sozusagen im

Dienste der Bürger, und so ist es normal, dass das Privatrecht in der Regel den Vorrang vor

dem öffentlichen Recht hat.

Zwei Gruppen von römischen Bürgern waren für Staat und Wirtschaft von

entscheidender Bedeutung: die ‚Senatoren’ und die ‚Ritter’. Schon in der römischen Republik,

vor allem in der klassischen Zeit (287-133 v.Chr.), waren es die Senatoren, die die grosse

Politik betrieben, und die Ritter, eine militärische Führungsschicht, auch die ökonomisch

dominierenden Schichten. Diese Sozialstruktur hat sich im römischen Kaiserreich weitgehend

erhalten. „In ökonomischer Hinsicht hat sich die römische Nobilität immer als eine

Grundbesitzeraristokratie verstanden [...]. Nachdem ein [Gesetz,] die lex Claudia de nave

senatorum, des Jahres 218. v.Chr. die Senatoren praktisch von der Beteiligung an den

Seetransportgeschäften und damit am Fernhandel ausgeschlossen hatte, wurde die

Homogenität der Senatsaristokratie erst recht gewahrt. Die Ausweitung des Grundbesitzes der

Senatoren in Folgezeit war ebenso mit eine Folge dieses Gesetzes wie die Tatsache, dass die

stärksten wirtschaftlichen Initiativen, vor allem Handels- und Geldgeschäfte grossen

Ausmasses, in Zukunft von den Rittern wahrgenommen wurden“(Karl Christ, Die Römer, p.

36). Gegen das Ende der Republik (um 60 v.Chr.), „traten in wirtschaftlicher Hinsicht mehr

und mehr die neuen sozialen Gruppen der Ritter und der Freigelassenen in den Vordergrund.

Da die Ritter von den Staatsämtern [die von der Senatsaristokratie bekleidet wurden]

ausgeschlossen waren, sahen sie sich ganz auf die Aktivität im ökonomischen Bereich

verwiesen. Sie übernahmen einzeln oder auf dem Wege der Beteiligung an Gesellschaften

jene Fern-, Grosshandels- und Geldgeschäfte hohen Volumens, die Roms dominierende Rolle

im gesamtmediterranen Wirtschaftsraum ermöglichten. Sie profitierten vor allem von der

Intensivierung der Geldwirtschaft, die jetzt den Wirtschaftsstil bestimmte, sie übernahmen

alle jene administrativen und wirtschaftlichen Aufgaben, welche die römische Republik mit

ihrem nur rudimentären Verwaltungsapparat gar nicht zu bewältigen vermochte, Steuerpacht

und Grossbauten, Heeresversorgung wie Materialbeschaffung und Transporte. In den Reihen

der Ritter und Freigelassenen konzentrierten sich deshalb auch die organisatorischen,

wirtschaftlichen und finanziellen Spezialkenntnisse, die in systematischer Konsequenz erst

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unter dem Prinzipat [im Kaiserreich] für die staatliche Administration genutzt wurden“(Christ

1984, p. 49).

4.3. Aufstieg und Fall des (West-)Römischen Kaiserreiches Das römische Kaiserreich erlebte seine Blütezeit im ersten und zweiten Jahrhundert nach

Christus, also in etwa 0 – 200 n.Chr. Danach setzte eine lange Agonie ein; das weströmische

Reich ging 476 n.Chr. in den Turbulenzen der Völkerwanderung unter. [Das oströmische

Reich (Byzanz) blieb dank eines starken Verwaltungsapparates (vielleicht von Alt-Persien

übernommen!) noch weitere 1000 Jahre (!) bestehen. Ostrom (Byzanz) endete 1453 mit dem

Fall von Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, der Hauptstadt der Türkei.]

In den ersten fünf Jahrhunderten seines Bestehens, also bis zum Fall von Westrom,

dominierte Rom den ganzen Mittelmeerraum. Die blühende Handelstätigkeit in dieser

Zeitepoche beruhte auf der Rechtssicherheit, die durch das römische Privatrecht geschaffen

wurde. Verträge mussten strikt eingehalten werden, sonst gab es scharfe Sanktionen; das

Eigentum war absolutes Privateigentum; Rechtskonflikte wurden rasch geregelt. Das

römische Privatrecht implizierte auch unbeschränkte Handels- und Gewerbefreiheit. Der

private Bereich war sehr weit gezogen. So waren Polizei, Post und Feurwehr privat (ein Feuer

wurde nur gelöscht, wenn die Feuerwehrleute bezahlt wurden).

Die römische Wirtschaftsform war eine Art von Kapitalismus. Die Gewinnerzielung

bezog sich natürlich in erster Linie auf die Produktion von Gütern und auf den Handel mit

Gütern. Aber auch Plünderung konnte ein kapitalistisches Unternehmen werden. Gemäss

einer Anekdote hat noch in der Endphase der Republik (um 80 v.Chr.) der römische Senator

(Marcus Licinius) Crassus einen Plünderungsfeldzug im Osten (dem heutigen Syrien

unternommen). Er nahm in Rom ein Darlehen auf, rüstete damit ein Heer aus, plünderte, kam

mit der Beute zurück nach Rom, zahlte das Darlehen zurück, was übrig blieb, war der Profit

des Unternehmens. Profiterzielen und Zinsnehmen waren in Rom (in Republik und

Kaiserreich) selbstverständlich. [Seit dem Zeitalter des Merkantilismus (1500 – 1750) und vor

allem seit der Industriellen Revolution haben wir eine verstärkte Römischen, vor allem auf

dem Gebiete des Rechts und der Wirtschaft. Allerdings ist der relativ brutale römische

Materialismus durch christliche Werte abgeschwächt.]

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Gestützt auf das römische Recht entsteht also innerhalb des Weltreiches ein blühender

Handelsverkehr, der verbunden ist mit einer hochentwickelten Arbeitsteilung. Es kommt so

eine Städtezivilisation zustande. Es gibt eine beträchliche Anzahl von Städten mit 5-10

Tausend Einwohnern. Viele, wie Alexandrien, sind grösser. Rom selber hat in seiner Blütezeit

[um 200 n.Chr.] etwa eine Million [!] Einwohner. Zu deren Ernährung wird mit der

Handelsflotte Getreide herbeigeschafft, aus Sizilien, Nordafrika und Ägypten. Diese

Getreidelieferungen an Rom aus stellten Tribute der Provinzen dar.

[Die Römer haben vor allem in Nordafrika sehr viel Wald gerodet, um Getreide anbauen

zu können. Das Holz wurde zum Bau von Schiffen gebraucht. Diese hemmungslosen

Rodungen haben aber bedeutende Teile Nordafrikas verwüstet. „Umwelt und Zivilisation“ ist

ein altes Thema!]

Das aus den Provinzen herbeigeschaffte Getreide diente also der Ernährung der

Bevölkerung Roms. Aber an 200'000 Proletarierfamilien wurde das Getreide gratis

abgegeben; die Proletarier waren vermutlich zu einem grossen Teil arbeitslos; um diese zu

unterhalten und damit bei guter Laune zu halten (und damit Unruhen und Aufstände zu

verhindern) wurden in den Arenen Spiele veranstaltet; hier fanden zum Beispiel

Gladiatorenkämpfe statt (Sklaven aus Germanien und Afrika kämpften gegen andere Sklaven

oder gegen wilde Tiere -Brot und Spiele ist zu einem geflügelten Wort geworden – das bis

heute eine gewisse Gültigkeit bewahrt hat!).

Römische Aktivitäten, autonome Ausgaben und interner Entwicklungsmechanismus

Die römischen Aktivitäten stehen in direktem Zusammenhang mit den autonomen

staatlichen und gesellschaftlichen Ausgaben (G), die wir in der Einleitung im Zusammenhang

mit dem internen Entwicklungsmechanismus erwähnt haben.

Wie wir bereits angedeutet haben, sind im römischen Imperium nur geringfügige

technische Fortschritte gemacht worden. Die Sklaven hatten kein Interesse innovativ zu sein,

weil der grössere Überschuss voll und ganz der herrschenden Schicht, vor allem den reichen

römischen Bürgern zugefallen wäre.

Die Römer waren vor allem grossartige Organisatoren, die auch die Grundlage für die

moderne materielle Zivilisation geschaffen haben. So haben die Römer Städte, Strassen und

Wasserleitungen (Viadukte) gebaut; sie bauten eine äusserst effiziente Armee auf; im

Mittelmeer fuhr zahlreiche Handels- und Kriegsschiffe herum – die Kriegsschiffe sollten die

Handelsschiffe vor allem vor Piraten schützen. Die Römer entwickelten auch ein

Rechtssystem, das heute noch Grundlage für das Privatrecht ist. Es gab eine Polizei, eine

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Feuerwehr und eine Post. Die organisatorischen Leistungen umfassen auch Verfeinerungen

von bestehenden Kenntnissen; es gibt kleinere Fortschritte, vor allem im Bereiche der

Landwirtschaft und der Herstellung von Nahrungsmittlen; z.B. enthielt die berühmte

Bibliothek von Alexandrien um die 50 Manuskripte über die Herstellung von Brot!

In erster Linie waren die Römer grossartige Städtebauer; die Städte enthielten

Wohnhäuser verschiederner Art, Paläste und Tempel, öffentliche Gebäude, Bäder (die

Wasserzufuhr war über Viadukte sichergestellt), Arenen, Theater. (Auch in der Nähe von

Freiburg gibt es eine römische Stadt: Aventicum (Avenches) war die Hauptstadt der

römischen Provinz Helvetien. In Aventicum hielt sich zeitweise der Kaiser Marcus Aurelius

(121-180) auf, der wegen seiner hohen Bildung auch Philosophenkaiser genannt wurde; im

Museum von Avenches befindet sich ein Goldbüste dieses Kaisers.)

Die Städte waren durch Strassen und Brücken verbunden. Diese erfüllten zwei

Funktionen:

Einmal eine militärische Funktion: Es ging einmal um die Niederschlagung von Revolten

(Sklavenaufstand unter Anführung von Spartakus – Film mit Kirk Douglas als Spartakus: Der

römische Sklave Spartakus kämpfte als Gladiator in den römischen Arenen gegen andere

Gladiatoren und wilde Tiere, bis er um 73 v. Chr., also in der Endzeit der römischen

Republik, den Aufstand der Sklaven von Capua anführte. Erst Jahre später konnte dieser

Aufstand vom römischen Feldherrn und Senator Marcus Licinius Crassus endgültig

niedergeschlagen werden. Tausende von Aufständigen fanden auf dem Schlachtfeld den Tod

oder wurden entlang der Via Appia in Rom gekreuzigt.). Dann dienten die Strassen auch dem

Zurückschlagen von Eindringlingen, z.B. Einfälle von germanischen Stämmen. Zu diesen

Zwecken mussten sich die römischen Legionen schnell in gefährdete Gebieten verschieben.

Dazu kommt eine wirtschaftliche Funktion: Die Strassen und Brücken machen den

Binnenhandel überhaupt möglich. Neben dem Binnenhandel gab es natürlich einen

ausgedehneten Seehandel auf dem Mittelmeer (mare nostrum).

Der Städtebau, der Bau von Schiffen, Strassen und Brücken, der Aufbau und der

Unterhalt einer hervorragend organisierten Armee (die römischen Legionen) sowie der Bau

von Verteidigungsanlagen (des Limes) stellten die autonomen (staatlichen und

gesellschaftlichen) Ausgaben (G) dar, die die wirtschaftliche Entwicklung des Reiches in

Gang setzten. Die autonomen Ausgaben bewirkten einen kumulativen Prozess der

Konsum- und Investitionsgüternachfrage- und Produktion (Investitionengüter:

Werkzeuge, Handwerkstätten, Manufakturen, z.B. für die Herstellung von Waffen). Wir

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haben es also mit einem internen oder binnenwirtschaftlichen Entwicklungsprozess zu tun

[Einführungsvorlesung, Gleichung (4)].

Die ersten 200 Jahre, also etwa vom Jahre Null bis um 200 n.Chr., stellen die Blütezeit

des römischen Reiches dar. Vermutlich sind in dieser Zeit die staatlichen und

gesellschaftlichen Ausgaben (G) gewachsen, dies durch die Zunahme von Städtegründungen,

dem Bau von Viadukten, Strassen und Brücken sowie von Handels- und Kriegsschiffen und

dem Ausbau des Heeres.

Abstieg und Untergang von Westrom

Der Abstieg Roms setzt mit vermehrten barbarischen Invasionen ein. Eine unerbittliche,

fast deterministische Sequenz führt dann das weströmische Reich in den Untergang.

Die germanischen Invasionen führen neben Zerstörungen auch zur Plünderung von

Kaufmannskarawanen, der Handel wird dadurch beeinträchtigt. Dazu kommt das

Banditenwesen; vermutlich schliessen sich vor allem Arbeitslose zu Banden zusammen, die

ebenfalls plündern. Schliesslich werden Kaufleute sogar von Soldaten geplündert, die

vermutlich den Sold nicht mehr regelmässig erhielten.

Die Zerstörungen und Plünderungen schaffen Unsicherheit. Die Wirtschaftsaktivität geht

zurück (Sozialprodukt und Beschäftigung sinken). Die Staatsausgaben gehen in den

„Friedensbereichen“ zurück. Dagegen steigen die Ausgaben für militärische Zwecke, eben um

die innere und äussere Sicherheit zu gewährleisten. Parallel dazu wird die Einkommens- und

Vermögensverteilung, vor allem die Landverteilung, immer ungleicher. Die Kaufkraft der

Bevölkerung sinkt, die Nachfrage nach Konsumgütern und auch deren Produktion bildet sich

zurück. Und damit sinkt auch die Beschäftigung. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit drückt

wiederum auf die Löhne. So hat sehr wahrscheinlich ein sich kumulativ verstärkender Prozess

zwischen Arbeitslosigkeit und Einkommensverteilung eingesetzt. Betreffend die Einkommens-

und Vermögensverteilung zitiert Karl Christ den schottischen Altertumshistoriker Ramsay

MacMullen, der sagt: „Beginnend ungefähr mit der Geburt Ciceros (d.h. um 100 v.Chr.) lässt

sich die Tendenz der sozioökonomischen Entwicklung des Imperiums über fünf Jahrhunderte

hinweg in drei Worten verdichten: wenige haben mehr [soweit MacMullen]. Dies ist in der

Tat die entscheidende Entwicklung im Bereiche der römischen Führungsschicht unter dem

Principat [dem Kaiserreich]“(Christ 1984, p. 76).

Um die wachsenden Staatsausgaben, vor allem für militärische Zwecke zu finanzieren

steigen die Steuern stetig an. Um sich zusätzliche Mittel zu verschaffen, werden

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Münzverschlechterungen durchgeführt. Dadurch entsteht Inflation, d.h. die Güterpreise

steigen. Die Inflation im 3. Jh. (n.Chr.) reduziert die realen Steuern. Ein Defizit im

Staatshaushalt entsteht. Um 303 herum unternimmt Kaiser Diokletian einen folgenschweren

Schritt: er führt Naturalabgaben ein, die vor allem von Pächtern und Kleinbauern getragen

werden. Die Grossgrundbesitzer, vor allem Senatoren und Personen, die sich um das Reich

verdient gemacht haben, siegreiche Heerführer beispielsweise, sind weitgehend steuerfrei.

[Die Senatoren waren in erster Linie Landbesitzer (Grossgrundbesitzer, Besitzer von

Latifundien); die Ritter betrieben vor allem Handels- und Finanzgeschäfte. Beide Gruppen

gehörten zur immer reicher werdenden Oberschicht.]

Die Naturalabgaben modifizieren das ökonomische System tiefgreifend:

1) Die landwirtschaftliche Produktion für den Markt geht zurück: der

landwirtschaftliche Überschuss wird nur noch zum Teil vermarktet. Dadurch geht

die Nachfrage nach städtischen Handwerksprodukten zurück.

2) Pächter und Kleinbauern sind nicht mehr in der Lage, die Steuerlast zu tragen. Sie

verlassen deshalb ihre Böden, um sich unter den Schutz von Latifundienbesitzern zu

stellen, deren Güter weitgehend steuerfrei sind (einige Kleinbäuern verkaufen ihre

Böden an Latifundienbesitzer).

Dadurch dehnen sich die Latifundien immer mehr aus. Und was äusserst wichtig ist: Die

Latifundien werden schrittweise autonom, d.h. immer mehr autark: auf den Latifundien

werden nicht nur landwirtschaftliche Produkte produziert, sondern auch immer mehr

handwerkliche Produkte (Werkzeuge, Textilien, etc). Dies impliziert, dass der

landwirtschaftliche Überschuss immer weniger vermarktet wird. Dadurch wird dem

städtischen Gewerbe und dem Handel seine Existenzgrundlage entzogen. Durch die

zunehmende Autarkie der Latifundien verlieren also die Städte immer mehr ihre

Absatzmärkte für Fertigprodukte und ihre Beschaffungsmärkte für landwirtschaftliche

Produkte und Rohstoffe und Zwischenprodukte, beispielsweise Wolle und Leder. Durch die

Latifundien findet also eine Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft statt.

Die wirtschaftliche Aktivität verringert sich nun kumulativ. Sozialprodukt und

Beschäftigung gehen dramatisch zurück. Es gibt immer weniger Steuereinnahmen. Damit

sinken auch die autonomen staatlichen und gesellschaftlichen Ausgaben (G), was wieder

einen weiteren kumulativen Rückgang des Sozialprodukts und der Beschäftigung bewirkt.

Die Städte bilden sich zurück, gehen sogar unter, vor allem nördlich der Alpen. (Deshalb

mussten hier die Städte im Mittelalter wieder neu gegründet werden, z.B. Freiburg i.Ü. 1157.)

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In diesem Zusammenhang hat der grosse deutsche Soziologe und Volkswirtschafter Max

WEBER den berühmten Ausspruch getan (Max Weber schrieb seine These über römische

Agrarinstitutionen):

ROM IST AN SEINEN LATIFUNDIEN ZUGRUNDEGEGANGEN

1) Die immer weitergehendere Verbreitung der Latifundien ist der Hauptgrund für den

Zusammenbruch des weströmischen Reiches.

2) Ein weiterer Grund für den Zusammenbruch Westroms ist die Abwesenheit von

technologischer Kreativität [in Rom gab es perfekte Organisation bei gegebener

Technik; in einer Grossorganisation ist der technologische Wandel sowohl

organisatorisch wie sozial ein Störfaktor.]

Der römische Genius manifestierte sich im Bau von Strassen, Aquädukten, Kuppeln

und Arenen, aber nicht im Bau von Maschinen. Dies obwohl technisches Wissen

durchaus vorhanden war.

Wieso gab es keinen wirtschaftlichen und technischen Fortschritt totz vorhandenem

Wissen?

a) Hauptgrund: Sklaven und Knechte verrichten den grössten Teil der

produktiven Arbeit. Diese haben kein Interesse technisches Wissen

wirtschaftlich zu nutzen, weil sie davon nicht profitieren (bei technischem

Fortschritt würde der soziale Überschuss (S) ansteigen, aber ganz der

herrschenden Oberschicht zufallen).

b) Anderseits interessieren sich die herrschenden Schichten nicht für Technik und

Produktion. Sie leben vom Überschuss und bestimmen dessen Verwendung für

Krieg, Politik und Kunst, die auch ihre Interessengebiete darstellen.

3) Ein dritter Grund für den Untergang Westroms ist sozialer Natur:

a) Es findet eine soziale Nivellierung nach unten statt: Die Soldaten wählen

Soldatenkaiser, deren einziges Ziel die Bezahlung des Soldes war! (Im

Gegensatz dazu galt Marcus Aurelius (121 – 180), der römische Kaiser der sich

in Avenches (Aventicum) aufhielt, als Philosoph auf dem Kaiserthron!)

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b) Die (selbständigen) Kleinbauern und Pächter werden zu landwirtschaftlichen

Arbeitern auf den Latifundien, zum Teil unter sklavenähnlichen Umständen. Es

bildet sich ein landwirtschaftliches Proletariat heraus.

c) Das städtische Gewerbe (Handwerker und Kaufleute) wird zu einer Art

„Industrie“- Proletariat. Dieses sucht auch auf den Latifundien Zuflucht. Dieses

Proletariat produziert dann auf den Latifundien Handwerksprodukte (Textilien,

Möbel, Werkzeuge, ...).

Allgemein ist dieser soziale Wandel verbunden mit einem Rückbildung des

Mittelstandes. Es gibt sehr viele Arme (Proletarier) und gleichzeitig wenige

sehr Reiche. Die römische Gesellschaft hat sich zusehends polarisiert.

4) Diese Polarisierung der römischen Gesellschaft führt zu einem Rückgang des

städtischen Kulturlebens, was einen vierten Grund für den Untergang Westroms

darstellt. Michael Rostovtzeff spricht von einer Rebarbarisierung der römischen

Gesellschaft (Michael Rostowzew: Gesellschaft und Wirtschaft im römischen

Kaiserreich. Aalen (Scientia Verlag) 1985; Neudruck der Ausgabe 1931, Leipzig

(Quelle & Meyer), zweiter Band, pp. 210ff.). Die allgemeine Verringeringerung des

Bildungsstandes begleitet in der Regel Gesellschaften, die sich auf dem Abstieg

befinden. Die Rebarbarisierung Westroms ist wiederum ein starkes Argument gegen

die Idee des absoluten Fortschritts.