II. Inhalt der Tarifnormen 1. Inhaltsnormen€¦ · Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen...

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II. Inhalt der Tarifnormen 1. Inhaltsnormen Den Hauptgegenstand, vielfach den einzigen Gegenstand von Tarifverträgen bilden die Rechtsnormen, die den Inhalt der einzelnen Arbeitsverhältnisse regeln, die sog. Inhaltsnormen. Bei ihnen handelt es sich um Bestimmungen, die ihrem Wesen nach durch Einzelarbeitsvertrag vereinbart werden können. Deshalb gehören zu ihnen auch die Bestimmungen über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Besondere Bedeutung haben die Tarifbestimmungen über die Arbeitsentgelte. Die allgemeinen Bestimmungen, insbesondere die Regelung über die Gehalts- und Lohngruppen, sind in der Regel in einem Manteltarifvertrag vereinbart, während die Höhe des Arbeitsentgelts in besonderen Lohn- und Gehaltstarifverträgen geregelt ist. Ebenfalls ist regelmäßig im Manteltarifvertrag eine Arbeitszeitregelung enthalten, in der die Dauer der regelmäßigen Wochenarbeitszeit sowie die Festlegung von Überstunden festgelegt ist. Schließlich findet sich im Manteltarifvertrag der meisten Wirtschaftszweige eine Regelung des Erholungsurlaubs. So ist vor allem die Dauer des Erholungsurlaubs zumeist tarifvertraglich geregelt und wesentlich höher als nach § 2 BUrlG. Die tarifvertragliche Normsetzungsmacht ist nicht auf die Bestimmungen beschränkt, welchen Inhalt ein Arbeitsverhältnis haben soll (positive Inhaltsnormen), sondern es kann auch festgelegt werden, welchen Inhalt ein Arbeitsverhältnis nicht haben kann (negative Inhaltsnormen). Beispielsweise kann in einem Tarifvertrag Mehrarbeit oder Samstagsarbeit verboten werden. Dann ist der Arbeitnehmer, für den der Tarifvertrag gilt, nicht verpflichtet, Überstunden zu leisten oder am Samstag zu arbeiten. Eine negative Inhaltsnorm liegt auch vor, wenn der Tarifvertrag für den zeitlichen Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung eine Mindest- oder Höchstgrenze festlegt. 2. Abschlussnormen Abschlussnormen regeln die Bedingungen für den Abschluss von Arbeitsverträgen. 1

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II. Inhalt der Tarifnormen

1. Inhaltsnormen

Den Hauptgegenstand, vielfach den einzigen Gegenstand von Tarifverträgen bilden

die Rechtsnormen, die den Inhalt der einzelnen Arbeitsverhältnisse regeln, die sog.

Inhaltsnormen. Bei ihnen handelt es sich um Bestimmungen, die ihrem Wesen nach

durch Einzelarbeitsvertrag vereinbart werden können. Deshalb gehören zu ihnen

auch die Bestimmungen über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen. Besondere

Bedeutung haben die Tarifbestimmungen über die Arbeitsentgelte. Die allgemeinen

Bestimmungen, insbesondere die Regelung über die Gehalts- und Lohngruppen,

sind in der Regel in einem Manteltarifvertrag vereinbart, während die Höhe des

Arbeitsentgelts in besonderen Lohn- und Gehaltstarifverträgen geregelt ist. Ebenfalls

ist regelmäßig im Manteltarifvertrag eine Arbeitszeitregelung enthalten, in der die

Dauer der regelmäßigen Wochenarbeitszeit sowie die Festlegung von Überstunden

festgelegt ist. Schließlich findet sich im Manteltarifvertrag der meisten

Wirtschaftszweige eine Regelung des Erholungsurlaubs. So ist vor allem die Dauer

des Erholungsurlaubs zumeist tarifvertraglich geregelt und wesentlich höher als nach

§ 2 BUrlG.

Die tarifvertragliche Normsetzungsmacht ist nicht auf die Bestimmungen beschränkt,

welchen Inhalt ein Arbeitsverhältnis haben soll (positive Inhaltsnormen), sondern es

kann auch festgelegt werden, welchen Inhalt ein Arbeitsverhältnis nicht haben kann

(negative Inhaltsnormen). Beispielsweise kann in einem Tarifvertrag Mehrarbeit oder

Samstagsarbeit verboten werden. Dann ist der Arbeitnehmer, für den der Tarifvertrag

gilt, nicht verpflichtet, Überstunden zu leisten oder am Samstag zu arbeiten. Eine

negative Inhaltsnorm liegt auch vor, wenn der Tarifvertrag für den zeitlichen Umfang

der geschuldeten Arbeitsleistung eine Mindest- oder Höchstgrenze festlegt.

2. Abschlussnormen

Abschlussnormen regeln die Bedingungen für den Abschluss von Arbeitsverträgen.

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Zu ihnen gehört, dass der Arbeitsvertrag eine bestimmte Form wahren muss. Im

Allgemeinen soll von ihrer Einhaltung nicht die Begründung des Arbeitsverhältnisses

abhängen. Sie kann dann auch noch den Inhaltsnormen zugeordnet werden. Zu den

Abschlussnormen gehören Abschlussverbote, die nicht nur Beschäftigungsverbote

enthalten, sondern darüber hinaus den Abschluss eines Arbeitsvertrags schlechthin

verbieten. Zu den Abschlussverboten können auch die Tarifnormen zählen, die den

Abschluss eines Arbeitsvertrages mit einem bestimmten Inhalt verbieten.

Voraussetzung ist allerdings, dass bei einem Verstoß das Arbeitsverhältnis nicht

zustande kommen soll. Wird dagegen lediglich verboten, eine bestimmte Abrede zu

treffen, wie bei dem Verbot einer Wettbewerbsabrede, so handelt es sich um eine

negative Inhaltsnorm, nicht um eine Abschlussnorm.

Abschlussnormen sind insbesondere die Abschlussgebote, die den Arbeitgeber

verpflichten, unter den in ihnen genannten Voraussetzungen mit einem Arbeitnehmer

einen Arbeitsvertrag abzuschließen. Durch sie wird also für den Arbeitgeber, nicht

aber für den Arbeitnehmer ein Kontrahierungszwang begründet. Eine Abschlussnorm

liegt vor, wenn in einem Tarifvertrag bei Entlassung wegen ungünstiger Witterung

den davon betroffenen Arbeitnehmern der Anspruch auf Wiedereinstellung

eingeräumt wird, wenn die Wiederbeschäftigung möglich ist

(Wiedereinstellungsklausel).

3. Rechtsnormen über betriebliche Fragen (Betriebsnormen) Inhalts- und Abschlussnormen gelten unmittelbar und zwingend nur zwischen den

beiderseits tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern (§ 4 Abs. 1 Satz 1

TVG). Von ihnen unterscheiden sich die Tarifnormen, die für den Betrieb bereits bei

Tarifgebundenheit des Arbeitgebers gelten, es also auf die Tarifgebundenheit der

Arbeitnehmer nicht ankommt. Es sind dies die Rechtsnormen über betriebliche und

betriebsverfassungsrechtliche Fragen (§§ 3 Abs.2, 4 Abs.1 Satz 2 TVG).

Für die Rechtsnormen über betriebliche Fragen, die Betriebsnormen, entspricht das

Tarifvertragsgesetz einem Unterschied, der in der tatsächlichen Gestaltung des

Arbeitsverhältnisses innerhalb eines Betriebes begründet ist. Neben den

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Beziehungen, die den Arbeitnehmer als einzelnen mit dem Arbeitgeber verbinden,

wird sie durch Beziehungen geprägt, die für alle Arbeitnehmer gemeinsam oder

einheitlich für eine Gruppe von ihnen bestehen und deshalb den einzelnen nur als

Glied der Gemeinschaft erfassen. Im Unterschied zu den Individualbeziehungen

bezeichnet man sie als Solidarbeziehungen. Wenn dem einzelnen Arbeitnehmer auf

deren Gestaltung kein Rechtsanspruch eingeräumt, aber gleichwohl eine

Rechtsbindung des Arbeitgebers begründet werden soll, bilden Tarifbestimmungen

eine von den Inhaltsnormen zu unterscheidende Normenart. Als derartige

Solidarnormen kommen Regelungen in Betracht, die den Arbeitnehmer von

Gefahren, Belästigungen und Störungen schützen oder die den Arbeitsablauf oder

die Gestaltung des Arbeitsplatzes betreffen. Neben ihnen gehören zu den

Betriebsnormen aber auch Bestimmungen, die das Ordnungsverhalten der

Arbeitnehmer im Betrieb regeln (Ordnungsnormen).

4. Rechtsnormen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen (Betriebsverfassungsnormen) Betriebsverfassungsrechtlich sind die Fragen, die sich auf die Rechtstellung der

Belegschaft gegenüber Arbeitgeber und einzelnen Beschäftigten innerhalb einer

Arbeitsorganisation beziehen. Nicht hierzu zählt die Arbeitnehmerbeteiligung in den

Unternehmensorganen der Kapitalgesellschaften und Genossenschaften. Die

Befugnis der Tarifvertragsparteien, Betriebsverfassungsnormen zu vereinbaren,

besteht nur in den Grenzen der gesetzlichen Ordnung der Betriebsverfassung.

§ 3 Abs. 1 Nr. 1 - 3 BetrVG erlaubt den Tarifvertragparteien, ohne Bindung an eine

staatliche Zustimmung den Betrieb als Organisationsbasis für die

betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung durch eine abweichende Regelung zu

ersetzen; an die Stelle des Betriebs tritt die auf Grund des Tarifvertrags gebildete

Organisationseinheit (§ 3 Abs. 5 Satz 1 BetrVG). Zweifelhaft ist, ob durch Tarifvertrag

die dem Betriebsrat zugewiesene Mitwirkung und Mitbestimmung in sozialen,

personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten geändert, insbesondere erweitert

und verstärkt werden kann.1 Unabhängig von diesen Zweifeln ist zulässig, dass die

1 Bejahend zunächst zur tarifvertraglichen Erstreckung des Mitbestimmungsrechts auf die Dauer der

Arbeitszeit in einem von den Tarifpartnern gesteckten Rahmen BAG 18.8.1987 AP BetrVG

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Tarifvertragsparteien die Beteiligung des Betriebsrats in einer von ihnen geregelten

Angelegenheit vorsehen, z. B. Abweichungen von einer tarifvertraglichen Regelung

an die Zustimmung des Betriebsrats binden.

Die Betriebsverfassung des öffentlichen Dienstes ist in den

Personalvertretungsgesetzen geregelt. Aus § 3 BPersVG ergibt sich, dass im

Geltungsbereich dieses Gesetzes keine betriebsverfassungsrechtlichen Tarifnormen

vereinbart werden können. Da § 97 eine dem § 3 BPersVG entsprechende

Rahmenvorschrift für die Landesgesetzgebung enthält, gilt Gleiches derzeit noch für

die Personalvertretungsgesetze der Länder. Durch die Föderalismusreform ist aber

mit der Aufhebung des Art. 75 GG die Kompetenz des Bundes für die

Rahmengesetzgebung entfallen. Die Länder sind daher nicht mehr an § 97 BPersVG

gebunden (Art. 125a Abs. 1 Satz 2 GG).

5. Rechtsnormen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien Gemeinsame Einrichtungen sind von den Tarifvertragsparteien geschaffene

Einrichtungen, deren Zweck und Organisation durch Tarifvertrag festgelegt wird. Sie

spielen vor allem im Baugewerbe eine Rolle, z. B. die Urlaubskasse und die

Lohnausgleichskasse. Die Rechtsnormen über gemeinsame Einrichtungen bilden

einen selbständigen Regelungskomplex, der im Katalog des § 1 Abs.1 TVG nicht

genannt wird. Wie sich aus § 4 Abs. 2 TVG ergibt, gilt ihre Regelung für die Satzung

der gemeinsamen Einrichtung und deren Rechtsbeziehungen zu Arbeitgebern und

Arbeitnehmern. Regelungsgegenstand ist nicht das Arbeitsverhältnis, sondern neben

der Organisation das Rechtsverhältnis zu der gemeinsamen Einrichtung. Das

Arbeitsverhältnis bildet lediglich den Anknüpfungspunkt für Leistungen, bei deren

Erbringung die gemeinsame Einrichtung an die Stelle des Arbeitgebers tritt. Sie wird

dadurch in das Leistungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer

einbezogen. Bei nichtständiger Beschäftigung eines Arbeitnehmers kann dadurch

gesichert werden, dass ein Arbeitnehmer beispielsweise Urlaub erhält; denn bei

1972 § 77 Nr. 23; generell sodann BAG 10.2.1988 AP BetrVG 1972 § 99 Nr. 53 (dort zur Einräumung eines Mitbestimmungsrechts bei der Einstellung ohne Begrenzung auf Zustimmungsverweigerungsgründe).

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Kurzfristigkeit der Beschäftigung erfüllt er bei dem einzelnen Arbeitgeber im

allgemeinen nicht die Wartezeit für den Erwerb des Urlaubsanspruchs.

III. Wirkung der Tarifnormen 1. Unabdingbarkeit der Tarifnormen

Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss oder die

Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen (Inhalts- und Abschlussnormen), gelten

unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits tarifgebundenen

Arbeitsvertragsparteien, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen (§ 4

Abs. 1 Satz 1 TVG). Beide Wirkungen werden im Oberbegriff der Unabdingbarkeit

zusammengefasst. Durch sie wird der Vorrang des Tarifvertrags vor dem

Einzelarbeitsvertrag verwirklicht. Entsprechend gehört deshalb zu ihr, dass auch ein

Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte nur in einem von den Tarifvertragsparteien

gebilligten Vergleich zulässig ist (§ 4 Abs. 4 TVG). Wenn auch nur eine

Vertragspartei nicht tarifgebunden ist, entfällt die unmittelbare und zwingende

Geltung der Tarifnormen. Diese sind dann auf das Arbeitsverhältnis nur anwendbar,

soweit sie durch Bezugnahme Bestandteil des Einzelarbeitsvertrags geworden sind.

Wenn dagegen Tarifgeltung besteht, sichert die zwingende Wirkung, daß die

Tarifnormen nicht nur ohne, sondern auch gegen den Willen der

Arbeitsvertragsparteien den Inhalt des Arbeitsverhältnisses gestalten. Vertragliche

Abreden, die den Tarifnormen entgegenstehen, werden verdrängt, soweit sie keine

Abweichung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Dadurch wird aber nicht der

Inhalt des Arbeitsvertrags geändert. Die zwingende Geltung führt vielmehr nur für die

Dauer ihrer Wirkung zur Verdrängung der arbeitsvertraglichen Vereinbarung, macht

diese aber nicht nichtig.

Der Gesetzestext bezieht die unmittelbare und zwingende Geltung auch auf

Abschlussnormen (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Die Anordnung entfaltet hier aber eine

andere Rechtswirkung: Ein Verstoß gegen ein Abschlussverbot kann die Nichtigkeit

des Arbeitsvertrags zur Folge haben. Abschlussgebote richten sich dagegen nicht

gegen eine abweichende Vereinbarung, sondern sie begründen einen

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Kontrahierungszwang. Die durch die Tarifnorm unmittelbar eingeräumte

Rechtsposition ist zwingend gesichert; auf sie kann ein Arbeitnehmer nicht

verzichten.

Für Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen gilt die Anordnung der unmittelbaren

und zwingenden Geltung lediglich entsprechend (§ 4 Abs. 1 Satz 2 TVG). Für ihre

normative Geltung genügt nämlich die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers (§ 3

Abs. 2 TVG). Sie beschränken dessen Recht zur freien kollektiv bestimmten

Betriebsgestaltung.

2. Günstigkeitsprinzip als Kollisionsregelung Nach § 4 Abs. 3 TVG sind abweichende Abmachungen ,,nur zulässig, soweit sie

durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten

des Arbeitnehmers enthalten“. Diese Vorschrift begrenzt die zwingende Geltung der

Tarifnormen. Sie beruht auf zwei verschiedenen Grundgedanken: Die Gestattung von

Abweichungen im Tarifvertrag ergibt sich aus dem Vorrang des Kollektivwillens, die

stets zulässige Abweichung zugunsten des Arbeitnehmers auf einer Begrenzung der

Tarifmacht durch das Günstigkeitsprinzip.

Die Anwendung des Günstigkeitsprinzips setzt voraus, dass die einzelvertragliche

Abrede von der Tarifnorm abweicht. Wenn das nicht der Fall ist, ist eine

einzelvertragliche Vereinbarung zulässig, ohne dass es darauf ankommt, ob sie den

Arbeitnehmer begünstigt oder belastet. Erst wenn feststeht, dass zwischen der

Tarifnorm und einer einzelvertraglichen Regelung Konkurrenz besteht, beurteilt sich

nach dem Günstigkeitsprinzip, welche Regelung maßgebend ist.

Bei der Feststellung der Regelungsgleichheit sind alle Bestimmungen des

Tarifvertrags und der einzelvertraglichen Abrede miteinander zu vergleichen, die in

einem offensichtlichen inneren Zusammenhang stehen; es genügt also weder ein

isolierter Vergleich noch ein Gesamtvergleich, sondern es ist ein

Sachgruppenvergleich vorzunehmen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sowohl

die Parteien des Tarifvertrags als auch die Arbeitsvertragsparteien bestimmen, was

Gegenstand ihrer Regelung sein soll. Ergibt die Interpretation ihrer Abreden, dass sie

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sich auf dieselbe Regelungsmaterie beziehen, muss festgestellt werden, ob mit der

abweichenden Abmachung andere Bestimmungen der einzelvertraglichen

Vereinbarung derart miteinander zusammenhängen, dass die eine nicht ohne die

andere getroffen wäre.

Ob zwischen den einzelnen Bestimmungen ein innerer Zusammenhang besteht,

darüber entscheiden in erster Linie die Parteien des Einzelarbeitsvertrags. Gewährt

der Arbeitgeber neben einer vertraglich vereinbarten Grundvergütung eine Zulage,

so ist festzustellen, ob Grundgehalt und Zulage nur Rechnungsposten einer

einheitlichen Vergütung bilden oder ob sich die Zulage nach dem Willen der

Vertragsparteien als ein relativ selbständiger, gesondert neben der Grundvergütung

stehender Lohnbestandteil darstellt. Eine einzelvertragliche Regelung kann auch mit

einer Tarifnorm in einem inneren Zusammenhang stehen. Das ist anzunehmen,

wenn der übertarifliche Lohn tarifvertraglich gewährte Zulagen abgelten soll. Die

einzelvertragliche Abrede ist in diesem Fall nicht schon dann günstiger als der

Tarifvertrag, wenn der übertarifliche Lohn den tarifvertraglichen Grundlohn übersteigt,

sondern erst dann, wenn er höher ist als der Grundlohn und die Zulagen zusammen.

Ein derartiger Zusammenhang muss sich aber eindeutig aus der einzelvertraglichen

Abrede ergeben; denn im allgemeinen wird sich die Vereinbarung übertariflicher

Entlohnung nur auf den Grundlohn beziehen, zu dem die im Tarifvertrag

vorgesehenen Zuschläge hinzukommen sollen.

Da das Günstigkeitsprinzip nicht die für den Arbeitnehmer einseitig zwingende

Geltung der Tarifnormen beseitigt, können in den Sachgruppenvergleich nur

Regelungen einbezogen werden, für deren Bewertung es einen gemeinsamen

Maßstab gibt. Das Günstigkeitsprinzip ist eine Kollisionsnorm. Was nicht miteinander

verglichen werden kann, bildet deshalb nicht den Gegenstand eines

Günstigkeitsvergleichs. Das BAG ist deshalb zu dem Ergebnis gekommen, dass

Tarifbestimmungen über die Höhe des Arbeitsentgelts und über die Dauer der

regelmäßigen Arbeitszeit nicht mit einer betrieblichen Arbeitsplatzgarantie verglichen

werden können.2

Erst wenn feststeht, welche vertragliche Abrede von der Tarifnorm abweicht, kann

2 BAG 20.4.1999 AP GG Art. 9 Nr. 89.

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beurteilt werden, ob sie eine Änderung zugunsten des Arbeitnehmers darstellt. Der

Günstigkeitsvergleich ist ein Werturteil. Da das Günstigkeitsprinzip nicht dazu dient,

die Unabdingbarkeit der Tarifnormen zu beseitigen, es aber zugleich auch eine

Schranke der Tarifmacht darstellt, kann weder ein von den Tarifvertragsparteien

festgelegtes Interesse noch die subjektive Einschätzung eines Arbeitnehmers den

Maßstab für die Beurteilung bilden.

Die Beurteilung der Begünstigung bereitet keine Schwierigkeiten, wenn die vom

Tarifvertrag abweichende Abrede das Äquivalenzverhältnis zwischen Arbeitsleistung

und Arbeitsentgelt betrifft. Wenn der Arbeitnehmer für denselben Lohn weniger zu

arbeiten braucht oder für dieselbe Arbeitsleistung einen höheren Lohn erhält, als es

tarifvertraglich vorgesehen ist, so ist die einzelvertragliche Abrede für ihn die

günstigere Regelung. Zweifelhaft ist die Rechtslage aber, wenn die Dauer der

Arbeitszeit geregelt wird, weil mit deren Verlängerung eine Erhöhung, mit deren

Verkürzung aber eine Verringerung des Arbeitseinkommens verbunden ist. Der auf

den Preis der Arbeit bezogene Günstigkeitsvergleich versagt, soweit es um die

Pflicht zur Arbeit geht. Da auch bei Tarifgeltung nicht der Tarifvertrag, sondern der

Einzelarbeitsvertrag den Rechtsgrund für die Erbringung der Arbeitsleistung bildet,

können durch Tarifnorm zwar Arbeitszeitgrenzen aufgestellt werden; durch sie kann

aber das rechtsgeschäftliche Dienstleistungsversprechen keinen anderen Inhalt

erhalten. Eine Tarifnorm über die Arbeitszeit kann nicht bewirken, dass die

Vertragsabrede über den zeitlichen Umfang der geschuldeten Arbeitsleistung durch

die Tarifnorm ersetzt wird. In Betracht kommt vielmehr nur, dass die Tarifnorm dem

Arbeitnehmer das Recht einräumt, länger oder kürzer als bisher zu arbeiten, oder

daß sie eine Mindest- oder Höchstgrenze festlegt, die für die beiderseits

tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien eine Verbotsnorm begründet.

3. Günstigkeitsprinzip und übertarifliche Arbeitsbedingungen Die Beschränkung der tarifvertraglichen Gestaltungsmacht durch das

Günstigkeitsprinzip hat nur zur Folge, dass Einzelvereinbarungen aufrechterhalten

bleiben, soweit sie günstiger als die tarifvertragliche Regelung sind. Weder aus der

Unabdingbarkeit der Tarifnormen noch aus dem Günstigkeitsprinzip ergibt sich aber,

dass die tarifvertraglich gewährte Vergünstigung auch den Arbeitnehmern zugute

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kommt, die bisher auf Grund einzelvertraglicher Vereinbarung übertarifliche

Arbeitsbedingungen erhielten. Dem Tarifvertrag wird genügt, wenn die

einzelvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen nicht hinter den Tarifsätzen

zurückbleiben.

Die Frage, welchen Einfluss eine Erhöhung des Tariflohns auf eine übertarifliche

Entlohnung hat, beantwortet deshalb der Einzelarbeitsvertrag. Kann ihm nicht

entnommen werden, dass ein übertariflicher Lohnbestandteil tarifbeständig ist, so gilt

als Regel, dass er von der Tariflohnerhöhung aufgesogen wird. Durch Tarifvertrag

kann nicht geregelt werden, dass übertariflich entlohnte Arbeitnehmer in den Genuss

der Tariflohnerhöhung kommen. Derartige Effektivklauseln sind unwirksam.3 Ein

Tarifvertrag kann auch nicht bestimmen, dass ein übertariflicher Lohnbestandteil auf

eine tarifliche Lohnerhöhung angerechnet wird.

4. Unverzichtbarkeit auf entstandene tarifliche Rechte als Ergänzung der Unabdingbarkeit

Mit dem Sinn und Zweck der Unabdingbarkeit von Tarifnormen wäre es unvereinbar,

wenn durch einen Erlassvertrag erreicht werden könnte, dass die Leistungen nicht

nach dem Tarifvertrag erbracht werden. Die Unabdingbarkeit schließt deshalb

grundsätzlich den Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte aus. § 4 Abs. 4 TVG

geht daher von dem Grundsatz aus, dass was unabdingbar ist, auch unverzichtbar

ist.

Ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte ist nur in einem von den

Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig (§ 4 Abs. 4 Satz 1 TVG).

Voraussetzung ist allerdings, dass die Rechte während der Tarifgeltung entstanden

sind, die Tarifnormen also unmittelbar und zwingend für das Arbeitsverhältnis galten.

Es genügt nicht, dass der Anspruch zu einer Zeit begründet wurde, als der

Tarifvertrag nur noch Nachwirkung hatte (§ 4 Abs. 5 TVG). Eine Billigung durch die

Tarifvertragsparteien ist also nur für Ansprüche erforderlich, die zu einer Zeit

begründet wurden, als die Tarifvertragsparteien die Herrschaft über die

Tarifvertragsregelung hatten. Entsprechend findet daher die Regelung auch keine 3 So jedenfalls BAG 14.2.1968 AP TVG § 4 Effektivklausel Nr. 7.

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Anwendung, wenn die Tarifvertragsregelung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer keine

Tarifgeltung hat, sondern nur auf Grund einer arbeitsvertraglichen

Einbeziehungsabrede oder betrieblicher Übung dem Arbeitsverhältnis zugrunde

gelegt wird.

Für § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG spielt keine Rolle, ob es sich um einen Prozessvergleich

oder um einen außergerichtlichen Vergleich handelt. Nicht erfasst wird der Fall, daß

über die tatsächlichen Voraussetzungen eines tariflichen Anspruchs

Meinungsverschiedenheiten bestehen. Ein Vergleich, der den Streit oder die

Ungewissheit beseitigt (Tatsachenvergleich), fällt nicht unter § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG;

denn der im Vergleich enthaltene Verzicht bezieht sich hier nicht auf die Geltung der

Tarifnorm.

Der Grundsatz der Unverzichtbarkeit wird dadurch ergänzt, dass die Verwirkung von

tariflichen Rechten ausgeschlossen ist (§ 4 Abs.4 Satz 2 TVG). Der Zeitablauf spielt

deshalb bei tariflich begründeten Ansprüchen ohne besondere Regelung im

Tarifvertrag nur insofern eine Rolle, als er zu einer Verjährung des Anspruchs führen

kann. Durch den Ausschluss der Verwirkung soll aber lediglich verhindert werden,

daß der Arbeitnehmer seinen Anspruch bereits bei illoyaler Verspätung der

Geltendmachung verliert, bevor die Verjährungsfrist oder eine im Tarifvertrag

festgelegte Ausschlussfrist abgelaufen ist. Dadurch wird aber nicht ausgeschlossen,

daß die Geltendmachung des Anspruchs aus anderen Gründen eine unzulässige

Rechtsausübung darstellt, insbesondere der Einwand der Arglist begründet ist.

Die Unabdingbarkeit der Tarifnormen wird weiterhin dadurch gesichert, dass für die

Geltendmachung tariflicher Rechte Ausschlussfristen nur im Tarifvertrag vereinbart

werden können (§ 4 Abs. 4 Satz 3 TVG). Auch hier ist Voraussetzung, dass die

Tarifnormen Tarifgeltung hatten, als das Recht begründet wurde. Das Gesetz spricht

zwar nur von Ausschlussfristen, durch deren Festlegung bestimmt wird, dass der

Anspruch erlischt, wenn er nicht innerhalb der Frist geltend gemacht wird, während

der Ablauf der Verjährungsfrist den Anspruch nicht beseitigt, sondern lediglich ein

Leistungsverweigerungsrecht gibt (§ 214 Abs. 1 BGB). Es würde aber im Ergebnis

für die Sicherung der Unabdingbarkeit der Tarifnorm keinen Unterschied machen,

wenn die gesetzlich festgelegten Verjährungsfristen einzelvertraglich abgekürzt

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werden könnten. Deshalb gilt § 4 Abs. 4 Satz 3 TVG, wie ein Textvergleich mit der

parallel gestalteten Vorschrift des § 77 Abs. 4 Satz 3 BetrVG bestätigt, auch für die

Abkürzung der Verjährungsfristen: Eine Verkürzung der gesetzlich vorgesehenen

Verjährungsfristen kann, soweit es um die Geltendmachung tariflicher Rechte geht,

nur durch Tarifvertrag verbindlich festgelegt werden.

Die Tarifvertragsparteien beschränken die Ausschluss- und Verjährungsfristen in der

Regel nicht auf die Geltendmachung der tariflich gestalteten Rechte, sondern es ist in

der Tarifpraxis üblich, sie auf alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis zu

erstrecken, so dass auch auf Gesetz beruhende und einzelvertraglich begründete

Ansprüche erfasst werden. Die Beschränkung, dass Ausschlussfristen nur in einem

Tarifvertrag festgelegt werden können, gilt aber lediglich für Tarifansprüche bei

Tarifgeltung.

5. Nachwirkung der Tarifnormen bei Beendigung der Unabdingbarkeit

Nach Ablauf des Tarifvertrages gelten, wie es in § 4 Abs. 5 TVG heißt, ,,seine

Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden“. Diese

Vorschrift gilt entsprechend für den Fall, dass lediglich die Tarifgebundenheit an

einen weitergeltenden Tarifvertrag beendet, z. B. die Allgemeinverbindlicherklärung

aufgehoben wird. Durch die Nachwirkung soll ausgeschlossen werden, dass die

Arbeitsverhältnisse mit Ablauf des Tarifvertrags ,,inhaltsleer“ werden. Sie bedeutet

trotz des missverständlich gefassten Gesetzestextes nicht eine Weitergeltung der

Tarifnormen mit unmittelbarer, aber lediglich dispositiver Wirkung, sondern sie

erstreckt sich nur auf Arbeitsverhältnisse, die schon vor Ablauf des Tarifvertrags

begründet waren.4 IV. Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität

Von einer Tarifkonkurrenz spricht man, wenn zwei oder mehrere Tarifverträge

denselben Sachverhalt regeln. Voraussetzung ist, dass sie Tarifgeltung haben. Wenn 4 So jedenfalls die ständige Rechtsprechung des BAG; vgl. BAG 22.7.1998 AP TVG § 4 Nachwirkung

Nr. 32.

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ein Tarifvertrag durch einen neuen Tarifvertrag abgelöst wird, liegt keine

Tarifkonkurrenz vor, sondern durch den neuen Tarifvertrag wird die bisherige

Regelung ersetzt und aufgehoben; es gilt insoweit das Ablösungsprinzip. Eine

Tarifkonkurrenz kommt deshalb nur in Betracht, wenn der Regelungsgegenstand

unter den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich

mehrerer Tarifverträge fällt. Voraussetzung ist weiterhin, dass die für den

Regelungsgegenstand gegebenen Regelungen sich ausschließen. Eine

Tarifkonkurrenz scheidet daher aus, wenn sie sich ergänzen sollen, wie es

namentlich bei den Lohntarifverträgen und Tarifverträgen über allgemeine

Arbeitsbedingungen (Manteltarifverträgen) der Fall zu sein pflegt.

Das Problem, nach welchen Grundsätzen die Tarifkonkurrenz zu lösen ist, stellt sich

nur, wenn Tarifgebundenheit besteht. Soweit die Tarifverträge den Inhalt der

Arbeitsverhältnisse regeln, erfolgt daher eine Abgrenzung bereits weitgehend durch

das Erfordernis der beiderseitigen Tarifgebundenheit (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Bei

unterschiedlicher Organisationszugehörigkeit der Arbeitnehmer liegt daher nur eine

Tarifpluralität vor. Dennoch gibt es Fälle, in denen beiderseitige Tarifgebundenheit zu

mehreren Tarifverträgen besteht und das Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich

dieser Tarifverträge fällt. Eine derartige Tarifgebundenheit kommt in Betracht, wenn

eine Gewerkschaft mit zwei verschiedenen Arbeitgeberverbänden einen Tarifvertrag

abschließt und der Arbeitgeber ihnen angehört. Möglich ist weiterhin, dass die

Gewerkschaft mit dem Arbeitgeber selbst einen Tarifvertrag abgeschlossen hat, also

neben dem Verbandstarifvertrag ein Firmentarifvertrag besteht. Schließlich kann sich

die Tarifkonkurrenz daraus ergeben, dass ein Tarifvertrag, in dessen

Geltungsbereich das Arbeitsverhältnis fällt, für allgemeinverbindlich erklärt wird und

neben ihm ein Tarifvertrag besteht, an den die Arbeitsvertragsparteien nach § 3

Abs. 1 TVG tarifgebunden sind.

Die Kollisionsregel kann bei Tarifkonkurrenz nicht nach dem Günstigkeitsprinzip

bestimmt werden; es gilt vielmehr das Prinzip der Sachnähe. Die Tarifkonkurrenz ist

deshalb nach dem Spezialitätsprinzip zu lösen: Der dem Betrieb räumlich, betrieblich,

fachlich und persönlich am nächsten stehende Tarifvertrag findet Anwendung. Im

Verhältnis zu einem Verbandstarifvertrag hat deshalb der Firmentarifvertrag den

Vorrang. Bei konkurrierenden Verbandstarifverträgen besteht keine Rangordnung

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der Berufsverbände, sondern es ist hier die Tarifspezialität nach dem

Geltungsbereich der konkurrierenden Tarifverträge zu bestimmen.

Das BAG wendet den Grundsatz der Tarifspezialität auch auf den Fall der

Tarifpluralität an; es begründet seine Auffassung mit dem Grundsatz der Tarifeinheit

im Betrieb.5 Damit wird aber der durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit

verfassungsrechtlich gewährleistete und durch das Tarifvertragsgesetz abgesicherte

Tarifwettbewerb ausgeschaltet. Wenn z. B. die einen Krankenhausärzte bei verdi, die

anderen im Marburger Bund organisiert sind, gibt es keinen Grund, dass im

Krankenhaus nur ein Tarifvertrag zur Anwendung kommt, obwohl der Arbeitgeber

einem Verband angehört, der mit beiden Gewerkschaften einen Tarifvertrag

abgeschlossen hat.

V. Allgemeinverbindlicherklärung 1. Bedeutung und Rechtswirkung

Die Begrenzung der Tarifgeltung auf Mitglieder der Tarifvertragsparteien ermöglicht

den nichtorganisierten Arbeitnehmern, dass sie beim Abschluss von Arbeitsverträgen

den tarifvertraglich festgelegten Mindeststandard unterbieten. Zur Sicherung der

tarifvertraglichen Regelungsbefugnis hat deshalb schon die Tarifvertragsverordnung

vom 23.12.1918 in § 2 das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung

eingeführt. Das Tarifvertragsgesetz hat in § 5 an ihm festgehalten. Durch den

staatlichen Hoheitsakt der Allgemeinverbindlicherklärung wird die Tarifgeltung im

Geltungsbereich eines Tarifvertrags auf die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber

und Arbeitnehmer erstreckt (§ 5 Abs. 4 TVG).

Die Allgemeinverbindlicherklärung soll die durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit

intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Tarifvertragsparteien

abstützen. Daneben dient sie dem Ziel, den Außenseitern angemessene

Arbeitsbedingungen zu sichern. Das BVerfG führt die Allgemeinverbindlicherklärung

insoweit auf die subsidiäre Regelungszuständigkeit des Staats zurück, die immer

5 BAG 14.6.1989 und 20.3.1991 AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 16 und 20.

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dann eintrete, ,,wenn die Koalitionen die ihnen übertragene Aufgabe, das

Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht allein erfüllen

können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder

Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des

Staates erforderlich macht“.6

Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Rechtsinstitut des Tarifvertragsrechts und

deshalb von der im Schlichtungsrecht der Weimarer Zeit vorgesehenen

Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruchs zu unterscheiden, durch die ein

Zwangstarif zustande kam. Bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen

werden die durch die Mitgliedschaft zu den Tarifverbänden gezogenen Grenzen der

Tarifgeltung überschritten: Die Rechtsnormen des Tarifvertrags erfassen in ihrem

Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und

Arbeitnehmer (§ 5 Abs. 4 TVG). Die allgemeinverbindliche Tarifvertrag entfaltet

deshalb dieselbe unmittelbare und zwingende Wirkung wie ein normaler Tarifvertrag,

für den die Tarifgebundenheit sich nach § 3 TVG richtet, bei einem

Verbandstarifvertrag also durch den freiwilligen Verbandsbeitritt der

Tarifunterworfenen legitimiert wird. Geltungsgrund ist bei

Allgemeinverbindlicherklärung für die sonst von der Tarifgeltung nicht erfassten

Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein staatlicher Rechtsetzungsakt.

2. Verfahren

Die Allgemeinverbindlicherklärung ist keine Rechtsverordnung, sondern ein

Rechtsetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher

Rechtsetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG findet.7 Sie

unterliegt daher nicht den verfassungsrechtlichen Beschränkungen für den Erlass

einer Rechtsverordnung.

Die Allgemeinverbindlicherklärung kann sich stets nur auf einen Tarifvertrag

beziehen, der noch in Geltung ist (vgl. § 5 Abs. 1 und 5 Satz 3 TVG). Sie beschränkt

sich auf die Rechtsnormen des Tarifvertrags, gilt also nicht für die Bestimmungen in

dessen schuldrechtlichen Teil. Die tarifgebundenen Arbeitgeber müssen mindestens 6 BVerfGE 44, 322 (342). 7 So BVerfGE 44, 322 (340).

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50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer

beschäftigen, und es muss die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen

Interesse geboten erscheinen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG); davon kann nur abgewichen

werden, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen

Notstandes erforderlich erscheint (§ 5 Abs. 1 Satz 2 TVG). Zu den formellen

Voraussetzungen gehört, dass eine Tarifvertragspartei den Antrag stellt (§ 5 Abs. 1

Satz 1 TVG).

Für die Allgemeinverbindlicherklärung und deren Aufhebung ist das

Bundesministerium für Arbeit und Soziales zuständig (§ 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5

Satz 1 TVG). Es kann der obersten Arbeitsbehörde eines Landes für einzelne Fälle

die Kompetenz zum Erlass und zur Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung

übertragen (§ 5 Abs. 6 TVG). Die Allgemeinverbindlicherklärung kann nur im

Einvernehmen, d. h. mit Zustimmung des sog. Tarifausschusses, der aus je drei

Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer besteht,

ausgesprochen und aufgehoben werden.

Wird die Allgemeinverbindlicherklärung aufgehoben, so endet die Tarifgeltung für die

bisher von ihr erfassten nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Der

Tarifvertrag entfaltet für sie aber in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG

Nachwirkung. Die Allgemeinverbindlicherklärung endet aber auch mit Ablauf des

Tarifvertrags (§ 5 Abs. 5 Satz 3 TVG). Sie nimmt den Tarifvertragsparteien nicht die

Herrschaft über den Tarifvertrag. Sie können ihn jederzeit ändern und dadurch die

Beendigung der Allgemeinverbindlicherklärung herbeiführen.

Die Allgemeinverbindlicherklärung wie die Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit

bedürfen der öffentlichen Bekanntmachung (§ 5 Abs. 7 TVG). Sie sind erst mit ihr

wirksam. Die Publikation erfolgt im Bundesanzeiger (§ 11 DVO-TVG). Für den Fall

der Beendigung der Allgemeinverbindlichkeit durch Ablauf oder Änderung des

zugrunde liegenden Tarifvertrags ist dagegen lediglich vorgesehen, dass die

entsprechenden Mitteilungen der Tarifvertragsparteien, die diese gemäß § 7 TVG

innerhalb eines Monats abzugeben haben, im Bundesanzeiger mit deklaratorischer

Wirkung bekanntgemacht werden (§ 11 DVO-TVG).

15

§ 9 Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen I. Regelungsvorrang der Tarifvertragsparteien

Die Verfassungsgarantie der Koalitionsfreiheit gewährleistet eine autonome Ordnung

des Arbeitslebens durch das Tarifvertragssystem. Dadurch erhalten die Koalitionen

eine ,,Normsetzungsprärogative“.8 Der staatliche Gesetzgeber bleibt jedoch

subsidiär für die Ordnung des Arbeitslebens weiterhin zuständig. So beruht die

Allgemeinverbindlicherklärung ,,auf der subsidiären Regelungszuständigkeit des

Staates, die immer dann eintritt, wenn die Koalitionen die ihnen übertragene

Aufgabe, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu ordnen, im Einzelfall nicht

erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder

Arbeitnehmergruppen oder ein sonstiges öffentliches Interesse ein Eingreifen des

Staates erforderlich macht“.9 Entsprechend besteht daher das Recht des Staates,

Mindestarbeitsbedingungen festzusetzen, wenn die Tarifautonomie ihre Funktion

nicht erfüllen kann, weil Arbeitgeber oder Arbeitnehmer nicht oder nur in völlig

unzureichendem Umfang organisiert sind.

II. Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen

Rechtsgrundlage für ein Eingreifen des Staates ist das Gesetz über die Festsetzung

von Mindestarbeitsbedingungen vom 11.1.1952. Bisher ist es nie angewandt worden.

Klarstellend legt es fest, dass die Regelung von Entgelten und sonstigen

Arbeitsbedingungen grundsätzlich in freier Vereinbarung zwischen den

Tarifvertragsparteien durch Tarifverträge erfolgt (§ 1 Abs. 1).

Mindestarbeitsbedingungen können deshalb nur festgesetzt werden, ,,wenn

a) Gewerkschaften oder Vereinigungen von Arbeitgebern für den

Wirtschaftszweig oder die Beschäftigungsart nicht bestehen oder nur eine Minderheit

der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber umfassen und

b) die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen zur Befriedigung der

notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer erforderlich 8 So BVerfGE 44, 322 (341). 9 BVerfGE 44, 322 (342).

16

erscheint und

c) eine Regelung von Entgelten oder sonstigen Arbeitsbedingungen durch

Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages nicht erfolgt ist“ (§ 1 Abs. 2).

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so können Mindestarbeitsbedingungen

festgesetzt werden, die als Rechtsverordnung erlassen werden (§ 4 Abs. 3). Für sie

gelten hinsichtlich ihrer Rechtswirkung auf das Einzelarbeitsverhältnis die

gesetzlichen Vorschriften über den Tarifvertrag sinngemäß (§ 8 Abs. 1), d. h. die

Mindestarbeitsbedingungen gelten wie die Rechtsnormen eines Tarifvertrages

unmittelbar und zwingend. Tarifvertragliche Bestimmungen gehen aber stets den

Mindestarbeitsbedingungen vor; insoweit gilt das Ausschließlichkeitsprinzip, nicht das

Günstigkeitsprinzip (§ 8 Abs. 2). Die Durchführung der Mindestarbeitsbedingungen

steht unter staatlicher Überwachung (§§ 11--15).

III. Allgemeinverbindliche Mindestlöhne im Baugewerbe Zur Bekämpfung eines Sozialdumpings beim Einsatz ausländischer Arbeitnehmer

durch ausländische Bauunternehmen auf Baustellen in Deutschland erging das

Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden

Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG) vom 26. 2.1996. Es gilt für

das Baugewerbe und die Seeschifffahrtsassistenz. Erwogen wird zur Sicherung von

Mindestlöhnen die Begrenzung des Anwendungsbereichs aufzugeben. Das Gesetz

sichert, dass das Arbeitsentgelt nicht die zur Umsetzung dieses Gesetzes

vereinbarten Mindestlohntarifverträge unterschreitet. Deren Rechtsnormen gelten

aber für nicht bei den Tarifvertragsparteien organisierte Arbeitgeber und

Arbeitnehmer nur nach Allgemeinverbindlicherklärung, die von der Mitwirkung der

Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer abhängt. § 1 Abs. 3 a

AEntG sieht daher seit seiner Einfügung durch Gesetz vom 19.12.1998 vor, dass die

Allgemeinverbindlicherklärung durch eine Rechtsverordnung des

Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ersetzt werden kann.

17

Vierter Teil: Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht

§ 10 Arbeitskampfrecht I. Streik und Aussperrung als Erscheinungsformen des Arbeitskampfes

Erscheinungsformen des Arbeitskampfes sind Streik und Aussperrung. Neben ihnen

ist ein Kampfmittel auch der Boykott, der in der Rechtswirklichkeit nur eine

untergeordnete Rolle spielt.

1. Begriff des Streiks

Mit Streik bezeichnet man die gemeinsam durchgeführte Arbeitsniederlegung einer

Mehrzahl von Arbeitnehmern, um dadurch einen bestimmten Willen zum Ausdruck zu

bringen. Der Begriff stammt von ,,to strike work“. Der Streik ist historisch die

spezifische Verhaltensweise der Arbeitnehmer, durch die sie Einfluss auf die

Gestaltung ihrer Lohn- und Arbeitsbedingungen zu gewinnen suchten. Zu diesem

Zweck schloss man sich in Gewerkschaften zusammen, um erfolgreich einen

Arbeitskampf bestehen zu können. Der Streik kann in vielfältiger Form auftreten:

Streik ist vor allem die Verweigerung, die Arbeitspflicht zu erfüllen. Zu ihr gehört nicht

nur das Fernbleiben vom Arbeitsplatz, sondern auch die sog passive Resistenz

(Sitzstreik). Der Streik kann darin bestehen, dass Arbeitnehmer entweder übermäßig

langsam (Bummelstreik) oder übermäßig sorgfältig arbeiten (,,Dienst nach

Vorschrift“), so dass der Arbeitgeber keinen wirtschaftlichen Nutzen aus der Arbeit

ziehen kann.

Nach dem Kampfziel unterscheidet man den arbeitsrechtlichen und den politischen

Streik. Bei einem arbeitsrechtlichen Streik ist Adressat der Kampfforderung die

Arbeitgeberseite; bei einem politischen Streik soll dagegen auf die Gesetzgebung

eingewirkt werden. Nach der Form der Druckausübung zur Erreichung der

Kampfforderung unterscheidet man den Erzwingungsstreik, durch den die

Kampfforderung unmittelbar durchgesetzt werden soll, und den

18

Demonstrationsstreik, der sich in einer Demonstrationsfunktion erschöpft; er will

entweder den Unwillen über eine bestimmte Situation zum Ausdruck bringen

(Proteststreik) oder die Entschlossenheit der Arbeitnehmer bekunden, einen

Erzwingungsstreik zu führen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden

(Warnstreik). Nicht notwendig ist, dass mit einem Streik eigene Kampfziele

verbunden werden; vielmehr ist es möglich, dass ein Streik als Sympathie- oder

Solidaritätsstreik (Nebenstreik) zur Unterstützung eines Streiks (Hauptstreik) geführt

wird.

Nach der Organisation unterscheidet man zwischen dem von einer Gewerkschaft

organisierten Streik und dem nichtgewerkschaftlichen Streik, der wenig glücklich als

wilder Streik bezeichnet wird. Auch bei ihm ist die Arbeitsniederlegung organisiert.

Auch wenn insoweit eine Koalitionsverabredung vorliegt, handelt es sich lediglich um

einen nichtgewerkschaftlichen Streik. Möglich ist, dass eine Gewerkschaft

nachträglich die Leitung übernimmt. Der wilde Streik wird dadurch zu einem

gewerkschaftlichen Streik.

Nach der Taktik kann der Streik Vollstreik oder Teilstreik sein. Bei einem Vollstreik,

den man auch als Flächenstreik bezeichnet, sind alle Arbeitnehmer eines

Kampfgebiets zur Arbeitsniederlegung aufgerufen. Der Vollstreik ist nicht mit dem

Generalstreik identisch, bei dem in allen Wirtschaftszweigen die Arbeit eingestellt

wird und der im Allgemeinen ein politischer Streik ist, so der Streik gegen den Kapp-

Putsch 1920. Beim Teilstreik wird nur ein Teil der Arbeitnehmer der bestreikten

Betriebe innerhalb eines Kampfgebiets in die Arbeitsniederlegung einbezogen. Er

wird als Schwerpunktstreik bezeichnet, wenn lediglich die Arbeitnehmer, die in den

Betrieben eine Schlüsselstellung einnehmen, die Arbeit niederlegen oder in den

Streik nur Betriebe einbezogen werden, die für andere Betriebe notwendiges

Vormaterial liefern oder die Energieversorgung sicherstellen.

2. Aussperrung Die Aussperrung (von ,,lock out“) ist die planmäßig durchgeführte Nichtzulassung

einer Gruppe von Arbeitnehmern zur Arbeitsleistung unter Verweigerung des

19

Arbeitsentgelts, um dadurch ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Sie ist das

Kampfmittel der Arbeitgeberseite. Von Bedeutung ist weiterhin, ob die Aussperrung

von einem Arbeitgeberverband organisiert wird (Verbandsaussperrung) oder ob sie

nur ein einzelner Arbeitgeber durchführt. Die Differenzierung ist hier aber nicht ein

Spiegelbild der Unterscheidung zwischen dem gewerkschaftlichen und dem sog

wilden Streik; denn bei einem Streik muss stets eine Mehrzahl von Arbeitnehmern

beteiligt sein, während bei der Aussperrung die Besonderheit gerade darin liegt, dass

auch ein einzelner Arbeitgeber sie vornehmen kann. Der notwendige kollektive

Bezug liegt ausschließlich auf der Arbeitnehmerseite, die bei einer Aussperrung

passiv betroffen wird; ein einzelner Arbeitnehmer kann nicht ausgesperrt werden,

sofern er nicht als Mitglied einer Gruppe von der Kampfmaßnahme betroffen wird.

3. Boykott Neben Streik und Aussperrung ist ein weiteres Kampfmittel, das sowohl die

Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer einsetzen können, der Boykott. Er besteht in

der planmäßigen Absperrung eines Gegners vom geschäftlichen Verkehr durch

Ablehnung von Vertragsabschlüssen, um ein bestimmtes Kampfziel, z. B. den

Abschluss eines Tarifvertrags, zu erreichen. Der Boykott kann sich darauf beziehen,

keine Arbeitsverträge abzuschließen (Arbeits- oder Zuzugssperre). Er kann sich aber

auch völlig vom Rahmen des Arbeitsverhältnisses lösen, z.B. wenn eine

Gewerkschaft andere Arbeitnehmer oder auch Dritte auffordert, Waren des

boykottierten Arbeitgebers nicht zu kaufen oder sich nicht an den ihm zu

erbringenden Leistungen zu beteiligen, z. B. in der Seeschifffahrt die Schiffe des

Arbeitgebers nur schleppend oder gar nicht abzufertigen. II. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Arbeitskampfes Wie bereits die Weimarer Reichsverfassung hat auch das Grundgesetz darauf

verzichtet, ein Streikrecht als Grundrecht im Verfassungstext zu verankern.

Verfassungsrechtlich gewährleistet ist als Grundrecht nur die Koalitionsfreiheit, wobei

man bereits in Art 159 WRV für sie den Begriff der ,,Vereinigungsfreiheit zur

Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ wählte, ohne

20

zugleich einen Hinweis auf das Koalitionsmittel des Arbeitskampfes in die

verfassungsrechtliche Garantie aufzunehmen. Auch Art 165 Abs. 1 WRV sprach nur

davon, dass die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen anerkannt

werden, ohne den Arbeitskampf zu erwähnen.

Der Parlamentarische Rat beabsichtigte dagegen zunächst nach dem Vorbild

entsprechender Regelungen in den Länderverfassungen, in einem Abs. 4 des

späteren Art 9 GG festzulegen: ,,Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze

anerkannt.“ Man nahm aber von diesem Vorhaben Abstand, weil der Ausschluss des

politischen Streiks und des Beamtenstreiks eine zu große Kasuistik ergeben hätte.

Erst durch das Gesetz über die Notstandsverfassung vom 24.6.1968 fand der Begriff

des Arbeitskampfs Eingang in den Verfassungstext: Dem Art 9 Abs. 3 GG wurde ein

Satz 3 angefügt, durch den festgelegt wird, dass Maßnahmen, die im Verteidigungs-

oder sonstigen Notstandsfall ergriffen werden können, sich nicht gegen

Arbeitskämpfe richten dürfen, ,,die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und

Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden“.

Die Vorschrift enthält aber keine Verankerung eines Grundrechts auf Streik; sie zieht

vielmehr für den Arbeitskampf lediglich den sonst im Notstandsfall zulässigen

Grundrechtsschranken eine Schranke (sog. Schranken-Schranke). Lediglich

mittelbar wird durch Art 9 Abs. 3 Satz 3 GG die bereits zur herrschenden Lehre

gelangte Interpretation bestätigt, dass der Arbeitskampf vom kollektiven

Schutzbereich der Koalitionsfreiheit in Art 9 Abs. 3 GG erfasst wird. Durch die

Verwendung des Wortes ,,Arbeitskampf“ kommt zum Ausdruck, dass nicht nur der

Streik, sondern auch die Aussperrung gemeint ist, also der Arbeitskampf als

Oberbegriff für Streik und Aussperrung figuriert.

Da ein wesentlicher Zweck der von Art 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionen der

Abschluss von Tarifverträgen ist, der Arbeitskampf aber zu den

Funktionsvoraussetzungen der Tarifautonomie gehört, sind

Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind,

durch Art 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützt. Das gilt nicht nur für den

Streik,10 sondern auch für die Aussperrung; denn auch sie ist, jedenfalls soweit Teil-

oder Schwerpunktstreiks keinen Schranken unterliegen, ein unerlässliches Mittel zur

10 Vgl. BVerfGE 88, 103 (114)

21

Aufrechterhaltung einer funktionierenden Tarifautonomie.11 Funktionsfähig ist die

Tarifautonomie nur, ,,solange zwischen den Tarifvertragsparteien ein ungefähres

Kräftegleichgewicht -- Parität -- besteht“.12 Zu deren Sicherung genügt es, dass ein

Recht zur Aussperrung nur begrenzt anerkannt wird; jedoch muss in diesem Fall bei

Vertragsstörungen die Risikotragung des Arbeitgebers so gestaltet sein, dass kein

Übergewicht für die Arbeitnehmerseite eintritt.

III. Grundlagen des Arbeitskampfes im Europäischen Gemeinschaftsrecht Nach Art 137 Abs. 6 EGV hat die Europäische Gemeinschaft keine

Rechtsetzungskompetenz für die Bereiche des Koalitionsrechts, des Streikrechts und

des Aussperrungsrechts. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union

(ABl.EG 2000/C 364/01) bestimmt zwar in Art 28, dass Arbeitnehmer und

Arbeitgeber das Recht haben, bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur

Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich des Streiks, zu ergreifen; die Charta ist

aber rechtlich unverbindlich.

Für das Arbeitskampfrecht von Bedeutung ist die Europäische Sozialcharta vom

18. Oktober 1961, die noch nicht auf einem Rechtsetzungsakt der Europäischen

Gemeinschaft beruht. In Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC wird, ,,um die wirksame Ausübung

des Rechtes auf Kollektivverhandlungen zu gewährleisten“, von den Vertragsparteien

,,das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen

einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich

etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen“ anerkannt. Das

Aussperrungsrecht wird nicht ausdrücklich erwähnt, ist aber gemeint, wenn vom

Recht der Arbeitgeber auf ,,kollektive Maßnahmen“ die Rede ist Die Europäische

Sozialcharta bindet den Gesetzgeber, bildet aber selbst kein unmittelbar geltendes

Bundesrecht.

IV. Rechtsgrundsätze für die Zulässigkeit eines Streiks Das Arbeitskampfrecht ist nicht gesetzlich kodifiziert; es ist im Wesentlichen durch 11 Vgl. BVerfGE 84, 212 (225). 12 BVerfGE 92, 365 (395).

22

die Rechtsprechung des BAG gestaltet worden. Nach Ansicht seines Großen Senats

stehen Arbeitskämpfe unter dem obersten Gebot der Verhältnismäßigkeit,13

Maßgebend für dieses Fundamentalprinzip des Arbeitskampfrechts ist, dass mit dem

Arbeitskampf ein Eingriff in fremde Rechte verbunden ist. Entscheidend für seine

Zulassung ist der Funktionszusammenhang mit dem Tarifvertragssystem. Darin liegt

der materielle Geltungsgrund für seine rechtliche Zulässigkeit; zugleich sind aber aus

ihm auch die Ordnungsgrundsätze zu entwickeln, die das Arbeitskampfrecht

beherrschen.

1. Tarifvertrag als Regelungsziel Für die Privilegierung der Streikbeteiligung ist konstitutiv, dass der Streik von einer

Gewerkschaft geführt wird. Wegen des Zusammenhangs mit der Tarifautonomie ist

weiterhin Voraussetzung, dass die Forderung der Gewerkschaft, um derentwillen ein

Streik geführt werden soll, Inhalt eines Tarifvertrags sein kann. Da den Koalitionen

verfassungsrechtlich garantiert ist, die Arbeitsentgelte und sonstigen

Arbeitsbedingungen in eigener Verantwortung zu regeln, besteht gegenüber der

Kampfforderung staatliche Neutralität. Ihre Verhältnismäßigkeit unterliegt nicht der

gerichtlichen Überprüfung, weil eine derartige Kontrolle mit der Tarifautonomie als

Bestandteil des marktwirtschaftlichen Systems unvereinbar wäre.14 Aus der

Hilfsfunktion für die Tarifautonomie ergibt sich die Beschränkung des Arbeitskampfes

auf tarifvertraglich regelbare Ziele. Der politische Streik ist deshalb nur nach

Maßgabe des verfassungsrechtlichen Widerstandsrechts gemäß Art. 20 Abs. 4 GG

zulässig.

2. Streik und tarifvertragliche Friedenspflicht

Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Streiks ist weiterhin, dass er nicht gegen die

Friedenspflicht aus einem geltenden Tarifvertrag verstößt. Mit dessen Abschluss wird

nämlich, ohne dass es einer besonderen Vereinbarung bedarf, die Pflicht der

Tarifvertragsparteien begründet, die in ihm festgelegte Ordnung während ihrer

Geltung nicht durch Kampfmaßnahmen in Frage zu stellen. Diese Pflicht entfaltet 13 BAG (GS) 1.4.1971 AP GG Art 9 Arbeitskampf Nr. 43. 14 Vgl. BVerfGE 84, 212 (231).

23

zwischen ihnen schuldrechtliche Wirkung als Folge des Grundsatzes der

Vertragstreue. Bei einem Verbandstarifvertrag besteht sie auch gegenüber einem

tarifgebundenen Arbeitgeber, obwohl er nicht Partei des Tarifvertrags ist; denn der

Tarifvertrag ist in soweit ein Vertrag zugunsten Dritter, hier also der Mitglieder des

tarifschließenden Arbeitgeberverbands.

Besteht im Tarifvertrag keine besondere Vereinbarung, so bezieht die Friedenspflicht

sich nur auf die in ihm vereinbarte Ordnung. Sie ist also eine relative Friedenspflicht,

die einen Streik um einen andren Regelungsgegenstand nicht erfasst. Bei einer

Regelung der Löhne ist daher ein Streik um deren Erhöhung eine Verletzung der

Friedenspflicht, nicht aber ein Streik, der die Dauer der Arbeitszeit zum Gegenstand

hat. Im einzelnen können sich hier schwierige Abgrenzungsprobleme ergeben. Die

Tarifvertragsparteien können die Friedenspflicht konkretisieren, sie insbesondere zu

einer absoluten Friedenspflicht ausbauen, z. B. bestimmen, dass Kampfmaßnahmen

während der Geltung des Tarifvertrags schlechthin ausgeschlossen sein sollen. Die

Vereinbarung braucht auch nicht mit der Geltung des Tarifvertrags verbunden zu

sein. So wird beispielsweise vereinbart, dass während einer bestimmten Zeit nach

Ablauf des Tarifvertrags keine Kampfmaßnahmen gegeneinander geführt werden,

oder es wird festgelegt, dass einem Arbeitskampf ein Schlichtungsverfahren

vorgeschaltet wird. Die Schlichtungs- und Schiedsabkommen zwischen den

Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften sind derartige besondere

Friedensabkommen.

3. Streik als ultima ratio

Für das Kampfverfahren entnimmt das BAG dem Gebot der Verhältnismäßigkeit die

Norm, dass der Arbeitskampf die ultima ratio sein muss.15 Das ultima-ratio-Prinzip ist

von der tarifvertraglichen Friedenspflicht zu unterscheiden; es ist ,,Teil der die

Tarifvertragsparteien berechtigenden und verpflichtenden Ordnung des

Arbeitskampfes“.16 Solange die Tarif- und Schlichtungsverhandlungen zwischen den

Tarifvertragsparteien noch nicht beendet sind, darf daher mit einem Streik noch nicht

begonnen werden, auch wenn die tarifvertragliche Friedenspflicht bereits abgelaufen 15 BAG (GS) 21.4.1971 AP GG Art 9 Arbeitskampf Nr. 43. 16 BAG 14.7.1981 AP TVG § 1 Verhandlungspflicht Nr. 1.

24

ist. Jede Arbeitskampfmaßnahme darf deshalb nur nach Ausschöpfung aller

Verhandlungsmöglichkeiten ergriffen werden. Das gilt auch für zeitlich befristete

Warnstreiks einer Gewerkschaft.17 Das ultima-ratio-Prinzip sichert die Freiheit der

Verhandlung; es statuiert aber keinen Zwang zur Verhandlung, wenn eine Einigung

nicht zustande kommt. Deshalb ist jede Seite berechtigt, Tarifverhandlungen für

gescheitert zu erklären, wenn die andere Seite nicht auf ein Vertragsangebot

eingeht, und mit Kampfmaßnahmen zu beginnen.

4. Freiheit in der Wahl der Kampfstrategie

Die Gewerkschaft braucht nicht allen Arbeitnehmern im Kampfgebiet den

Streikbefehl zu erteilen. Sie kann vielmehr die Arbeitsniederlegung auf wenige

Arbeitnehmer beschränken, wenn sie meint, dass der dadurch ausgeübte Druck

ausreicht, um ihr Ziel zu erreichen. Teil- und Schwerpunktstreiks sind zulässig. Das

Gebot der Verhältnismäßigkeit zieht insoweit keine Grenze; im Gegenteil entspricht

es ihm sogar, dass die Gewerkschaft die Zahl der streikberechtigten Arbeitnehmer so

klein wie möglich halten kann. Die Festlegung des Kampfrahmens beruht auf dem

Grundsatz der Kampffreiheit, der die Freiheit der Wahl der Kampfmittel einschließt.

Die Gewerkschaft ist keineswegs auf einen Erzwingungsstreik beschränkt, sondern

sie kann, wenn sie dies für ausreichend hält, Warnstreiks führen und dabei

insbesondere auch nach einem Plan vorgehen, durch den sichergestellt werden soll,

dass Arbeitsniederlegungen kurzfristig in verschiedenen, immer wieder wechselnden

Betrieben stattfinden. Die Bedenken gegen die Zulässigkeit von Warnstreiks richten

sich nicht dagegen, dass eine Kampftaktik verfolgt wird, die es der Arbeitgeberseite

erschwert oder sogar unmöglich macht, sie mit einer Abwehraussperrung zu

beantworten, sondern ausschließlich dagegen, dass derartige Warnstreikaktionen

bereits während einer Tarifvertragsverhandlung durchgeführt werden, weil dadurch

die ultima-ratio-Regel als Grundprinzip des Arbeitskampfrechts verletzt wird.

17 Ebenso BAG 21.6.1988 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 108.

25

V. Streikbeteiligung und Arbeitsverhältnis 1. Subjektives Streikrecht

Wer seine Arbeit niederlegt, um einem Streikbefehl der Gewerkschaft zu folgen,

handelt bei Rechtmäßigkeit des Streiks nicht pflichtwidrig. Bis zum grundlegenden

Beschluss des Großen Senats des BAG vom 28.1.195518 umfasste die Anerkennung

der Streikfreiheit jedoch kein subjektives Streikrecht, das die Arbeitsniederlegung

rechtfertigt. Der Streik war weder verboten, noch gestattete er die Verletzung

gesetzlicher oder vertraglicher Pflichten. Selbst bei Rechtmäßigkeit von Zielsetzung

und Organisation eines Streiks wurde die Aufkündigung des Arbeitsverhältnisses

verlangt. Der Große Senat kam aber zu dem Ergebnis, dass bei der Beteiligung an

einem rechtmäßigen Streik kein Vertragsbruch vorliegt. Was kollektivrechtlich

zulässig sei, dürfe individualrechtlich nicht als Verletzung des Arbeitsvertrags

charakterisiert werden (kollektivrechtliche Einheitstheorie). Durch den Streik soll das

Verhandlungsgleichgewicht der Arbeitnehmer bei der Regelung ihrer

Arbeitsbedingungen durch Tarifvertrag hergestellt und gewahrt werden. Deshalb wird

das Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit verletzt, wenn man die Arbeitnehmer

auf die Kündigung ihrer Arbeitsverhältnisse verweist, obwohl die Tarifautonomie

durch Art. 9 Abs. 3 GG und der Bestandsschutz ihrer Arbeitsverhältnisse durch Art.

12 Abs. 1 GG gewährleistet ist.

Da die Rechtmäßigkeit eines Streiks davon abhängt, dass er von einer Gewerkschaft

geführt wird, ist die Beteiligung an einem nichtgewerkschaftlichen, einem sog. wilden

Streik rechtswidrig. Die Nichterbringung der Arbeitsleistung ist in diesem Fall eine

Verletzung der Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis, die als Kündigungsgrund in

Betracht kommt und eine Schadensersatzpflicht auslöst.

Streikende Arbeitnehmer haben für die Zeit ihrer Arbeitsniederlegung keinen

Anspruch auf das Arbeitsentgelt. Es spielt insoweit keine Rolle, ob der Streik

rechtmäßig ist. Der Wegfall des Anspruchs auf das Arbeitsentgelt ergibt sich aus

dem für das Arbeitsverhältnis geltenden Grundsatz „Ohne Arbeit keinen Lohn“. Er

folgt aus § 326 Abs. 1 BGB.

18 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 1.

26

2. Haftung auf Schadensersatz Eine Schadensersatzpflicht wegen eines Streiks kann sich aus zwei Gesichtspunkten

ergeben:

• Durch ihn kann die Pflicht aus einem Schuldverhältnis verletzt sein.

• Er kann eine unerlaubte Handlung darstellen.

Ist der Streik rechtswidrig, so ist die Arbeitsniederlegung eines Arbeitnehmers eine

Pflichtverletzung aus dem Arbeitsverhältnis, die ihn zum Schadensersatz gegenüber

seinem Arbeitgeber verpflichtet (§ 280 Abs. 1 BGB). Zu seinen Gunsten wird aber

vermutet, dass ein Streik, den eine Gewerkschaft führt, rechtmäßig ist.

Bei einer Gewerkschaft kann sich eine Schadensersatzpflicht aus einer Verletzung

der tarifvertraglichen Friedenspflicht ergeben. In die durch einen Verbandstarifvertrag

begründete Sonderbeziehung sind auch die Mitglieder des Arbeitgeberverbands

einbezogen.

Organisation und Durchführung eines rechtswidrigen Streiks sind als Eingriff in das

Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb eine unerlaubte Handlung,

die nach § 823 Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Aber auch bei einem

rechtmäßigen Streik können einzelne Kampfhandlungen einen Deliktstatbestand

erfüllen, der den Schädiger zum Ersatz des durch sie entstehenden Schadens

verpflichtet, z. B. eine Körperverletzung zur Abwehr eines Streikbrechers. Die

Rechtmäßigkeit des Streiks ist für sie kein Rechtfertigungsgrund.

VI. Rechte des Arbeitgebers im Arbeitskampf

1. Recht zur Aussperrung

Die Arbeitgeberseite ist nicht darauf beschränkt, einen Streik hinzunehmen, sondern

27

kann ihrerseits in einer Tarifauseinandersetzung in das Kampfgeschehen eingreifen.

Ihr ist in der Aussperrung ein kampfrechtliches Gegenrecht eingeräumt. Ein Teil-

oder Schwerpunktstreik, bei dem ausschließlich die Gewerkschaft den Kampfrahmen

bestimmt, kann die Parität beeinträchtigen, wenn die Arbeitgeberseite nicht das

Recht hat, Kampfmaßnahmen zu ergreifen, um ihr Verhandlungsgleichgewicht zu

sichern.

Rechtfertigungsgrund für die Anerkennung einer Abwehraussperrung ist nach

Ansicht des BAG die Gewährleistung der Verbandssolidarität. Bei einem Teilstreik

kann für die von ihm betroffenen Arbeitgeber eine ungleiche Lastenverteilung

eintreten, durch die der konkurrenzbedingte Interessengegensatz der Arbeitgeber

verschärft wird. Möglich ist daher, wie das BAG meint, dass die für

Verbandstarifverträge notwendige Solidarität der Verbandsmitglieder nachhaltig

gestört werde; die Verbandssolidarität sei aber wegen der Erforderlichkeit von Druck

und Gegendruck auch für die Arbeitgeberseite unerlässlich.19

Mit dieser Begründung hat das BAG das Recht zur Abwehraussperrung anerkannt,

es aber durch zwei Schranken begrenzt:

(1) Das Tarifgebiet sei regelmäßig die angemessene Grenze des Kampfgebiets.

(2) Innerhalb des Kampfgebiets dürfe die streikführende Gewerkschaft zwar alle

Arbeitnehmer zum Streik aufrufen, der Arbeitgeberverband zur Abwehr eines

Teilstreiks aber nur zahlenmäßig begrenzt Arbeitnehmer des Tarifgebiets in den

Aussperrungsbeschluss einbeziehen, wobei das BAG eine Zahlenbegrenzung

aufgestellt hat, die umgekehrt proportional zur Zahl der streikenden Arbeitnehmer

gestaltet ist.

Das BAG legt seiner Rechtsprechung die folgende Quotenregelung zugrunde: Wenn

auf Grund eines Streikbeschlusses weniger als ein Viertel der Arbeitnehmer des

Tarifgebiets ihre Arbeit niederlegen, soll ein Aussperrungsbeschluss des

Arbeitgeberverbandes die Abwehraussperrung bis zu einem Viertel der Arbeitnehmer

festlegen können; beteiligen sich mehr als ein Viertel am Streik, so sei ,,das

Bedürfnis der Arbeitgeber zur Erweiterung des Kampfrahmens entsprechend

19 BAG 10.6.1980 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 64 und 65.

28

geringer“, und nach allerdings nicht abschließender Festlegung soll eine

Aussperrung ausscheiden, wenn etwa die Hälfte der Arbeitnehmer eines Tarifgebiets

dem Streikbefehl folgt.20

Soweit die Aussperrung zulässig ist, hat sie wie die Teilnahme an einem

rechtmäßigen Streik zunächst nur suspendierende Wirkung für das Arbeitsverhältnis.

Der Große Senat des BAG hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 21.4.197121

zwar nicht ausgeschlossen, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch eine

wirksame Lösung der Arbeitsverhältnisse durch Aussperrung in Betracht kommt; sie

ist aber nicht praktiziert worden und wird als mit dem Grundsatz der

Verhältnismäßigkeit unvereinbar angesehen.

2. Stilllegungsbefugnis des Arbeitgebers und Arbeitskampfrisiko

Die Aussperrungskonzeption des BAG steht nach Ansicht des BVerfG mit Art. 9 Abs.

3 GG im Einklang;22 sie ist aber wegen der Begrenzung der Zweckbestimmung auf

die Verbandssolidarität nicht ausreichend, um die Rechtsstellung des Arbeitgebers

im Arbeitskampf zu präzisieren. Insbesondere bleibt unberücksichtigt, dass die

Fortführung des Betriebs oder ihre Unmöglichkeit Auswirkungen auf den Kampferfolg

haben kann. Zur Sicherung der Kampfparität hat der Arbeitgeber deshalb die

Befugnis, bei einem Teil- oder Schwerpunktstreik im Betrieb arbeitswillige

Arbeitnehmer nicht zu beschäftigen (Stilllegungsbefugnis).

Bei Fernwirkungen eines Arbeitskampfs ist - anders als sonst bei unglücksbedingten

Betriebsstörungen oder einem Auftrags oder Absatzmangel - das Arbeitsentgeltrisiko

für den Arbeitgeber eingeschränkt: Verursacht ein Arbeitskampf in einem anderen

Betrieb eine Störung, die für deren Dauer eine Beschäftigung unmöglich oder

wirtschaftlich unzumutbar macht, so entfällt bei Paritätsrelevanz für die

Kampfparteien die Pflicht zur Beschäftigung und Zahlung des Arbeitsentgelts.23 Ein

derartiger Störungstatbestand liegt vor, wenn der Arbeitgeber die Produktion infolge

eines Arbeitskampfs in den Betrieben seiner Zulieferer nicht fortsetzen kann oder

20 Vgl. dazu, dass es auf die Zahl der Streikenden ankommt, BAG 12.3.1985 AP GG Art. 9

Arbeitskampf Nr. 84. 21 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 43. 22 BVerfGE 84, 212 ff. 23 Vgl. BAG 22.12.1980 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 70 und 71.

29

wenn er die Produktion infolge eines Arbeitskampfs in den Betrieben seiner Kunden

nicht absetzen kann und daher die Fortsetzung des Betriebs wegen Auftrags- oder

Absatzmangels wirtschaftlich sinnlos wird. Die Entlastung vom Arbeitsentgeltrisiko

tritt aber nur ein, wenn eine Fortzahlung des Arbeitsentgelts das Kräfteverhältnis der

kampfführenden Parteien beeinflussen könnte, also Beziehungen zu ihnen bestehen,

die es dem betroffenen Arbeitgeber ermöglichen, auf das Kampfgeschehen

einzuwirken (sog. Binnendrucktheorie). In Betracht kommt eine wirtschaftliche

Abhängigkeit der bestreikten Unternehmen (z. B. im Konzern) ebenso wie

koalitionspolitische Verbindungen (z. B. bei Tarifzuständigkeit derselben

Gewerkschaft für die vom Arbeitskampf mittelbar betroffene Belegschaft).

Die Stilllegungsbefugnis ist nach der Konzeption des BAG kein Kampfrecht des

Arbeitgebers.24 Im Gegensatz zum Aussperrungsrecht endet sie daher mit der

Beendigung des Streiks. Gleiches gilt für die Entlastung vom Arbeitsentgeltrisiko.

Deshalb bedarf die Aussperrung einer eindeutigen Erklärung des Arbeitgebers.25

Hieran fehlt es, wenn bei der Schließung des Betriebs unklar bleibt, ob der

Arbeitgeber lediglich auf streikbedingte Betriebsstörungen reagieren oder selbst eine

Kampfmaßnahme ergreifen will. Die Alternative einer Stilllegung des Betriebes im

Umfang des Streikaufrufs bedarf ebenfalls einer Erklärung des Arbeitgebers

gegenüber den Arbeitnehmern.26 Solange sich der Arbeitgeber die Möglichkeit offen

hält, die Arbeitsleistung der arbeitswilligen Arbeitnehmer jederzeit in Anspruch zu

nehmen, tragen diese nur das Arbeitsentgeltrisiko in den Grenzen der vom BAG

entwickelten Arbeitskampfrisikolehre. Wie bei Fernwirkungen eines Arbeitskampfs

verlieren Arbeitswillige, die nicht beschäftigt werden, ihren Entgeltanspruch nur,

wenn ihre Beschäftigung dem Arbeitgeber infolge des Streiks unmöglich oder

unzumutbar wird.

3. Lohnersatzleistungen der Bundesagentur für Arbeit

Streik und Aussperrung führen im Regelfall nicht zur Beendigung des

sozialrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses. Aber auch wenn man zu dem

Ergebnis gelangt, dass der Arbeitnehmer durch Beteiligung an einem Arbeitskampf

24 Vgl. BAG 22.3.1994 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 130. 25 So BAG vom 27.6.1995 AP GG Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 137. 26 So BAG vom 11.7.1995 AP GG Art 9 GG Arbeitskampf Nr. 138 und 139.

30

arbeitslos geworden ist, ruht nach § 146 Abs. 2 SGB III der Anspruch auf

Arbeitslosengeld bis zur Beendigung des Arbeitskampfes.

Wenn dagegen der Arbeitsausfall Folge eines Arbeitskampfes ist, an dem der Arbeit-

nehmer nicht beteiligt ist, ruht der Anspruch auf Lohnersatzleistungen gegen die

Agentur für Arbeit nur unter den Voraussetzungen des § 146 Abs. 3 SGB III. Der

Gesetzestext geht dort davon aus, dass der Arbeitnehmer „arbeitslos“ geworden ist.

Im Regelfall wird das Beschäftigungsverhältnis aber nicht beendet, sondern es tritt

nur eine Störung im Leistungsvollzug des Arbeitsverhältnisses ein, weil der

Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht beschäftigen kann oder dessen Tätigkeit für das

Unternehmen wirtschaftlich sinnlos ist. Soweit für diesen Fall die Besonderheiten des

Arbeitskampfes zu einer Abweichung von dem Grundsatz führen, dass der

Arbeitgeber das Betriebs- und Wirtschaftsrisiko trägt, haben die Arbeitnehmer keinen

Anspruch auf Beschäftigung und Entgelt. In Betracht kommt deshalb die Gewährung

von Kurzarbeitergeld, für die § 146 Abs. 3 SGB III entsprechend gilt (§ 174 SGB III).

Der Anspruch ruht daher bis zur Beendigung des Arbeitskampfes, wenn der mittelbar

vom Arbeitskampf betroffene Betrieb dem räumlichen und sachlichen

Geltungsbereich des umkämpften Tarifvertrages zuzuordnen ist (Nr. 1 des § 146

Abs. 3 Satz 1 SGB III). Wenn dagegen der Betrieb nicht unter den räumlichen

Geltungsbereich fällt, aber dem fachlichen Geltungsbereich zuzuordnen ist, greift die

Ruhensvorschrift nur ein, wenn für ihn eine gleiche Forderung bereits erhoben wurde

und das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach im Wesentlichen übernommen

wird (Nr. 2 des § 146 Abs. 3 Satz 1 SGB III). Das Gesetz geht davon aus, dass in

diesen Fällen ein „Stellvertreter-Arbeitskampf“ geführt wird, so dass der vom

Arbeitsausfall betroffene Arbeitnehmer als beteiligt anzusehen ist, weil er am Arbeits-

kampfergebnis partizipiert. Diese Regelung ist mit dem Grundgesetz vereinbar.27

VII. Beteiligung des Betriebsrats Für die Betriebsverfassung scheidet der Arbeitskampf als Rechtsinstitut aus:

Maßnahmen des Arbeitskampfes zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sind

27 Vgl. BVerfGE 92, 365 ff.

31

unzulässig (§ 74 Abs. 2 Satz 1 BetrVG). Meinungsverschiedenheiten über die

Regelung und Durchsetzung beteiligungspflichtiger Angelegenheiten zwischen

Arbeitgeber und Betriebsrat sind in den gesetzlich vorgesehenen Verfahren, also

entweder im Einigungsverfahren vor der Einigungsstelle oder im arbeitsgerichtlichen

Beschlussverfahren, auszutragen. Gleiches gilt entsprechend für die

Personalvertretung (vgl. § 66 Abs. 2 Satz 2 BPersVG).

Das Arbeitskampfverbot bezieht sich nur auf die Betriebsverfassung. Arbeitskämpfe

tariffähiger Parteien werden, wie § 74 Abs. 2 Satz 1 BetrVG und § 66 Abs. 2 Satz 3

BPersVG klarstellt, hierdurch nicht berührt. Das Arbeitskampfverbot richtet sich an

den Arbeitgeber und den Betriebsrat (bzw. Personalrat) in ihrer

betriebsverfassungsrechtlichen Funktion. Es regelt nicht, wie ein Arbeitskampf

tariffähiger Parteien sich auf die Betriebsverfassung auswirkt. Die Maßstäbe, die hier

zu gelten haben, ergeben sich aber aus der Grundkonzeption der

Betriebsverfassung. Der Betriebsrat wird nur gebildet, um die Mitbestimmung der

Arbeitnehmer in der Betriebsverfassung zu verwirklichen. Er hat keine Funktion

außerhalb dieses Bereichs. Schon aus diesem Grund ist er nicht berechtigt, sich an

Maßnahmen eines Arbeitskampfes zu beteiligen, der von anderen Personen oder

Verbänden gegen den Arbeitgeber geführt wird.

Das Tarifvertragssystem mit arbeitskampfrechtlicher Konfliktlösung und die

betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmungsordnung bestehen nebeneinander.

Der Betriebsrat kann deshalb nicht der kampfführenden Gewerkschaft zugerechnet

werden. Im Prinzip bleibt daher seine Funktionsfähigkeit während eines

Arbeitskampfes gewahrt. Der Arbeitskampf ist kein Grund, den Betriebsrat von der

Ausübung der gesetzlich eingeräumten Beteiligungsrechte auszuschließen. Soweit

der Arbeitgeber aber Kampfrechte hat, um sich in einem Arbeitskampf zu behaupten,

kann an ihrer Ausübung kein Beteiligungsrecht des Betriebsrats bestehen. Das gilt

auch, soweit man sie interpretatorisch einem betriebsverfassungsrechtlichen

Beteiligungstatbestand subsumieren kann. Man kann den Arbeitgeber bei der

Ausübung seiner Kampfrechte nicht der Kontrolle des Betriebsrats unterwerfen, ohne

damit zugleich das Prinzip der Kampfparität preiszugeben. Der Arbeitskampf soll das

Verhandlungsgleichgewicht der Tarifvertragsparteien sichern, um die

Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems zu gewährleisten. Dieser

32

Zusammenhang bildet das normative Prinzip für eine arbeitskampfkonforme

Interpretation der Beteiligungsrechte.

Arbeitgebermaßnahmen zur Durchführung einer Aussperrung sind

mitbestimmungsfrei, auch wenn sie unter einen gesetzlichen

Mitbestimmungstatbestand fallen. Bei einer Teilaussperrung hat daher der

Betriebsrat nicht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG mitzubestimmen, wenn der

Arbeitgeber einen Werksausweis so verändert, dass dieser für die Dauer der

Aussperrung den Ausweisinhaber als nicht ausgesperrten Arbeitnehmer

kennzeichnet.28

Erklärt der Arbeitgeber gegenüber einem Arbeitnehmer wegen dessen Teilnahme an

einem rechtswidrigen Streik eine außerordentliche Kündigung, so sieht das BAG in

dieser Kündigung eine Kampfkündigung, bei der eine Beteiligung des Betriebsrats

entfällt.29 Lässt in einem bestreikten Betrieb der Arbeitgeber von arbeitswilligen

Arbeitnehmern vorübergehend Überstunden leisten, um dem Streik zu begegnen und

dessen Auswirkungen möglichst gering zu halten, so hat der Betriebsrat nicht das

ihm sonst bei einer vorübergehenden Änderung der betriebsüblichen Arbeitszeit

nach § 87 Abs.1 Nr. 3 BetrVG eingeräumte Mitbestimmungsrecht.30 Gleiches gilt,

soweit der Arbeitgeber von seiner Befugnis zur Stilllegung Gebrauch macht.

Hat ein Arbeitskampf zur Folge, dass die Produktion in einem nicht bestreikten

Betrieb eingestellt oder eingeschränkt werden muss, so hat der Betriebsrat, da die

betriebsübliche Arbeitszeit vorübergehend verkürzt wird, nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 und

3 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht, das insoweit eingeschränkt ist, als ihm nur die

Regelung der Modalitäten unterliegt, während die Voraussetzungen und der Umfang

der Arbeitszeitverkürzung durch das Recht vorgegeben und nicht von der

Zustimmung des Betriebsrats abhängig sind.31

28 So BAG 16.12.1986 AP BetrVG 1972 § 87 Ordnung des Betriebes Nr. 13. 29 BAG 14.2.1978 AP GG Art 9 Arbeitskampf Nr. 57 und 58. 30 So BAG 24.4.1979 AP GG Art 9 Arbeitskampf Nr. 63. 31 Grundlegend BAG 22.12.1980 AP GG Art 9 Arbeitskampf Nr. 70 und 71.

33

VIII. Erhaltungsarbeiten während eines Arbeitskampfes Da das Streikrecht eine Arbeitsniederlegung nur insoweit rechtfertigt, als eine

tarifvertragsbezogene Regelung mit der Arbeitgeberseite erkämpft werden soll, ist

nicht eine Schadenszufügung gedeckt, die für diesen Zweck vermeidbar ist. Deshalb

ist ein Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis verpflichtet, Notstands- und

Erhaltungsarbeiten zu leisten. Da weder die Gewerkschaft noch der einzelne

Arbeitnehmer überblicken kann, ob und in welchem Umfang Arbeiten zur Erhaltung

der Anlagen und Betriebsmittel und zur Abwendung von Gefahren erforderlich sind,

obliegt diese Feststellung dem Arbeitgeber. Daraus folgt aber noch keineswegs, dass

er streikende Arbeitnehmer einseitig zur Durchführung von Not- und

Erhaltungsarbeiten heranziehen kann; denn ein derartiges Auswahlrecht stünde im

Gegensatz zum subjektiven Streikrecht des einzelnen Arbeitnehmers. Deshalb

obliegt der Gewerkschaft auf Grund ihres Streikführungsrechts, festzulegen, wer für

den Einsatz zur Verfügung stehen soll; denn von ihrer Zustimmung hängt ab, ob ein

Arbeitnehmer sich überhaupt an einem Streik beteiligen kann. Die Gewerkschaft ist

aber verpflichtet, die erforderlichen Auswahlentscheidungen zu treffen, um

Erhaltungsarbeiten während eines Arbeitskampfes zu ermöglichen. Die

streikführende Gewerkschaft bestimmt deshalb bei einem Streik, wer von den

Arbeitnehmern Not- und Erhaltungsarbeiten zu leisten hat. Dazu ist sie nicht nur

berechtigt, sondern auch verpflichtet.

Bei einer Aussperrung ist es Sache des Arbeitgebers, die Arbeitnehmer zu

bestimmen, die Not- und Erhaltungsarbeiten zu leisten haben. Es ist aber kein

Arbeitnehmer nur deshalb zu einer anderen Arbeit verpflichtet, als er im Vertrag

zugesagt hat, weil der Arbeitgeber eine Aussperrung durchführt. Deshalb muss der

Arbeitgeber die Arbeitnehmer von der Aussperrung ausnehmen, die er benötigt, um

die nach seiner Meinung erforderlichen Not- und Erhaltungsarbeiten durchzuführen.

34

§ 11 Schlichtungsrecht Scheitern Verhandlungen der Tarifvertragsparteien um den Abschluss eines

Tarifvertrags, so kann zur Vermeidung eines Arbeitskampfs ein

Schlichtungsverfahren durchgeführt werden. Auch wenn ein Arbeitskampf bereits

ausgebrochen ist, kann durch Schlichtung der Versuch unternommen werden, zu

einer Einigung und damit zur Beendigung des Arbeitskampfs zu gelangen. Man

unterscheidet die staatliche Schlichtung und die zwischen den Tarifvertragsparteien

vereinbarte Schlichtung.

I. Staatliche Schlichtung Für die staatliche Schlichtung gilt auch heute noch das Kontrollratsgesetz Nr. 35 über

Ausgleichs- und Schiedsverfahren in Arbeitsstreitigkeiten vom 20.8.1946. Es knüpft

an die Schlichtungsverordnung vom 30.10.1923 an, sieht aber im Unterschied zu ihr

keine Zwangsschlichtung vor. Den Bestrebungen, sie wieder einzuführen, waren

nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland die Sozialpartner

entgegengetreten. Lediglich in Rheinland-Pfalz war zuvor ein Gesetz ergangen, das

die Zwangsschlichtung vorsah, und das Land Baden, das in Baden-Württemberg

aufgegangen ist, erließ ein entsprechendes Gesetz noch nach der Gründung der

Bundesrepublik Deutschland. Beide Gesetze finden keine Anwendung.

Nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 35, das nicht für das Saarland gilt, werden zur

Verhütung oder Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten, wie sie insbesondere

Tarifauseinandersetzungen darstellen, auf Landesebene Schiedsausschüsse

errichtet. Es besteht aber kein Zwang, sie anzurufen. Die staatliche Regelung gilt

auch nur subsidiär, soweit eine tarifliche Schlichtungsstelle nicht vorgesehen ist oder

das vereinbarte Schlichtungsverfahren ohne Erfolg geblieben ist und die

Tarifvertragsparteien daraufhin den staatlichen Schiedsausschuss einschalten. Der

von ihm gefällte Schiedsspruch bindet die Parteien nur, wenn sie seine Annahme

erklären.

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II. Vereinbarte Schlichtung

Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deutschen

Arbeitgeberverbände trafen, nachdem ein Übereinkommen in Hattenheim vom

12.1.1950 nicht den gewünschten Erfolg gehabt hatte, am 7.9.1954 eine

Schlichtungsvereinbarung als Empfehlung an die Tarifvertragsparteien, die

Vereinbarung von Margarethenhof. Auf der Grundlage dieses Abkommens wurden

für die Tarifbereiche Schlichtungsvereinbarungen getroffen, die bis heute in Geltung

sind.

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