Illegalisierte Fl chtlinge in Berlin · Dies ist dr ei Jahr e her , Danial lebt mittlerweile in...

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7. 2009 Vom Mittleren Osten bis Berlin www.diwan-berlin.de Islamic Banking +++ Studentenunruhen im Iran +++ Gentrifizierung in Neukölln +++ Muslimbruderschaft Illegalisierte Flüchtlinge in Berlin Warum Einwanderung nicht gleich Einwanderung ist Religionswechsel in Ägypten Legale Konversion oder Apostasie?

Transcript of Illegalisierte Fl chtlinge in Berlin · Dies ist dr ei Jahr e her , Danial lebt mittlerweile in...

7. 2009Vom Mittleren Osten bis Berlinwww.diwan-berlin.de

Islamic Banking +++ Studentenunruhen im Iran +++ Gentrifizierung in Neukölln +++ Muslimbruderschaft

Illegalisierte Flüchtlinge in BerlinWarum Einwanderung nicht gleich Einwanderung ist

Religionswechsel in ÄgyptenLegale Konversion oder Apostasie?

7.2009

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Impressum

ChefredaktionAnna Antonakis, Frederike Schmitz

RedaktionPhillip Dehne, Mal Elmahdi, Manuel Emonds, Dörthe Engels, Julia Gebert, Jannis Hag-mann, Thomas Hillesheim, Alexander Kalbarczyk, Nora Kalbarczyk, Karin Kutter, Zeus Wellnhofer

GastautorInnenThomas Behr, Sasha Dehghani, Dieter Hy, Suana Meckeler, Yasemin Shooman, Christian Wolff, Björn Zimprich

TitelbildCharles Badi

LayoutLuca Pasini

Weitere MitarbeitRomy Göttsche, Anna-Esther Younes, Aurélien Paré

[email protected] | www.diwan-berlin.de

Konto

Der Diwan ist ein Projekt der Fachschaftsinitiative IsTurArIrS der Freien Universität Berlin. Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes sind die jeweiligen AutorInnen.Bei der sprachlichen Ausgestaltung der Artikel lässt die Redaktion den AutorInnen freie Hand.

[dī.wān] Kto-Nr. 200823995 BLZ 72050101 Kreissparkasse Augsburg

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Der legale Ausschluss

Die Grenzen von ‚legal’ und ‚illegal’ scheinen eindeutig: in Gesetzestexten klar gezogen, von Rechtsgelehrten ausgelegt, von Or-ganen der Staatsgewalt angewandt. Doch wie so viele Grenzen sind auch diese nur geMACHT und wer sie überschreitet, bekommt den Stempel „illegal“ aufgedrückt. Mit dem Verlust an sozialem Status wird der Mensch als solcher verurteilt – nicht nur seine illegale Hand-lung.

Wer aber konstruiert die Kategorien ‚legal’ und ‚illegal’ und entschei-det über den Ausschluss von Menschen aus der Gesellschaft? Das gött-liche Gebot? Das vereinte Volk? Leistungswillige Lobbyisten? Sind es nicht vielmehr gesellschaftliche Normen und Werte, die unseren Handlungen Legitimität verleihen als die Macht und der Einfluss Ein-zelner mit Definitionshoheit? Und sind nicht die Schwarzfahrerin und der Steuerhinterzieher trotz illegaler Handlung gesellschaftsfähig?

Die siebte Ausgabe des [di.wan] will diese Grenzen etwas genauer un-ter die Lupe nehmen. Wir werden versuchen, die binäre Kategorisie-rung zu hinterfragen und die Menschen hinter der Kategorie ‚illegal’ wieder sichtbar zu machen. Ihr werdet Danial begegnen, der auf sei-ner Reise nach Europa auch die Grenze zwischen ‚legal’ und ‚illegal’ überschreitet. Dass Menschen in die Illegalität gedrängt werden, um ihr Überleben zu sichern, gerät in diesem Heft ebenso in den Blick wie problematische die Verquickung von Religion und Recht in Ägypten sowie die Unmöglichkeit einer freien Seelenheilsfindung im Iran. Doch auch die Diskrepanz zwischen Gesetzestext und gesellschaftlicher Praxis darf nicht vergessen werden. Die Würde des Menschen benötigt mehr als schwarz auf weiß gesetzte Formulierungen: Sie ist unantastbar und in Farbe.

Wir danken Manuela für die langjährige layouttechnische Gestaltung des [di.wan] und hoffen, dass der [di.wan] auch im neuen Gewand gut bei Euch ankommt.

www.diwan-berlin.de

SPECIAL

6 Die Grenze verläuft zwischen dir und mir Über die Illegalität der Migration von Manuel Emonds

9 Ägypten - Apostasie oder legale Konversion? Ein Fall sorgt für Aufsehen. Erstmalig hat die koptische Kirche einem Muslim den Übertritt zum Christentum bestätigt von Björn Zimprich

12 Die Baha`i im Iran Zur ganz legalen Verfolgung einer religiösen Minderheit von Sasha Dehghani

15 Im Magen zwischen den Kontinenten Drogenhandel zwischen

Marokko und Europa von May Elmahdi

17 Mein Land, dein Land Landreformen rückwärts. Wem gehört der Boden und wer darf ihn nutzen? von Philipp Dehne

POLITIK & ZEIT- GESCHICHTE

20 Der angekündigte Rücktritt Der Führer der Muslim- bruderschaft wird 2010 sein Amt niederlegen: Die Diskus- sion über mögliche Nachfol- ger erstreckt sich nicht nur auf Ägypter von Christian Wolff

22 Pure Lebenslust - Tel Aviv wird Hundert! Israel feiert den Geburtstag der ersten hebräischen Stadt

von Dörthe Engels

25 Der drohende Umsturz Iran im Juli 1999: Das isla- mische System wird in seinen Grundfesten erschüttert von Claudia Hoffmann

28 Das saudische Reform- dilemma Über die Auswirkung der Geschlechtertrennung auf Wirtschaft, Hochschulwesen und Gesellschaft von Jannis Hagmann

FOTOSTRECKE

26 Vertrautes Preis geben Verlässliche Werte in Zeiten ‚der Krise‘ von Anna Antonakis und Manuel Emonds

GESELLSCHAFT

34 Von teuflichen Zinsen und göttlichen Gewinnen Islamic Banking in Zeiten der

Krise von Thomas Behr

37 Es raucht der Kopf Der Wurm drin - Bücher in der arabischen Welt

von Julia Gebert

39 Islamophobic and proud of it Die Website politically incorrect verbreitet antimuslimischen Rassismus von Yasemin Shooman

42 Die Realität des Unrealen Moderne Kriegsplätze per Joystick erreichbar. Zur Instru- mentalisierung von Videospielen von May Elmahdi und Julia Gebert

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INTERVIEW

44 „Unsere Kritik hat nichts geändert“ Interview mit Amira Hass von Anna-Esther Younes

BERLIN

47 Gentrifizierung in Neukölln Im Gegensatz zu Prenzlauer Berg untersteht Neukölln (noch) keinem Aufwertungsprozess von Dieter Hy

49 Willkommen im inter- kulturellen Teegarten Einblicke in das neu eröffnete Café Fincan im Neuköllner Körnerkiez von Alexander Kalbarczyk

51 Energiesparen auf Türkisch Die Umweltgruppe Yeşil Çember macht‘s vor von Karin Kutter

PORTRAIT

53 Immigrationsberaterin: Rania Hamdan Exotische Berufe - Portrait der

Immigrationsberaterin Rania von Julia Gebert

LESBAR

55 „Wer ist wir?“ Plädoyer für ein multikultu-

relles Leben in Deutschland von Claudia Hoffmann

SEHBAR

56 Mutluluk Die Verfilmung des tür- kischen Romans „Glückseligkeit“ von Suana Meckeler

GLOSSE

58 Linien von Jannis Hagmann

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Die Grenze verläuft zwischen dir und mirGrenzen sind die Haupthindernisse, die MigrantInnen auf ihrem Weg in eine fremde Kultur

bewältigen müssen. Auf dem Weg nach Deutschland kann man sie auf zwei Wegen über-

queren: legal, per Antrag bei der Ausländerbehörde, oder illegal, angewiesen auf vertrau-

enswürdige Helfer

von Manuel Emonds

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Danial sitzt im Görlitzer Park in Kreuzberg. Er liest ein Buch mit Übersetzungen der Dokumente, die der Mob nach der Erstürmung der US-Botschaft in Teheran 1979 fand. Weil er keinen Militärdienst ableisten wollte, kam er aus dem Iran nach Deutschland und stellte einen Asylan-trag. Weil die Ausländerbehörde ihm nicht glaubte, dass er mit dem Flugzeug direkt von Teheran nach Deutschland geflogen war, sollte er das Land innerhalb der nächsten zwei Wochen wieder verlassen. Seine Anwältin sagte ihm, wenn er Berufung einlege, habe er gute Chancen, dass sich der Prozess eine Weile hinziehen werde. Dies ist drei Jahre her, Danial lebt mittlerweile in einer Woh-nung in Berlin Schöneberg, die er sich mit einem Freund teilt. Dass man ihn im Görlitzer Park antrifft, ist kein Zufall. Es ist Berlins zentrale Anlaufstelle für den Off-Mainstream. Hier versammeln sich all jene, die sich in den Wertvorstel-lungen der breiten Masse nicht wiederfinden wollen oder können. Sitzt man hier eine Weile und schaut sich um, sieht man vieles: golfspielende Punks, dealende Streethustler, grillende Mütter. Vor allem aber viele „Menschen mit Mi-grationshintergrund“, wie es im Duktus der politisch kor-rekten Mehrheitsgesellschaft so schön heißt. Kommt man mit ihnen ins Gespräch, stößt man auf viele Hintergründe, die, um den Personen nicht zu schaden, besser dort bleiben, wo sie sind. Im Hintergrund eben, in der grauen Zone des Halbwissens, in der nicht alles stimmen muss. Berlin ist mit seinen autonomen Hausbesetzungen und unzähligen anti-rassistischen Arbeitsgruppen und Projekten vielleicht das Mekka für Menschen ohne Papiere. Denn wer ohne Wissen des betroffenen Staates Grenzen überqueren und innerhalb dieser leben will, ist auf Unterstützung angewiesen.

„Ich wusste nicht, dass ich hier schwarz leben kann. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich keinen Asylantrag gestellt“, sagt Danial heute. Die deutsche Gesellschaft zeigte ihm auch nicht unbedingt ihre Schokoladenseite, als er nach Berlin kam. Wer einen Asylantrag stellt, wird zunächst in so genannten „Erstaufnahmen“ untergebracht. In Danials Fall war das „die Motardstraße“. Ein Containerkomplex, gele-gen in einem Industriegebiet im äußeren Westen Berlins, kurz vor der Endhaltestelle der U7. Unmittelbare Nachbarn sind ein Vattenfall Kraftwerk und eine Tankstelle mit an-geschlossenem McDonalds. Die Arbeiterwohlfahrt Berlin, die Trägerin des Ortes ist, spricht von einem „Flüchtlings-wohnheim“. Für die Antifa, die seit einigen Jahren gegen diese Unterbringung agitiert, ist es ein „Ausreisezentrum“. Als Danial hier ankam, hatte er Bilder von afghanischen Flüchtlingen im Kopf, die in Teheran zu sechst in Räumen für zwei wohnten, die sich von einem Laib Brot und einer Flasche Cola pro Tag ernährten, weil der iranische Staat nicht für sie aufkommen wollte. Als er in der Motardstra-ße eine Packung Rasiercreme erhält, freut er sich, dass man an derlei Bedürfnisse denkt. Als er herausfindet, wie ‚viel‘l dafür wahrscheinlich bezahlt worden ist, denkt er, dass die Lebensverhältnisse afghanischer Flüchtlinge in Teheran doch näher an denen der Restbevölkerung sind, als das in Deutschland der Fall ist. „Ich wusste nicht, dass Deutsch-land so reich ist und der Iran im Vergleich so arm.“

Aber in Deutschland meint man, dass es ausreicht, Asylbe-werberInnen ein Dach über dem Kopf zu geben. Und wer in seinem Heimatland in ein Loch geschissen hat, der wird sicherlich schon dankbar sein, überhaupt eine Kloschüssel benutzen zu dürfen. Egal, wie widerwärtig diese sein mag. Für dieses Entgegenkommen sollen AntragsstellerInnen aber auch Gegenleistungen erbringen: In der Motardstraße wohnen sie anonymisiert, ihre individuelle Lebensgestal-tung wird stark eingeschränkt. Sie können ihre Schränke

nicht abschließen, sie können sich nicht eigenständig ver-sorgen, sind auf Einkaufsmarken angewiesen, mit denen ihnen vorgeschrieben wird, was und wo sie einkaufen. Der deutsche Staat verlangt von ihnen, sich stets innerhalb des ihnen zugewiesenen Landkreises aufzuhalten, solange ihr Aufenthaltsstatus ungeklärt ist. Wer gegen diese Residenz-pflicht verstößt, riskiert auf Dauer weggesperrt zu werden. Erst Anfang Mai sorgte der Fall eines Kameruners, der für acht Monate ins Gefängnis sollte, für medialen Wirbel, da er mehrere Male außerhalb ‚seines‘ Landkreises von der Poli-zei kontrolliert wurde.

Woher kommt dieses Misstrauen? Oder was steckt an-sonsten dahinter? Kein anderes Land in der EU verlangt AsylbewerberInnen diese Auflage ab. Liegt es daran, dass Deutschland ein Land ohne Außengrenze zu Nicht-EU-Ländern ist? Dass 1992 das Asylrecht dorthingehend ge-ändert wurde, dass für die Anerkennung des Asylantrages nicht mehr der Grund der Verfolgung, sondern der Weg der Einreise entscheidend ist? Wer seitdem über ein ‚sicheres Drittland‘ einreiste, konnte keinen Anspruch auf Asyl mehr geltend machen, die Zu-ständigkeit wurde bei den Behörden des Drittlandes gese-hen. Wer also nach Deutschland kommt, kann hier nur blei-ben, wenn die Einreise mit dem Schiff oder dem Flugzeug erfolgte. Für die meisten der AsylbewerberInnen dürfte dies nicht zutreffen. Sie können sich einen Flug nicht lei-sten, das Schiff aus Iran, Afghanistan, Tschetschenien oder Südostasien zu nehmen, würde eine halbe Weltreise oder schlichtweg Irrsinn bedeuten. In Deutschland einen Auf-enthaltsstatus zu erlangen, ist für die meisten mit einer Lüge verbunden. Der eigene Pass muss weggeschmissen, die eigene Identität, vor allem aber der Weg der Einreise verschleiert werden. Wer nicht beweisen kann, wie er oder sie hergelangte, wird entweder in sein Heimatland oder eines dieser ominösen ‚sicheren Drittländer‘ abgeschoben. Kann der deutsche Staat diese nicht ermitteln, entsteht ein Patt. Nach geltendem deutschen Recht, dürfen Antragstel-lerInnen nicht in Deutschland bleiben. Sie dürfen aber auch nicht abgeschoben werden. In den besten Fällen läuft dies für die Betroffenen nach einigen Jahren auf einen Kompro-miss mit den Behörden hinaus.

Will man diese Doppelmoral verstehen, Menschen erst zu illegalisieren, nur um die, die sich dieser Logik verweigern, dann doch noch mit einem Aufenthaltsstatus zu belohnen, muss man sich mit den Eigenheiten des ‚deutschen Libera-lismus‘ auseinandersetzen.„Grundsätzlich besteht das Wohlwollen, benachteiligten Menschen zu helfen. Würde ich jedoch meiner Familie sagen, dass ich jetzt mit einer Frau aus Südamerika eine Schutzehe eingehe, damit sie hierbleiben kann, würde ich komisch beäugt. Man würde sagen, dass ich mich aber ganz schön ausnutzen lasse.“ Markus* von der Initiative Grenzübertritte stellt sich gegen diese Diskriminierung aus der Mitte der Gesellschaft, gegen die deutsche Xenophobie. „Grenzübertritte steht für eine politische und persönliche Praxis, die versucht, verschiedenste Grenzen immer wieder zu durchbrechen und zu überschreiten“, heißt es in einer Selbstdarstellung. „Flüchtlinge und MigrantInnen sollen selbstbestimmt und gleichberechtigt hier leben können. Wir akzeptieren die Gesetze nicht, die Menschen verwalten, entrechten, abstempeln, in Abschiebeknäste stecken, illega-lisieren. Kein Mensch ist illegal“, liest man weiter. Kein Mensch ist illegal, ein Slogan, der in der linksauto-nomen Szene häufiger gelesen werden kann. Und auch wenn die Arbeit von Grenzübertritte enger an die Antifasze-ne angelehnt ist, wird auch versucht, das bürgerliche Lager

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mit einzubeziehen. „Die beiden Szenen kennen sich eigent-lich nicht, weil sie sich nie begegnen“, sagt Markus. Auf der einen Seite gibt es antirassistische, antikapitalistische Initi-ativen, die meist eng verwoben mit der Hausbesetzerszene sind. Auf der anderen Seite sind es oft kirchliche Gruppie-rungen. Wichtigstes Mittel der Einen ist es, Papierlose in Hausbesetzerprojekten unterzubringen, schärfstes Schwert der Anderen das Kirchenasyl. Allen ist es vor allem wichtig, Illegalisierten zu zeigen, dass nicht jeder in Deutschland ihnen abschätzig gegenüber steht. Wer immer nur Ableh-nung erfährt, verliert irgendwann die Hoffnung. Darauf, dass sich die Lage irgendwann bessert. Darauf, dass die aufgebrachten Mühen sich irgendwann lohnen werden.

Wer die Hoffnung nicht verliert und trotz allem immer wei-ter macht, kann aber auch irgendwann Erfolg haben. Wie im Falle Barbara Miranda. Sie ist ein Beispiel dafür, dass es zwischen Bürgertum und Antifa auch zu gemeinsamen Aktionen mit fruchtbarem Ausgang kommen kann. Seit März dieses Jahres hat sie ihr eigenes Büro im Berliner Ver.di-Tower in der Köpenickerstraße. Sie leitet den Arbeits-kreis undokumentierte Arbeit. Hervorgegangen ist dieser aus der Gesellschaft für Legalisierung. Diese hatte auf einem Verdikongress 2003 die Halle gestürmt, das Mikrofon be-schlagnahmt und den Gewerkschaftern über die Situation schwarzarbeitender Papierloser berichtet. Diese Aktion wurde derart positiv aufgenommen, dass beschlossen wur-de, eben jenen Arbeitskreis einzurichten, den Barbara Mi-randa im Ver.di-Tower vertritt. Seitdem läuft sie am 1. Mai nicht mehr mit der revolutionären 1. Mai Demonstration durch Kreuzberg, sondern mit dem DGB zum Branden-burger Tor. Und verlässt sie nach getaner Arbeit ihr Büro, liest sie auf der anderen Straßenseite den Spruch, den ein hastiger Aktivist an eine Häuserwand gesprüht hat: „Die Grenze verläuft nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen dir und mir!“

* Name geändert

„Hätte ich gewusst, dass ich mich in Deutschland illegal aufhalten kann,hätte ich keinen Asylantrag gestellt.“

Info:„Die Buschtrommeln sollen schon in Afrika signalisieren: Kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort kommt ihr ins Lager.“ Dieser Ausspruch des ehemaligen baden-württ-embergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth Ende der 80er Jahre sollte eigentlich keinerlei Relevanz mehr für die-sen Artikel haben. Innerhalb von zwanzig Jahren sollte sich einiges in der Haltung Europas gegenüber MigrantInnen geändert haben. So sollte man zumindest meinen. Erst vor kurzem aber sorgte Silvio Berlusconis Vergleich der europä-ischen Flüchtlingslager mit KZs für Aufsehen. Man sollte von ihm jetzt nicht erwarten, von nun an als Fürsprecher der Papierlosen zu agieren. Berlusconi ist sicherlich alles andere als der Anwalt der Entrechteten. Aus seinem State-ment lässt sich aber anderes entnehmen: Es gibt sie immer noch, die Lager. Die Sammelbecken, in die die Überfluss-gesellschaft all jene pfercht, die ihrer Ansicht nach zu Un-recht ein Stück vom wohlschmeckenden Kuchen der kapita-listischen Sonnenseite abhaben wollen.Es gibt aber tatsächlich Initiativen und Projekte, die versu-chen, dieses Ansichten zu verändern. Anliegen von Grenz-übertritte ist neben der konkreten Unterstützung von Mi-grantInnen, auch die deutsche Gesellschaft über deren Lage zu informieren. Regelmäßig werden Rundbriefe verfasst, Themenabende veranstaltet, Ausstellungen initiiert. Seit 9 Jahren geschieht dies in einem kleinen Kreis von 5-10 Mit-helfenden. Wer denkt, sich bei diesen Ideen einbringen zu können, sollte nicht zögern, den Kontakt zu suchen. (www.namaste-media.de/grenzenlos/ oder [email protected])Aufklärung ist das Hauptanliegen des Arbeitskreises Undokumentierte Arbeit bei Ver.di. Die in ihm Engagierten wollen dafür sorgen, dass Menschen einsehen, dass Papier-lose vielleicht keine ‚Aufenthaltserlaubnis‘ haben, sie aber dennoch Anspruch auf dieselben ethischen Standards haben sollten wie jeder andere Bürger auch. Damit z.B. Au-Pair-Mädchen nach Ablauf ihres Visums nicht für einen Hun-gerlohn weiterarbeiten müssen – so geschehen in einem Fall in Hamburg, mit dem der Arbeitskreis das erste Mal medial in Erscheinung trat. Aber auch damit glücklose Visumsfür-bitter nicht tagein tagaus Kisten schleppen und am Ende des Tages darauf hoffen müssen, dass ihr Chef nichts über ihren ungeklärten Aufenthaltsstatus weiß. Und ihren Lohn einbehält als ‚Gegenleistung‘ dafür, dass er sie nicht den Behörden meldet.

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Apostasie oder legale Konversion?Die nächste Runde im Ringen um die Registrierung von Religionswechseln in Ägypten

beginnt

von Björn Zimprich

Fragen wie der Abfall vom Islam, im Fachjargon Apostasie, oder der Übertritt zu einer anderen Religion, Konversion, werden immer wieder vor ägyptischen Ge-richten verhandelt. Jetzt sorgt ein neuer Fall für Aufsehen. Erstmalig hat die koptische Kirche, die größte und älteste christliche Glaubensgemeinschaft im Land, einem ehema-ligen Muslim den Übertritt zum Christentum schriftlich be-stätigt. Dies könnte ein entscheidender Schritt hin zu einer Legalisierung von Konversionen in Ägypten sein.

Religionswechsel – ein kontroverses Thema

Der Übertritt zum Islam gestaltet sich in aller Regel sehr ein-fach: Wer vor muslimischen Zeugen auf Arabisch das mus-limische Glaubenbekenntnis ausspricht, wird Muslim. Bis zu 15.000 ägyptische Christen konvertieren jährlich, meist im Zuge einer Heirat mit einem muslimischen Partner. In Ägypten müssen solche Religionswechsel aktenkundig gemacht werden, da mit einem solchen Schritt eine Reihe rechtlicher Konsequenzen, die etwa das Ehe- und Schei-dungsrecht sowie das Erbrecht betreffen, verbunden sind. Darüber hinaus ist die Religionszugehörigkeit im Ausweis aller Ägypter verzeichnet und muss auch hier nach einem Religionswechsel aktualisiert werden. Im Falle der Konver-sion zum Islam handelt es sich hierbei um einen einfachen Verwaltungsakt. Bei Konversionen von Muslimen zu einer anderen Religion wird die ganze Sache aber plötzlich kom-pliziert.Denn: Eine Austrittsmöglichkeit aus dem Islam ist nicht

vorgesehen. Apostasie gilt im Islam als schwere Sünde. Der Apostat kündigt die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Gläubigen, der islamischen Umma, und lehnt sich da-mit gegen Gott auf. Die gerechte Strafe hierfür ist der Tod. Im Koran wird die Todesstrafe gegen Apostaten zwar nicht erwähnt. In der muslimischen Überlieferung zum Leben des Propheten Muhammad wird diese jedoch in diversen Erzählungen angeordnet. Darüber hinaus hat sie sich als religiöses Dogma durchgesetzt.Von staatlicher Seite wird Apostasie in Ägypten nicht mit dem Tode bestraft, allerdings wirken sich erbrechtliche und familienrechtliche Bestimmungen aus. Ehen können beispielsweise annulliert werden. So wurde ein Universi-tätsprofessor 1995 nach einem Apostasievorwurf von seiner Frau geschieden, obwohl keiner der Eheleute dies wollte.

Der Lange Weg bis zum ersten Prozess

Eine Veränderung der Religion in den Ausweispapieren ist für Muslime faktisch undurchführbar. Insgesamt ist eine legale Konversion für Muslime also unmöglich. Wer jedoch einen anderen Glauben praktiziert als in seinen Aus-weispapieren angegeben, kann sich strafbar machen. Am schwersten wiegt jedoch, dass die Kinder in Ägypten die offizielle Religion des Vaters erhalten. Sie dürfen dann auch nur in dieser Religion in der Schule unterrichtet werden. Ein gemeinsamer Ethikunterricht wie in Berlin scheint un-ter diesen Umständen in Ägypten noch in weiter Ferne.Viele Menschrechtsorganisationen drängen darauf, auch

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Muslimen in Ägypten das Recht zum Wechsel der Religi-on zuzugestehen. Schätzungen gehen von maximal einigen Hundert Konvertiten im Jahr aus. Die Meisten bevorzugen es jedoch, dies anonym zu tun und mit ihrem Anliegen nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Personen, die dem Islam den Rücken kehren, werden häufig von ihren Familien versto-ßen. Der öffentliche Glaubensabfall ruft darüber hinaus is-lamistische Scharfmacher auf den Plan, welche die Tötung von Apostaten zur individuellen Pflicht gläubiger Muslime machen wollen. Zudem berichten Konvertiten regelmäßig von Folter und Misshandlungen durch die Polizei. So dauerte es bis zum Jahr 2007, bis erstmals ein Ägypter vor Gericht versuchte, seinen Religionswechsel vom Islam zum Christentum in seine Ausweispapiere eintragen zu las-sen.

Die Meinung der Gerichte

Das einzige Resultat dieses ersten Prozesses war ein welt-weites Medienecho. Dem eigentlichen Anliegen wurde nicht stattgegeben. Die Begründung lautete, dass der Islam die endgültige und vollständige Religion sei und Muslime deshalb schon volle Religionsfreiheit genießen würden. Sie könnten also nicht zu einer älteren Religion wie dem Ju-dentum oder dem Christentum konvertieren. Das Fazit des Richters lautete: „Er kann in seinem Herzen glauben, was immer er will, aber auf dem Papier kann er nicht konver-tieren.“ In einem weiteren Prozess im Jahr 2008 lautet das Urteil anders. Einer Veränderung der Ausweispapiere von „Mus-lim“ zu „Christ“ wurde stattgegeben. Zwölf ägyptische Christen, welche im Zuge einer Heirat mit einer Muslima offiziell zum Islam übergetreten waren, hatten darauf ge-klagt, nach der Scheidung von ihren Ehepartnern wieder zu ihrer ursprünglichen Religion zurückkehren zu dürfen. Diesem Anliegen wurde stattgegeben. Da sie als Christen geboren worden seien, handelte es sich bei diesen Fällen nicht um Apostaten, lautete die Begründung.

In dem nun aktuell verhandelten Fall machte das Gericht dem Konvertiten Maher el-Gohari die Auflage, eine Kon-versionsbescheinigung der Kirche zu liefern. Anfang April reichte dieser tatsächliche eine solche Bescheinigung der Koptischen Kirche beim Gericht ein. Für viele Beobachter eine Überraschung, da sich Konvertiten meist im Umfeld von kleineren protestantischen Kirchen bewegen und die Kopten darauf bedacht sind, öffentliches Aufsehen in sol-chen Fällen zu vermeiden. Die Befürchtung ist, dass man durch die Aufnahme von Konvertiten noch stärker unter Be-schuss von Islamisten geraten könnte oder es sich mit dem ägyptischen Regime verscherzt. Ob dieser Fall nun einen Wechsel der koptischen Kirche in Bezug auf Konvertiten bedeutet oder nur eine einmalige Ausnahme war, ist unge-wiss. Ebenso ist der Ausgang des Prozesses offen und die Frage steht im Raum, ob diese Konversionsbescheinigung vom Gericht akzeptiert wird und eine Wende im Prozess bringt oder ob hiernach ein weiterer rechtlicher Stolperstein zu erwarten ist.

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Björn Zimprich ist Student der Geographie, Politik- und Islamwissenschaft an der FU-Berlin. Neben dem Thema Konversionen im Nahen Osten beschäftigt er sich mit trans-nationalen sozialen Räumen und schreibt zur Zeit seine Di-plomarbeit zu „Libanesen in Gambia – zwischen Vergesell-schaftung, Konflikt und Transnationalität“.

Koptischer Mönch

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Koptische Kirche

Literaturtipps:

Hasemann, Armin (2002): Zur Apostasiediskussion im modernen Ägypten,in: Welt des Islams 42, S.72-121.

Pink, Johanna (2003): Neue Religionsgemeinschaften in Ägypten: Minderheiten im Spannungsfeld von Glaubensfreiheit, öffentlicher Ordnung und Islam, Würzburg.

Sharkey, Heather J. (2006): Missionary Legacies: Muslim-Christian Encounters in Egypt and Sudan during the Colonial and Postcolonial Periods, S. 57 – S.89, in: Soares, Benjamin (Hg.): Muslim-Christian Encounters in Africa, Leiden.

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Die Baha’i im Iran -Zur ganz ‚legalen‘ Verfolgung einer

religiösen Minderheit

Die größte religiöse Minderheit des Irans, die Baha’i, wird durch die Regierung zahlreichen

Repressalien ausgesetzt – nicht nur vereinzelten Willkürakten, sondern systematischen,

rechtlich legitimierten Verfolgungsmaßnahmen

von Sasha Dehghani

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Seit Gründung der Islamischen Republik Iran ist die Verfolgung der Anhänger der Baha’i-Religion zu ei-ner „legalen“ Staatsangelegenheit geworden. Sie wird per Verfassung des Landes legitimiert, denn Artikel 13 der ira-nischen Konstitution legt fest, welche religiösen Minder-heiten des Landes als „schutzwürdig“ zu betrachten sind. Zu den religiösen Gemeinschaften, die laut Verfassung im Iran ein Existenzrecht haben, gehören Juden, Christen und Zoroastrier. Der Wortlaut dieses Artikels hebt ausdrücklich hervor, dass nur die hier erwähnten Gemeinschaften als religiöse Minderheiten toleriert werden. Die größte religi-öse Minderheit Irans hingegen, die Baha’i-Religion, findet keine Erwähnung. Der Grund hierfür ist, dass dieser Arti-kel der iranischen Verfassung nur jenen religiösen Minder-heiten ein Existenzrecht zuspricht, die zeitlich gesehen vor dem Islam aufkamen. Sie sind zudem Gemeinschaften, die entweder explizit oder implizit im Koran ihre Erwähnung finden.

Auf die Mitglieder der Baha’i-Religion trifft der konsti-tutionell gewährte Rechtsstatus nicht zu, denn die Baha’i sind eine nach dem Islam entstandene Religion – und für eine solche Gemeinschaft kennen die islamische Theologie und Jurisprudenz keinen „legalen“ Existenzraum. Nach Muhammad, der im Koran als das „Siegel der Propheten“ bezeichnet wird, so lautet die herrschende Deutung, darf und kann es keine weitere Offenbarungsreligion mehr ge-ben. Dies ist einer der zentralen Gründe für den verfas-sungsrechtlichen Ausschluss der Baha’i aus der iranischen Gesellschaft.

Es handelt sich also um einen grundlegenden religiös-theologischen Konflikt, der sich auf praktischer Ebene so-wohl im Handeln der iranischen Regierung als auch in der Rechtsprechung iranischer Gerichte niederschlägt. Das so genannte Golpaygani-Memorandum des Obersten Rates der Islamischen Kulturrevolution von 1991 formuliert die Staatsdoktrin im Umgang mit den Baha’i des Landes: Ihre kulturellen Wurzeln sollen demnach ausgelöscht und die Entwicklung der Gemeinde behindert werden. Durch ent-sprechende Maßnahmen im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich werden sie zu Parias der iranischen Gesellschaft: Verarmt, ungebildet, ausgesondert. Die Recht-sprechung in Iran behandelt sie als quasi Vogelfreie. Allein die Beschuldigung, Baha’i zu sein, genügt, um Wohnung, Arbeitsplatz oder Vermögen zu verlieren. Entsprechende Gerichtsurteile aus drei Jahrzehnten der Verfolgung, die die Straflosigkeit dieser Rechtsbeugungen bekunden, liegen vor.

Als die Baha’i-Religion Mitte des 19. Jahrhunderts in Iran entstand, wurden sogleich Tausende von Anhängern ver-folgt und getötet. Sie wurden als „Ungläubige“ oder „Apo-staten“ bezeichnet, weil sie der Lehre einer neuen monothe-istischen Offenbarungsreligion folgten, in deren Zentrum mit dem Bab (gest. 1850) und Baha’ullah (gest. 1892) zwei prophetische Stifterfiguren standen. Im Verlauf des 20. Jahr-hunderts setzte sich die Verfolgung fort und wurde teils mit neuen Begründungen legitimiert. Eines der wichtigsten Argumente, welches neu hinzukam, war der Vorwurf, dass die Baha’i keine Religion, sondern eine „politische Organi-sation“ seien, welche im Auftrag der westlichen Imperial-mächte wirke. Fasst man diese Verschwörungstheorien in einem Satz zusammen, so sollen Baha’i sowohl politische Agenten Russlands, Großbritanniens sowie der USA, als auch ‚Spione für die zionistische Regierung Israels’ (gewe-sen) sein.Die verheerenden Folgen dieser staatlichen Verfolgungs-

Der Schrein des Babs mit den Hängenden Gärten der Baha’i in Haifa, Israel

Info:Der Baha‘ismus geht im Wesentlichen auf zwei prophetische Stiftergestalten aus dem schiitisch geprägten Iran zurück: Sayyid Ali Muhammad Shirazi (1819-1850), genannt „das Tor“ (arab. Bab), sowie Mirza Husain Ali Nuri (1817-1892), genannt „Herrlichkeit Gottes“ (arab. Baha’ullah). Beide sahen sich in der Traditionslinie des abraha-mitischen Monotheismus. Etwa ein halbes Jahrhun-dert nach seinem Tod wurde der Bab auf Weisung des Baha’ullah am Fuße des heiligen Berges Karmel bei Haifa (damals Osmanisches Reich, heute Isra-el) beigesetzt. Im nahe gelegenen Akkon wurde der Baha’ullah selbst bestattet. Auch wenn im heutigen Israel keine nennenswerte Anzahl von Baha’i lebt, bilden diese beiden Kultstätten das Weltzentrum des Baha‘ismus. Sie wurden von der UNESCO als schützenswertes Weltkulturerbe anerkannt. Gegen-wärtig bekennen sich weltweit ungefähr 7-8 Mio. Menschen zum Baha’i-Glauben, darunter ungefähr 300 000 im Iran. Die mit Abstand größte Gemeinde der Welt befindet sich mit über 2 Mio. Mitgliedern in Indien.

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Sasha Dehghani ist Islam- und Religionswissenschaftler. Seit 2005 arbeitet er als Lehrbeauftragter am Seminar für Semi-tistik und Arabistik der Freien Universität Berlin und wirkt zudem am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin an dem Projekt „Figurationen des Märtyrers in na-höstlicher und europäischer Literatur“ mit.

!"#$%Weiterführende Links zur Thematik:

www.denial.bahai.dewww.bahai.dewww.bahairights.org

Parolen an iranischen Hauswänden: „Baha‘i = Verräter, unreine israelische Ungläubige“ und „Tod den unreinen,ungläubigen, israelischen Baha`i“

politik machen sich seit nunmehr 30 Jahren bemerkbar. Die alltägliche Realität der Baha’i, deren Zahl im Iran bei etwas weniger als einer halben Million und weltweit bei rund sie-ben Millionen liegen dürfte, sieht mehr als trist aus. Baha’i erhalten keinen Zugang zu höherer Bildung und dürfen als ‚Unreine’ bestimmte Berufe nicht ausüben. Sie haben kein Recht, ihren Glauben in der Presse und anderen öf-fentlichen Medien darzustellen. Sie haben kein Recht auf freie Religionsausübung, ihre religiösen Institutionen sind verboten und aufgelöst worden. Seit Beginn der Revolution wurden etwa 250 Baha’i getötet, gegenwärtig befinden sich rund 40 Baha’i schuldlos in Haft, darunter - seit nunmehr genau einem Jahr - auch die informelle Führungsriege der iranischen Baha’i Gemeinde.

In jüngster Zeit werden sogar Kinder in Schulen drangsa-liert und nicht einmal vor der Totenruhe der Baha’i macht die iranische Regierung mehr Halt: Ihre Grabstätten wer-den mit Bulldozern zerstört, die Leichen aus den Gräbern geholt und angezündet. Eine islamische Regierung, die sich als die Stellvertretung des schiitischen Imamats begreift und ihre eigene Existenz durch das Vorbild von Imam Husain legitimiert, sollte sich selbst einmal die Frage stellen: Ist ein solches Verhalten gegenüber Kindern und Toten wirklich das Erbe Imam Husains? Oder sind solche Taten vielmehr Geisteskind eines Yazids ibn Muawiya, des zweiten Kalifen der Umayyaden: Denn waren es nicht die Soldaten Yazids, die in Karbala nicht einmal vor den Kindern und Leichen der Schiiten Halt machten?

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Im Magen zwischen den KontinentenDrogenhandel zwischen Marokko und EuropaDer Schmuggel von Haschisch in die EU über die marokkannisch-spanische Grenze floriert.

Ein lebensgefährliches aber auch gut gesichertes Geschäft

von May Elmahdi

„Es gibt keine andere Möglichkeit! Die Spanier hassen uns, sie behandeln uns wie Hunde. Als Mann sind deine Chancen auf dem spanischen Arbeitsmarkt so gut wie null, wir sind höch-stens für die Drecksarbeit willkommen. Deswegen arbeite ich im Haram.“

Muhammad (Name von Red. geändert) meint mit Haram, also „Verbotenem, Illegalem“, in diesem Fall das Geschäft mit Haschisch. Der Dreiundzwanzigjährige arbeitet seit drei Jahren als Haschischschmuggler, dabei hat er ein aus-gesprochen unschuldiges ,Baby-Face’ und macht einen sympathischen Eindruck. Muhammad berichtet von neu-en Methoden, die die marokkanischen Schmuggler in den letzten Jahren entwickelt haben. Die Droge wird jetzt nicht mehr in Schiffsbäuchen über See oder in privaten Flugzeu-gen transportiert, sondern in Menschenmägen. Muhammad ist ein solcher „Magenschmuggler“.

„Jetzt gerade habe ich nur 300 Gramm Haschisch im Magen, die ich wieder nach Marokko reinschmuggeln muss, weil wir von den 1300 Gramm, die ich von dort vor zwei Tagen im Magen mit-nahm, nur 1000 Gramm verkaufen konnten.“

Auf die Frage, ob er denn nicht Angst habe, den spanischen und marokkanischen Behörden aufzufallen, wenn er min-destens einmal wöchentlich zwischen Marokko und Spani-en reist, entgegnet er: „Auf gar keinen Fall, ich bin ja nicht allein, wir sind eine Gruppe von 19 Schmugglern, wir lan-den alle an demselben Tag, aber wir wechseln ständig die Häfen, in denen wir ankommen. In Marokko gibt es solche Schwierigkeiten nicht. Mein Boss ist ein einflussreicher

Mann, der über gute Kontakte verfügt und uns beschützt.“Muhammad ist nicht der einzige, der dieses Geschäft mit großer Zuversicht betreibt. Die Korruption und die Ver-wicklung von Staats- und Polizeibeamten ist ein heikles Tabuthema, von dem jeder weiß, es aber auch verschweigt. Nur der berberisch-marokkanische Menschenrechtsakti-vist Shakib al-Khayari hat dieses Thema öffentlich disku-tiert und wurde kurz darauf im Februar 2009 inhaftiert. Wie in vielen anderen arabischen Ländern, in denen Mei-nungsfreiheit lediglich theoretisch gewährt wird, konnte die Polizei ihn nicht wegen dieser Äußerungen inhaftieren. Al-Khayari wurde wegen Bestechung festgenommen. Nach einer Erklärung des Innenministeriums soll er Bestechungs-gelder von Drogenhändlern aus dem marokkanischen Ort Nador bekommen haben, um eine Propagandakampagne gegen Drogenhändler der Stadt Ketama, der „Hochburg des Haschischanbaus“, zu führen. Später häuften sich wi-dersprüchliche Anschuldigungen, die ihm die Kollabora-tion mit ausländischen Geheimdiensten, Drogenbaronen und die Behinderung der Arbeit der Regierung in ihrem so titulierten „heiligen Kampf“ gegen Drogen vorwarfen.

Verstärkte Bemühungen der spanischen Regierung

Anders als ihre marokkanischen Kollegen können die spa-nischen Journalisten mit dem Zeigefinger auf die Verwick-lung marokkanischer Staatsbeamter weisen, was dem Dro-genkrieg einen transnationalen Zug verleiht und für weitere Spannungen im bereits belasteten Verhältnis zwischen Ma-

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rokko und Spanien sorgt. Nach dem Attentat von Madrid hat Spanien seinen Kampf gegen Drogen- und Menschen-handel, der zum Großteil über Marokko abgewickelt wird, verschärft. Das Attentat hatte gezeigt, wie Drogenhandel, Migration und Terrorismus miteinander verquickt sind. Der Hauptattentäter des Anschlags in Madrid, Jamal Ahmidan, hatte wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz in einem spanischen Gefängnis gesessen. Nach seiner Frei-lassung schloss er sich einer fundamentalistischen Gruppe an. Das Geld für den Sprengstoff, bei dessen Explosion 191 Menschen ums Leben kamen, stammte aus Erlösen aus dem Drogenhandel.Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen nach dem Atten-tat von Madrid ist Spanien nach Angaben der Europäischen Kommission immer noch der Hauptumschlagsplatz für Drogen aus dem Süden, das Haupttor für Menschenhandel von Afrika nach Europa und der größte europäische Kon-sument des marokkanischen Haschischs. Um letzteres Pro-blem zu bekämpfen, änderte Spanien seine Strategie in der Zusammenarbeit mit Marokko – der Drogenhandel sollte im Keim erstickt werden.

Haschischbarone genießen Immunität

Unter großem internationalem Druck startete König Mu-hammad VI eine Kampagne gegen den Drogenhandel, die vermutlich niemals die erhofften Ergebnisse bringen wird, weil sie nur die kleinen Drogenhändler erfasst. Die Haschischbarone hingegen sichern sich Immunität garan-tierende Stellungen im Parlament oder in anderen hohen Staatsämtern. Muhammad meint zu dieser Kampagne: „Sie sollen erst

die Armut und die Arbeitslosigkeit bekämpfen, bevor sie den Drogenhandel bekämpfen. Das sind die Ursachen, die dieses Geschäft blühen lassen. Das sind die wirklichen Fak-toren, vor denen die Regierung die Augen verschließt und die die marokkanischen Jungs ins Drogengeschäft und die marokkanischen Frauen in die Prostitution treiben.“ Im Fe-bruar meldete eine marokkanische Zeitung, dass Maureta-nien unverheirateten, marokkanischen Frauen ein Einreise-visum grundsätzlich vorenthalte.

Gerade als Muhammad sich verabschiedet, stürmt eine Spezialeinheit der spanischen Polizei in die Hafenhalle des südspanischen Algeciras. In dem aus Marokko angekom-menen Schiff wurden zehn Kilo Haschisch bei einem Rei-senden gefunden und ein minderjähriger illegaler Einwan-derer festgenommen. Muhammad reagiert abgeklärt: „Das bekomme ich fast je-des Mal mit. Sie träumen alle von Europa. Doch sie werden hier nicht finden, was sie suchen. Vielleicht muss man hier nicht verhungern, aber für jedes Stück Brot verliert man ein Stück Stolz. Wenn ich hingegen in diesem Geschäft etwas auf Spiel setze, ist das eher mein Leben.“

Laut Berichten der Europäischen Kommission stammt der Großteil des in der EU gehandelten Cannabis-harzes (Haschisch) aus Marokko. Die Erlöse aus dem Haschischhandel betragen in Marokko fast 12 Milliar-den Euro. Jährlich versuchen zwischen 15 000 und 20 000 Menschen über die marokkanische Grenze nach Europa zu gelangen. Rund die Hälfte von ihnen sind marokkanische Staatsbürger. Nach Schätzungen spa-nischer Behörden kommt etwa jeder Sechste bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben.

Das Ende des marokkanischen Festlandes in Tanger - auch Ende der Armut und Perspektivlosigkeit ?

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Mein Land, dein LandDie Landreformen im Zuge der „Revolution“ im Ägypten der fünfziger und sechziger Jahre

sahen eine Umverteilung von Land zu Gunsten von Kleinbauern vor. Doch während der

Staat am Jahrestag der „Revolution“ weiterhin den Nationalfeiertag begeht, sind die

Umverteilungen längst wieder rückgängig gemacht worden

von Philipp Dehne

Wüste, Meer, Pyramiden – eine stark vereinfa-chende und auch verzerrende Beschreibung Ägyptens. Ausgespart von den touristischen Attributen sind insbeson-dere ländliche Gebiete, in denen die Mehrheit der Ägypter lebt und auf denen Nahrungsmittel angebaut werden. Nur etwa drei Prozent der gesamten Landmasse Ägyptens, vor allem die Gebiete entlang des Nils und das Nildelta, eignen sich als Agrarflächen. Gerade um sie gab und gibt es im-mer wieder Auseinandersetzungen zwischen Eigentümern, Pächtern und dem Staat. Die ägyptische „Revolution“, die sich am 23. Juli zum 57. Mal jährt und historisch eher als Militärputsch zu bezeichnen ist, brachte eine weit rei-chende Änderung der Eigentums- und Nutzungsrechte von landwirtschaftlichen Gebieten mit sich. Während der ägyp-tische Staat im Gedenken an die „Revolution“ nach wie vor den Nationalfeiertag begeht, sind die Agrarreformen längst wieder rückgängig gemacht worden. 1952 hatte die Gruppe der „Freien Offiziere“ um Mu-hammad Naguib und Gamal Abdel Nasser König Faruq ab- und sich selbst an die Macht gesetzt. Insbesondere Gamal Abdel Nasser propagierte die Unabhängigkeit und Einheit der arabischen Staaten sowie die Wohltaten des So-zialismus. Unter ihm wurden Abgängern von Universitäten Arbeitsplätze garantiert, Wohnungsmieten auf zwei Gene-rationen eingefroren und Landreformen eingeleitet.

Bis 1952 war die Landverteilung in Ägypten extrem un-gleich: Großgrundbesitzer, welche Grundstücke von über 200 Feddan (1 Feddan = 0,42 Hektar) besaßen, verfügten über 20 Prozent des kultivierbaren Landes, obwohl sie nur 0,1 % aller Eigentümer von Grundstücken ausmachten. Hingegen mussten sich 75 Prozent der Landbesitzer mit je-weils weniger als einem Feddan begnügen. Zudem waren die für gepachtetes Land zu zahlenden Abgaben sehr hoch. Verschuldung und Verelendung großer Teile der einfachen Landbevölkerung waren die Folge. Das erste Gesetz zur Landreform, welches nur sechs Wo-chen nach der „Revolution“ erlassen wurde, sah daher sowohl die massive Umverteilung von Land als auch eine grundlegende Neuregelung der Beziehung zwischen Land-besitzern und Pächtern vor. Das Gesetz beschränkte die Größe der Fläche, die eine einzelne Person besitzen durfte, auf 200 Feddan. Diesen Wert übersteigende Besitzungen wurden gegen Ab-findungszahlungen enteignet und vom Staat an fast zwei Millionen landwirtschaftliche Arbeiter verpachtet. Zudem schrieb die Regierung die Höhe der zu zahlenden Pacht dauerhaft fest. Sie durfte maximal den siebenfachen Wert der vom Staat erhobenen Landsteuer betragen. Schließlich wurde für Pachtverträge eine Mindestlaufzeit von drei Jah-ren bestimmt. Da das einseitige Aufheben der Verträge je-

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doch kaum möglich war, entwickelten sie sich de facto zu Abkommen auf Lebenszeit, die an die folgenden Generati-onen weitererbt wurden.

Enteignung der alten Machtelite

In vielen Gegenden Ägyptens gelang es den Großgrundbe-sitzern, die Auflagen der ersten Landreform zu umgehen. Daher erließ die Regierung 1961 weit reichende Erlasse, mit deren Hilfe ‚überschüssiger‘ Grundbesitz von insgesamt ca. 120 000 Feddan und Vermögenswerte von 4 000 Familien unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt wurden. Zu-dem senkte sie mit dem zweiten Gesetz zur Landreform die Höchstgrenze für persönlichen Landbesitz auf 100 Feddan herab und enteignete und verpachtete, was darüber hinaus ging. Rechtlich bestand ein wichtiger Unterschied zwischen den umverteilten Gebieten: Während Ländereien, die durch die beiden Gesetze zur Landreform enteignet worden wa-ren, dem Staat gehörten und von den Bauern in Raten-zahlungen über vierzig Jahre erworben werden konnten, blieben die aufgrund der Erlasse beschlagnahmten Flächen Eigentum der Großgrundbesitzer, welche auch den festge-schriebenen Pachtzins erhielten; ihre Verwaltung und Ver-pachtung übernahm jedoch der Staat.Hinter den Landreformen und Enteignungen mag vor allem die Absicht Abdel Nassers gestanden haben, den Einfluss von Vertretern der alten Machtelite, unter denen sich viele Großgrundbesitzer befanden, zurückzudrängen. Dennoch verbesserten die politischen Entscheidungen dieser Zeit tat-sächlich die Lebensverhältnisse vieler Pächter kleiner und mittelgroßer Flächen. Für sie bildeten die Reformen Abdel Nassers eine Art Gesellschaftsvertrag, auf den sie glaubten, sich verlassen zu können.

Landreform rückwärts

Doch schon unter Anwar as-Sadat, der das Präsidentenamt 1970 vom verstorbenen Gamal Abdel Nasser übernommen

hatte, wurde ein Teil der Reformen rückgängig gemacht. Der neue Präsident verfolgte einen Kurs der marktliberalen Öffnung und „Entnasserisierung“, um seine eigene Macht-stellung zu stabilisieren. Sadat zufolge lebte Ägypten nun in einer Zeit, die eher von „in der Verfassung begründeter als von revolutionärer Legitimität“ geprägt sei. Individu-elle Eigentumsrechte sollten eine höhere Stellung als sozi-alistische Gemeinschaftsrechte einnehmen. So verabschie-dete das ägyptische Parlament im Juni 1974 ein Gesetz, das die im Zuge der Erlasse von 1961 erfolgten Beschlagnah-mungen wieder aufhob und die an Kleinbauern verpachte-ten Flächen ihren früheren Besitzern zurückgab. Das Land, das im Zuge der beiden Gesetze zur Landreform verteilt worden war, blieb unangetastet. Auch der festgeschriebene Pachtzins sowie die Langfristigkeit und Vererbbarkeit von Verträgen hatten weiter Bestand.Diese Vorschriften wurden erst mit einem im Jahr 1992 er-lassenen und 1997 vollends umgesetzten Gesetz gekippt. Der Pachtzins wurde in einer fünfjährigen Übergangspha-se schrittweise vom Siebenfachen der Landsteuer auf das 22-fache angehoben. Danach bestimmte allein der Markt die Preise. Das neue Gesetz kürzte die Mindestlaufzeit von Verträgen auf ein Jahr, vererbbar waren sie nicht mehr. Das im Zuge der beiden Gesetze zur Landreform von 1952 und 1961 umverteilte Land war offiziell vom neuen Gesetz aus-genommen. Dennoch gelang es vielen der unter Abdel Nas-ser enteigneten (und teilweise entschädigten) Großgrund-besitzer, wieder in den Besitz damals „verlorener“ Güter zu gelangen und die fast 50 Jahre alten Reformen vollends rückgängig zu machen. Die Durchsetzung des Gesetzes 1997 und damit die neu-erliche Umverteilung der Eigentums- und Nutzungsrechte von Land waren in großem Maße gesetzeswidrig. Das ein-seitige Auflösen eines Pachtvertrages war nach ägyptischem Recht nur nach der Entscheidung eines zuständigen Ge-richts möglich. Aus vielen ägyptischen Ortschaften wurde jedoch berichtet, dass Großgrundbesitzer Pächter mit Ge-walt – und ohne ein vorhergehendes Gerichtsurteil – ver-trieben hätten, nicht selten gar mit Hilfe von staatlichen Sicherheitskräften. Zwischen 1998 und 2000 verzeichnete das in Kairo ansässige „Land Centre for Human Rights“ im Zusammenhang mit der Durchsetzung des neuen Gesetzes 119 Tote, 846 Verletzte und 1 409 Festnahmen.

Macht macht legal

Schätzungen zufolge betraf das Gesetz von 1997 eine Million der damals drei Millionen registrierten landwirtschaftlichen Betriebe und damit die Lebensumstände von fast sechs Mil-lionen Menschen. Zweidrittel der Bauern, die 1996 Land gepachtet hatten, sollen ihren Betrieb mittlerweile einge-stellt haben. Die Verteilung von Land und Nutzungsrechten sowie die Lebensverhälltnisse vieler Bauern änderten sich radikal. Auch die Grundlage, auf der der ägyptische Staat Landverteilung rechtfertigte, wandelte sich kräftig. Wäh-rend die Landpächter sich auf die Idee von sozialer Ge-rechtigkeit aus der Zeit Abdel Nassers beriefen, pochten die Landbesitzer auf ihr verfassungsmäßig zugesichertes Recht auf Eigentum – und setzten sich eindeutig durch. Im ägyp-tischen Parlament, das das Gesetz verabschiedet hat – und dessen Mitglieder laut Verfassung immer noch mindestens zur Hälfte „Arbeiter und Bauern“ sein müssen – saß kein einziger Landpächter. So gilt für Ägypten dasselbe, was auch für westliche Rechtsstaaten – vielleicht in geringerem Maße – gilt: dass die Frage, was legal und was illegal, nicht zuletzt eine von Macht und Einfluss ist.

Ein Bauer im Dorf Milig nahe der Stadt Schibin el-Kom im Nildelta nörd-lich von Kairo. Für viele Familien und kleinere Betrieben ist der Einsatz von Tieren in der Landwirtschaft unerlässlich.

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Häuser und Landwirtschaft drängen sich auf dem kultivierbaren Land, welches nur ca. 3 % der Landmasse Ägypens ausmacht.

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Der angekündigte RücktrittDie Muslimbruderschaft revolutioniert sich selbst

Der derzeitige murshid ‘amm, spiritueller Führer der Muslimbruderschaft, Muhammad

Mahdi Akef, hat angekündigt, sein Amt Anfang nächsten Jahres zur Verfügung zu stellen

– ein Schritt, der nicht nur eine öffentlich ausgetragene Debatte innerhalb der Bruderschaft

anstieß, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch strukturelle Veränderungen für die Or-

ganisation der Muslimbrüder mit sich bringen wird

von Christian Wolff

Seinen Ende März 2009 angekündigten Rücktritt will Akef als Zeichen an den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak verstanden wissen, sich aus der politischen Füh-rung des Landes zurückzuziehen. Dass Akef seine eigene Amtszeit begrenzt, kann zudem als Zeichen an die reform-orientierten Mitglieder der Bruderschaft gedeutet werden, auch die höchsten Verantwortungsfunktionen innerhalb der Organisation zu übernehmen. Gerade die „Generation der Siebziger“ und die Blogger sehen deshalb in der jetzigen Situation eine Chance zur größeren Mitgestaltung der poli-tischen Programmatik der Bruderschaft.

Das Kandidatenkarussell dreht sich

Offensichtlich ist, dass die Wahl des neuen Führers der Bruderschaft nicht ohne kritische Diskussionen ablaufen wird. Der Führer der ägyptischen Muslimbrüder ist gleich-zeitig der Kopf der internationalen Organisation der Bru-derschaft, die sich als Dachgesellschaft der verschiedenen regionalen – meist autonom agierenden – Tochterorganisa-tionen wie der Hamas in Palästina, der Islamic Action Front

in Jordanien oder der Islamischen Partei im Irak versteht. Dieser Posten, so wird derzeit innerhalb der Bruderschaft diskutiert, könne erstmals an einen „Nicht-Ägypter“ ge-hen, auch wenn dies in ihrer mehr als 80jährigen Geschichte bisher noch nie der Fall war. Die zur Zeit am häufigsten ge-nannten Kandidaten für das Amt des Führers sind der bis-herige Stellvertreter Akefs, Muhammad Habib, sowie der Generalsekretär der Bewegung, Mahmud Ezzat. Reformo-rientierte Mitglieder wie Essam al-Eryan oder Abu al-Futuh werden ebenso ins Gespräch gebracht wie vier prominente Mitglieder der jordanischen und syrischen Bruderschaft. Besonders ein Syrer als murshid ‘amm könnte international für politischen Wirbel sorgen.

Hat seinen Rücktritt für 2010 angekündigt; Muhammad Mahdi Akef

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Junge Generation vs. Traditionalisten

Die junge Generation innerhalb der Muslimbruderschaft hat den angekündigten Rücktritt begrüßt. Sie hofft auf eine personell symbolisierte geistige Wende der Bruderschaft. Die Konfliktlinie zwischen einer technokratischen, in den 1970er Jahren aktiv gewordenen Generation um Essam al-Eryan und einer vorrangig konservativ-traditionell ausge-richteten Generation, die noch von den Erfahrungen der 1950er Jahre beeinflusst wurde, offenbart sich zunehmend. 1996 eskalierte der Konflikt zum ersten Mal in aller Deut-lichkeit durch die Abspaltung einer Gruppierung und der Gründung einer politischen Partei, der Hizb al-Wasat (Par-tei der Mitte). Mit dem damaligen murshid ‘amm Mustafa Mashur, der sich strikt für die Beibehaltung der Top-Down-Strukturen und der informellen Entscheidungsprozesse einsetzte, stimmten die meisten Mitglieder der sogenann-ten „Generation der Siebziger“ nicht überein. Erst mit der stärkeren Einbindung von Muhammad Habib, Abu al-Futuh und Essam al-Eryan in den engeren Führungskreis der Bruderschaft konnte der Generationenkonflikt zumin-dest auf personeller Ebene beruhigt werden. Jedoch wird den traditionell ausgerichteten Mitgliedern des Führungs-büros derzeit vorgeworfen, die Wahlen zum Führungsbüro im Frühjahr 2008 zu ihren Gunsten manipuliert zu haben, um Essam al-Eryan wieder aus dem Gremium zu entfer-nen. Die Wahl eines neuen murshid ‘amm wird also auch ein Zeichen für die Durchsetzungsfähigkeit der jungen Gene-ration sein.

Als erster Erfolg ist zu werten, dass die Diskussion um die Kandidaten und den Wahlprozess durch moderne Medien aus der internen Debatte geholt und in einen öffentlichen Kontext gestellt worden ist. Die Vorgänge um die Wahlen werden in ägyptischen Medien stetig und unter Bezug auf die Bloggerszene begleitet. Die junge Generation möchte die Bruderschaft vor allem strukturell verändern. So for-dern einige Blogger (die teilweise aktive Mitglieder der Bruderschaft sind oder der Bruderschaft nahe stehen), dass die Position des Führers der ägyptischen und der internati-onalen Organisation der Bruderschaft getrennt wird, da so den politischen Prozessen im autoritären Ägypten besser Rechnung getragen werden könnte und die internationale Organisation an Flexibilität gewinnen würde.

Revolution oder Fortsetzung des Status Quo?

Die Rücktrittsankündigung Akefs hat eine einmalige Situ-ation in der Geschichte der Bruderschaft geschaffen. Eine Wahl der reformorientierten Essam al-Eryan oder Abu al-Futuh könnte als beinahe revolutionäres Signal verstanden werden, den Weg eines moderaten politischen Islam end-gültig einzuschlagen und eine Parteiwerdung der Muslim-

bruderschaft zu forcieren. Diese war bislang trotz der Er-arbeitung eines konkreten politischen Programms im Jahre 2007 an internen Streitigkeiten, vor allem aber an der Re-gierung gescheitert, da diese die Anerkennung einer Mus-limbrüder-Partei strikt verweigert. Aber auch innerhalb der Organisation herrscht ein Konflikt zwischen Technokraten und Traditionalisten, der sich in der Frage nach dem Grad der politischen Partizipation ausdrückt. Erstere drängen da-rauf, in Form einer institutionalisierten Partei an der Politik Ägyptens teilzunehmen. Letztere sehen die missionarische Rolle und die sozialen Einrichtungen der Bruderschaft als Kernaufgabe und stehen einer noch stärkeren Fokussierung auf die ägyptische Parteipolitik skeptisch gegenüber. Wie die Wahl auch ausgehen wird, sie markiert schon jetzt einen Meilenstein in der Geschichte der Muslimbruderschaft und eine einmalige Chance zur internen Demokratisierung. Die Entscheidung soll in freien Wahlen durch alle Muslimbrü-der weltweit getroffen werden. Wie die Durchführung die-ser Wahlen im Kontext des immer noch offiziell bestehen-den Verbots der Bruderschaft in Ägypten funktional und organisatorisch bewerkstelligt werden soll und auch die internationale Mitgliederschaft der Muslimbrüder einbezo-gen werden kann, ist Gegenstand einer internen Debatte, die gerade erst ihren Anfang nimmt. Diese Debatte und die beschriebenen Diskussionen offenbaren jedoch deut-lich, dass die Bruderschaft nicht mehr als autoritär gestal-tete Top-Down-Organisation agieren kann und sich bereits einem pluralistischen Diskurs öffnen musste.

Christian Wolff hat an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg den Studienschwerpunkt Moderner Vorderer Orient studiert. Seine Magisterarbeit schrieb er zur ägyptischen Muslimbruderschaft. Derzeit promoviert er zum Thema „Politischer Islam und liberales Denken in Ägypten Freiheit, Bürgerrecht und Staat im Diskurs der Muslimbruderschaft“.

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Gute Chancen auf den Chefposten: Muhammad Habib, Mahmud Ezzat

Mögliche Nachfolger? - Abu al-Futuh, Essam al-Eryan

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Pure LebenslustTel Aviv wird Hundert!

Es ist die größte Openair-Party in der Geschichte Israels. Hunderttausende Tel Aviver beju-

beln über Monate den Geburtstag ihrer Stadt. Die Erinnerung an den jüdischen Neuanfang

in Israel und die tägliche Angst vor einem erneuten Verlust der Heimat begleiten die

Feiern

von Dörthe Engels

Sonne, Strand und Spaß. Das Lieblingslied im Ohr, schöne Menschen überall, ein warmer Wind auf der Haut. Und wieder ist er da: Der perfekte Tag – denn es könnte der letzte sein. In Tel Aviv zählt der Augenblick, immer schnel-ler, immer weiter, alles rauscht, die Stadt ohne Schlaf, eine Blase. Man wird mitgerissen im Strudel der Lebenslust, fühlt sich schön und begehrenswert und für immer jung. „Haifa arbeitet und Tel Aviv lebt.“ So lautet ein bekanntes Sprichwort in Israel. Die Jugend reizt es im New York des Mittelmeeres bis zum Letzten aus – and they love it.Tel Aviv ist ein gelebter Traum und für die Israelis der Be-weis, dass sie es geschafft haben. Am 11. April 1909 legte eine Handvoll Menschen mitten im Dünensand unweit des Jahrtausende alten Jaffa den Grundstein der ersten hebrä-ischen Stadt. Am 17. April diesen Jahres kamen hier etwa 2000 ihrer Nachkommen zusammen und hielten die Erinne-rung an den jüdischen Neuanfang im Lande Israel in einem Jahrhundert-Foto fest. Vor Pogromen und Ghettos aus Ost-europa geflohen, lebten die ersten zionistischen Pioniere auch in Palästina zumeist in Armut und Elend. Was lag also näher, als sich eine Stadt nach eigenen Vorstellungen zu bauen? Dass sich Tel Aviv hundert Jahre nach seiner Grün-dung zu einer der modernsten Städte der Welt entwickelt haben würde, konnten sie nicht ahnen. Ihnen schwebte eine kleine, im europäischen Stil funktionierende jüdische

Siedlung vor, wie sie Theodor Herzl, der Begründer des po-litischen Zionismus, in seinem 1902 veröffentlichten Buch „Altneuland“ beschrieben hatte. Für die Zionisten der er-sten Stunde bedeutete die Verwirklichung dieser Utopie, al-les Bisherige abzuwerfen: Sprache, Kultur, Glaube. Tel Aviv sollte der Ort sein, an dem in die Zukunft geschaut werden konnte – Jerusalem überließen sie den nach ihrer Ansicht ewig gestrigen Frommen.

Ein „Frühlingshügel“ der Jugend

Während im nur 40 Minuten entfernten Jerusalem toratreue Juden im schwarzen Rock das Straßenbild prägen, überwie-gen in Tel Aviv Jungs im lässigen Surfer-Look, Mädchen in knappsten Bikinis und Weltenbummler im alternativen Goa-Look. Sie flanieren auf der hippen Sheinkin Straße, hängen in angesagten Cafés ab und planen die nächste Par-ty. In Tel Aviv wird getanzt und gelacht. Über 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 40 Jahre alt. Dies ist der Teil Israels, der einfach nur leben will – und dabei kennen sie kein Pardon. Jeder dritte Tel Aviver ist homosexuell. Auf der jährlichen Gay-Parade kommen Schwule und Lesben aus aller Welt

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zusammen. Nirgendwo sonst im Land zeigt man so viel Haut, werden so viele Drogen konsumiert, hört man Musik bis zum Anschlag – auch wenn Palästinenser in Gaza ster-ben oder Israelis bei Terroranschlägen ums Leben kommen. Die Stadt stellt Normalität in einem ansonsten verrückten Land dar. Die Jugend flüchtet sich in eine Spaßgesellschaft, um den politischen Wahnsinn zumindest für einige Stun-den zu vergessen. Am Eingang zur Diskothek schließen sie ihre Gewehre ein, legen die Uniform ab und betreten eine Welt ohne Dauerkrieg mit den arabischen Nachbarn. Sie er-füllen sich die Versprechen der Jugend und richten sich auf ihrem „Frühlingshügel“ – Tel Aviv – ein.

Zwischen Traum und Trauma

In Tel Aviv stellt man sich nicht die Frage, ob die Stadt in hundert Jahren noch bestehen wird. Geschichte ist rück-sichtslos. Während die Eroberung Tel Aviv-Jaffas durch die israelischen Milizen am 14. Mai 1948 die Flucht und Vertreibung von 60 000 hier ansässigen Arabern bedeutete und mit der Räumung oder Zerstörung insgesamt etwa 700 arabischer Dörfer als „Nakba“ (Katastrophe) in das palästi-nensische Gedächtnis einging, feierten die Zionisten nur ei-nen Tag später die Verkündung des Staates Israel. Seitdem leben Israelis und Palästinenser zwar in einem Land, jedoch in vollkommen unterschiedlichen Welten und bekämpfen sich bis aufs Blut. In Tel Aviv ereignete sich am 4. November 1995 die vermutlich größte Katastrophe des Landes. Nach-dem sich die Erzfeinde Jitzchak Rabin und Jassir Arafat in Oslo die Hand gereicht und damit die Friedensverhand-lungen soweit wie noch nie voran gebracht hatten, wich mit der Ermordung des israelischen Premiers durch einen ex-tremistischen Israeli im Anschluss an eine riesige Friedens-demonstration erneut alle Hoffnung der Gewalt. Bis heute legen Menschen in tiefster Trauer am Ort des Attentats auf dem Rabin-Platz Blumen nieder, während nur unweit von ihnen Bomben explodieren.

Am Eingang der Diskothek „Dolphinarium“ sprengte sich am 1. Juni 2001 ein palästinensischer Selbstmordattentäter in die Luft. Die lebende Bombe riss 21 Jugendliche mit in den Tod, mehr als 120 wurden verletzt. Es war einer der schwersten Terroranschläge in der Geschichte der Stadt. Auch wenn Tel Aviv in den letzten Jahren nicht mehr Ziel von Gewaltakten war, sind die Menschen in ständiger Alarmbereitschaft. Seit dem Rückzug der israelischen Ar-mee aus dem Gaza-Streifen schicken Kämpfer der Hamas Raketen in das israelische Kernland, die allein aufgrund ihrer primitiven Bauweise das etwa 70 Kilometer entfernte Tel Aviv (noch) nicht erreichen. 1991 griff der Irak die Stadt Nacht für Nacht mit Scud-Raketen an – wie durch ein Wun-der gab es keine Toten. Doch die Angst vor einem erneu-ten Verlust der Heimat – in israelischen Medien häufig mit der Gefahr einer „zweiten Schoa“ beschrieben – ist seitdem groß und wächst mit jeder Hassrede des iranischen Präsi-denten Ahmadinedschad.

Das Wunder nach der Schoa

Und dennoch: Tel Aviv trotzt dem Lauf der Welt und ze-lebriert sich selbst. Es ist das Herz des neuen Israel. Hier wurde die Kultur einer Nation geprägt, die sich neu erfin-den musste. Statistisch gesehen besuchen heute nirgend-wo sonst auf der Welt so viele Menschen kulturelle Ver-anstaltungen wie hier. Theater, Musik, Kunst, Mode und Lebensart. Die in den 1930er und 1940er Jahren vor dem nationalsozialistischen Terror geflohenen deutschen Juden, die so genannten „Jeckes“, brachten nicht nur Sauberkeit und Pünktlichkeit mit nach Palästina. Architekten, die in Deutschland als „entartete“ Künstler verfolgt wurden, nutzten die Stadt als Spielplatz der Bauhaus-Moderne und prägten damit die Stadt auch äußerlich. Die etwa 4000 Gebäude in der „weißen Stadt“ zählen heute

Hinter den historischen Gebäuden des deutschen Templer-Ordens aus dem 19. Jahrhundert schießen im modernen Tel Aviv Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden.

Überall in Tel Aviv zu lesen: „Volk Israel, lebe!“

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zum UNESCO-Weltkulturerbe. Tel Aviv, auch eine deutsche Stadt. Und sie wächst weiter. Nach Jerusalem ist Tel Aviv die zweitgrößte Stadt Israels, doch der mit Abstand größ-te Ballungsraum. Jeder zweite Israeli lebt in oder nahe der Stadt am Mittelmeer. Hier befindet sich das Zentrum der Wirtschaft wie auch das der internationalen Politik. Gigantische Bauvorhaben verändern täglich das Gesicht der Stadt. Touristen aus aller Welt beleben die Meeresprome-nade entlang des kilometerlangen Sandstrandes mit seinen Cafés, Bars und Nachtclubs. Für die Israelis ist Tel Aviv der Inbegriff des Wunders, das sich nach der Schoa ereignete. So ist in diesen Tagen überall an den Häuserwänden ein Aufruf zu lesen, der mehr einer Feststellung gleicht: „Volk Israel, lebe!“ Ja, dies tun sie… und in weiteren hundert Jah-ren – so Gott und sie selbst wollen – auch in Freundschaft mit ihren arabischen Nachbarn.

Auf der Strandpromenade von Tel Aviv lässt es sich stundenlang flanieren.

In Tel Aviv ist immer etwas los!

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Der drohende UmsturzRückblick auf die iranische Studentenbe-wegung und die Studentenunruhen von Teheran vor zehn Jahren

Die jüngsten Massendemonstrationen in Teheran sind seit der Revolution 1979 die größten

aber nicht die ersten Proteste im Gottesstaat. Bereits vor zehn Jahren, im Juli 1999 wurde

das islamische System in seinen Grundfesten erschüttert, nachdem die brutale Unterdrü-

ckung der Studentenproteste zum Aufbegehren der Gesellschaft gegen die islamische Re-

publik wurde

von Claudia Hoffmann

Eine laue Julinacht gegen vier Uhr morgens. Te-heran schläft noch, doch mit einem Mal wird die Ruhe un-terbrochen. Die Türen des Studentenwohnheims in Teheran fliegen auf, bis an die Zähne bewaffnete Einheiten der von Khomeini gegründeten paramilitärischen Hizbullah-Miliz stürmen die Zimmer, schlagen auf Bewohner ein, legen Feuer, zerstören oder entwenden Wertgegenstände und tö-ten im Sturmfeuer mehrere Studierende. Es ist der 9. Juli 1999, der Beginn von Massendemonstrationen, die sich zu den bis dahin größten Unruhen der islamischen Republik seit den Aufständen der Volksmujaheddin 1981 ausweiten sollten.

Was war passiert? Während einer studentischen Versamm-lung am Vorabend, in der ein neuer Gesetzentwurf zur (weiteren) Einschränkung der Pressefreiheit diskutiert wur-de, waren die Verhaftung von Journalisten und die Schlie-ßung der relativ regimekritischen Zeitung Salam bekannt geworden. Salam hatte kurz zuvor Details über die Beteili-gung des Geheimdienstes an einer Mordserie an iranischen Intellektuellen enthüllt. Spontan starteten die Studierenden einen abendlichen Protestmarsch und skandierten „Gedan-

kenfreiheit für immer!“. Noch in derselben Nacht schlugen die Sicherheitstruppen zu.

Protest hat Tradition

Studentische Proteste waren im Iran nichts Neues. Vielmehr standen sie in einer langen Tradition seit der Schah-Zeit. Schon damals war studentische Opposition unerwünscht, weshalb sich Verbände wie die Confederation of Iranian Stu-dents im Ausland formierten und immer wieder Proteste organisierten. Zu diesen gehörte auch die durch die Ermor-dung Benno Ohnesorgs berühmt gewordene Demonstrati-on gegen den Schahbesuch am 2. Juni 1967 in Berlin, bei der sich zahlreiche deutsche Studierende mit ihren iranischen Kommilitonen solidarisierten. Aus Angst vor studentischer Opposition wurden die Universitäten Irans 1980, nach der islamischen Revolution, für zwei Jahre geschlossen. Trotz ihrer Islamisierung in der sogenannten Kulturrevolution, also der „Säuberung von unislamischen Elementen“, bieten die Universitäten aber bis in die Gegenwart eine Arena für

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die Formierung politischer Opposition und ideologischer Dispute der Gesellschaft. Der Schriftsteller und Blogger Ali Schirasi meint gar, die iranische Studentenbewegung näh-me „im Iran eine Rolle ein, die in anderen Ländern Parteien und Bürgerinitiativen ausüben. Die Studenten sind die ein-zigen, [...] die politische Forderungen an die Öffentlichkeit tragen können.“

Hoffnung auf Reformen unter Khatami

In den neunziger Jahren gelang es den Studierenden erst-mals nach der Revolution von 1979, sich in einer neuen Be-wegung zu organisieren. Sie unterstützte die Reformvorha-ben des liberaleren Flügels der Regierung und trug bei der Präsidentschaftswahl 1997 erheblich zum Wahlsieg des re-formorientierten Geistlichen Muhammad Khatami bei. An ihn knüpften sich übergroße Erwartungen, denen er kaum gerecht werden konnte, da er einerseits das System selbst nicht infrage stellte und seine Machtbefugnisse es ihm an-dererseits nicht erlaubten, über den obersten Religionsge-lehrten Khamenei hinweg, Entscheidungen zu fällen. Auch die Kontrolle über Sicherheitskräfte und Justiz lag nicht in Khatamis Hand. Nichtsdestotrotz keimte die Hoffnung auf Demokratisierung und Liberalisierung des Systems. Die Studentenbewegung wagte es, mutiger zu kritisieren, wobei ihre Forderungen mehr als nur die Verbesserung der Studienbedingungen betrafen. Sie waren allgemeinpolitischer Natur. Es ging schlicht um die Einhaltung der Gesetze und die Einforde-rung von Redefreiheit. Die studentische Bewegung wuchs an und verlagerte die Veranstaltungen in den öffentlichen Raum, wo sie mehr Menschen erreichen konnte. Doch wur-den die Erwartungen der Studierenden an den Präsidenten enttäuscht; er unterstützte ihre Forderungen nicht.

Die Demos werden zum Blutbad

Der brutale Überfall am Morgen des 9. Juli 1999 entwickelte sich zu einem bedeutenden Wendepunkt. Aus den studen-tischen Protesten wurden Massendemonstrationen und Straßenschlachten, die in kürzester Zeit immer mehr Ak-tivisten mobilisierten und sich landesweit ausweiteten. In den Forderungen nach Pressefreiheit und der Freilassung politischer Gefangener spiegelte sich die Unzufriedenheit großer Teile der Gesellschaft wider, nicht nur der Studie-renden. Blutige Zusammenstöße mit bewaffneten Sicherheitskräf-ten und Schlägertrupps der paramilitärischen Organisation Basij häuften sich, immer mehr Tote waren zu beklagen. Erst nach knapp einer Woche gelang es dem Staat, die De-monstrationen unter Aufgebot massiver polizeilicher und paramilitärischer Kräfte erfolgreich zu unterdrücken. Die offizielle Bilanz dieser rebellischen Tage: 1600 Studierende verhaftet, vier getötet und 400 verletzt. Inoffizielle Quellen geben weit höhere Opferzahlen an. Zudem verloren viele Studierende ihren Studienplatz, die Studentenbewegung wurde unterdrückt und die Studienbedingungen an den Universitäten verschärft. Da Präsident Khatami die Re-pression gegen die Studierenden nicht verhinderte und aufgrund seiner Zaghaftigkeit und Handlungsunfähigkeit in dieser angespannten Situation, betrachteten viele den Re-formkurs des Präsidenten als gescheitert.

Ein wiederkehrendes Bild

Traurig und zynisch zugleich, dass sich die Bilder vom Juli 1999 fast zehn Jahre danach auf dieselbe brutale Art wieder-holen: Wieder Menschenmassen, die diesmal nach der ganz

Der Platz der Freiheit in Teheran. Eine Million Menschen demonstrierten hier am 15. Juli 2009 für die Annullierung der offensichtlich gefälschten Präsidentenwahl vom 12. Juni 2009.

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offensichtlich manipulierten Wahl friedlich für die Umset-zung fundamentaler Rechte demonstrieren, wieder Verhaf-tungswellen sowie prügelnde und in die Menschenmenge schießende Polizisten und Basijis. Ebenfalls wiederkehrend die Verwüstung von Studentenwohnheimen.Der Unterschied diesmal ist nur, dass im Gegensatz zu den Studentenprotesten von damals nun alle Bevölke-rungsschichten mobilisiert sind. Und anders als damals verdeutlichten die Ereignisse nach den Wahlen am 12. Juni, dass die Kontrolle der islamischen Machthaber so gefähr-det sein muss, dass sie mit nackter Gewalt, brutaler denn je zurückschlagen lassen. Um eine Veränderung zu verhin-dern, werden alle erdenklichen Register gezogen, ohne die menschenverachtende Einstellung gegen das eigene Volk zu verbergen. Ajatollah Mesbah Yazdi, der geistige Mentor von Präsident Ahmadinedschad, ließ offen verlautbaren, dass er all jene, die nicht über religiöse und gesetzliche Legitimation verfügen, für politisch unmündig und die Demonstrierenden für Abschaum halte. Menschenwürde zählt offenbar nicht.Angesichts der Lebensgefahr und der drohenden drako-nischen Strafmaßnahmen beweist die Mobilisierung von Millionen von Demonstranten, dass die Iraner diesmal un-ter allen Umständen bereit sind, für ihre Rechte einzuste-hen und mutig den Einschüchterungsversuchen des Staats-apparats zu trotzen. Bleibt abzuwarten, wie die Machthaber reagieren werden.

Die Aggressivität nimmt zu: In Zivil gekleidete Angehörige der Basiji Schlägergruppe prügeln auf einen Demonstranten ein.

Der deutschsprachige Webblog von Ali Schirasi bie-tet vertiefende Berichte zum Thema Studentenbewe-gung, sowie zu aktuellen politischen Entwicklungen im Iran. Der Autor flüchtete 1987 aus dem Iran und lebt seither als freier Schriftsteller in Deutschland.http://alischirasi.blogsport.de/

Weiterführende Literatur:

Kermani, Navid: Iran: Die Revolution der Kinder, Beck Verlag, 2001.

Perthes, Volker: Iran: Eine politische Herausforderung. Die prekäre Balance von Vertrauen und Sicherheit. Bundeszentrale für Politische Bildung, 2008.

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Das saudische ReformdilemmaGeschlechtertrennung in Saudi-Arabien

Die Geschlechtertrennung in Saudi-Arabien bringt für Frauen Vor- und Nachteile mit sich.

Die Reformer, die die Segregation für ihre Zwecke entdeckt haben, drehen sich deshalb im

Kreis

von Jannis Hagmann

„Men“, „Women“, „Family Entrance“, „Single Ladies not allowed“: Für Unerfahrene ist die Geschlech-tertrennung in Saudi-Arbabien nicht immer einfach. In der Öffentlichkeit lauert stets die Gefahr, sich geschlechtlich zu verirren und höflich aus der Frauenabteilung eines Restau-rants oder der Frauenetage einer Mall herausgebeten zu werden.

Meist wird das Thema der saudischen Geschlechtertren-nung in einen Assoziationsraum geworfen, der von Be-griffen wie Unterdrückung, Islamismus, Patriarchat und ähnlichem geprägt ist. Das Autofahrverbot oder die gesell-schaftlichen Kleidervorschriften für Frauen werden voreilig mit dem Prinzip der Geschlechtertrennung in Verbindung gebracht und pauschal verurteilt. Vergessen werden dabei nicht nur der enorme organisatorische Aufwand und die ökonomischen Auswirkungen der Segregation. Unter den Tisch fällt auch, dass die Trennung der Frauen von den Männern auch immer eine Trennung der Männer von den

Frauen ist – schon diese banale Tatsache zeigt, dass die Se-gregation nicht automatisch das weibliche Geschlecht be-nachteiligt.

Folgt man einer weit verbreiteten Ansicht, ist das Gegen-teil der Fall: Gerade aufgrund der Geschlechtertrennung sei das „Empowerment“ von Frauen mit den gesellschaftlich-religiösen Wertvorstellungen vereinbar. Der Berufstätigkeit von Frauen beispielsweise stehe prinzipiell nichts im Wege, da die Geschlechtertrennung ja garantiere, dass berufstäti-ge Frauen mit dem anderen Geschlecht nicht in Berührung gerieten – ein Argumentationsmuster, das vor allem im so-genannten Reform-Lager zirkuliert, zu dem auch Teile der Regierung wie etwa König Abdullah und einige seiner Mi-nister gezählt werden.

Feminine Öffentlichkeit

So zeichnet sich in Saudi-Arabien ein Trend hin zu einer

Schilder helfen bei der Orientierung, wo Mann besser nicht eintreten sollte und welchen Eingang Frau zu wählen hat

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„femininen Öffentlichkeit“ ab. Anders als beispielsweise in Deutschland (und auch anderen arabischen Ländern!), wo das Vordringen von Frauen in ehemals männliche Domänen mit der zunehmenden Mischung der Geschlechter im öffent-lichen Raum einherging, führt die zunehmende Teilnahme von Frauen am gesellschaftlichen Leben in Saudi-Arabien zu einer „Feminisierung“ bestimmter Teile des öffentlichen Raums. Dies öffnet Frauen in zunehmendem Maße bisher verschlossene Türen. So sind reine Frauen-Banken und Frauen-Finanzunternehmen zwar keine Neuigkeit, doch verbreitet sich dieses Phänomen der „Nur-Frauen-Institu-tionen“ zunehmend. Frauenabteilungen in Einkaufszen-tren, meist das oberste Stockwerk, gehören mittlerweile zur Grundausstattung der zahlreichen saudischen Malls. Auch bei einem der wenigen Jazz-Konzerte in Jidda ermöglichte die Trennung der Geschlechter die Teilnahme von Frauen. Männer saßen auf der einen, Frauen auf der anderen Seite der Bühne, so dass zwar Blickkontakt ermöglicht, das phy-sische Zusammenkommen zumindest theoretisch jedoch unterbunden wurde.

Fast 60% der Studienabgänger, doch nur 16% der Arbeitnehmerschaft sind Frauen

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Hochschulbildung. Auch hier wird die Beseitigung von Einschränkungen, denen Frauen bislang unterworfen waren – verschiedene Studien-gänge wie etwa Jura wurden mittlerweile für Frauen geöff-net – nur durch die gleichzeitige Beibehaltung der strikten Trennung von männlicher und weiblicher Gesellschafts-sphäre ermöglicht. Die staatliche Hochschullandschaft wurde in den letzten zehn Jahren durch mehrere private Colleges für ausschließlich weibliche Studenten erweitert. Für nächstes Jahr ist zudem die Eröffnung der ersten staat-lichen reinen Frauen-Universität (Nura-bint-Abdulrahman-Universität) geplant, für die sich König Abdullah persön-lich stark machte. Schon heute sind etwa 58 Prozent der Studienabgänger Frauen – ein erstaunlicher Anteil, der ohne die rigide ge-schlechtergetrennte Organisation des Hochschulsystems nicht erreicht worden wäre. Sowohl große Teile des religi-ösen Establishments als auch der Eltern hätten sich im Falle gemischter Fakultäten wohl gegen die universitäre Bildung der jungen Frauen entschieden. Auch wenn nur ein klei-ner Teil der Absolventinnen auf den Arbeitsmarkt strömen wird – viele Frauen arbeiten trotz universitärer Bildung oft ausschließlich zu Hause – wird sich die Frage künftig im-mer häufiger stellen: Trennen oder Mischen? Der bisherige Trend spricht für die erste Option.

Frauen statt Gastarbeiter?

Auch in der Wirtschaft bleibt die getrennte Gesellschafts-ordnung nicht ohne Folgen. Zwar haben viele Unternehmen abgetrennte Frauenabteilungen, welche sowohl weiblichen Kunden offenstehen als auch die Einstellung von Frauen ermöglichen. Doch führen die Kosten, die durch die zusätz-lichen Büroräume anfallen, oft dazu, dass die Einstellung von Frauen aus finanziellen Gründen schlichtweg nicht möglich ist. Zusätzlich erweist sich die Geschlechtertren-nung in der Praxis oft als äußerst unpraktisch. Ein Anwalt in der saudischen Hafenstadt Jidda, der ein extra Büro für seine weiblichen Angestellten finanzieren konnte, beklagt,

dass die Frauen- und Männersektion seiner Kanzlei zwar im selben Gebäude, aber sieben Stockwerke auseinander liegen. Für die geringfügigsten Angelegenheiten muss ent-weder auf den Fahrstuhl oder eben auf Telefon und Email zurückgegriffen werden. Für die rein männlichen Kanzleien seiner Kollegen stellen sich solche Probleme nicht.

Da saudische Studentinnen durchschnittlich besser ab-schneiden als ihre männlichen Kommilitonen, wird durch die begrenzten Berufsmöglichkeiten für Frauen ein beson-ders wertvolles Potential verspielt. Dies scheint auch die Regierung erkannt zu haben, denn schon seit den neun-ziger Jahren empfehlen die nationalen Entwicklungspläne die Einstellung von Frauen im öffentlichen und privaten Sektor. Gleichzeitig koppelte die Regierung die Thematik an die Bemühungen um eine „Saudisierung“ des Arbeits-marktes. Dieses seit den siebziger Jahren verfolgte Konzept sieht vor, den Anteil ausländischer Arbeitnehmer (derzeit etwa 60 Prozent der Gesamtarbeiterschaft!) zu verringern. Die Beschäftigungsrate von Frauen soll bis zum Jahre 2025 von derzeit zehn Prozent auf dreißig hochgetrieben werden. Dem Austausch der meist weniger qualifizierten und unter-bezahlten Arbeitsmigranten durch saudische Arbeiterinnen steht jedoch das hohe Bildungsniveau saudischer Frauen im Wege. Medizinerinnen als Haushaltshilfen, Lehrerinnen in der Gastronomie oder Taxi fahrende Architektinnen sind weder eine wünschenswerte noch eine realistische Perspek-tive für den saudischen Arbeitsmarkt.

Das saudische Dilemma

Saudi-Arabien befindet sich in einem Dilemma: Der von re-formorientierten Stimmen unterstützte Einzug von Frauen in ehemals männlich-dominierte Bereiche des öffentlichen Lebens scheint nur über zunehmende geschlechtertren-nende Maßnahmen gesellschaftlich und politisch durch-setzbar zu sein. Erst die Herausbildung von femininen, von den männlichen Sphären weitestgehend getrennten Räu-men, ermöglicht die Integration von Frauen in das Arbeits-leben, das Hochschulsystem und das öffentlichen Leben all-gemein. Damit beißt sich die Katze jedoch in den Schwanz, denn eben diese Maßnahmen sind es, die dem Empower-ment von Frauen aus praktischen Gründen im Wege stehen. Ein Arbeitgeber, der keine Frauen einstellt, weil getrennte Büroräume das wirtschaftlich Mögliche übersteigen, oder eine potentielle Unternehmensgründerin, deren Geschäfts-idee nur unter gemischtgeschlechtlichen Bedingungen um-setzbar wäre, sind nur zwei Beispiele unter vielen. Allein die Schwierigkeiten, die sich bei der praktischen Umsetzung der Geschlechtertrennung ergeben, erschweren Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt, auch wenn er von Teilen der Regierung gefördert und gefordert wird.Dass sowohl Reformer als auch Konservative die Trennung der Geschlechter als Argument für ihre jeweilige Position heranziehen und den Geschlechterdiskurs für sich in An-spruch nehmen, lässt das Janusgesicht der Geschlechter-trennung am deutlichsten hervortreten. Entweder wird das Empowerment befürwortet, weil die Geschlechtertrennung es ja möglich mache, oder es wird abgelehnt, weil das Gebot der Trennung dem im Wege stehe. Das Prinzip der Segrega-tion selbst wird jedoch nur selten in Frage gestellt. Es wäre also unangebracht, die traditionalistischen Konservativen allein für die Geschlechtertrennung und die aus ihr ent-springenden Benachteiligungen für Frauen verantwortlich zu machen. Auch der Reformdiskurs hat die Geschlechter-trennung für sich entdeckt.

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Vertrautes Preis gebenvon Anna Antonakis und Manuel Emonds

oben: Fahrkarte von Yorckstraße nach Hermannplatz; 2,10€

rechts: Sonnenblumen vom Wochenmarkt 2,- €

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oben: ein Kilo Tomaten; 1,49€

links: Fullas Schuhe; 49,90€

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oben: Grill, second hand; 20€

unten: Putenfleischspieße, 6 Stück; 3,49€

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unten: Putenfleischspieße, 6 Stück; 3,49€

oben: Liegedecke; 14,95€

unten: UNBEZAHLBAR

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Von teuflischen Zinsen und göttlichen GewinnenIslamic Banking in Zeiten der Wirtschaftskrise

In Zeiten der Wirtschaftskrise erscheinen Verbote von Krediten und spekulativen Geschäften als

verlockende Schlagworte. Islamic banking wird bisweilen als Alternative im derzeitigen Finanz-

system angesehen. Doch auch diese Art von Bankgeschäften ist weder frei von Kritik noch von

Risiko

von Thomas Behr

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Mitte 2006, zwei Jahre vor dem Einbruch des amerika-nischen Immobilienmarktes und dem Fall amerikanischer Investmentbanken, beschwor das Managermagazin in seiner Online-Ausgabe den Handel mit Scharia-konformen Fi-nanzprodukten als ein Milliardengeschäft mit zweistelligen Wachstumszahlen. Von „teuflischen Zinsen“ auf der einen

und „göttlichen Gewinnen“ auf der anderen Seite war in

der Süddeutschen Zeitung die Rede. Im Jahr 2009, dem Jahr der schwersten Rezession der Weltwirtschaft seit den 30er Jahren, wird das sogenannte islamic banking, sprich der Handel mit Finanzprodukten, die dem islamischen Recht entsprechen, vielerorts als eine menschlichere Alternative zu dem unkontrollierbar gewordenen, kapitalistischen Fi-nanzsystem wahrgenommen. Das Interesse ist verständlich, verbietet doch das islamische Recht Zinsen und spekulative Geschäfte. Angesichts einer Finanz- und Wirtschaftskrise, die wesentlich durch das unverhältnismäßige Kreditver-halten der Amerikaner und hochspekulative Bankgeschäfte ausgelöst wurde, ist das Verbot von Krediten und Risiko-geschäften ein verlockendes Schlagwort. Komplizierte Sy-steme wie die der Banken, seien sie islamisch oder nicht, lassen sich jedoch kaum mit Schlagworten beschreiben. Um hinter ihnen Zusammenhänge und auch Widersprü-che aufzudecken, hilft ein Blick auf die Ursprünge der an-gesprochenen Verbote und ihre heutige Umsetzung in den Geschäftstätigkeiten der Banken.

„Fürchtet Gott und lasst das Zinsnehmen bleiben“ (Sure 2,Vers 278)

Das Verbot von Zinsen wird explizit im Koran erwähnt. „Fürchtet Gott und lasst das Zinsnehmen bleiben“ heißt

es in Sure 2, Vers 278. Jedoch macht ein Koranvers noch kein Gesetz. Die Entwicklung des islamischen Rechts ist kompliziert und durchaus kontrovers. Dennoch wurde das koranische Zinsverbot in der islamischen Rechtstradition weitestgehend als notweniger Pfeiler einer islamischen Wirtschaftsordnung angesehen. Das Verbot von Risiko-geschäften lässt sich nicht direkt in einem Koranvers fin-den. Muslimische Rechtsgelehrte sehen es in Sure 5, Vers 91, angedeutet: „Ihr, die glaubt. Der Wein, das Glücksspiel, die Opfersteine und die Lospfeile sind nur Gräuel von Satanswerk. Meidet ihn!“ Unter Verwendung des Analo-gieschlusses, einem zentralen Instrument der islamischen Rechtsfindung, dehnten islamische Rechtsgelehrte dieses

Verbot auf alle Arten von Gewinnen aus, die durch das Eingehen von Risiken und Wagnissen erlangt werden. Für wirtschaftliche Aktivitäten heißt dies, dass jene Geschäfte der Scharia zuwiderlaufen, deren Geschäftsbedingungen von ungewissen Entwicklungen abhängen.

Sah der Rechtsgelehrte al-Kaschani im 12. Jahrhundert den Verkauf eines noch nicht geborenen Kamels oder des noch nicht gesäten Getreides als gharar (Risikogeschäft) an, so könnte ein heutiger Rechtsgelehrter hierunter den Ver-kauf noch nicht errichteter Häuser verstehen. Diese Risi-kogeschäfte mit Immobilien wurden in den letzten Jahren jedoch nicht nur in den Vereinigten Staaten getätigt. Speku-lationen dieser Art haben im Zuge der Finanzkrise das am persischen Golf gelegene Emirat Dubai in eine tiefe Immo-bilienkrise gestürzt. Die Mehrzahl der milliardenschweren Bauprojekte in Dubai liegt seit Ende 2008 auf Eis.Der Fall Dubai macht deutlich, dass in einem Land, das der muslimischen Welt zugerechnet wird, keineswegs eine aus-schließlich Scharia-konforme Wirtschaftsordnung gelten und praktiziert werden muss. Gleichzeitig werden Scharia-

konforme Finanzprodukte auch von Banken wie der Com-merzbank und der Deutschen Bank angeboten. Die britische HSBC war die erste nicht-islamische Bank, die 1998 mit der HSBC Amanah eine eigene Sparte für diese Finanzdienstlei-stungen gründete. Zielgruppe dieser Aktivitäten sind die Millionen Muslime, die in Europa und Nordamerika leben.Islamic banking ist somit heute weder auf islamische Banken noch auf muslimische Länder beschränkt. Zudem ist die Ef-fektivität islamischer Finanzprodukte abhängig von der Ent-wicklung anderer Wirtschaftszweige. Diese Abhängigkeit wird bei einer genaueren Betrachtung Scharia-konformer Ge-schäftspraktiken deutlich.

Scharia-konforme Geschäftsaktivitäten

Die Versorgung der Realwirtschaft mit Kapital ist eine der zentralen Aufgaben der Banken. Dieses Kapital setzen Unter-nehmen etwa zum Kauf von Rohstoffen, Maschinen, zur Be-zahlung von Personal oder zur Finanzierung neuer Projekte ein. Wenn Banken an Unternehmen Kredite vergeben, so nehmen sie dafür Zinsen. Dieses geschieht unabhängig vom Erfolg des Unternehmens. Auch islamische Banken verleihen Kapital nicht kostenfrei. Das islamic banking kennt mehrere Finanzprodukte, die als Alternativen zum Kredit angesehen werden können.Bei geringem Finanzierungsbedarf für klar zu bestimmende Güter kann Kapital über ein murabaha-Geschäft beschafft werden. Die Bank tritt in dieser Transaktion als eine Art Zwi-schenhändler auf. Das Unternehmen benennt gegenüber der Bank die gewünschten Güter. Diese erwirbt die Eigentums-rechte an den entsprechenden Gütern und verkauft sie an das Unternehmen. Als Preis für ihre Dienstleistung versieht sie den Verkaufspreis mit einem Aufschlag. Das Unternehmen zahlt den Verkaufspreis in Raten an die Bank.Murabaha-Finanzprodukte sind bei islamischen Gelehrten nicht unumstritten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Ban-ken den Preiszuschlag meist anhand eines Prozentsatzes errechnen, der sich am marktüblichen Zins orientiert. Die Gründe hierfür sind offenkundig: Das Unternehmen kann die Kosten des murabaha-Geschäftes mit den Kosten eines Kredits vergleichen. Es hinge stark von der wirtschaftlichen Situation eines Unternehmens ab, ob die Geschäftsführung bereit wäre, einen Preis zu zahlen, der deutlich über dem eines Kredits läge. Islamische Finanzprodukte haben sich in Bezug auf ihre Kosten durchaus ihrer nicht-islamischen Kon-kurrenz zu stellen.

Diese Art der Finanzierung eignet sich besonders für die zeit-nahe Finanzierung einiger bestimmbarer Güter oder Dienst-leistungen. Bei größeren Projekten ist dieses Konzept jedoch nicht praktikabel. Deren Finanzierung wird meist über eine musharaka-Partnerschaft abgewickelt. Bei diesem Geschäft wird der Kapitalgeber, in der Regel eine Bank, sowohl an den Gewinnen als auch an den Verlusten beteiligt. Zudem erhält sie ein Mitspracherecht in der Geschäftsführung des jewei-ligen Projektes. Während der Gewinnanteil der Bank zwi-schen den Geschäftspartnern frei verhandelbar ist, entspricht die Verlustbeteiligung dem Anteil an der Investitionssumme, den sie als Kapital in das Geschäft einbringt. Somit kann der Verlust der Bank deutlich höher als das in das Projekt einge-brachte Kapital sein.

Die al-Mabani Group, ein saudisches Bauunternehmen, möchte ein neues Geschäftsfeld erschließen und plant den Bau einer Zementfabrik. Eine solche Investition hätte ein Volumen von 400

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Das Fallbeispiel zeigt, wie stark der Misserfolg eines musharaka-Projekts für die Bank zu Buche schlagen kann. Die islamischen Banken sind bisher nicht so stark von der Finanzkrise betroffen wie andere Banken. Sie sind aber wesentlich stärker in die Projekte der Realwirtschaft invol-viert als diese. Die al-Mabani Group könnte auch ein Bau-unternehmen in Dubai sein. Daher ist davon auszugehen, dass die Krise der Realwirtschaft in den nächsten Monaten auch islamische Banken in Bedrängnis bringen wird.Die bisherigen Geschäftsaktivitäten waren auf die Per-spektive der Banken und Unternehmen beschränkt. Die Seite der Anleger blieb unbeachtet. Nach der Volkswirt-schaftslehre ist eine der wesentlichen Funktionen der Fi-nanzmärkte der Ausgleich zwischen Krediten und einer Vielzahl von Einlagen beziehungsweise zwischen Schuld-

nern und Sparern. Aber wie gelangt eine Bank zu Einla-gen, wenn sie die Anleger nicht mit Zinsen locken kann? Man bedient sich hier eines mudaraba-Geschäfts, einer so-genannten stillen Partnerschaft. Das Geschäft ähnelt dem einer musharaka-Partnerschaft, mit der Ausnahme, dass ein Partner das Kapital einbringt, während ein anderer für die Geschäftsführung verantwortlich ist. Im Falle eines Ver-lustes haftet nur der Kapitalgeber. Die stille Partnerschaft wird heute vor allem zwischen Banken und Anlegern an-gewendet. Der Anleger legt bei einer Bank Geld an, die ihm hierfür ein mudaraba-Zertifikat aushändigt. Das Kapital in-vestiert sie in ein Projekt. Über einen zuvor ausgehandelten Gewinnanteil, der auf dem Zertifikat festgeschrieben ist, ist

der Anleger an dem Projekt beteiligt. Er hat jedoch keinen Einfluss auf die Geschäftsführung.

Infrastrukturprojekte wie der im Fallbeispiel erwähnte Bau eines Autobahnrings werden meist von staatlicher Seite in Auftrag gegeben. Diese Investitionen sind für die beteili-gten Unternehmen sicherer als Aufträge von privater Sei-te. Denkt man das Fallbeispiel weiter, so könnte jedoch der saudische Staat aufgrund der in Folge der Wirtschaftskrise eingebrochenen Öleinnahmen Infrastrukturprojekte solcher Art einfrieren. Hiervon wären auch Hassans Geldanlagen betroffen.Über Gewinn- und Verlustbeteiligungen sind musharaka und mudaraba-Geschäfte eng mit der allgemeinen wirt-schaftlichen Entwicklung verwoben. Die Wirtschaftskrise lässt viele Scharia-konforme Geschäfte zu Verlustgeschäf-ten werden. Eine sicherere Alternative ist das islamic ban-king nicht. In Krisenzeiten läuft der Vergleich zwischen „teuflischen Zinsen“ und „göttlichen Gewinnen“ eher auf

ein Unentschieden hinaus.

Thomas Behr studiert Islamwissenschaft, Arabistik und Be-triebswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin. Seine Interessensschwerpunkte sind die wirtschaftliche Entwick-lung Saudi-Arabiens, internationale Unternehmenskoope-ration sowie Fragen des interkulturellen Managements.

Geldfächer gegen brütende Hitzewellen der Finanzkrise

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Mio. Saudi Rial (SR), was einem Volumen von 76

Mio. Euro entspricht. Die Investitionskosten kann das Unternehmen nicht alleine aufbringen. Der Ge-schäftsführer Muhammad al-Mabani wendet sich

an die Islamic Bank of Jeddah. Er einigt sich mit dem Bankmanager Yussuf al-Fulusi auf eine musharaka-Partnerschaft, bei der die Bank sich mit SR 200 Mio. beteiligt. Yussuf al-Fulusi kann eine Gewinnbeteili-gung der Bank von 40 % aushandeln. Zudem befri-sten die beiden Geschäftspartner die Partnerschaft auf 10 Jahre. Dann endet die Gewinn- und Verlust-beteiligung der Islamic Bank of Jeddah. Bereits im ersten Geschäftsjahr zeigt sich, dass der Bau der Zementfabrik eine Fehlentscheidung der al-Mabani Group war. Der Preisdruck durch die ausländische

Konkurrenz ist zu groß. Schließlich gelingt es Mu-hammad al-Mabani, die Fabrik nach zehn Jahren an die ägyptische Konkurrenz zu verkaufen. Der Ge-samtverlust des Projektes beträgt SR 1 Mrd. Hier-von trägt die Islamic Bank of Jeddah gemäß ihrem Kapitalanteil 50 %, also SR 500 Mio.

Hassan hat vor kurzem sein Studium der Ingenieurswissenschaften beendet und einen Job bei

einem Chemieunternehmen in der saudischen Stadt Jeddah gefunden. Er und seine Freundin möchten nun so bald wie möglich heiraten, aber noch kann

Hassans Familie das Brautgeld nicht aufbringen. Da sein Gehalt die monatlichen Ausgaben bei Wei-tem übersteigt, legt er einen Teil des Geldes bei der

Islamic Bank of Jeddah an. Die Bank bietet ihm für

sein Geld mudaraba-Zertifikate. Hassan stellt der

Bank sein Geld unter der Bedingung, dieses nur in sehr sichere Infrastrukturprojekte zu investieren, zur Verfügung. Da Hassan mit SR 1000 pro Monat

nach dem Maßstab der Bank nur geringe Beträge anlegen kann, muss er sich mit einem Gewinnsatz

von 2,5 % zufrieden geben. Die Bank finanziert mit

seinem und dem Geld weiterer Anleger eine musha-raka-Partnerschaft zum Aufbau des Autobahnrings in Jeddah.

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Es raucht der Kopf...Autoren und Verlagen in der arabischen Welt stellen sich zahlreiche politische,

ökonomische und infrastrukturelle Hindernisse in den Weg, die sie an der Entwicklung

eines freieren und qualitativ hochwertigeren Buchmarktes hindern. Am schwersten wiegt

jedoch, dass es fast keine Leserschaft gibt

von Julia Gebert

„Marlboro“, „Gitanes“ und „Kent“ – so lesen sich

die Aufdrucke der Transportkisten in sämtlichen Hallen auf dem Ausstellungsgelände in Kairo. Die Inhaber der Messestände packen ihre Pappkartons aus und stellen ihr Sortiment möglichst ansprechend zusammen – immer eine

Fluppe im Mundwinkel behaltend. Doch auch wenn die in-direkte Unterstützung für Marlboro & Co. beträchtlich aus-fallen dürfte, ist dies keine Plattform für Zigarettenfirmen,

sondern die größte Buchmesse der arabischen Welt. Die Pappkartons kommen jedes Jahr wieder zum Einsatz. „Weil sie so praktisch sind“, erklärt ein syrischer Verlagsvertreter,

der, eine Wolke Zigarettenrauch durch die Nase ausschnau-bend, Bücher aus einem Karton zieht und auf den Regalen seines Standes arrangiert.

Eine kaum entwickelte Lesekultur

Diese Art mit Büchern umzugehen ist symptomatisch für eine kaum entwickelte Lesekultur in der arabischen Welt. Neben schwacher Kaufkraft, Analphabetismus und Zen-sur, macht es vor allem mangelndes Interesse den Verle-gern und Autoren schwer, einen Markt für Bücher zu ent-

wickeln. Nachdem die Ereignisse des 11. Septembers 2001 die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für Missstände in der Region sensibilisiert hatten, legte der Arab Human Development Report der UNO im Jahr 2003 seinen Fokus auf den Bereich Bildung, Information und Wissen. Ein seit-her viel zitierter und debattierter Vergleich aus dem Bericht ist der Befund, dass die 22 arabischen Länder zusammen pro Jahr so viele Bücher übersetzten wie Griechenland. Die Buchmesse in Kairo spiegelt diesen Trend wider: Die meisten Besucher kommen gleich mit dem ganzen Famili-enklüngel, aber nicht, um sich die Neuerscheinungen anzu-sehen, sondern um auf einer der weitläufigen Grünflächen

des Messegeländes zu picknicken.Nun ist es nicht so, dass es keine traditionsreichen, erfolg-reichen arabischen Verlage gäbe, besonders im Libanon, wo sich dem Leser ein im Vergleich mit anderen arabischen Ländern vielfältigeres und qualitativ hochwertigeres An-gebot an Büchern bietet. Hier holen auch notorisch unter-repräsentierte Bereiche wie etwa Literatur über Menschen-rechte, Diskriminierung oder zeitgemäße Kinderliteratur langsam auf oder werden zumindest aus anderen Sprachen ins Arabische übersetzt und publiziert. Eine Studie über Verlagswesen und literarische Produktion der Next Page Foundation und Thalassa Consulting aus dem Jahr 2004

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Ein Exemplar aus der Reihe ‚Der kleine Philosoph‘ - eine Kinderbuchserie, die sich pädagogisch behutsam dem Thema respektvoller Auseinanderset-zung mit sich selbst und den Mitmenschen widmet.

konstatiert, im Libanon würden mittlerweile über 50% der arabischen Publikationsaktivitäten abgewickelt.

Warten auf die Publikationslizenz

Entsprechend politischer Rahmenbedingungen, Bildungs-stand und Kaufkraft in der Bevölkerung klaffen die Pro-duktionsbedingungen im innerarabischen Vergleich weit auseinander. Eine Momentaufnahme auf der Buchmesse in Kairo illustriert dies eindrucksvoll: Ein palästinensischer Autor tauscht sich mit zwei Vertreterinnen eines syrischen Verlags und einer Buchhandlung aus und starrt diese un-gläubig an, als er erfährt, wie sehr ihre Arbeit vom syrischen Staat erschwert werde. Behindert von Zensur und Schika-nierungen bei der Erteilung von Publikationslizenzen oder Einfuhrgenehmigungen könnten viele Werke gar nicht erst veröffentlicht werden. Bücher ins Land einzuführen sei kostspielig, da von 100 importierten Exemplaren immer drei Stück beim Bildungsministerium blieben. Das sei nicht nur ökonomisch ein Verlust, sondern zudem ein Nerven-zerren, da man nie wisse, ob die restlichen 97 es überhaupt ins eigene Lager schafften, so die Inhaberin eines syrischen Buchladens, die ungenannt bleiben möchte. Der Palästinenser ist sichtlich erstaunt. „Aber Syrien ist doch bekannt für das Hochhalten der arabischen Sprache, Publikationen und ... und der Arabismus...“ alles weitere

bleibt ihm im Hals stecken.

Selbst die syrische staatseigene Zeitung al-Thawra veröf-fentlichte im Februar einen Artikel, der das Gebaren der Literaturverbände anprangerte, die den Kulturschaffenden das Leben weiter erschwerten: Mitgliedschaft und Entrich-tung eines Obolus für Autoren, Publizisten und Journa-

listen sei obligatorisch, aber mit keinerlei Vertretung durch die Gewerkschaft verbunden. Ähnliche Schikanen gibt es in Ägypten. „Hier ist ein Buchladen und kultureller Treff-punkt jüngst durch einen ‚Unfall‘ komplett abgebrannt“,

so einer der Mitwirkenden, der Brandschatzung durch den Geheimdienst dahinter vermutet.

In Syrien Straßenstände, in Dubai klimatisierte Buchläden in XXL

Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die ara-bische Buchindustrie in der Krise steckt. Trotz der gemein-samen Sprache ist der innerarabische Buchhandel kaum entwickelt, wie auch der allgemeine inter-arabische Handel nur acht Prozent des gesamten Handelsvolumens in der arabischen Welt ausmacht. So sind Buchmessen fast der einzige interarabische, organisierte Vertrieb von Büchern. Im Einzelhandel sind die Unterschiede erwartungsgemäß groß: In Beirut gibt es zahlreiche Buchläden mit einer brei-ten Palette an Literatur, in Dubai hat gerade ein Buchladen von 2500 qm in der Dubai Mall eröffnet, der derart umfas-send ist, dass allein deutschsprachigen Publikationen meh-rere Regale eingeräumt wurden. Buchläden in Syrien und Ägypten hingegen zeichnen sich durch das Flair und leider oft auch die Literatur der 70er Jahre aus. Einige Verkäufer in Damaskus breiten gar ihre Ware auf dem Gehsteig aus.

Veränderung kommt, aber im Schneckentempo

In solche Breschen versuchen verschiedene Entwicklungs-hilfeprojekte zu springen. Förderprogramme machen sich geradezu den Markt streitig, allerdings mit unterschied-lichen Zielsetzungen und an verschiedenste Bedingungen geknüpft. So fördert das Anna Lindh Programm der EU vor allem Kinderbuchautoren und –verlage. Die Vereinigten

Arabischen Emirate dagegen konzentrieren sich auf Über-setzungsprojekte im Rahmen derer Abu Dhabi 100, Dubai gar 365 Titel pro Jahr ins Arabische zu übertragen anstrebt. Schillernd, aber wohl kaum das Lesen im Lande fördernd, ließ vor wenigen Monaten die Organisation Dubai Cares im Rahmen eines Schülerlesewettbewerbs pro gelesenem Buch je eine Skala im höchsten Turm der Welt, dem Burj Dubai, erleuchten. Die Wirkung blieb jedoch begrenzt, weil das Spektakel nur aus einem bestimmten Blickwinkel zu beo-bachten war – zudem ist nicht nachzuprüfen, ob die Schüler

die Bücher wirklich gelesen hatten. Dies unterstreicht, dass nicht Materielles die Menschen le-sen macht, sondern Materie gelesen werden sollte – und sei

es im pdf-Format.

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„Islamophobic and proud of it“Auf der von einem Grundschullehrer gegründeten Website Politically Incorrect wird der Is-

lam als Religion des Terrors und der Unterdrückung diffamiert – mit großem Zuspruch, wie

die Besucherzahlen zeigen

von Yasemin Shooman

Das Internet gilt als demokratisches Kommunika-tionsmedium. Insbesondere so genannte Weblogs ermög-lichen es jedem User, seine Meinung öffentlich zu äußern. Im Schutze der hier herrschenden Anonymität werden Ansichten häufig zugespitzter vorgetragen, als dies im eta-blierten öffentlichen Diskurs der Fall ist. Dies trifft in ho-hem Maße auch auf das Thema „Islam“ zu, dem sich eine

Vielzahl von Websites mit Eifer widmet, um die westliche Welt vor einem vermeintlichen „Untergang des Abend-landes“ zu warnen.

Zu einem der größten deutschsprachigen islamfeindlichen Blogs zählt die seit November 2004 existierende Website Po-litically Incorrect (PI), die nach eigenen Angaben täglich ca. 30 000 Besucher verzeichnet. Wie der Name bereits verrät, bietet die Website eine Plattform für „politisch inkorrekte“

Nachrichten, um damit eine Art Gegenöffentlichkeit zu den etablierten Medien zu bilden. Das eigentliche Anliegen ist der Kampf gegen die „Islamisierung Europas“. Zugleich

versteht sich PI explizit als „pro-amerikanisch“ und „pro-

israelisch“, wobei die User versuchen, durch die positive

Bezugnahme auf Juden den häufig gegen sie vorgebrachten

Vorwurf des Rassismus oder Rechtsextremismus abzuweh-ren. Aus ihrer Islamfeindlichkeit machen sie hingegen keinen Hehl, wie der Slogan „Islamophobic and proud of it“ zeigt,

der T-Shirts, Tassen und Buttons ziert, die man im PI-Online-Shop erwerben kann.

Die Verschwörungsphantasie der „stillen Islamisie-rung“

Die PI-Blogger sind davon überzeugt, dass bestimmte Themen wie beispielsweise der drohende Klimawandel in den Medien lanciert würden, um von der bevorstehenden „Islamisierung“ abzulenken. Politische Parteien werden

als ferngesteuert abgelehnt und insbesondere linke Politi-kerinnen und Politiker durch die Verwendung islamischer Vornamen (wie Claudia Fatima Roth) als heimliche Kon-vertiten gebrandmarkt. Ausgehend von der Annahme, der öffentliche Diskurs werde im Verborgenen von Muslimen gesteuert – wobei die Parallele zu antisemitischen Topoi un-übersehbar ist – wird ein existentielles Bedrohungsszenario

entworfen: „Die Ausbreitung des Islam bedeutet folglich, dass unsere Nachkommen – und wahrscheinlich schon wir

selbst – (...) in zwei, drei Jahrzehnten in einer weitgehend

islamisch geprägten Gesellschaftsordnung leben müssen, die sich an der Scharia und dem Koran orientiert und nicht mehr am Grundgesetz und an den Menschenrechten“,

heißt es in den „Leitlinien“ des Blogs.

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Der Zeichner Steph Bergol möchte mit der Verbreitung seiner Karikaturen im Internet nach eigener Aussa-ge vor den Gefahren durch den Islam für westliche Demokratien warnen.

Sinne. Die Besucher der Website betonen immer wieder, dass sie keine Migranten im Allgemeinen ablehnten, son-dern nur eine bestimmte Gruppe, nämlich „die Muslime“. Neben der Wahrnehmung als homogenes Gebilde lässt sich auf islamfeindlichen Websites eine Verwendung der Kategorie „Muslim“ in einem ethnischen Sinne nachwei-sen. Dies wird insbesondere immer dann deutlich, wenn Personen alleine aufgrund ihres Namens oder Aussehens als Muslime „identifiziert“ und alle ihnen zugeschriebenen Charaktereigenschaften vom Islam abgeleitet werden. Mus-limen wird pauschal unterstellt, sich dem deutschen Staat und der deutschen Gesellschaft gegenüber illoyal zu ver-halten. Daher könnten sie keine „vollwertigen Deutschen“ sein.

Nicht nur Deutschland, sondern alle europäischen Staaten gelten als unterwandert: „Bei den Ölmilliarden, auf denen gewisse Muselstaaten sitzen, könnte es durchaus sein, dass ‚europäische‘ (…) Regierungs- und Parlamentsmitglieder schlichtweg von den Musels gekauft sind, Bakschisch ist in diesen Staaten schließlich nichts Besonderes“, so der Kom-mentar eines PI-Users.Der Vorwurf der Käuflichkeit und Bestechlichkeit europä-ischer Politiker, die damit den „Ausverkauf“ ihrer Heimat betrieben, impliziert eine unheimliche Machtfülle der Mus-lime. Das Angstszenario einer Ausbreitung des Islam bzw. von Muslimen in Europa reiht sich in den gegenwärtigen Islamdiskurs ein, der von einer deutlichen Wahrnehmungs-verschiebung gekennzeichnet ist: Während Muslime in traditionellen fremdenfeindlichen Diskursen als rückstän-dig und der Kultur der Mehrheitsgesellschaft unterlegen stigmatisiert werden, werden sie hier als „fünfte Kolon-ne“ denunziert, die von innen heraus an der Zersetzung westlicher Gesellschaften arbeite. Interessant ist, dass zwei Sichtweisen auf den Islam und Muslime, nämlich die der kulturellen Unterlegenheit und der übermächtigen Bedro-hung, auf PI nebeneinander stehen. Die ständig wiederkehrende Beschimpfung als „Mu-hammadaner“, „Muselpack“, „Kanackenpack“ und „Hin-ternhochbeter“ speist sich aus der Verachtung für ein gan-zes Kollektiv. Überlagert werden diese Emotionen zugleich von einer diffusen Angst, die Muslime als einflussreiche und dominierende Kräfte imaginiert.

Antimuslimischer Rassismus

PI ist kein fremdenfeindliches Weblog im herkömmlichen

Der EU-Beitritt der Türkei wird auf islamfeindlichen Websites wie in der Karikatur von Steph Bergol als Strategie zur „Islamisierung Europas“ aufgefasst.

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Der Politiker Cem Özdemir wird auf PI in den Kommen-tarforen beispielsweise als „Wolf im Schafspelz“ und „muslimischer Heuchler und Lügner“ bezeichnet: „Alle türkisch-stämmigen Politiker hier in Deutschland sind zwar Passdeutsche, vertreten aber ausschließlich türkisch-muslimische Interessen. Die haben alle nur die Vertürkung Deutschlands im Sinn.“Unklar ist, welche Auswirkungen der in der virtuellen Welt ausgelebte Hass gegen Muslime im Alltagsleben der User hat. Nachweislich schaffen diese Weblogs ein Forum, um sich gegenseitig in der Feindseligkeit zu bestärken und an-zustacheln. Sobald in einer online zugänglichen Zeitung ein Artikel zum Thema Islam erscheint, verabreden sich die PI-User und stürmen den Kommentarbereich, um das Mei-nungsbild der Leser zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Sie erhoffen sich auf diese Weise, langfristig den Islamdiskurs im Sinne des von ihnen gepflegten Feindbildes zu dominie-ren – wenigstens im World Wide Web.

Yasemin Shooman, Jahrgang 1980, hat Neuere Geschichte und Neuere Deutsche Philologie studiert. Derzeit promo-viert sie am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin zum Thema Islamfeindlich-keit. 2008 erschien von ihr der Aufsatz „Islamfeindschaft im World Wide Web“ im Jahrbuch für Antisemitismusfor-schung (Metropol-Verlag, Berlin).

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Die Realität des UnrealenTerroristen bekämpfen und Ungläubige bekriegen: Die realen militärischen Konflikte im Na-

hen und Mittleren Osten sind als individuell erfahrbare Spiele auf den PC-Schirmen ange-

kommen

von May Elmahdi und Julia Gebert

In Deutschland entbrennt meist dann eine Debatte über Videospiele, wenn ein schockierendes Ereignis An-lass dazu bietet. Unter Kinder- und Jugendpsychologen wird diskutiert, in welchem Maße Spielekonsumenten für gewalttätige Szenen, in die sie aktiv eingebunden werden, empfänglich sind. Entscheidend ist wohl, ob die Grenze zum Virtuellen noch gewahrt bleibt oder zunehmend ver-schwimmt. Beispielsweise käme niemand ernsthaft auf die Idee, Obelix nachzuahmen; extrem naturalistische und bru-tale Videospiele hingegen können vor allem auf junge Spie-ler einen weitreichenden Einfluss ausüben.

Während hierzulande ein Verkaufsverbot von Gewaltspie-len für Jugendliche unter 18 Jahren zumindest debattiert wird, stehen in den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens derlei Überlegungen nicht auf der Tagesordnung. Für wenige Dollar lassen sich an einschlägigen Straßenstän-den Raubkopien erwerben. In beiden Regionen hat sich der Kampf gegen den Terror in der virtuellen Welt ausgebrei-tet und gewinnt jeden Tag neue Fans. Weil für die virtuelle Welt die freie Auswahl charakteristisch ist, sucht man sich je nach Belieben entweder ein Spiel, in dem Terroristen gejagt werden, oder eines, in dem den Ungläubigen der Garaus gemacht wird, aus. Dabei handelt es sich nicht nur um Spaß und Zeitvertreib: Der virtuelle Kampf besitzt fanatische Züge, vermengt sich mit der realen Politik und verrät das

Ausmaß der Verachtung für die jeweils gegnerische Partei. Die Spiele sind durchaus ausgefeilt und bieten viele kontro-vers-unterhaltsame Details.

Märtyrername und Todesmelodie frei wählbar

Das Videospiel First to Fight ist ein Paradebeispiel für die-se Art, reale Kriege per Joystick ins Wohnzimmer zu holen. Dieses Spiel, welches den Libanonkrieg 2006 thematisiert, ergreift eindeutig Partei für die israelische Seite, fand aber paradoxerweise auch in muslimischen Ländern seine Ab-nehmer. Schockierte muslimische Eltern erwischten ihre Kinder, wie sie am Bildschirm ihre Glaubensbrüder ab-schossen und Moscheen zerstörten. Ein klarer Fall von Fehl-kauf – ab ins Geschäft und umtauschen!

Im von der Hisbollah kontrollierten Bezirk Haret Hreik in Beirut werden Spiele wie Quwat el Khasa feilgeboten, mit de-nen sich der pädagogische Ausgleich zu dem israelischen Spiel wiederherstellen lässt: Hier befindet sich der Spieler im Südlibanon; taktisch klug hinter den Bergen versteckt, linst er über die Grenze und feuert mit einem breit gefächer-ten Waffenarsenal ins Feindesland. Wie in der Realität ist der Hisbollah-Kämpfer schwarz gekleidet. Die Boni des Spiels

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Special Force (Quwat el Khasa) ist ein beliebtes Spiel im Libanon. Spezialeinheit in Hisbollahstan zu spielen und es dem Nachbarn mal ‚zu zeigen‘, ist vielen jungen Männern hier die Investition von 10 Dollar wert.

sind: Auswahl der Todesmelodie, Annahme eines eindeutig schiitischen Spielernamens (wie Ali, Hussein oder Hassan) und verschiedene Optionen, zum Märtyrer zu werden.

Die arabische Redensart „Spaß ist nur der Anfang“ schei-nen Al-Qaida und andere islamistische Netzwerke inso-fern bewahrheiten zu wollen, als sie aus amerikanischen Spieledesigns ihre eigenen Videospiele entwickeln. Da-hinter verbirgt sich sowohl die Absicht, online neue Fans zu gewinnen, als auch die Hoffnung, dass die Spieler ihre Kampfeslust irgendwann in der realen Welt umsetzen wol-len. Mit nur einer kleinen bedeutsamen Veränderung bei der Rollenverteilung wird die gesamte Videografik kopiert – oder vielmehr geraubt. Nun sind nicht mehr arabische Terroristen die Bösen und somit die Zielscheibe der Spieler, sondern amerikanische Soldaten. Die Bedrohung dieses vir-tuellen Krieges nehmen die USA mittlerweile beinahe ge-nauso ernst wie die des realen Kampfs. Wie der saudische Fernsehsender al-Arabiya Anfang dieses Jahres berichtete, soll das Pentagon sieben Milliarden Dollar für die virtuelle Beaufsichtigung von 1500 Websites islamistischer Gruppie-rungen ausgegeben haben. Doch IT-Experten räumen sol-chen Bemühungen geringe Erfolgschancen ein.

Virtuelle Helden und Rekruten

Ein eindrückliches Beispiel für ideologisch motivierte Spiel-piraterie liefert eine umprogrammierte Version von Battle-field 2, welche mit folgendem arabischen Satz beginnt: „Ich war noch ein Kind, als die Ungläubigen mit ihren Black-Hawk-Hubschraubern in mein Dorf kamen“. Gleich darauf wird Georg W. Bush zitiert: „Der Kampf gegen den Terror wird noch eine Weile dauern... Dies ist ein Kreuzzug.“ Das Wort „Kreuzzug“ wird dann mehrmals wiederholt – und der Spieler somit auf seine Mission eingestimmt.

Wer nun denkt, diese brutale Absurdität sei nicht zu über-bieten, sollte einen Blick auf die Finessen amerikanischer Videospielentwickler werfen. Beispielsweise diente die US-Offensive auf Falludjah im Herbst 2004, der zahlreiche Zivi-listen zum Opfer fielen, als Vorlage für das Computerspiel Operation al-Fajr. Wie Fintan Dunne im e-magazine infowars schreibt, rief die Entwicklerfirma den Wettbewerb „Sto-ries from the front“ aus, bei dem amerikanische Soldaten ihre persönlichen Erlebnisse aus dem Irakkrieg einreichen konnten. Ziel war es, die Authentizität des Spiels zu erhö-hen. Die vielversprechendsten Kriegsgeschichten wurden in virtuelle Missionen umgewandelt und ihre realen Prota-gonisten auf diese Weise verewigt. Wie nicht anders zu er-warten war, gibt das Spiel die dezidiert amerikanische Sicht auf die Invasion wieder: Bei den Kampfeinsätzen handelt es sich hauptsächlich um die Belagerung von Terroristen oder spektakuläre Befreiungsaktionen; von den Leiden der Zivilbevölkerung ist nicht viel zu sehen.

Doch nicht nur zur Verarbeitung und Verherrlichung bereits ausgefochtener Schlachten, sondern auch zur Rekrutierung neuer Soldaten scheinen sich Videospiele in den USA wach-sender Beliebtheit zu erfreuen. Nachdem die Jahre 1999-2001 eher magere Rekrutierungs-jahre gewesen waren, ließ die Personalabteilung der US-Armee das kostenlos downloadbare Spiel America‘s Army entwickeln, das im Netz großen Anklang fand. Um die 16- bis 24-Jährigen für eine Verpflichtung bei der Armee zu begeistern, gestaltete man das Spiel besonders realitätsnah. Ob es sich nun um fanatische Videospiele aus den USA oder

aus islamischen Ländern handelt, das Ziel ist stets dassel-be: Das Feinbild vom ‚Anderen’ zu perpetuieren und im realen wie im virtuellen Raum zu reproduzieren. In der Re-alität wird dadurch die Kampfesbereitschaft gestärkt und die Nichtrealität des virtuellen Raums ermöglicht einen scheinbar harmlosen Spaß – einen Spaß jedoch, den man nur am Krieg gegen den ‚Anderen’ haben kann. Würde diese Konditionierung auch in entgegengesetzter Richtung funktionieren, könnten Videospiele wahre Wunder bewir-ken. Doch das ultimative ‚Sei-kein-Amokläufer-Spiel’ ist bislang noch nicht auf den Markt gekommen.

Für weitere Infos:

www.gamepolitics.comwww.infowars.com

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Gentrifizierung in Neukölln Eine Gegendarstellung

Der Medienrummel um Neukölln als neuer In-Bezirk lockt neue Lebensstile in den Bezirk,

die eine Verbesserung der Wohnqualität herbeiführen. Zu schnell wird hier von Gentrifizie-

rung gesprochen

von Dieter Hy

Neukölln um den Reuterkiez avancierte in den bundesweiten Medien gleichsam zu einer No-Go Area: kri-minell, gewaltbeladen und heruntergekommen. Seit neu-estem tauchen daher in den lokalen Medien gegenläufige Darstellungen von Neukölln auf: billige Mieten, „multikul-ti“ das Leben und ein optimaler Spielplatz für diejenigen, die den Pioniergeist verspüren, einen noch nicht entdeckten Bezirk für sich zu erobern. Viel Freiraum für Paradiesvögel und Neuankömmlinge bie-tet Neukölln zurzeit und dies macht den Bezirk interessant, auch für diejenigen, die die Nase voll haben von Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Diese neuen Entwicklungen wer-den nun gerne mit dem Begriff der „Gentrifizierung“ beti-telt: Neukölln erfahre eine vollkommene Umstrukturierung der Bevölkerung.

Wird Neukölln umgekrempelt?

Dieser erste Eindruck täuscht: Der Mietspiegel – der erste alarmierende Indikator von Segregation und Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten – ist weit-gehend konstant niedrig geblieben. Ein leichter Aufwärts- trend einzelner Häuserzüge durch Gebäudesanierung öst-lich des Kottbusser Dammes ist jedoch zu verzeichnen.Was Zuzüge aus anderen Bezirken betrifft, liegt Neukölln immer noch weit hinter Mitte und Friedrichshain-Kreuz-

berg. Das bedeutet, dass der Bezirk eine relativ hohe Stabili-tät der Bewohnerschaft aufweist und die soziale Zusammen-setzung der Neuköllner sich nicht sonderlich geändert hat. Zwar verzeichnete beispielsweise der Reuterkiez im Nord-osten Neuköllns, in dem derzeit 33,8 % der BewohnerInnen zwischen 18 und 35 Jahre alt sind, seit 2004 einen Gesamtzu-wachs von 11 %, was 672 BewohnerInnen entspricht. Jedoch betrug der Ansteig der Bevölkerung im Verhältnis zu allen 19 000 BewohnerInnen des Gebiets Reuterplatz lediglich 3,7%. Der AusländerInnenanteil ist dort unverändert höher als der Neuköllner Durchschnitt und die größte Gruppe bil-den mit einem Anteil von 10,4 % weiterhin BewohnerInnen mit türkischem Migrationshintergrund.

Definition Gentrifizierung:Unter Gentrifizierung versteht man in der Stadt-geographie die soziale Aufwertung von innerstäd-tischen, insbesondere zentrumsnahen Wohngebie-ten durch den Zuzug von Angehörigen der sozialen Ober- und oberen Mittelschicht. Als häufiges Er-gebnis werden einkommensschwache Bevölkerungs-gruppen durch von Sanierungen gestiegenen Bo-den- und Mietpreise verdrängt.

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Aus dem Sozialstrukturatlas von Berlin von 2008 ist zu er-fahren, dass die Sozialstruktur um den Hermannplatz im-mer noch einen ‚Abwärtstrend‘ erlebt, sprich: der Anteil an Haushalten, die Hartz IV erhalten, und an ALG II Empfän-gerInnen ist leicht gestiegen und die Zahl der Haushalte mit Mitgliedern, die über einen Schul- und Ausbildungsab-schluss verfügen, gering geblieben. Zudem weist Neukölln weiterhin das zweitniedrigste Pro-Kopf-Einkommen nach Mitte auf. Diese Merkmale sind Kennzeichen eines Bezirks mit einer hohen Problemdichte und sprechen nicht gerade für eine mögliche Gentrifizierung Nordneuköllns.

Gentrifizierung: Prenzlauer Berg als Paradebeispiel

Im Gegensatz zu Prenzlauer Berg, der seit den 1990er Jah-ren eine komplette Umstrukturierung des Stadtteils erfährt, ist Neukölln von einer Gentrifizierung in diesem Ausmaß und in diesem Tempo bisher verschont geblieben. Nach der Wiedervereinigung verloren innerstädtische Bezirke wie Mitte und Prenzlauer Berg bis 1995 über 200 000 Einwoh-nerInnen. Zu DDR Zeiten war die Bevölkerung des Bezirks weitgehend zur Immobilität gezwungen gewesen. Nach der Wende zog nun die im Gebiet ansässige Bevölkerung, die es sich leisten konnte, entweder in den Westen Deutschlands

oder in das grüne Umland, wo Wohnflächen frei wurden. Zurück blieben leerstehende Wohnungen und eine soziale Bevölkerungsstruktur, die durch Armut und Arbeitslosig-keit geprägt war. Diese billigen Wohnungen im ehemaligen Arbeiterviertel Prenzlauer Berg wurden von den sogenann-ten „urban pioneers“ – Kreative, die gezielt in einen Statdt-teil ziehen, um dort etwas anzustoßen – wieder eingenom-men. KünstlerInnen, AussteigerInnen, Intellektuelle und StudentInnen aus anderen Bezirken Berlins, aber auch aus anderen Bundesländern und dem Ausland, zogen zu. Es entwickelte sich eine belebte und belebende Szene mit ei-ner alternativen Kultur, die sich vom Rest der Stadt abhebt. Immer mehr Menschen, die vom Puls der Zeit dorthin ge-trieben wurden und sich erfolgreich niederlassen konnten, verlangen nach einer besseren urbanen Lebensqualität. Die Folgen sind private und öffentliche Erneuerungsinvestiti-onen, sprich die Sanierung ganzer Straßenzüge, die Auf-wertung ehemals schlechten Baumaterials und damit ein rasanter Anstieg des Mietspiegels.

Don’t believe the hype

Der langsame Anstieg an Szeneläden, Bars und Cafés im nördlichen Teil Neuköllns ist zwar ein Ergebnis einer Quar-tierspolitik, die mit neuen Konzepten versucht, strukturelle Verbesserungen im Kiez herbeizuführen. Jedoch lässt sich

Neue Cafés und Treffpunkte für Neu-Neuköllner

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zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht feststellen, ob diese Maßnahmen eine positive Gebietsentwicklung im Sinne einer integrativen, bürgerInnennahen Quartierspolitik her-vorbringen werden. Die Zuwanderung von StudentInnen, Kreativen, jungen Familien etc. findet im kleinen Rahmen statt und ist ein natürlicher Prozess. Gentrifizierung in einem solch gravierenden Ausmaß und mit all ihren Ne-benwirkungen wie in Prenzlauer Berg wird es nicht geben, da Neukölln nicht die Bedingungen mit sich bringt, die Prenzlauer Berg in den 1990er Jahren mit sich brachte.Zurzeit lässt sich in Neukölln keine etablierte Szene aus-machen. Ein umfangreiches Kulturangebot oder ein ausge-bautes Netzwerk ist nur in Ansätzen erkennbar. Hinzuge-zogene haben angefangen, sich vereinzelt als Kreative im Bezirk zu engagieren, ohne jedoch mit genau dieser Absicht hierher gezogen zu sein. Von „urban pioneers“ kann daher nicht die Rede sein. Dennoch wird sich die Entwicklung Neuköllns zu einem attraktiven Ort fortsetzen. Es ist nun die anspruchsvolle Aufgabe des Senats für Stadtentwick-lung, aufkommende Verdrängungsprozesse auf Kosten an-derer Bevölkerungsgruppen zu verhindern.

!"#$% Dieter Hy studiert Anthropogeographie mit Schwerpunkt Gender und Stadtforschung an der Freien Universität Ber-lin. Derzeit arbeitet er für das Quartiersmanagement Ma-riannenplatz in Kreuzberg.

Pflügerstr, sanierte Häuserfassade

Einzelne Häuser in der Sanierungsphase

Niedrige Mieten machen es leichter für neue Gewerbetreibende

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Willkommen im interkulturellen Teegarten!Das neugegründete Café Fincan im Körnerkiez versucht den Brückenschlag zwischen den

verschiedenen Neuköllner Communities – und ist ein gelungenes Beispiel für pragma-

tischen Idealismus

von Alexander Kalbarczyk

Musik wirkt völkerverbindend – diese Behaup-tung bekommt man so oft zu hören, dass sie leicht als seichte Floskel abgetan werden könnte. Vielleicht sollte man daher öfters Orte wie das interkulturelle Café Fincan in Neukölln besuchen, um wieder an die Wahrheit des Satzes erinnert zu werden. Und vielleicht sollte es ohnehin mehr Orte wie das Fincan geben, damit der vielbeschworene Austausch zwischen den Kulturen nicht nur aus spröden Lippenbe-kenntnissen besteht. Mitten im Körnerkiez gelegen – also in einer Gegend, die bislang weniger durch stilvoll bunte Cafés als durch männliche Stammtische gleich welcher Provenienz aufgefallen wäre – wird das Fincan mehreren lokalen Bedürfnissen zugleich gerecht: Es ist ein Raum für Familien, ein Forum für Musik und Filmkunst, ein Ort für beide Geschlechter und alle Nationalitäten. So bietet es ei-nige Quadratmeter interkultureller Öffentlichkeit. In einem Land, in dem neuerdings viel von Parallelgesellschaften die Rede ist, ist das eine ganze Menge.Zurzeit sind es insgesamt zehn ehrenamtlich Engagierte, die das als gemeinnützigen Verein organisierte Café am Laufen halten. Weitere Unterstützer, die dem Fincan einen Teil ihrer Zeit und Kreativität schenken wollen, sind jeder-zeit herzlich willkommen. Angefangen hat das Ganze als Neuköllner Privatprojekt in den eigenen vier Wänden: Die in einer umgebauten Fabriketage residierende Achter-WG beschloss eines Tages, Konzerte nicht mehr nur in ihrem geräumigen Wohnzimmer zu veranstalten, wo sich bislang meist ein studentisch-alternatives Publikum eingefunden

hatte und es zu keinerlei Begegnungen mit der sonstigen Lokalbevölkerung gekommen war. Also suchte man nach einem geeigneten Ort – und wurde durch die Vermittlung der Berliner Zwischennutzungsagentur bald fündig: An der Ecke Altenbrakerstr./Nogatstr., wo in früheren Zeiten eine eher für Schlägereien als für gelebten Kulturaustausch bekannte Kaschemme untergekommen war, standen frisch renovierte Räumlichkeiten leer. Mit Unterstützung durch die Stiftung Pfefferwerk und das örtliche Quartiersma-nagement, vor allem aber mit viel eigenem handwerklichen Können entstanden stilsicher gestaltete Räume, die sowohl tobende Kinder als auch abendliche Konzertbesucher an-sprechen.

Kaffeehausstillleben im Fincan

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Ein interkultureller Garten für Groß und Klein

Zunächst mussten – wie so oft – weitreichende Grundsatz-fragen geklärt werden: Verschreckt man mit Alkoholaus-schank nicht einen Großteil derer, die sich gerade willkom-men fühlen sollen? Andererseits: Was hat vorauseilender Gehorsam noch mit Austausch zu tun – und wie soll ohne Einnahmen aus dem Alkoholverkauf die Miete bezahlt werden? Tagsüber, wenn die Kiezmütter- und väter mit ih-ren Kindern zum Krabbeln, Spielen, Feiern, Märchenhören eingeladen werden, bleibt der Cafébetrieb nun alkoholfrei. Und abends darf man ein kühles Tannenzäpfle-Bier genie-ßen. Die zweite Frage, die für Diskussionsstoff sorgte, war die Namenswahl: Denn die ursprünglich favorisierte Be-zeichnung „Teehaus“ klang zu sehr nach einer der vielen arabisch-türkischen Männerdomänen im Kiez. Nun trägt das Fincan den schönen Beinamen „interkultureller Teegar-ten“ – und mit der metaphorisch gemeinten Aussicht auf eine gemütliche Tasse Tee inmitten einer bunten Garten-landschaft schwingt zugleich die Vielfalt des dargebotenen Kultur- und Kinderprogramms mit.

Wenn die intendierte Mischung aus kinderfreundlicher Atmosphäre, interkulturellem Kunstgenuss, schichtenü-bergreifender Offenheit, studentischem Flair und Berliner Kiezgefühl ihre Anziehungskraft auf längere Sicht entfalten kann, dann beginnt in Neukölln gerade ein richtungswei-sender Trend. Und wir sind herzlich eingeladen, live dabei zu sein!

West-östliche Klänge des Ensembles RANIN anlässlich der Eröffnungsfeier

Altenbraker/Ecke Nogatstraße: Diese Türe steht täglich – außer Dienstags – offen!

Daneben gibt es auch weitere Sonderveranstal-tungen (siehe Website).

Der wunderschöne Fincan-Veranstaltungssaal kann auch gemietet werden!

[email protected]

FINCAN e.V. – interkultureller Teegarten in NeuköllnAltenbraker Str. 26, Ecke Nogatstr.S/U-Bhf. Hermannstraße

Öffnungszeiten: Täglich (außer Di) 19.00-23.00 Uhr. Mi., Fr., Sa., So. zusätzl. 11.00-19.00 Uhr geöffnet

Reguläres Programm:Mittwoch: Krabbelgruppe (vormittags)Donnerstag: Filmkunst (abends)1. & 3. Freitag im Monat: Eltern-Baby-Kino (nachmittags)Freitag o.Samstag: Konzerte (abends)

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Energiesparen auf TürkischDie türkische Comicfigur Mahmut Bey macht`s vor: So einfach ist Energiesparen! Für kur-

ze Strecken nimmt Mahmut das Fahrrad, denn das ist gesund und schont gleichzeitig den

Geldbeutel

von Karin Kutter

Der Wrangelkiez im Südosten des Berliner Vier-tels Kreuzberg ist bekannt für seine kulturelle Vielfalt. Etwa 12.500 Menschen leben dort. Knapp die Hälfte davon ist nichtdeutscher Herkunft. Seit neustem wird dort kräftig Energie gespart – dank der türkischen Familien.

Denn neben dem Schöneberger Norden und dem Soldiner Kiez im Wedding gehört der Wrangelkiez zu einem der Berliner Quartiere, in dem Energiesparschulungen auf tür-kisch durchgeführt wurden. Die Idee ist ebenso simpel wie genial: Türkische Frauen durchlaufen einen Lehrgang, in dem sie zu Energiesparberaterinnen ausgebildet werden. Bei Freunden, Nachbarn und Verwandten führen sie dann selbst Beratungen durch. Projektkoordinatorin Gülcan Nit-sch ist begeistert: „Die Teilnehmerinnen wurden zu kleinen Weltretterinnen, das war richtig erfolgreich“.

Geld sparen und dabei die Welt retten

Die Idee zu dem Projekt stammt ursprünglich aus Hanno-ver. Unter dem Motto „Klimaschutzberatung für Migranten von Migranten“ wird seit Dezember 2004 in Hannover ein ähnliches Konzept bei russischen und türkischen Familien erfolgreich durchgeführt. Für das Berliner Projekt konnten daher erste Erfahrungen übernommen werden. Wichtig da-bei war, dass die Materialien zunächst ins türkische über-

setzt wurden. Wegen des niedrigeren Bildungsniveau der Teilnehmerinnen, wurden die Materialien zudem verein-facht. Nitsch erinnert sich: „Wir haben sozusagen die deut-schen Broschüren zuerst in einfaches Deutsch übersetzt und dann ins Türkische“. Um Teilnehmerinnen zu finden, wurden bestehende Strukturen des Berliner Quartiersma-nagements genutzt.

Dass sich die Projektgruppen aus Frauen zusammen-setzten, entstand eher zufällig. „Im Soldiner Kiez haben wir zum Beispiel bei einer Moschee angefragt und sind dann an die dortige Frauengruppe verwiesen worden“ erzählt die Projektkoordinatorin. Und das durchaus erfolgreich: In den drei Berliner Kiezen nahmen insgesamt 23 Frauen an der 40 Stunden dauernden Schulung teil. Diese führten dann wiederum Beratungen in ihrem Bekanntenkreis durch – al-lein in Schöneberg gab es über 70 solcher Energiesparbera-tungen.

Während zunächst der Geldspareffekt durch das Einsparen von Energie für viele der Teilnehmerinnen im Vordergrund stand, änderte sich die Einstellung im Laufe der Schulung. „Die Frauen merkten: Wir können selbst etwas für den Um-weltschutz tun, wir können entscheiden, was wir kaufen“ resümiert Nitsch. „Es hat sich eine richtige Diskussions-kultur unter den Teilnehmerinnen entwickelt. So haben die Teilnehmerinnen auch soziale Kompetenzen erlangt“ führt sie weiter fort.

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Gründung einer türkischsprachigen

Umweltgruppe

Inzwischen sind die Kiez-Projekte beendet. Frau Nitsch engagiert sich weiter für den Umweltschutz unter Migran-tInnen. Bei co2online, einem Netzwerk für den Klimaschutz, ist sie gerade dabei, die Heizspiegelkampagne ins Türkische zu übersetzten. Ziel der Kampagne ist es, Modernisierungs-maßnahmen im privaten Wohngebäudebestand anzuregen. Und auch privat tritt Frau Nitsch für den Umweltschutz ein: Sie ist Gründerin der türkischsprachigen Umweltgrup-pe Yeşil Çember, die an den Bund für Umwelt und Natur-schutz angegliedert ist. Yeşil Çember, was so viel wie „Grü-ner Kreis“ bedeutet, hat sich zur Aufgabe gemacht, „das Umweltbewusstsein in die türkischsprachige Community zu tragen und gemeinsam für eine nachhaltige Lebenswei-se zu werben“. „Das Symbolhafte an einem Kreis ist, dass er wachsen kann. Und: Er kann Ketten bilden“ erklärt Nitsch. Seit der Gründung im Dezember 2006 ist Yeşil Çember da-rin sehr erfolgreich: Das dritte Jahr in Folge organisiert die Gruppe einen türkischen Umwelttag.

Energiesparen mit der Comicfigur Mahmut

Außerdem erstellt die Umweltgruppe türkisches Informa-tionsmaterial. Eine Comicfigur mit dem Namen Mahmut illustriert zum Beispiel wie man im Alltag einfach Energie sparen kann. Im Badezimmer weist Mahmut die Leser-schaft der türkischen Broschüre darauf hin, dass das Wasser während des Rasierens zugedreht werden sollte, um nicht

auch das Geld davon fließen zu lassen. Vorbildlich nimmt Mahmut für kurze Strecken das Fahrrad, denn das ist nicht nur sportlich, sondern schont auch den Geldbeutel. Pfei-fend fährt er dann durch die Straßen – so einfach ist Ener-gie- und Geldsparen.

Mit Projekten wie diesem, ist Yeşil Çember so erfolgreich, dass die Gruppe letztes Jahr mit der Berliner Tulpe ausge-zeichnet wurde. Der Preis, der unter anderem von der Ber-liner Senatskanzlei vergeben wird, zeichnet Projektgruppen aus, die ein besseres Zusammenleben zwischen türkisch-stämmigen und deutschen BerlinerInnen erstreben.Und Frau Nitsch denkt nicht ans Aufhören. Nach dem Türkischen Umwelttag soll die Kampagne „Plastik – Nein Danke!“ gestartet werden. Der grüne Kreis wächst weiter. „Die Erde braucht Freunde“ – so steht es auf dem Flyer der Gruppe. Mit Frau Nitsch, so scheint es, hat die Erde bereits ein sehr gute Freundin gefunden.

Mehr über die Umweltgruppe Yeşil Çember unter:

www.yesilcember.de

co2online, das Netzwerk für den Klimaschutz ist im Internet zu finden unter:

www.co2online.de

Frau Nitsch, Gründerin der Gruppe „Yeşil Çember“ bei einer Tagung im Februar 2009

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„Unsere Kritik hat nichts geändert“

[dī.wān] Frau Hass, Sie sind nach Berlin gekommen, um bei dem ersten Israelisch-Palästinensischen Filmfestival anwesend zu sein. Während dieses Festivals wurde das Theaterstück „MurMu-re“ (franz. Wortspiel: Mauergeflüster) aufgeführt, in dem es um die Korrespondenz zwischen Ihnen und dem palästinensischen Gefangenen Mahmud al-Safadi geht. Das Stück basiert auf Ih-ren Tagebucheinträgen, doch Ihre Gefühle und Reaktionen sind gemischt. Warum?

Amira Hass: Zuerst einmal ist es nicht mein Stück. Für mei-nen Geschmack war nicht genügend „Besatzung“ enthalten und stattdessen viel zu viel Symbolträchtigkeit. Die einzige Person, die die israelische Unterdrückung repräsentierte, war eine Soldatin, was mich auch geärgert hat. Aber ich fin-de immer noch, dass der Drachen (Anm. d. Red.: Der „Dra-chen“ verkörpert Amira Hass in dem Stück) zu didaktisch, zu wenig zynisch, zu wenig nuanciert ist. Mein Part in dem Stück ist zu sehr eine Karikatur. Ich hätte eine Tragikomö-die bevorzugt.

[dī.wān] Ein israelischer Militärgerichtshof verurteilte Mahmud al-Safadi 1990 zu 17 Jahren Haft. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Amira Hass: Mahmud trat mit 16 Jahren der PFLP (Palästi-nensische Front für die Befreiung Palästinas) bei. Mit dem Ausbruch der ersten Intifada warf er Molotowcocktails auf israelische Militärfahrzeuge in Jerusalem. Sein Ziel war es zu sabotieren, nicht zu töten. Er wollte zeigen, dass Jerusa-lem unter Besatzung ist. Im September 2006 wurde er nach 17 Jahren wieder freigelassen. Heute ist er 41 Jahre alt, hat

vor kurzem geheiratet und lebt zusammen mit seiner Fami-lie in Ostjerusalem. Wir haben aber keinen Kontakt mehr – er lebt sein Leben, ich lebe meins.

[dī.wān] Frau Hass, Ihre Eltern sind Holocaust-Überlebende. Ist Deutschland für Sie ein spezielles Reiseziel oder ein Land wie je-des andere auch?

Amira Hass: Der Holocaust ist immer bei jedem meiner Aufenthalte im Hintergrund – und Vordergrund. Hinzu-kommt, dass ich in meinen Reden und Interviews niemals von „Holocaust“ spreche, da das Wort die Betonung allein auf die Opfer richtet. Ich rede eher von der „deutschen Tö-tungsindustrie“, was die Betonung auf die Täter legt. Und eigentlich ist es für mich auch wichtiger, über die Geschich-te meiner Eltern in Israel zu reden als über Deutschland. Der Grund dafür ist, dass der Judeozid von der israelischen Rechten komplett enteignet und monopolisiert wurde. In Deutschland ist es für mich weniger relevant, darüber zu reden, als in Israel.

[dī.wān] Wie betrachtet die palästinensische Gesellschaft das The-ma?

Amira Hass: Mahmud beispielsweise fragte nach dem Ta-gebuch meiner Mutter aus Bergen-Belsen. Durch einige meiner Texte hat er realisiert, dass man Israel nicht nur als koloniales Phänomen und losgelöst vom Judeozid sehen kann. Während er im Gefängnis saß, lernte er zwei Dinge durch meine Zeitungsartikel: Kollaboration mit den Nazis geschah in allen Schichten der deutschen Gesellschaft, die

Interview mit Amira Hass, einer israelischen Journalistin und Autorin, die seit Jahrzehnten

ausführlich über den Nahost-Konflikt und die israelische Besatzung berichtet

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Teil an der Mörderindustrie hatte. Weiter gab es viele Men-schen, die daraufhin als Flüchtlinge nach Palästina kamen. Was viele von ihnen erfahren mussten, nachdem sie aus den Konzentrationslagern in ihre Heimatländer zurückkehrt waren, war, dass sie dort oftmals nicht erwünscht waren. Man könnte sagen, dass das für Mahmud ein großer Schock war. Im Gefängnis war er freier, anders zu denken. Ironi-scherweise war dies nur im Gefängnis möglich, da hier der Druck der Gesellschaft und der Sozialisierung nicht so stark ist. In der palästinensischen Gesellschaft wird dieses Den-ken noch nicht akzeptiert.

[dī.wān] Warum glauben Sie, ist es so schwer, über den Holo-caust unabhängig von der Besatzung in Israel und Palästina zu sprechen?

Amira Hass: Zuerst einmal weil der Holocaust in Israel ma-nipuliert wird, aber auch weil der Holocaust dem Phäno-men Israel eine neue Dimension gibt, die man nicht nur als kolonial abtun kann. Palästinenser zeigen normalerweise eine dreifache Reaktion: 1. Wenn es wirklich geschah, dann geschah es, 2. weil die Juden es verdient hab en, und 3. tun sie heute dasselbe. Das ist natürlich eine Karikatur, ich weiß, aber es kommt der Wahrheit in verkürzter Form nahe. Und das ist genau der Grund, warum es so schwer ist, das Pro-blem der israelischen Unterdrückung zu diskutieren. Man ist niemals frei, eigenständig und mit eigenen Worten die Realität zu beschreiben – es gibt immer zusätzlichen Lärm.

[dī.wān] Frau Hass, im Jahre 2000 wurde Ihnen der „World Press Hero Award“ verliehen. Sie kommentierten dies einem palästi-nensischen Freund gegenüber mit den Worten: „Es ist so gefähr-lich, mit Euch zu leben, dass sie mir den Hero Award verleihen.“ Offensichtlich waren Sie zynisch.

Amira Hass: Der Grund für mich, zynisch zu sein, liegt in der Tatsache, dass ich nicht für das anerkannt werde, was ich schreibe und aufdecke, sondern für die unterstellte Gefahr, mit Palästinensern zu leben. Das Absurde jedoch ist, dass selbst heute während der Intifada die meisten Bedrohungs-situationen, die ich bisher erfuhr, im Zusammentreffen mit Siedlern, israelischen Raketen und Panzern bestanden. Und Israelis fragen mich tatsächlich immer noch: „Hast du keine Angst, mit Palästinensern zu leben?“, woraufhin ich antworte: „Ich habe eher Angst vor israelischen Kampfflug-zeugen“. Aber das wird nicht verstanden.

[dī.wān] Passiert es Ihnen, dass sie die „Vorzeige-Jüdin“ für ara-bische Medien und kritische Stimmen werden?

Amira Hass: Nein. Eigentlich bin ich viel mehr ein Symbol oder eine „Vorzeige-Jüdin“ für die internationale Audienz. Das soll heißen, dass ich für sie der Beweis bin, wie demo-kratisch Israel anscheinend ist. Aber diese Leute sollten eines im Kopf behalten, nämlich dass unsere Kritik nichts geändert hat. Eher das Gegenteil war der Fall: Es wurde im-mer schlimmer!

[dī.wān] Sie weisen auf einen wichtigen Punkt im Rahmen von kritischem und investigativem Journalismus hin. Können Sie, abgesehen von Ihrer Hilflosigkeit als Individuum, trotzdem noch Zufriedenheit und Befriedigung aus Ihrer Arbeit schöpfen? Ha-ben Sie das Gefühl, etwas erreicht zu haben, dass Ihre Arbeit sich in eine Richtung bewegt?

Amira Hass: Na ja, es ist nicht unbedingt so, dass ich irgend-wo hingehe. Es ist vielmehr so, als würde ich von etwas weggehen. Trotzdem fühlt es sich an, als würde ich kon-

stant angetrieben werden. Aber es ist niemals befriedigend. Es gibt nur ein paar Momente in meiner Arbeit, wo ich ein solches Gefühl der Befriedigung bekomme, zum Beispiel bei einer guten Berichterstattung oder einer Passiererlaub-nis für Palästinenser. Aber diese Errungenschaften halten nicht lange an. Wenn ich auf meine 15 Jahre als israelische Journalistin zurückschaue, realisiere ich, dass Dinge immer schlimmer geworden sind. Daher kann von Befriedigung nicht wirklich die Rede sein. Tatsächlich habe ich zurzeit in Bezug auf den jahrelangen Wert meiner Arbeit als Kor-respondentin in den besetzten Gebieten eher das Gefühl, in einer Existenzkrise zu sein. Ich denke zum Beispiel, dass Menschen generell Bewegungsfreiheit unterschätzen. Da-her fühlt es sich zurzeit nicht so an, als würde meine Arbeit irgendwohin steuern. Die Situation wird nur schlimmer.

[dī.wān] Die letzte Frage, Frau Hass: Die meisten Journalisten, die in Ihrem Bereich arbeiten, werden irgendwann zu Kettenrau-chern. Warum rauchen Sie nicht?

Amira Hass (lacht): Als ich 15 Jahre alt war, wurde ich wegen einer linken Aktion festgenommen. Die Polizei packte uns ins Gefängnis. Ich war mit anderen Aktivisten in einer Zelle und alle von ihnen rauchten wie Schlote. Ich dachte, wenn ich schon alt genug bin, um eingesperrt zu werden, dann bin ich auch schon alt genug, zu rauchen. Es endete damit, dass ich volle 28 Stunden ohne Unterlass rauchte. Letztlich war es so ekelhaft, dass ich niemals wieder eine Zigarette anfasste.

Amira Hass bei einer ihrer Reden. 1991 zog sie nach Gaza, 1996 nach Ramallah im Westjordanland, wo sie bis heute lebt.

Das Interview wurde im Mai 2008 während des ersten Israelisch-Palästinensischen Filmfestivals in Berlin geführt. Fragen und Übersetzung aus dem Englischen von Anna-Esther Younes.

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PortraitImmigrationsberaterin: Rania Hamdan

Rania Hamdan, 31 Jahre alt, Immigrationsberaterin, lebt im Libanon und arbeitet seit sieben

Jahren in diesem Metier. Selbst mit ihrer Familie im Jahr 1986 nach Kanada ausgewandert,

will sie anderen Menschen den Schritt zu einem neuen Leben erleichtern

von Julia Gebert

Rania ist eine self-made Frau. Eine kanadisch-li-banesische Unternehmerin, die im Alter von 28 Jahren ihre eigene Einwanderungsfirma gegründet und nebenher für eine kanadische Abgeordnete gearbeitet hat und später bei verschiedenen NGO-Projekten im Libanon beraterisch tätig war.

„Die Chance, so zu sein, hat mir Kanada geboten“, sagt Rania, die sich mehr als Kanadierin denn als Libanesin fühlt, aber seit sieben Jahren zwischen Libanon, Syrien und Kanada hin und her pendelt, Arabisch und Englisch spricht. Warum Menschen nach Kanada auswandern wür-den, liege für sie auf der Hand: Die meisten wählten das nordamerikanische Land, da sie sich davon Sicherheit und Wohlstand versprächen und ihren Kindern eine bessere Zukunft sichern wollten. Dies sei die primäre Motivation, doch darüber hinaus habe Kanada tatsächlich differenzierte Integrationsprogramme, die je nach Einwanderungsgruppe Fortbildung auf unterschiedlichem Niveau anböten, erklärt Rania. „Das Besondere an Kanada ist, dass in jedem Men-schen Potenzial gesehen wird und es als wünschenswert gilt, jede Person in dem Bereich einzusetzen, in dem sie am meisten erreichen kann. So wird die Verschwendung von Können vermieden und auch Frustrationen seitens der Ein-wanderer“.

Dies alles sei natürlich kein Altruismus der kanadischen

Regierung, sondern lediglich eine Maßnahme, Einwande-rung möglichst effizient in ökonomisches Wachstum umzu-setzen. „Kanada wäre nichts ohne seine Einwanderer“, fügt sie hinzu, deren Familie ja Teil einer Einwanderungswelle war. Beratung zu Immigration bedeutet hierbei, dass Rania zu allen Arten von Visa berät – entscheidend ist nicht, ob je-mand wirklich immigrieren will, sondern dass Tourismus-visa, Studienvisa, Arbeitsvisa, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung alle unter das kanadische Einwande-rungsgesetz fallen.

Als Rania acht Jahre alt war, floh ihre Familie vor dem Bür-gerkrieg im Libanon und begann in Kanada einen Neustart. Zu erleben, was Kanada seinen Einwanderern zu bieten hat, habe ihre Berufswahl beeinflusst, sagt Rania. Anderen dabei zu helfen, einen besseren Ort zum Leben zu finden und ihnen ihre eigene Erfahrung zugänglich zu machen, das motiviere sie. Wohl auch deshalb hat Rania einigen Im-migrationsbewerbern über Jahre kostenfreie Beratung an-geboten - für mittellose Bewerber oder solche, die von un-seriösen Immigrationsberatern ausgenutzt worden waren. Vor dem Hintergrund jener Missstände hat die kanadische Regierung 2006 die Konsequenz gezogen, entsprechende Richtlinien zur Ausübung dieser Tätigkeit aufzustellen und dies als zertifizierten Berufsstand zu deklarieren. Als zerti-fizierte Immigrationsberaterin arbeitet Rania seither mit Be-werbern aus Nigeria, Libanon, Syrien und vielen anderen

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Ländern. „Ich habe mit sehr unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Regionen der Welt zu tun – das ist natürlich auch für mich sehr spannend“, so Rania. „Jeder Fall ist spannend und außergewöhnlich für mich, es be-geistert, diese jungen libanesischen Bewerber zu sehen und sich auszumalen, wie ihr Weg verlaufen könnte, wenn sie erst einmal in Kanada sind. Das bedeutet nicht, dass ich den ‚brain drain‘ der Region weiter befördern möchte, aber zu-mindest ist Kanada eine Plattform und kann der Akquise von Fähigkeiten dienen, die man ja später wieder im Hei-matland zur Geltung bringen kann. Ich selbst bin dafür ein Beispiel.“

Rania in ihrem Büro im Beiruter Stadtteil Hamra, Libanon.

Wer nach Kanada einwandern will, muss neben den inhaltlichen Auflagen für das jeweilige Einwande-rungsprogramm noch 15 000 kanadische Dollar auf der Bank haben. Davon sind 10 000 eine Art Garan-tie, der Rest sind Administrationskosten. Das Ho-norar für die Immigrationsberatung hingegen wird individuell bemessen und in US Dollar berechnet.

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7.2009

„Wer ist wir?“Plädoyer für ein multikulturelles Leben in Deutschland, das längst Realität geworden ist

von Claudia Hoffmann

Ein Buch zu schreiben über die Identität und In-tegration von MuslimInnen in Deutschland ist nicht ganz unriskant. Allein die jüngste Eskapade um die Verleihung bzw. Aberkennung des hessischen Kulturpreises an Kerma-ni zeigte, wie schnell man in unserer pluralistischen Gesell-schaft für seine Reflexionen, und seien sie zu einem baro-cken Gemälde, diffamiert werden kann.

In seinem neuen Buch, das vor der leidlichen Debatte ent-stand, widmet sich der habilitierte Islamwissenschaftler aus einem persönlichen Blickwinkel heraus den derzeit omni-präsenten Themen Identität und Integration von Migran-tInnen. Wie Kermani selbst schreibt, ist die Definition von Identität allein schon einschränkend. „Es ist eine Festlegung dessen, was in der Wirklichkeit vielfältiger, ambivalenter, durchlässiger ist.“ Anhand vieler Anekdoten aus seinem eigenen Leben als Sohn iranischer Einwanderer in Deutsch-land, skizziert er ein treffendes Bild über die Vielschichtig-keit der Selbstwahrnehmung von Persönlichkeiten, die im Falle der Muslime in den Medien gerne auf einen Aspekt reduziert werden: den der religiösen Zugehörigkeit.

Bei der Auseinandersetzung präsentiert Kermani Tatsachen, die uns eigentlich bekannt sein sollten, aber dennoch der Wiederholung bedürfen. Nämlich dass der Islam im Leben der meisten Menschen integrativer und undogmatischer ist, als bei Fundamentalisten und auf Schrift fixierten europä-ischen WissenschaftlerInnen in Talkshows. Mit ironischem Unterton führt er vor Augen, dass die fatale Selbstwahrneh-mung der Medien durch die Art ihrer Argumentationen mit „wir“ und „sie“ erst recht für Abgrenzungen sorgt.

„Identifizierung liegt dort, wo sie nicht auf Identität

hinausläuft.“

Aus dem Nähkästchen plaudernd erzählt der Autor von sich selbst. Für ihn bedeutet Identität auch, sich in mehre-ren Sprachen zu Hause zu fühlen. So sei er beim Schreiben ganz in der deutschen Sprache beheimatet, während er sich unter Landsleuten fühle, sobald er Persisch höre. In Bezug auf Gedichte wiederum empfindet Kermani intuitiv eine Nähe zur spanischen Poesie. Seiner Ansicht nach wäre es

für die Gesellschaft in Deutschland gewinnbringender, sich an Mehrsprachigkeit zu gewöhnen, anstatt jeden deutsch machen zu wollen. Dementsprechend lehnt er auch den Zwang ab, mit dem sich MigrantInnenkinder der zweiten und dritten Generation zwischen zwei Staatsangehörig-keiten entscheiden sollen. Gerade die Lossagung von einer der eigenen persönlichen Zugehörigkeiten bedeutet deren Aufgabe bzw. die Abgrenzung von einem Teil der persön-lichen Kultur. Innere Konflikte würden dadurch eher noch verstärkt. Lakonisch bemerkt er diesbezüglich, dass es für ihn selbst kein Identitätskonflikt sei, zwei Pässe zu besitzen, wohl aber, wenn der 1.FC Köln gegen die iranischen Fuß-ballnationalmannschaft spielen würde...In einem weiten Themenspektrum wird die Leserschaft auf eine Reise mitgenommen, welche von der deutschen Innenpolitik mit ihrer Islamkonferenz über den Kampf der Kulturen innerhalb der islamischen Gesellschaften und den weltweiten Zulauf zu Fundamentalismus bis hin zu dem europäischen Projekt der Wertegemeinschaft reicht. Kerma-ni endet dabei durchaus hoffnungsvoll. Entgegen allen Un-kenrufen der Medien zieht er eine durchaus optimistische Bilanz zum multikulturellen Zusammenleben, bemängelt aber, dass in öffentlichen Diskursen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und differenzierten Betrachtungen nicht ge-nügend Raum gegeben wird. Weit größer sollte die Sorge um die Bildung und Ausbildung der MigrantInnen sein, denn sie ist Vorraussetzung für eine soziale Sicherung und gesellschaftliche Aufstiegschancen.

Fazit: Ein locker geschriebenes Buch mit Geschichten aus der multiethnischen Realität zur Reflexion eben dieser.

Navid Kermani: Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime, C.H. Beck, München 2009, 173 Seiten, 16,90€

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MUTLULUKDie Verfilmung des türkischen Romans „Glückseligkeit“

Über archaische Vorstellungen, die wie ein Knoten das Seil zur Fessel werden lassen, und

über die, die ihn lösen

von Suana Meckeler

Zuerst sieht man ihre Füße. Sie trägt keine Schuhe, nur weiße Wollsocken mit lilafarbenem Blumenmuster; der Schmutz des sandig-lehmigen Bodens, auf dem sie liegt, haftet ihnen an. Meryem liegt am Ufer eines Flusses in Ostanatolien in der Türkei. Bewusstlos. Die Vögel zwitschern, Schafe blöken, Glöckchen klingeln leise, der Frühling hat Einzug gehalten. Ein Schäfer findet das Mädchen, schultert sie und trägt sie vorbei an Männern, die zusammen Tee trinken, an Frauen, die Wäsche vor ihren unverputzten Steinhäusern aufhängen. Sie reden: „Ist das nicht Ali Rızas Nichte?“ Der Schäfer bringt das Mädchen nach Hause. Hier sperrt man Meryem ein, abseits der an-deren in eine Art Keller: Ein Raum mit rauen Steinwänden, der Lehmboden ist bedeckt mit Staub und Spänen, dort, wo die Stiefmutter ein Tablett mit Essen abstellt. Die Fenster haben keine Scheiben, aber sind vergittert. Meryem wurde vergewaltigt.Später wirft ihre Stiefmutter ihr ein schweres Seil vor die Füße. Meryem knotet es zu einer Schlaufe zusammen, steckt ihren Kopf durch die Schlinge. Als aber die Stiefmut-ter durch das Fenster schaut, zieht Meryem ihren Kopf zu-rück – und nimmt sich, anders als diese es von ihr erwartet, nicht das Leben. Das soll nun ihr Cousin Cemal erledigen. Gerade aus dem Militärdienst zurück, instruiert ihn sein Vater. Widerspruch ist nicht gestattet. Sein Vater gibt ihm eine Pistole und Geld für die Zugfahrt nach Istanbul. An-kommen sollen sie dort nicht, jedenfalls nicht beide. Denn auf der Fahrt soll er Meryem töten.

Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Zugegeben, die ersten zwanzig Minuten des Films stimmen traurig, machen wütend, sind nichts für den gemütlichen Filmeabend. Spätestens jedoch als Meryem und ihr potenti-eller Mörder in Istanbul aus dem Bahnhofsgebäude treten, schöpft man Hoffnung – zu Recht. Der Film trägt seinem Titel Rechnung: Es folgen neben der Darstellung von Kon-flikten Momente der Glückseligkeit, versinnbildlicht durch wunderschöne Landschaftsaufnahmen des ägäischen Meeres und türkischer Küstenstädte.

Diese DVD ist eine Empfehlung für alle, die über die viel-schichtige Gesellschaft der heutigen Türkei etwas lernen und dabei erfahren wollen, wie die Einstellungen zu al-ten Gebräuchen variieren – und zwar ohne belehrenden Ton der höheren Bildungsschicht. Direkte Kritik kommt vielmehr aus den eigenen Reihen. In Istanbul lebt Cemals Bruder. Er hat das Dorf für immer verlassen und steht den Gebräuchen und Moralvorstellungen kritisch gegenüber. Ehrenmord hält er für eine archaische Tradition, die er nicht unterstützen mag. Er fordert den jüngeren Bruder heraus. Woher wolle er denn wissen, dass es die Schuld des Mäd-chens gewesen sei.

Die Perspektive des Großstädters wird durch İrfan Kuru-dal, einen Hochschullehrer, mit in den Film eingebracht. Eines Nachts wacht er zum wiederholten Male um Luft

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ringend und nach seinen Tabletten tastend auf – und be-schließt, seinem geordneten, luxuriösen Leben in Istanbul auf einem Segelboot zu entfliehen. Bei seiner Reise durch das Land begegnen ihm Meryem und Cemal, die er als Crew auf seinem Boot aufnimmt. Schon bald ahnend, dass etwas in der Beziehung zwischen den Beiden nicht so ist, wie sie es vorgeben, bekommt er von Tag zu Tag mehr Ge-wissheit. Nachdem Meryem zu weinen und zittern beginnt, als er ihr an Deck ein Seil zuwirft, um ihr zu zeigen, wie ein Seemannsknoten aussehen muss, liegt er nachts noch lange grübelnd wach.

Trotz aller Tragik ist der Film keine Tragödie im eigentlichen Sinne. Worte der Weisheit, die die Botschaft des Films ver-sinnbildlichen, sind İrfan Kurudals philosophische Überle-gungen zum Knoten, die er mit Meryem teilt: „Wenn du einen Knoten ein wenig löst, wird er sich schnell öffnen. Menschen sind auch so.“ Vielleicht werden sich auch alte Vorstellungen lösen, die wie ein sicherer Knoten erscheinen, wenn man nur beharrlich genug an ihrer Lösung arbeitet.

Der Roman „Glückseligkeit“ diente als Film-

vorlage

Der Film des Regisseurs Abdullah Oğuz ist die Verfilmung des Romans „Glückseligkeit“, der letztes Jahr in der deut-schen Übersetzung von Wolfgang Riemann im Verlag Klett-Cotta erschienen ist. „Glückseligkeit“ entsprang der Feder des türkischen Schriftstellers und Komponisten Zülfü Liva-neli. Der Autor, der selbst mehrere Jahre in Schweden im Exil gelebt hat, ist seit 1995 UNESCO-Botschafter. Orhan Pamuk sagt über ihn: „Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei.“Auch die Musik, die die Handlung des Films wunderbar unterstreicht ist ein Werk Zülfü Livanelis. Schön ist, dass die Musik nicht einfach so dahin plätschert und Hinter-grundgeräusch ist, sondern die Handlung miterzählt. Viele Stücke wurden vom London Symphony Orchestra ein-gespielt. Livaneli hat, als er die Musik für den Film kom-ponierte, auch im Westen weniger bekannte Instrumente hinzugenommen: Das Kanun, das auch als orientalische Zither bezeichnet wird, und das Duduk, ein armenisches Doppelrohrblattinstrument, das dem Klang einer Klarinette in tiefer Lage ähnelt.

Von witzigen Anekdoten während der Dreharbeiten berich-tet die Crew auf der offiziellen Webseite des Films (www.mutlulukfilm.com). Eine davon soll hier Erwähnung fin-den: Der Imam der Moschee des Dorfes, in dem gefilmt wurde, sollte ursprünglich im Film den Gebetsruf rezitie-ren, hatte aber laut Crew eine furchtbare Stimme. So bekam der Busfahrer Muharrem Ögretici unerwartet eine weitere Rolle zugewiesen: Er rief die Gläubigen zum Gebet.

Film – auf Türkisch mit Untertiteln

2007 kam der Film in die türkischen Kinos. Er ist auf DVD erhältlich, wobei diese in Deutschland leider nicht so leicht zu bekommen ist. In der Videothek Filmkunst (www.film-kunst-berlin.de) in Berlin-Friedrichshain liegt die DVD zur Ausleihe vor; außerdem wurde sie auch schon auf Ebay ge-sehen. Wer kein Türkisch spricht, sollte im Menü vorher die Untertitel (Altyazi) auf Englisch (Ingilize) einstellen. Zwar ist das Englisch nicht immer ganz korrekt, aber insgesamt

kann man dem Film dennoch gut folgen.

Filmtitel: MutlulukRegisseur: Abdullah Oğuz

Schauspieler: Özgü Namal (Meryem), Murat Han (Cemal), Talat Bulut (İrfan)

Gedreht wurde in der Türkei in Bo-drum, Istanbul, Karaman, Taşkale

(Dorf in Anatolien) und Marmaris. Länge: 126 Minuten

www.mutlulukfilm.com

Suana Meckeler beschäftigte sich während ihres Masterstu-diums in Europawissenschaften der TU/FU/HU in Berlin intensiv mit EU-Türkei Fragen. Im Referat für bilaterale Kultur-und Medienbeziehungen mit Europa, Türkei des Auswärtigen Amtes und während eines Forschungsaufent-halts in Istanbul letztes Jahr sammelte sie praktische Erfah-rungen auf diesem Gebiet. Sie arbeitet in freier Mitarbeit bei der Deutschen Welle in Berlin.

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Linienvon Jannis Hagmann

In der Staats-Bibliothek zu Berlin gibt es ein Muster, entworfen vom Architekten der Bibliothek, siebziger Jah-re. Große weiße Linien zieren den grauen tristen Steinbo-den der Eingangshalle. Rei-ne Kunst. Eine der Linien führt zufälligerweise wenige Meter vor der Buchabholstel-le vorbei. Keiner der War-tenden in der Schlange denkt auch nur daran, die Linie zu überschreiten. Diskretions-abstand!

In Kairo gibt es ein Muster, entworfen wohl vom glei-

chen Architekten, der auch die Berliner Stabi schuf.

Die gleichen weißen Linien zieren auch hier die grauen

tristen Straßen in der Stadt. Überall ziehen sie sich

entlang – mal durchgehend, mal unterbrochen. Keiner

der Autofahrer verschwendet auch nur einen Gedanken

daran, diese Linien zu beachten.

Reine Kunst?

GLOSSE

Rechnungsbücher des Staatshaushaltes (i.d. älteren islam. Staatsverwaltung);Diwan, Gedichtssammlung; Regierungs-büro, Verwaltungsbüro; Kanzlei, Amt,Büro, Sekretariat; Staatsrat, Kabinett;Rat, beratende Versammlung, leitenderAusschuss; Regierung; Gerichtshof; Saal,Halle; langer Polstersitz an der Wandmit Rückenkissen; (Eisenbahn-) Abteil,Kanzleisprache, Inquisitionsgericht; Inquisition