Im Hörraum vor der Schaubühne - ReadingSample · 2018. 3. 22. · Aus: Julia H. Schröder (Hg.)...

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Theater 68 Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller Bearbeitet von Julia H. Schröder 1. Auflage 2015. Taschenbuch. 242 S. Paperback ISBN 978 3 8376 2908 8 Format (B x L): 14,8 x 22,5 cm Gewicht: 378 g Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Musikgattungen > Theatermusik, Ballettmusik- Filmusik schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Theater 68

Im Hörraum vor der Schaubühne

Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller

Bearbeitet vonJulia H. Schröder

1. Auflage 2015. Taschenbuch. 242 S. PaperbackISBN 978 3 8376 2908 8

Format (B x L): 14,8 x 22,5 cmGewicht: 378 g

Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Musikgattungen >Theatermusik, Ballettmusik- Filmusik

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Aus:

Julia H. Schröder (Hg.)

Im Hörraum vor der SchaubühneTheatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilsonund von Leigh Landy für Heiner Müller

März 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2908-8

In den 1980er Jahren schufen die Komponisten Hans Peter Kuhn für Robert Wilsons»Bildtheater« und Leigh Landy für Heiner Müllers »Sprechtheater« eine neue Klang-ebene aus Bühnenmusik und Tongestaltung.In diesem Band schildern Kuhn und Landy ihre Ansätze für einen Theatersound, derdie elektroakustischen Möglichkeiten in eine eigene Ästhetik transformierte und denTheaterbesuchenden eine räumliche Hörerfahrung ermöglichte.Die weiteren theater- und musikwissenschaftlichen Beiträge gehen anhand der Werkevon Kuhn und Landy dem vernachlässigten Thema ›Klang‹ der ebenso flüchtigen›Theaterinszenierung‹ nach.

Julia H. Schröder (Dr. phil.) forscht als Musikwissenschaftlerin am SFB 626 »Ästheti-sche Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der Freien Universität Ber-lin.

Weitere Informationen und Bestellung unter:www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2908-8

© 2015 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Vorwort | 9

Im Hörraum vor der Schaubühne

Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn)

und Heiner Müller (Leigh Landy)

Julia H. Schröder | 11 Über die Arbeiten mit Robert Wilson

Klang im Raum: Sprache, Musik und Geräusch

als Teil der theatralen Raumerfahrung

Hans Peter Kuhn | 51 His Master’s Voice(s)?

Sound und Audio-Vision in Robert Wilsons Theater

Zum Beitrag Hans Peter Kuhns

Helga Finter | 71 Über die Zusammenarbeit mit Heiner Müller

»The idea is to feed, furnish and let the space speak for itself«

(Antonin Artaud)

Leigh Landy | 89 Dokument: ›Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht,

Den Mißlaut meiner Schmerzen deinem Ohr.‹

A Composer’s Work with Philoktet (1987)

Leigh Landy | 113 Landscape & Soundscape

Postanthropozentrische Ästhetik bei Robert Wilson

und Heiner Müller

Matthias Dreyer | 119

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Klangkunst als Landschaft? Überlegungen anlässlich Kuhns Arbeiten nach dem Theater

Sabine Sanio | 147 Auf der Suche nach dem verlorenen Klang Zur Schauspielmusik vor Robert Wilson und Heiner Müller

Ursula Kramer | 163 Abschlussdiskussion Dokumentation, Rekonstruktion, Re-Enactment,

Neu-Inszenierung oder doch lieber »das Museum im Kopf«?

Referentinnen und Referenten sowie Gäste | 199 Zu den Zeichnungen von Robert Wilson Julia H. Schröder | 219 Der Kontext der Grafiken Vom Bild zum Sehen und Hören in Alceste, Alkestis und Dr. Faustus

Irene Lehmann | 221 Kurzbiografien | 233

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Robert Wilson, Doctor Faustus Lights the Lights, Berlin 1992. Charcoal, graphite and pencil on Schoeller Durex paper. 28 5/8" x 40" (72.8 x 101.5 cm). © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Geoffrey Clements

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Vorwort

JULIA H. SCHRÖDER

Als ich Leigh Landy nach einem seiner Vorträge 2012 persönlich kennen

lernte und er von seiner Theaterarbeit für Heiner Müller erzählte, fiel mir

die berühmte Zusammenarbeit von Hans Peter Kuhn und Robert Wilson als

parallele Konstellation derselben Zeit ein. Beide Komponisten zur Arbeit

im Theater der frühen achtziger Jahre befragen zu können, war ein Glücks-

fall. Sie erklärten sich rasch bereit, so dass nur noch Experten für eine

wissenschaftliche Rahmung gefunden werden mussten, die meine musik-

wissenschaftlichen Interessen im theaterwissenschaftlichen Bereich ergän-

zen würden. Auf die Geschichte von Theatermusik spezialisiert ist Ursula

Kramer, deren Lehrstuhl und Forschungsprojekt in Mainz dieses Feld neu

bestellt. Als Koryphäe auf dem Gebiet der Theaterstimmen konnte die The-

aterwissenschaftlerin Helga Finter gewonnen werden. Dass ihr Kollege

Matthias Dreyer sich mit Müllers und Wilsons Theater beschäftigt hat,

zeigt die weiterreichenden Verbindungen unserer Untersuchungsgegen-

stände. Nach der anregenden Tagung erklärte sich die Musikphilosophin

Sabine Sanio zu einem Beitrag bereit, was mich besonders freut. Ebenso

gewinnbringend ist, dass Irene Lehmann als Musiktheaterspezialistin sich

bereit erklärt hat, die Zeichnungen zu Aufführungen von Robert Wilson zu

kommentieren, die Wilson großzügigerweise für diesen Band zur Verfü-

gung gestellt hat.

Das vorliegende Buch ist der Tagungsband zu dem Symposium »Im Hör-

raum vor der Schaubühne. Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter

Kuhn) und Heiner Müller (Leigh Landy)«, das am 29. und 30. November

2013 in den Räumen des Masterstudiengangs Sound Studies der Universität

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der Künste Berlin stattfand. Veranstalter war die Freie Universität Berlin,

Sonderforschungsbereich 626 Ȁsthetische Erfahrung im Zeichen der Ent-

grenzung der Künste«, Teilprojekt B4 Musikwissenschaft unter der Leitung

von Prof. Dr. Albrecht Riethmüller, Konzept und Leitung: Dr. Julia H.

Schröder. Die Tagung wurde unterstützt von dem Berlin Career College,

Universität der Künste Berlin, Masterstudiengang Sound Studies sowie

Klangzeitort, Institut für Neue Musik der UdK Berlin und HfM Hanns

Eisler.

Mein Dank gilt den Referentinnen und Referenten, die als Autorinnen und

Autoren hier vertreten sind, den Symposiumsteilnehmerinnen und

-teilnehmern für ihre Beiträge und die wunderbaren Diskussionen, die teil-

weise in die Texte auf- und eingegangen sind, den Verantwortlichen der

Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Freien Universität und des Sfb

626, da diese Institutionen das Symposium und die Publikation finanziert

und bewilligt haben, Prof. Dr. Martin Supper und seinen Mitarbeiterinnen

des Masterstudiengangs Sound Studies an der Universität der Künste Berlin

für die Ausrichtung des Symposiums in ihren Räumlichkeiten und für die

Bereitstellung der Mehrkanal-Studiotechnik für die Präsentation der Klang-

beispiele und Kompositionen, Miriam Akkermann für die audiotechnische

Betreuung, Irene Lehmann für ihre fachliche Expertise und Einfühlsamkeit

im Lektorat, Dr. Nina Jozefowicz für die Transkription und teilweise Bear-

beitung der Vorträge von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy sowie der Ab-

schlussdiskussion und Liisa Lanzrein für die Recherche in Basel.

And many thanks to Robert Wilson for his wonderful drawings which

enrich this book.

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Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound für Robert Wilson (Hans Peter Kuhn)

und Heiner Müller (Leigh Landy)

JULIA H. SCHRÖDER

Mit dem Titel »Im Hörraum vor der Schaubühne« ist zuerst die sinnliche

Rezeption angesprochen, das Hören und Sehen oder das Zuhören und Zu-

schauen. Im Sinne einer Rezeptionsästhetik wird nach dem gefragt, was das

Publikum gehört und gesehen hat, als es in den achtziger Jahren im Theater

saß. Neu mag gewesen sein, dass die Besucher sich im Hörraum befanden,

mit Klang aus Lautsprechern von hinten, vorne, oben und den Seiten. Das

visuelle Geschehen war hingegen althergebracht vor dem Publikum auf der

Schaubühne verortet.1 Mit »Schaubühne« ist hier der altmodische Begriff

für Theater schlechthin gemeint und nicht das Berliner Theater »Schaubüh-

ne am Lehniner Platz«, in dem Hans Peter Kuhn tatsächlich einige Jahre als

Tonmeister arbeitete,2 als es noch »am Halleschen Ufer«3 lag.

1 Die argumentative Polarisierung von auditiver gegen visuelle Wahrnehmung

nennt Jonathan Sterne »audiovisual litany« und kritisiert sie. Im Titel dieses

Bandes wird tatsächlich in diese »Litanei« eingestimmt. Jonathan Sterne, The

Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham: Duke Universi-

ty, 2003, S. 15–19.

2 Hans Peter Kuhn arbeitete fest 1975–79 an der Schaubühne, bevor er als freier

Komponist an Produktionen beteiligt war.

3 Von 1970–79 war die Schaubühne am Halleschen Ufer gelegen und zog dann an

den Lehniner Platz um.

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Implizit ist dem Titel ein rezeptionsästhetisches Interesse. In den

Kunstwissenschaften ab den siebziger Jahren zeigen vermehrte Beiträge zu

»ästhetischer Erfahrung« ein allgemein neu erwachendes Interesse.4 Kurz

darauf entstanden die Inszenierungen, die in diesem Band betrachtet wer-

den. Möglicherweise lässt sich eine Wechselwirkung zwischen Theorie und

Praxis herleiten. Gleichzeitig beginnt eine Blütezeit der später sogenannten

Klangkunst, deren Arbeiten von Helga de la Motte-Haber und anderen Mu-

sikwissenschaftlern in vielen Fällen als nicht mehr repräsentierend, sondern

präsentierend beschrieben wurden.5 Es geht vielen der Kunstschaffenden

darum, kein Kunstwerk, sondern eine sinnliche Erfahrung herzustellen, die

beispielsweise eine Klanginstallation vermitteln kann. Damit wird die

Kunst ebenso ephemer wie Theateraufführungen.

Helga de la Motte-Habers Beschreibungen der Arbeiten von Hans-Peter

Kuhn bringen die Implikationen des Buchtitels noch einmal anders zum

Ausdruck:

»Wenn man in [Hans Peter Kuhns] Installationen umhergeht, wirken sie mit ihrem

selbstagierenden Licht-Klang-Spiel distanziert, obwohl man regelrecht davon einge-

hüllt sein kann. Aufschlussreich beim Nachdenken über diese Besonderheiten ist ein

Theaterstück (Golden Windows, 1982), das Kuhn für Robert Wilson akustisch ge-

staltete. Er stellte 30 Lautsprecher in den Saal und verteilte die Stimmen der vier auf

der Bühne zu sehenden Schauspieler im Saal. Die Besucher befanden sich in einer

Situation, die von der Dialektik des Eingeschlossen- und Ausgeschlossenseins

bestimmt war. Sie waren einerseits im Stück drinnen und hatten gleichzeitig die

Rolle des Betrachters vor der Bühne.«6 (Helga de la Motte-Haber, 2005)

4 Stellvertretend sei hier auf die prominenten Texte zur Rezeptionsästhetik mit

literaturwissenschaftlichem Hintergrund von Jauß verwiesen. Hans Robert Jauß,

Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Band 1: Versuche im Feld der ästhetische Erfahrung, München: Wilhelm Fink, 1977.

5 Helga de la Motte-Haber, Ȁsthetische Erfahrung: Wahrnehmung, Wirkung,

Ich-Beteiligung«, in: dies. (Hg.), Musikästhetik, Laaber: Laaber, 2004, S. 408–

429.

6 Helga de la Motte-Haber, »Im Wechsel-Spiel der Sinne. Gedanken zu den In-

stallationen von Hans Peter Kuhn«, in: Hans Peter Kuhn, Odense, Katalog mit

Photographien von Gerhard Kassner, hg. von Odense Bys Kunstfond, Heidel-

berg: Kehrer, 2005, S. 51–63, 61f.

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IM HÖRRAUM VOR DER SCHAUBÜHNE | 13

Im Untertitel »Theatersound für Robert Wilson und Heiner Müller« wird

der Theater-Sound hervorgehoben, der keine Zwischenmusiken meint,

sondern eine Gestaltung der akustischen Ebene: Verstärkte Stimmen, Ge-

räusche und texturartige Musik. Die akustische Ebene ist eigentlich eine

elektroakustische und ohne die elektroakustischen Möglichkeiten der frü-

hen achtziger Jahre nicht denkbar. Zwar wird das Tonband in der akusmati-

schen Musik schon seit den fünfziger Jahren genutzt, aber Sampling ist eine

Technik, die sich in den siebziger Jahren erst anfängt zu entwickeln. Auch

Funkmikrofone und Mehrkanal-Soundsysteme werden für die Theater zu

dieser Zeit erst erschwinglich.

Den zeitlichen Rahmen geben die achtziger Jahre vor, eine Zeit, die

heute mit dem Begriff des »postdramatischen Theaters« verbunden wird.7

In den frühen achtziger Jahren treten zwei gegensätzliche Theaterkonzepte

hervor: Robert Wilsons »Bildtheater« bedarf eines Sounddesigns und

Musik so notwendig wie eines Lichtdesigns. Ohne mikrofonverstärkte

Stimmen sind viele seiner Stücke nicht denkbar. Hingegen ist es in Heiner

Müllers »Sprechtheater« schwer, Platz für Musik zu finden. Es gibt viele

Inszenierungen seiner Dramen, die mit minimalem Bühnenbild und gänz-

lich ohne Musik auskommen. Musik fungiert hier meist als strukturierendes

Element, das einen Akt vom nächsten trennt. Die Herausforderung für Hans

Peter Kuhn und Leigh Landy war es also, Musik und Klang für ein Theater

zu schaffen, das entweder – im Fall von Wilson – musikalisch mit dem

Sprachklang vor der Bedeutung von Sprache arbeitet, das Sprache musika-

lisiert, oder – im Falle von Müller – die Sprache dermaßen mit Bedeutung

auflädt, dass ablenkende akustische Elemente sie unverständlich werden

lassen. Denn Robert Wilson ist vor allem als Theatermacher berühmt

geworden, der Stücke ohne Textvorlage inszenieren kann. Heiner Müller

gilt dagegen als Dramatiker, der Texte verfasste.

»[Robert Wilson] hat zu Texten zunächst ein ganz anderes Verhältnis. Ihn inte-

ressiert, was zwischen den Worten, zwischen den Silben ist – oder zwischen den

Lauten sogar. Dass dann diese Art des Umgangs mit Texten, den Text als Material

zu behandeln, genau wie Bühnenbildelemente oder Musik, dass das dem Text unge-

7 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag

der Autoren, 1999, 2008.

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heuer helfen kann, weil es nicht interpretiert, weil es den Text direkt als Material

transportiert ans Publikum«.8 (Heiner Müller über Robert Wilson, 1985)

Interessant ist schließlich die Überkreuzstellung des amerikanischen Thea-

termachers Wilson, der in Berlin-West mit dem westdeutschen Tonmeister

und Komponisten Kuhn arbeitete, gegenüber dem Dramatiker Müller aus

Ost-Berlin, der mit dem amerikanisch-holländischen Komponisten Landy

ins Gespräch kam. Ihr Theaterschaffen kann als symptomatisch für die

achtziger Jahre angesehen werden. So unterschiedlich beider Theater-

schaffender Werk auch sein mag, wurden doch wechselseitige Einflüsse

aufeinander beobachtet. Ein überraschendes Ergebnis der hier dokumentier-

ten Tagung war außerdem, dass die Komponisten Landy und Kuhn ganz

ähnliche Ideen in ihrer Theaterarbeit umsetzten, obwohl sie sich damals

nicht begegnet sind. Offenbar lassen sich einige musikalische Praktiken an

den audiotechnologischen Möglichkeiten und einem kompositorischen

Zeitgeist festmachen. Das sind neben der Anbringung von Lautsprechern

im Zuschauerraum für eine Rundum-Beschallung, die Arbeit mit Samples,

beispielsweise mit Aufnahmen von knackenden Neonröhren, und mit den

Schnitt- und Montagemöglichkeiten von Tonband beziehungsweise

Sampler.

8 Heiner Müller in: »Robert Wilson und die Civil warS«, ZDF/BBC-Fernseh-

Dokumentation von Howard Brookner, Hamburg 1985, 90 min.

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AKUSTISCHE ATMOSPHÄREN UND

SPRACHKLANGRÄUME (HANS PETER KUHN) Hans Peter Kuhn (*1952) ist Klangkünstler und Komponist.9 Mit dem The-

atermacher Robert Wilson arbeitete Kuhn von 1978 bis 1998 in insgesamt

32 Projekten zusammen. Nach den hier behandelten frühen Theaterarbeiten

schrieb Kuhn beispielsweise die Operette Saints and Singing (1997) auf

einen Text von Gertrude Stein und erarbeitete die Erstinszenierung gemein-

sam mit Wilson. Zu weiteren Zusammenarbeiten der beiden kam es in

Installationen wie Memory/Loss, auf der Biennale Venedig 1993 mit dem

Goldenen Löwen ausgezeichnet.10

Robert-Wilson-Stücke mit Hans Peter Kuhn (Auswahl) Death Destruction & Detroit I (Schaubühne Berlin, 1979)

The Man in the Raincoat (Schauspiel Köln, 1981)

Die goldenen Fenster (Kammerspiele München, 1982)

The CIVIL warS (1982–85)

In den hier betrachteten frühen Zusammenarbeiten mit Robert Wilson ent-

wickelte Hans Peter Kuhn eine neue Form von Bühnensound, der über die

bis dahin üblichen Musikeinlagen in Theaterstücken hinausgeht. Durch die

Personalunion von Tontechniker und Theatermusiker konnte Kuhn eine

Klangebene entwerfen, die Wilsons Bildgestaltung entsprach und sie

ergänzte. Neben neuen akustischen Ebenen in der Bühnenmusik und der

Integration von zugespielten Geräuschen bot Kuhn Wilson eine neue Mög-

lichkeit der Arbeit mit der Stimme, die Stimmverstärkung und -verräum

lichung.

9 Siehe: http://www.hpkuhn-art.de. Speziell zur Theaterarbeit siehe: Michael

Erdmann, »Der Sound-Meister von Robert Wilson & Co. Was man mit nur zwei

Ohren alles hören kann, wenn man hören kann. Ein Portrait des Theater- und

Filmmusikers Hans Peter Kuhn in Berlin«, in: Theater heute (10/1990), S. 34–

37.

10 Außerdem z. B.: Robert Wilson & Hans Peter Kuhn, H.G. (1995), DVD, Regie:

Mike Figgis, Artangel 2006.

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Sprachklangräume mittels Lautsprechern im Theaterraum

Über den Einsatz von Funkmikrofonen, sogenannten Mikroports,11 konnten

die Stimmen der Schauspieler verstärkt werden, ohne deren Beweglichkeit

zu behindern. Bei Einsatz eines verkabelten Mikrofons sind die Schau-

spieler an fixierte Bühnenpunkte gebunden oder durch das Mikrofonkabel

in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

»[Die Inszenierung der Golden Windows von Wilson] hat vor allem ungeheuer viel

mit der Technik zu tun, der Bühnentechnik. Davon haben wir auf den ersten Proben

noch nicht so viel gemerkt, obwohl er schon sehr viele Scheinwerfer aufgestellt hat

überall und viele Lautsprecher; alles geht ja über Mikroport.

Man hat ‘ne Batterie in der Hosentasche. Man muß sich auch das Sprechen abge-

wöhnen, also das Sprechen, was darauf zielt, daß man über eine gewisse Entfernung

verstanden wird. Was der Zuschauer mitkriegt, das wird ihm durch Lautsprecher

vermittelt. Dafür werden 21 Lautsprecher in den Kammerspielen [München] ein-

gebaut, überm Rang und so. Und wenn ich etwa ›Guten Tag‹ sage, kommt ›guten‹

von da – und ›Tag‹ von da hinten, aber warum er das macht, das träumt er sich.«12

(Peter Lühr, 1982)

Für Golden Windows (Münchner Kammerspiele, 1982) arrangierte Kuhn 30

Lautsprecher im Saal, für die extra eine Verteilermatrix gebaut wurde.13

Über diese Lautsprecher wurden die Schauspielerstimmen verteilt, so dass

sich die sichtbare Sprecherposition an einem Punkt der Bühne von der Ort

und Richtung wechselnden Stimme unterschied, die ihrerseits durch den

Zuschauerraum flatterte – je ein Satzteil aus einem anderen Lautsprecher.

Der Bühnen- und Bildraum wird durch eine Entkopplung von der im Zu-

schauerraum zu verortenden Stimme in eine neue Beziehung zum Hörraum

gesetzt. Zwar gibt es viele Momente, welche die heutigen Theaterbesucher

aus den Kino-Surround-Sound-Verfahren kennen, die auf Immersion abzie-

11 »Mikroport« ist ein Markenname, der sich für kabellose Mikrofone in der hier

betrachteten Zeit verselbständigt hatte. Ab 1958 wurden diese »Mikroports« von

Telefunken vertrieben, nachdem sie ein Jahr zuvor von Sennheiser und dem

Norddeutschen Rundfunk entwickelt worden waren.

12 Peter Lühr »Über die Arbeit mit Bob Wilson an Golden Windows« [UA

29.5.1982, Münchner Kammerspiele], in: Theater heute (5/1982), S. 25–27, 26.

13 Damit waren 20 Konstellationen möglich.

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len, doch stimmen die Lokalisation von offensichtlicher Schallquelle

(Schauspieler) und Hörereignis (wechselnd und näher am Zuschauer) nicht

überein, wodurch sich wieder ein Irritationsmoment einstellt.14 Der sichtba-

re Ort, an dem plausiblerweise die Sprache produziert wird, die Position

des Schauspielers, stimmt nicht mit den wechselnden Orten überein, von

denen die Sprache im Raum gehört wird.

In Death Destruction & Detroit I (Schaubühne 1979)15 gab es für die

Sprachübertragung vier Lautsprecherzeilen im Saal (zwei hinten sowie an

14 Lehmann spricht hier von locus agendi (Handlungsort) und locus parlandi

(Sprachort), die nicht übereinstimmen, was im Elektroakustischen in etwa der

Unterscheidung von Schallquelle (Ort er Hervorbringung des Klangs) und Phan-

tomschallquelle (scheinbarer Ort der Hervorbringung) bzw. Schallereignis und

Hörereignis entsprechen mag: »Das Verhältnis von Körper und Stimme wurde

auch ein eigenes Spielfeld der elektronischen Theaterästhetik: […]; Herstellung

eines Klang-Raums, bei dem Locus agendi und Locus parlandi getrennt werden;

Audio Landscape: Stimmen ohne Körper, häufig Off-Stimmen, verbinden sich

und interferieren mit anderen Stimmen, die in den Körpern wohnen (live), und

mit aufgezeichneten Stimmen der Akteure selbst. Robert Wilson wurde beson-

ders bekannt dafür, daß er locus agendi und locus parlandi auseinanderriß und so

die Wahrnehmung einer einheitlichen Persona unterminierte. Das Mikroport

machte es möglich, daß die Stimme des Akteurs, den man auf der Bühne als

Gestalt erblickt, aus dem Irgendwo des Theaterraums zu kommen scheint. So

platziert die Technik des Mikroports die Stimme als Element in den Raum einer

Be-Stimmung, die nicht mehr vom autonomen, seine Stimme beherrschenden

Subjekt bestimmt wird, sondern wo der Klangraum und eine auditive Struktur

zu allererst dies sagen: Nicht Ich, sondern ›Es‹ spricht, und zwar durch/als ein

komplex maschiniertes ›Agencement‹ (Deleuze).« Hans-Thies Lehmann, Post-

dramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, 2008,

S. 279f. Kursivierung im Original. Zu »ortlosen Stimmen«, ebd., S. 282.

15 Robert Wilson, Death Destruction & Detroit I, »A Play with Music in 2 Acts /

A Love Story in 16 Scenes, Additional texts by Maita di Niscemi, Music by

Alan Lloyd, Keith Jarrett, and Randy Newman, [Sound by Hans Peter Kuhn]«,

Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin (Uraufführung am 12.2.1979). Die

Schreibweisen von DD+D variieren, mal wird es mit Komma oder gar Komma-

ta geschrieben, mal ohne. Außerdem gibt es das »and« auf englisch, deutsch

oder als Zeichen. Nach Wilsons eigener Website steht ein Komma zwischen den

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den jeweiligen Seiten), zudem zwei Lautsprecher auf der Bühne und zwei

unter der Decke (von oben). Die Schauspieler trugen Funkmikrofone, über

die ihre Sprechstimme abgenommen und dann im Raum verteilt wurde –

konträr zu ihrer körperlichen Bühnenposition. In diesen Stücken greift

Kuhn in die Sprachdarbietung ein, indem er sie verräumlicht, sie im Zuhö-

rerraum umherbewegt und sie näher an die Zuhörer bringt als die Schau-

spieler, die auf der Bühne bleiben.

Weitergehend kann man Wilsons Ein-Personen-Stück The Man in the

Raincoat fast eine musikalische Komposition nennen: Der Schauspieler, bei

der Uraufführung Wilson selbst, spricht zu – beziehungsweise mit – einer

Tonbandkomposition, die Hans Peter Kuhn aus Wilsons Sprachaufnahmen

komponiert hat. Das Stück basiert also auf einem von Kuhn komponierten

Zeitrahmen, der Einsätze für die Darsteller-Aktionen gibt.

»Allein der gesprochene Text schafft den sonoren Raum: einen Außen- und Innen-

raum, das Außen des Alls und das Innen des Alps, das Außen politischer Mythen

und das Innen von Märchen- und Medienmythen. Gesprochen wurde auf der Bühne,

und Gesprochenes kam mit Wilsons Stimme aus den drei Lautsprechern des Zu-

schauerraums. Damit wurde der Bühnenraum (5 x 10m) auf den Zuschauerraum als

Sprechraum erweitert und schuf einen durch die Wortsprache gezeichneten Raum,

wo sich sehr schnell die Wortsprache als unendlich erweisen sollte.«16 (Helga Finter,

1982)

Helga Finter analysiert diese »sonoren Räume« zu Beginn der achtziger

Jahre als innovativ: »Neue Räume entstehen aus neuen Beziehungen von

sonoren, sichtbaren Körpern und audiovisuellen Environments.«17

ersten beiden Wörtern: http://www.robertwilson.com/death-destruction-and-

detroit (Zugriff: 2.5.2014). Hier wurde die Originalschreibweise beibehalten.

16 Helga Finter, »Die soufflierte Stimme. Klang-Theatralik bei Schönberg, Artaud,

Jandl, Wilson und anderen«, in: Theater heute (1/1982), S. 45–51, 50. Zu der

Sprach-Musik in The Man in the Raincoat: »Wilson auch selbst-redend vom

Band: Sätze, abgebrochene Erzählungen, Versatzstücke, Worte, Wortcollagen,

bis zum minimal-music-Effect repetierte Silben, Laute usw.« Michael Erdmann,

»Am Ende ein Wilson-Solo«, in: Theater heute (8/1981), S. 12.

17 Ebd., S. 49f.

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IM HÖRRAUM VOR DER SCHAUBÜHNE | 19

Akustische Atmosphären In Hans Peter Kuhns installativen Arbeiten, ob mit Licht oder Klang, finden

sich in den folgenden Jahrzehnten möglicherweise Fortführungen dieser

frühen Zusammenarbeiten mit Theatermachern. Die Gestaltung eines

dezentralisierten, atmosphärisch aufgeladenen Raumes wie in seiner Licht-

und Klanginstallation undefined landscape 218 kann als Fortsetzung und

Erweiterung der akustischen Gestaltung in Geräuschtexturen und Atmo-

sphären eines sich dem herkömmlichen Zeitverlauf widersetzenden Bild-

theaters von Robert Wilson gelesen werden. Kuhn gestaltete mit undefined landscape 2 den großen Saal eines alten Ballhauses in Berlin. Dabei betonte

er Vorgefundenes, wie die merkwürdig grüne Stirnwand, indem er einen

großen gelben Teppich davor legte, auf den die Besucher ohne Schuhe

treten durften. Auf dieser warm strahlenden ›Sonnenfläche‹ standen 19

Lautsprecherkonusse, die von Schreibtischlampen angeleuchtet wurden,

und auf der Raumempore waren weitere Lautsprecher ohne Boxen ange-

bracht, deren Ausrichtung zur Saaldecke die diffuse Schallabstrahlung ver-

stärkte. Kuhn verwandte keine direkte Klangabstrahlung, sondern erzeugte

eine ›undefinierte Landschaft‹ aus teils unverständlichen Sprachfetzen,

Verkehrsrauschen, hin und wieder niederflatternden Vögeln und einem fer-

nen Hauch von Musik. Auch aus den Lautsprechern auf dem Teppich, an

die man sein Ohr legen konnte, erklangen entfernte Geräusche und kurze

bewegte Klangmuster, die hin und wieder über den Boden huschten. Viele

Besucherinnen legten sich tatsächlich in diese Klanglandschaft, um – zwi-

schen den Licht- und Lautsprecherobjekten – zuzuhören. Kuhn setzte also

die atmosphärische Klang- und Lichtgestaltung von Wilsons und seinen

18 Hans Peter Kuhn, undefined landscape 2, im Rahmen des Festivals Inventionen,

im Juli 2008 in der Villa Elisabeth, Berlin. Eine frühere Version, undefined landscape (2007) wurde im Tokushima Modern Art Museum installiert, siehe:

Hans Peter Kuhn, Frozen Heat [Katalog zur Ausstellung 27.1.–11.3.2007], hg.

von The Tokushima Modern Art Museum, 2007. Siehe außerdem Bericht: Julia

H. Schröder, »Inventionen 2008 – Berliner Festival für elektroakustische Mu-

sik«, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik 77 (2008), S. 56–57. Vgl. die

Dokumentation zur Licht-Klang-Installation: Hans Peter Kuhn, Landschaft (2001) in der Singuhr, im Katalog: Carsten Seiffarth, Markus Steffens (Hg.),

Singuhr – Hoergalerie in Parochial. Sound Art in Berlin. 1996 bis 2006, Hei-

delberg: Kehrer, 2010, S. 90f. sowie Audiotrack 38.

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früheren Theaterarbeiten fort, dehnte sie aber ins Räumliche aus. Wenn in

den achtziger Jahren das Publikum zwar im ›Hörraum‹ aber vor der Bühne

saß, konnten sie sich dreißig Jahre später als Einzelne frei durch Kuhns

Installation bewegen. Die Aktion war nun von den Schauspielenden ganz

auf die Rezipienten übergegangen.

Es mag sogar gewinnbringend sein, aus diesen späteren Arbeiten Kuhns

die neuartigen Aspekte in seiner Theaterarbeit mit Wilson zurückzuschlie-

ßen. Wilsons Theaterarbeit bringt ausgedehnte Tableaux auf die Bühne, die

jeweils von einer sich langsam verändernden Lichtstimmung dominiert

werden. Ergänzend gibt es auch eine akustische Atmosphäre, die ebenso

wie das Licht komponiert ist, aber nicht in allen Fällen eine musikalische

Komposition im engeren Sinne sein muss. Für ›akustische Atmosphären‹

wird auch der Begriff Sonosphäre verwendet,19 vielleicht in Anklang an

Finters »sonore Räume«. Gedacht ist eine Klanglandschaft, eine Sound-

scape.

»Text, Stimme und Geräusch verschmelzen in der Idee einer Klanglandschaft […].

Berühmt ist die naturalistische Version akustischer Landschaften in den Čechov-

Inszenierungen Stanislavskijs, der mit ausgefeilten Klangkulissen (Geräusche von

Grillen, Fröschen, Vögeln usw.) die Realität des abgegrenzten Fiktionsraums durch

eine ›auditive‹ Bühne verstärkte – und sich damit eine sarkastische Kritik des Autors

einhandelte. Roubine20

prägte die Begriffe ›paysage auditive‹ und ›paysage sonore‹,

auditive Landschaft und Klanglandschaft.

[…] Demgegenüber bildet die postdramatische ›Audio Landscape‹, von der Robert

Wilson spricht, keine Realität ab, sondern stellt einen Assoziationsraum im Be-

wusstsein der Zuschauer her. Die ›auditive Bühne‹ um das Theaterbild herum öffnet

nach allen Seiten ›intertextuelle‹ Verweise oder ergänzt das szenische Material

19 Siehe: Vito Pinto, Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stim-

me in Theater, Hörspiel und Film, Bielefeld: Transcript, 2012, Kapitel 1.2,

S. 38–44. Ich danke Martina Fuchs für den Hinweis auf Pintos Forschung.

Außerdem sei verwiesen auf: Jenny Schrödl, Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik

der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld: Transcript, 2012.

20 Jean Jacques Roubine, Théâtre et mise en scène 1880–1980, Paris 1980, S. 166

und 168.

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IM HÖRRAUM VOR DER SCHAUBÜHNE | 21

durch musikalische Klang- oder ›konkrete‹ Geräuschmotive.«21

(Hans-Thies

Lehmann, 1999)

Hans Peter Kuhn erinnert sich, dass in Death Destruction and Detroit I

kaum eine Minute ohne Ton vorkam. Darin zeigt sich eine Parallele zum

Tonfilm, in dem die durchgehenden Hintergrundgeräusche für jeden Raum

und Filmort als »Atmo« konstruiert werden. Genau dieses Herstellen von

Atmosphären, wie es auch im Filmton, im Sounddesign gemacht wird, ist

das Charakteristische an Wilsons Arbeit: Aus den verschiedenen Inszenie-

rungsteilen, aus dem Licht, dem Ton, dem Bühnenbild und der Anordnung

der Schauspieler im Bühnenraum, werden atmosphärisch dichte Räume

konstruiert. Der hörbare Teil, die Klanglandschaften, sind durch Hans Peter

Kuhn konstruiert und zusammengesetzt. Sie sind nicht naturalistisch, son-

dern in ihren Einzelteilen, also den separierbaren Klängen, erkennbar.

Klangarchiv In den erhaltenen Video-Dokumentationen von Wilsons Theaterstücken, zu

denen Kuhn den Ton beigesteuert hat, kann man bestimmte Klänge immer

wieder finden. Es gibt eine Reihe von vielleicht 15 Samples, die wiederholt

vorkommen, zum Beispiel ein Hundebellen, Glocken und ein analoges

Telefonklingeln. Durch seine Arbeit mit wiederkehrenden Samples aus sei-

nem Klangarchiv entsteht ein Wiedererkennungseffekt. Inzwischen höre ich

die Klänge auch in anderen Kompositionen von Kuhn und erkenne sie

dadurch als Kuhns Komposition. Die Arbeit mit bestimmten Samples wird

zu einer Art musikalischen Personalsprache. Es könnte sich auf diese Weise

in Kuhns Zusammenarbeit mit Wilson eine bestimmte ›Sprache‹ und

auditive Wiedererkennbarkeit ausgeprägt haben. Sogar eine Parallele zu

Wilsons Selbstreferenzialität mag man feststellen. In den ikonischen

Bildern Wilsons, die er immer wieder selbst zitiert, kann man eine Analo-

gie zu den Klangikonen Kuhns finden. Ich spreche von »Klangikonen«,

weil die Samples tatsächlich separiert, als Einzelklang in der Komposition

erkennbar bleiben. Dadurch sind sie den sparsam eingesetzten Bühnen-

requisiten Wilsons vergleichbar. Wilsons übergroße Glühbirne könnte mit

Kuhns Telefonklingeln verglichen werden. Gerade in den Arbeiten der

21 Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, 2008, S. 273 (siehe Fn. 14).

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siebziger bis neunziger Jahre unterscheidet das Kuhns Sound-Environments

von Sounddesigns, die eine Verschmelzung der einzeln zusammengesetzten

Klänge anstreben. Auch Kuhns Kompositionen fügen sich zusammen, doch

ohne ein Ideal von Naturalismus.

Hans Peter Kuhn arbeitete mit einem Klangarchiv, einer Sammlung von

Tonaufnahmen, die Standardklänge für die Arbeit als Sounddesigner eben-

so umfasste wie außergewöhnliche Geräusche. Die meisten dieser Klänge

vom Telefonklingeln bis zu verschiedenen ›Rauschen‹ hat Kuhn selbst

aufgenommen. Sein Archiv bestand aus etwa 3000 Klängen. Trotz dieses

Umfangs zeichnen sich einige davon durch Wiedererkennbarkeit aus und

werden auch in den wenigen zeitgenössischen Berichten, die auf den Ton

eingehen, genannt. Helga Finter hebt in ihrer Analyse von The Man in

the Raincoat einige sich wiederholende, das Stück strukturierende Klänge

hervor:

»Das Ganze mit einem wie von einem Echo wiederholten wait wait … durchzogen,

basso continuo zum ansteigenden Miauen, dem Telephonklingeln und Wilsons

multiplizierte Stimmen […]. Dabei verstärkt sich das Geräusch eines Brummens,

das Flüstern der Worte 69, das Miauen und das Telephonklingeln«.22

(Helga Finter,

1982)

Dieses Telefonklingeln findet sich ebenfalls in anderen Theaterstücken,

in Tonbandkompositionen, wie Completely Birdland,23 das als Musik für

ein Tanzstück entstand, und in Kompositionen für Ausstellungen oder

Installationen gemeinsam mit Wilson, die mit selbstreferenziellen Bild- und

Musikzitaten spielen. Ein Beispiel ist Memory/Loss (1993),24 eine In-

stallation für die Biennale in Venedig, in deren »Soundtrack« – eine Kom-

position von Kuhn – Wilsons Stimme, das Telefonklingeln, das entfernte

22 Finter, »Die soufflierte Stimme«, in: Theater heute (1/1982), S. 50f. (siehe

Fn. 16).

23 Hans Peter Kuhn, Completely Birdland, Tanzstück für Laurie Booth und Ram-

bert Dance Company (1991), veröffentlicht auf der CD zum Katalog: Hans Peter

Kuhn, hg. vom Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1992.

24 Hans Peter Kuhn, Memory/Loss (1993), veröffentlicht auf der CD zum Katalog:

Hans Peter Kuhn, Licht und Klang / Light and Sound, Heidelberg: Kehrer, 2000,

2004.

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IM HÖRRAUM VOR DER SCHAUBÜHNE | 23

Hundegebell, Störgeräusche, Gewitter, Tropfen und eine Streichermelodie

in verschiedenen Entfernungen eine »Klanglandschaft« mit räumlicher

Tiefenwirkung konstruieren, die aus ähnlichen Elementen wie die Musik

für das Tanzstück gebaut ist. Für eine andere retrospektive Installation, Wil-

son’s Vision, schuf Kuhn mit dem Klangmaterial – also mit Schauspieler-

stimmen (Textrezitation und andere Artikulationen wie Lachen), mit

Klangsamples wie dem Hundebellen und mit Musik aus seinen Theater-

sound-Arbeiten für Wilson – Kompositionen, die in den unterschiedlichen

Ausstellungsräumen gespielt wurden. In der Dokumentation listet er dabei

die verwendeten Klänge und ihre Herkunft aus den Theaterstücken auf,

beispielsweise folgendermaßen für den vierten Raum:

»4. Room III 15'37'' Melody ›Machinery‹ the CIVIL warS, Cologne

Man whistling King Lear, Frankfurt

Ringing telephone Death Destruction and Detroit I, Berlin

Boatswain whistle King Lear, Frankfurt

Dog barking Alcestis, Cambridge (Massachusetts)

Altered cymbal sound Orlando, Berlin

Text (Marianne Hoppe) King Lear, Frankfurt«25

(Hans Peter Kuhn, 1990)

Demnach stammt das Telefonklingeln aus Death Destruction & Detroit I

und das Hundebellen aus Alcestis. Sie sind hier aber Teil einer Kompo-

sition, die ganz ähnlich wie die beiden vorher besprochenen Stücke kon-

struiert ist.

Dieses Archiv von Klangsamples ermöglichte Kuhn, in der Probenpha-

se mit Wilson, in der die Stücke entwickelt wurden, verschiedene Klänge

anzubieten oder auszuprobieren. Wilson legte meist Bühnenbild und

Choreografie fest, indem er sich auf Bildmaterial stützte, und entwickelte

Text und Szene mit und an den Schauspielern.

25 Hans Peter Kuhn, The Night Before the Day (1990), veröffentlicht auf der CD

zum Katalog: Trevor Fairbrother (Hg.), Robert Wilson’s Vision. An exhibition of

works by Robert Wilson with a sound environment by Hans Peter Kuhn, hg.

vom Museum of Fine Arts, Boston, New York: Harry N. Abrams, 1991, S. 143.

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Über die Zusammenarbeit Vielen seiner Theaterstücke gab Wilson selbst eine musikalische Gattungs-

bezeichnung, so ist auch The CIVIL warS als »Opera« kategorisiert.26 Dar-

aus könnte man den Trugschluss ziehen, Wilson zielte auf eine Integration

der Aufführungsteile im Sinne der Inszenierung einer Opernpartitur – was

durchaus für seinen späteren Opernregie-Arbeiten gilt – oder sogar im

Sinne des Wagnerschen Gesamtkunstwerks, nach dem ein Autor alle Ele-

mente autorisiert. Dem ist aber nicht so, wenn man die Theaterarbeiten

betrachtet. Wilson betont dafür die Unabhängigkeit von der Erarbeitung der

Bild- und Klangebene. Er sieht sich hier eventuell in der Tradition von John

Cage, in dessen künstlerischen Projekten mit mehreren Kunstformen alle

Teile unabhängig voneinander erarbeitet werden sollten. Kuhn bestätigt

dieses autonome Vorgehen in ihrer Zusammenarbeit, das Wilson folgen-

dermaßen beschreibt:

»We [Kuhn and Wilson] generally agree on a structure, 1st something abstract that is

coded in numbers and then we work separately. […] It is always very curious how

the world I have imagined and created can be turned upside down by the added in-

dependent element of Kuhn’s world. I like this very much because often what I have

done takes on a completely different meaning and when it works best these inde-

pendent stratified layers reinforce each other creating something that can only be

experienced by the spectator.«27

(Robert Wilson, 2000)

26 Im Programmheft zur Uraufführung des Kölner Teils: »der deutsche Teil von

The CIVIL WarS: A Tree Is Best Measured When It Is Down, opera von Robert

Wilson, Mitarbeit: Heiner Müller, Musik: Philip Glass, elektronische Komposi-

tionen: von Hans Peter Kuhn, Schauspiel Köln« (Uraufführung am 19.1.1984),

hg. von Schauspiel Köln, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984.

27 Robert Wilson (2000), in: Kuhn, Licht und Klang, 2000, 2004, S. 30f. Inter-

punktion ergänzt (siehe Fn. 24). [Wir, also Kuhn und Wilson, einigen uns nor-

malerweise auf eine Struktur, erstmal auf etwas Abstraktes, das in Nummern

kodiert ist, und dann arbeiten wir jeder für sich. (…) Es ist immer merkwürdig,

wie sich die Welt, die ich mir ausgedacht und dann geschaffen habe, vollkom-

men auf den Kopf gestellt werden kann durch das unabhängige Element aus

Kuhns Welt. Das gefällt mir sehr, weil meine Arbeit damit eine völlig andere

Bedeutung bekommen kann. Am Besten ist es, wenn diese voneinander unab-

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Ebenso äußert sich Kuhn über die Zusammenarbeit mit Wilson:

»We developed, relatively early [in our 18 years of collaboration] a way of collabo-

rating that depends on the concept of two separate worlds, one is the visual and one

is the aural world, and we both worked pretty much independent of each other. By

that [I mean that] the music is not illustrative with the piece but rather parallel to the

other parts of the piece.«28

(Hans Peter Kuhn, 1995)

Vielleicht führt diese Unabhängigkeit dazu, dass Kuhn in seinen Sprach-

kompositionen ganz ähnliche Verfahren anwandte wie Wilson: Montage

und Dekonstruktion zeichnen auch Wilsons Textbehandlung aus und finden

sich optisch in den typographischen Gedichten des autistischen Dichters

Christopher Knowles, der an vielen zentralen Theaterstücken von Wilson

beteiligt war.29 Auch dass Wilson als junger Mann stotterte, wird in diesem

Kontext oft betont. Die Wahl von Gertrude-Stein-Texten als Libretto zu

den gemeinsamen Operetten-Projekten Wilsons und Kuhns, Doctor Faustus

Lights the Lights (1992) und Saints and Singing (1997), ist vor dem Hinter-

grund der Sprachdekomposition durch Wiederholung und Fragmentierung

hängigen Schichten einander verstärken und dadurch etwas herstellen, das nur

vom Betrachter wahrgenommen werden kann.]

28 Hans Peter Kuhn in: Robert Wilson & Hans Peter Kuhn, H.G. (Regie: Mike

Figgis) 1995 [DVD Artangel 2006, ca. 0:03]. Transkribiert von JHS. [Wir haben

relativ früh (in unserer 18 Jahre langen Kooperation) eine Form der Zusam-

menarbeit entwickelt, die auf dem Konzept der zwei separaten Welten basiert:

eine ist die visuelle Welt, die andere die auditive Welt, und wir arbeiten ziemlich

unabhängig voneinander jeder in der seinen. Damit meine ich, dass die Musik

niemals illustrativ für das Theaterstück ist, sondern eher parallel zu den ande-

ren Teilen der Inszenierung läuft.]

29 Auf die Bedeutung von Knowles’ Sprachcollage, mittels Kassettenrecorder her-

gestellt, Emily likes the TV aus The Life and Times of Joseph Stalin (1973),

weist auch Nikolaus Müller-Schöll hin, der auch das Hören als Ausgangspunkt

für Wilsons Arbeiten betont: Nikolaus Müller-Schöll, »Polyphonie und Aphonie

bei Heiner Goebbels und Robert Wilson«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.),

Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Gunter

Narr, 2002, S. 93–107, 99.

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unmittelbar einleuchtend, da es sich um ein Verfahren handelt, mit dem

Gertrude Stein selbst ebenfalls arbeitete.

In Kuhns experimentellen Sprachkompositionen wie Experience

(Stimme: Wolfgang Rennert, 1983)30 wird ein Wort, hier »Experience« von

einer Männerstimme gesprochen, zum Material der Komposition, es wird

fragmentiert, wiederholt und am Ende sogar rückwärts abgespielt. Ganz

ähnlich spricht in He Whom He Praises (Stimme: Sheryl Sutton, 1982)31

eine Frauenstimme ein Satzfragment aus Wilsons CIVIL warS, das montiert

wird. Die Montage erwirkt ein artifzielles »Stottern« und in der Fragmen-

tierung von Lauten bewirkt sie auch die Entsemantisierung der Wortäuße-

rung. Ganz geht der Sinn jedoch nie verloren, es bleibt ein Spiel zwischen

Wortbedeutung und musikalisierter Artikulation.

Als innovativ hervorzuheben sind also Kuhns räumliche Klangarbeiten für

Wilsons Theaterstücke, die zum einen die Sprachdekonstruktion auch

räumlich erfahrbar machen, indem die Sprechstimmenlokalisation von der

Schauspielerin getrennt wird, und die zum anderen das Publikum in einen

klanglichen Erfahrungsraum holt, der die Erfahrung von installativen Ar-

beiten Kuhns vorweg nimmt, in denen das Publikum sich frei bewegen

darf.

Die Raumexperimente an der Schaubühne am Halleschen Ufer in den

siebziger Jahren, bei denen die Spielfläche und der Zuschauerraum in je-

weils neue Beziehungen gesetzt wurden beziehungsweise versucht wurde

beide aufzulösen,32 hatten sicherlich eine Auswirkung auf die tontechnische

Arbeit von Hans Peter Kuhn, der das Auditorium ja auch mit Klang füllte,

statt ihn nur vor dem Zuschauerraum auf der Bühne zu verorten.

30 Hans Peter Kuhn, Experience, Stimme: Wolfgang Rennert (1983), veröffentlicht

auf der CD zum Katalog: Hans Peter Kuhn, hg. vom Künstlerhaus Bethanien,

Berlin 1992.

31 Ebd.

32 Siehe u. a., »Die Schaubühne am Halleschen Ufer«, in: Bühnentechnische Rund-schau, Sonderheft »Offene Spielräume. Aufbrechen traditioneller Theaterfor-

men in der Bundesrepublik seit 1945« (1983), S. 29–30.

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THÉÂTRE SONORE – »HOW MIGHT WE SONOROUSLY

FURNISH THE THEATRICAL SPACE?« (LEIGH LANDY) Leigh Landy (*1951) ist Komponist und Musikwissenschaftler mit einem

Schwerpunkt auf elektroakustischer Musik.33 Er lernte Heiner Müller 1979

oder 1980 kennen, vertonte in Folge Texte von Müller (Müller-Lieder, Ur-

aufführung durch Roswitha Trexler, München 1982), war Müller freund-

schaftlich verbunden und komponierte schließlich zu drei Inszenierungen

von Müller-Stücken die Bühnenmusik.

Heiner-Müller-Stücke mit Leigh Landy

Bildbeschreibung (Regie: Ginka Tscholakova, Steirischer Herbst, Thea-

ter Graz, 1985), Quartett (Regie: Dimiter Gotscheff, Köln, 1986),

Philoktet (Regie: Dimiter Gotscheff, Basel, 1987).

Kompositionen von Leigh Landy auf Heiner-Müller-Texte

B für Frauenstimme und 3-Spur-Tonband (1986) verwendet Textfrag-

mente aus Müllers Bildbeschreibung. Eine der Sprechstimmen auf dem

Tonband ist eine Aufnahme von Heiner Müller.

No Water Music mit einem Originaltextbeitrag von Müller, (radiophon

oder 2-Spur-Band und männliche Sprechstimme, 1983).

Musik in dramaturgischer Funktion

In einem als Entwurf erhaltenen Programmbuchbeitrag von 1987 widmet

sich Landy vielen für diesen Band relevanten Themen. In dem Text »›Spar

deinem Schiff die unbequeme Fracht. Den Mißlaut meiner Schmerzen dei-

nem Ohr.‹ – A composer’s work with Philoktet«. entwickelt Landy poeti-

sche und ästhetische Überlegungen zu einer zeitgemäßen Theatermusik.

33 Siehe: Martin Supper, Eintrag: »Landy, Leigh« in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. von Ludwig Finscher,

zweite, neubearbeitete Ausgabe, Supplement, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/

Metzler, 2008, Spalten 457–459. S. a.: http://www.mti.dmu.ac.uk/~llandy/

perfs.html.

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Die Musik solle eine dramaturgische Funktion im Theaterstück überneh-

men können.

»My interest […] is not that of an opera composer, nor that of a ›theatre composer‹,

[…] but instead that of a music dramaturge, someone who attempts to integrate

music as one of the Hauptrollen-Spieler of a given dramatic performance.«34

(Leigh

Landy, 1987)

[Mein Interesse ist es weder als Opernkomponist noch als Theatermusik-Komponist

zu arbeiten, sondern als Musik-Dramaturg, als jemand, der versucht, Musik als eine

der Protagonistinnen in eine szenische Aufführung zu integrieren.]35

Neben der Frage nach den Umsetzungsmöglichkeiten von Musik als drama-

turgischem Bestandteil einer Theaterinszenierung wäre noch zu erörtern, ob

dieses Konzept in abstrahierter Form auch in der ›akustischen Szene‹ in

einigen Richtungen elektroakustischer Musik eine Parallele hat.36

Tatsächlich findet sich Musik als ›dramaturgischer Gegenstand‹ ge-

dacht unmittelbar nach der Niederschrift dieser Überlegungen durch Landy,

die er Müller zur Verfügung stellte.37 Auf einer Skizzenseite von Heiner

Müller, die wahrscheinlich aus dem Kontext seiner eigenen Inszenierung

seines Theaterstücks Der Lohndrücker 1988 am Deutschen Theater in Ber-

lin stammt,38 sind »japanische Musik laut« und »amerikanischer Schlager –

34 Leigh Landy, »›Spar deinem Schiff die unbequeme Fracht. Den Mißlaut meiner

Schmerzen deinem Ohr.‹ – A composer’s work with Philoktet« (Amsterdam,

Basel 2/87), als Text [Typoskript] im Heiner-Müller-Archiv-Nr.: 7775 der

Akademie der Künste Berlin. Das redigierte Original ist in diesem Band wahr-

scheinlich zum ersten Mal vollständig veröffentlicht.

35 Übersetzung der Auszüge von JHS.

36 Landys theoretische Schriften könnten hier als Vergleichsmaterial herangezogen

werden, z. B.: Leigh Landy, Understanding the Art of Sound Organization,

Cambridge, London: MIT Press, 2007.

37 Die einzige Typoskript-Kopie von Landys Text ist in Müllers Nachlass erhalten

(siehe Fn. 34).

38 Skizzenblatt von Heiner Müller aus dem Heiner Müller Nachlass in der Akade-

mie der Künste Berlin: SAdK 3496, reproduziert und transkribiert in: Hans-

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underground (fast unverständlich)« als polare Gegensätze notiert. Interes-

santerweise ist der lauten japanischen Musik in Klammern »(dog civil-

wars)« hinzugefügt, also ein Verweis auf Wilsons Theaterprojekt The

CIVIL warS: A Tree Is Best Measured When It Is Down, an dessen deut-

schem Teil 1984 Müller mitgearbeitet hatte. Die Sprachmischung aus

deutsch und englisch sowie der Hinweis auf Wilsons Theaterstück lassen

tatsächlich den Schluss zu, dass sich Müller hier von Wilsons Arbeitsweise,

die eben auch Klang einbezieht, inspiriert zeigt. Müller könnte mit dem

Gedanken gespielt haben, Musik als Inszenierungsbestandteil oder sogar als

dramaturgisches Mittel zu verwenden, so meine Interpretation. Mit dem

»Hund« aus den CIVIL warS mag sogar der einprägsame akustische Hund,

der durch ein fernes Gebell evoziert wird, aus Hans Peter Kuhns Klang-

archiv gemeint sein, der wiederholt in Wilsons Stücken zu hören war. Doch

sind das Spekulationen über spätere Entwicklungen von Müllers Denken

über Klang im Theater.

Vor diesem Zeitpunkt verhielt sich Müller dem Einsatz von Musik und

Geräuschen im Theater gegenüber eher gleichgültig. Heiner Müller, so

Landy in seinem Text von 1987 weiter, lasse den Komponisten Freiheit, da

er keine spezifischen Anweisungen an Komponist oder Sounddesigner

gebe. Er habe nur einmal eine Abneigung zu akustischer Verdopplung des

Texts geäußert.39 Für Landy ist Theater eine audio-visuelle Kunstform,

deren Möglichkeiten 1987 noch nicht zu Ende gedacht waren.

»How might we sonorously furnish the theatrical space? Those acquainted with im-

portant advances in recent experimental music, are aware of the evolution of music

which earlier consisted of notes and now includes all sounds, as well as the libera-

tion of the dimension of spaciality in music (in terms of stereo and quadrophonic re-

cordings, of spatially placed musicians and loudspeakers in live performance).«40

(Leigh Landy, 1987)

Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hg.), Heiner Müller Handbuch. Leben –

Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2003.

39 Landy: »(He told me in a typical late-night nihilistic mood that the true theatre

composer was he who does not let the bells toll when the text calls for them.)«,

Leigh Landy, »A composer’s work with Philoktet«, 1987, S. 2 (siehe Fn. 34).

40 Ebd., S. 3.

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[Wie könnte man den Theaterraum klanglich ausstatten? Diejenigen, welche mit den

bedeutenden Fortschritten der gegenwärtigen experimentellen Musik bekannt sind,

wissen um die Evolution der Musik, die sich vordem aus Noten zusammensetzte und

gegenwärtig alle Klänge und Geräusche umfasst, ebenso wie die Befreiung der

räumlichen Dimension in der Musik (hinsichtlich stereophoner und quadrophoner

Aufnahmen sowie räumlich verteilten Musikern und Lautsprechern in Live-

Aufführungen).]

Die Frage nach der klanglichen Ausstattung des Theaterraums beantwortet

Landy 1987 mit dem Hinweis auf die räumlichen Möglichkeiten der für

Lautsprecherwiedergabe komponierten Tonbandmusik, sowie auf die an

verschiedenen Punkten des Aufführungs- und Zuschauerraums positionier-

ten Musikern. Spatialisiert werden soll dann eine Komposition aus erwei-

tertem musikalischen Material, das auch Geräusche einschließt. So ging er

in der akustischen Gestaltung der Philoktet-Inszenierung (1987)41 vor:

»As sound is temporal, special care was taken in the choice of continuous elements

which must harmonize with the activities of the actors, and shorter, discrete

elements which ›interrupt‹ the time continuity.

Another form of interruption was choreographed with Gotscheff [the director],

namely the points when the Müller text is interrupted or repeated. […]. The chosen

melody that is sung and whistled from time to time exemplifies such an interruption

(a Swiss soldier’s tune) fulfilling Müller’s desire that allusions be made to the

›Krieg[s]geschichte, vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg‹. Finally a good

deal of time was spent at rehearsals focusing on the development of the vocal

timbres unique to Müller’s Lemnos.«42 (Leigh Landy, 1987)

[Da Klang zeitlich ist, wurde besonderen Wert auf die Wahl kontinuierlicher Ele-

mente gelegt, die mit den Aktionen der Schauspieler in Einklang gebracht werden

müssen, sowie kürzere, vereinzelte Elemente, die diese zeitliche Kontinuität unter-

brechen. […] Eine Melodie, die hin und wieder gesungen und gepfiffen wird (ein

Schweizer Soldatenlied), ist ein Beispiel für solch eine Unterbrechung, die Müllers

Wunsch erfüllt, es mögen Anspielungen an die »Kriegsgeschichte, vom Trojanischen

41 Philoktet von Heiner Müller, Regie: Dimiter Gotscheff, Theater Basel (Urauf-

führung am 20.3.1987). Siehe dazu außerdem Landys Beitrag in diesem Band.

42 Leigh Landy, »A composer’s work with Philoktet«, 1987, S. 5f. (siehe Fn. 34).

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bis zum Japanischen Krieg« gemacht werden. Schließlich wurde viel Probenzeit darauf verwendet, die Entwicklung der vokalen Klangfarben in den Blick zu nehmen, die für Müllers Lemnos einzigartig sind.]

Heiner Müllers Theaterstück Philoktet ist ein Drei-Personen-Drama, das an

den antiken Stoff angelehnt ist und sich auch in der Reimform am klassi-

schen Drama orientiert. Statt der von Müller geforderten Bildzitate von

Kriegsszenen setzte Landy gepfiffene Kriegslieder ein, über deren Text, der

beim Pfeifen allerdings nicht artikuliert wird, ›Krieg‹ als Motiv referenziert

wird. Hinzu kam eine Geräuschkomposition aus Tonaufnahmen, die im

Theatergebäude gemacht wurden. Sie wurde über Lautsprecher, die unter

der Decke des Zuschauerraums angebracht waren, wiedergeben und ›regne-

te‹ gleichsam auf die Hörenden herab. Offenbar war diese collageartige

Komposition nicht nur als Fläche konzipiert, sondern auch von hervor-

tretenden akustischen Ereignissen durchsetzt, die Akzente setzten. Das

Klangmaterial kam von Neonröhren, die beim Warmwerden leise Klick-

Geräusche machen, und von Fahrstuhlgeräuschen. Aus diesen Aufnahmen

komponierte Landy ein Stück, das meines Verständnisses während der Text

gesprochen wurde das Bühnengeschehen begleitend zu hören war. Diese

Informationen sind einzig auf die Erinnerungen des Komponisten als Zeit-

zeugen zurückzuführen.43

Denn aufgrund der fehlenden – oder bislang noch nicht aufgefundenen

– Video-Dokumentationen der betreffenden Aufführungen müssen andere

Quellen herangezogen werden. Das kann Aufführungsmaterial und andere

Dokumente aus Archiven sein, wie der zeitgenössische Text, der in Heiner

Müllers Nachlass entdeckt wurde, und Zeitzeugen, wie die Komponisten,

können befragt werden. Zu Philoktet, erinnert sich Landy beispielsweise,

habe er hauptsächlich field recordings herangezogen, also Umwelt-

Tonaufnahmen, die er im Theatergebäude gemacht hatte, und so das gesam-

te Basler Theater gleichsam klanglich auf die Bühne geholt. Drittens sind

zeitgenössische Theaterkritiken heranzuziehen. Erstaunlicherweise wird

darin in den seltensten Fällen auf die Bühnenmusik eingegangen. Eine

Ausnahme stellt folgender Bericht über Ginka Tscholakowas Inszenierung

von Heiner Müllers Bildbeschreibung dar, der sich allerdings auf zwei

beschreibende Wörter beschränkt:

43 Siehe Leigh Landys Beitrag in diesem Band.

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»Zum Takt eines Metronoms, der minimalistischen Musik von [Leigh] Landy, voll-

führen die Figuren kleine Schritte, langsame Bewegungen, bis an den Rand des

feinmaschigen Netzes, mit dem Spielfläche und Zuschauerraum voneinander abge-

teilt sind.«44 (Frankfurter Rundschau, 1985)

Tonbandstimmen

Bildbeschreibung ist ein Prosatext von Heiner Müller, der zum Zeitpunkt

seiner Erstinszenierung wohl in keiner Weise als Theaterstück darstellbar

erschien. 1985 hat Ginka Tscholakowa ihn dennoch inszeniert.45 Dabei

ordnete sie die Schauspieler in verschiedenen Tableaux an, als Einzelne, die

im Text beschriebene Situationen darstellten, sowie in einem Chor. Im ers-

ten Teil wurde der gesamte Text, von Heiner Müller ohne Betonungen auf

Tonband eingesprochen, über Lautsprecher wiedergegeben. Aus diesem

Material schöpfte Landy dann wahrscheinlich für seine Tonbandkompositi-

on B. Im zweiten Teil der Bühnenfassung von Tscholakowa wurde der Text

von den Schauspielern auf der Bühne gesprochen, dekonstruiert und neu

geschaffen. Im dritten Teil tanzten die Schauspieler zu zweit Menuett, dazu

wurden Texte aus anderen Müller-Stücken deklamiert. Die Schauspieler

wurden nacheinander »eliminiert« und zum Schluss explodierte der Kubus,

in dem alles spielte.46

Eine Explosion ist auch in Landys Komposition B zu hören, die er mit

Stimmmaterial von Heiner Müller nach dem Text Bildbeschreibung kom-

44 Paul Kruntorad, »Ins Leere getroffen. Heiner Müllers Bildbeschreibung uraufge-

führt«, in: Frankfurter Rundschau (11.10.1985).

45 Bildbeschreibung von Heiner Müller, Regie: Ginka Tscholakowa, Musik: Leigh

Landy, Steirischer Herbst, Theater Graz (Uraufführung am 6.10.1985). Eine Be-

schreibung in: Ginka Tscholakowa, »›Ein Schlüssel, der mit den Flügeln

schlägt‹. Bericht zur Uraufführung von Bildbeschreibung beim steirischen

herbst 1985 in Graz mit Schauspielern des Grazer Theaters«, in: Ulrike Haß

(Hg.), Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung (Theater der Zeit:

Recherchen 29), 2005, S. 33–36.

46 Das erinnert an Müllers eigene Inszenierung von Quartett am Berliner Ensemble

1994. Dort wurde ein Lied von Schubert und am Ende die Todesarie aus Pucci-

nis Tosca eingespielt – man vermutet den Musikeinsatz als dramaturgisches

Mittel –, bevor der Bühnenraum einstürzte.

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ponierte. »Wie um zu verhindern, daß er zusammenbricht«, wird von ver-

schiedenen Stimmen unisono gesprochen, worauf ein Explosionsgeräusch

folgt. Auf Nachfrage erinnerte sich Landy, für den Tonbandpart neues

Material verwendet zu haben, also nicht auf Klangmaterial aus der Theater-

inszenierung zurückgegriffen zu haben. Allerdings könnte es durchaus

ähnliche Elemente in der Komposition wie für den Theatersound gegeben

haben. In der erhaltenen Komposition ist ein drone, ein durchgehender

Liegeklang, zu hören, wie er in einer so abstrakten Inszenierung gut akusti-

schen Zusammenhalt schaffen könnte. Der Text läuft linear aber fragmen-

tiert in verschiedenen Stimmen ab; einige sind aufgezeichnet, ein Part wird

von einem Performer live aufgeführt. Die Stimmbehandlung reicht von

verschiedenen Sprechweisen, wie Flüstern, Sprechen, auf verschiedenen

relativen Tonhöhen Sprechen, bis zum Summen beziehungsweise bis zum

Artikulieren von Konsonantengeräuschen. Die geräuschhaften Sprachklän-

ge wie Frikative werden also als musikalisches Material einer Geräusch-

komposition verwendet. Andere Elemente sind ausgehaltene Klänge, auch

rhythmisierte, wie wiederholte und resonierende Glockenklänge, drones,

welche die Sprachfetzen zusammenhalten, die montiert sind, als Fragmente

wiederholt, entweder über Tonbandschnitt oder vom Performer gesprochen.

Der anschwellende Liegeklang endet vor dem letzten, wiederholten Wort

»Ich«. Landy hat – diesem letzten Wort zufolge, das nicht das letzte Text-

wort ist, – eine Auswahl aus dem Müller-Text getroffen, nicht den voll-

ständigen Text vertont, wie auch die Regisseurin der ersten Theaterfassung,

Ginka Tscholakowa, die Szenen aus dem Text herausgeschält hatte, die sie

dann darstellen ließ, wie das Wort »Tanzschritt«, das zu einer Menuett-

szene wurde.

»Klangorganisation« Im Programmheft zu Dimiter Gotscheffs Quartett-Inszenierung von 1986

wird angegeben, Leigh Landy sei für »Musik und Klangorganisation« ver-

antwortlich.47 Den Begriff hat Landy selbst für das Programmheft vorge-

schlagen. Es ist eine Übersetzung des englischen organised sound, der

wahrscheinlich vom französischen son organisé herstammt. Edgar Varèse

47 Quartett von Heiner Müller, Regie: Dimiter Gotscheff, Schauspiel Köln (Urauf-

führung am 26.1.1986).

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hatte diesen Begriff für seine mit perkussivem Material und später auch

Tonaufnahmen geschaffene Musik eingeführt und schnell auch Komponis-

ten wie John Cage dafür begeistert. Komponisten wie Landy verwandten

ihn in der Folge offenbar für elektroakustische Musik und Geräuschkom-

positionen.48 Landy erinnert sich, dass er für Quartett hauptsächlich mit

Tonaufnahmen gearbeitet hat, also mit Samples.49 Damit unterscheidet sich

diese Form des Theatersounds grundlegend von einer mit traditionellen

Musikinstrumenten aufgeführten oder eingespielten Musik. Die Grenzen

zum Sounddesign sind dafür fließend. Dadurch konnte der zugespielte

Klang über längere Zeiträume eingesetzt werden, ohne das Schauspiel zu

stören. Aus diesem Grund, vor allem der Sprachverständlichkeit, waren die

herkömmlichen Zwischenmusiken im Theater auf ihre Scharnierposition

reduziert gewesen. Außerdem erlaubt das Zuspiel von aufgenommenen

Klängen, mit deren Referenz zu spielen. Obwohl der »Gründer« der Mu-

sique concrète ab den späten vierziger Jahren, Pierre Schaeffer, von der

Befreiung der Verweisfunktion auf die Herkunft der Tonaufnahme ausging,

nachdem sie als musikalisches Material eingesetzt und manipuliert wurde,

sind doch solche Soundsamples im Theater, wo das Publikum von zu ent-

schlüsselnden Reizen ausgeht, sowohl zeichenhaft als auch entsemantisiert

musikalisches Material.

Heiner Müller und Musik Dieser Band behandelt ebenso wenig die Vertonungen von Heiner Müllers

Texten durch Heiner Goebbels oder Wolfgang Rihm, die sicherlich zu den

Bekanntesten und Interessantesten gehören, wie die Zusammenarbeit von

Philip Glass und Robert Wilson in Einstein on the Beach (1976). Er ver-

sucht vielmehr, der Musik in Theaterinszenierungen der achtziger Jahre auf

die Spur zu kommen. Das erweist sich aus den oben angeführten Gründen,

wie fehlenden Quellen, als problematisch. Dabei zeigte sich Müller durch-

aus interessiert für experimentelle zeitgenössische Musik, deren Experi-

48 Die von Leigh Landy seit 1996 herausgegebene Zeitschrift Organised Sound.

An International Journal of Music and Technology ist elektroakustischer Musik

gewidmet.

49 »Quartett war hauptsächlich Sampleplunder«. Leigh Landy in einer Email an

JHS (7.3.2013).

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IM HÖRRAUM VOR DER SCHAUBÜHNE | 35

mentalcharakter sich eben auch im neuen Einsatz von Musik und in Gat-

tungsgrenzen sprengenden Verbünden zeigte.

Ich vermute, dass für den oft sparsamen Musik-Einsatz in Heiner-

Müller-Inszenierungen auch eine Gattungstradition eine Rolle spielt. In

dem leichten, also komischen Filmgenre Musical oder Musical Comedy

findet die Operette als Nachfolgerin der Opera buffa mit vielen Gesangs-

nummern eine historische Linie. Im ernsten Genre des Dramas und der

Tragödie – das musikalisch angereicherte Melodram ist eine Ausnahme –

verlässt die Musik Film und Theaterinszenierungen weitgehend. Hingegen

gibt es eine Tradition von ernster bis dramatischer Musik, die sich im aus-

gehenden zwanzigsten Jahrhundert jedoch oft der Bühne verweigert, wie

Luigi Nonos »tragedia dell’ascolto« (Hörtragödie), Prometeo aus den acht-

ziger Jahren. Auf szenische Darstellung verzichtet der Komponist Nono

und reduziert die Vermittlung des Tragischen auf die Musik und vertonte

sowie gesprochene Texte. Heiner Müller war in einer Aufführung des

Prometeo einer der zwei Sprecher. Müller und Nono planten ebenfalls in

den achtziger Jahre ein szenisches Konzert, das nie realisiert wurde:

»In unserer letzten Begegnung erwähnte Luigi [Nono] einen Plan für eine spezielle

Komposition für den Kammermusiksaal, die er zusammen mit Heiner Müller entwi-

ckeln wollte. Dabei sollte der Pianist Maurizio Pollini auf dem Flügelaufzug etwa

3 m über die Grundhöhe des Podiums hinaufgefahren werden, dort musizieren und

durch besonders aggressiv gerichtete Lautsprecher-Einspielungen von den Raum-

musik-Emporen und der Decke attackiert werden.«50

(Edgar Wisniewski, 1993)

In diesem Konzept ist die Raumnutzung interessant: zum einen der vertikal

›verschobene‹ Flügel, zum anderen das Lautsprecher-Zuspiel aus verschie-

denen Saalrichtungen, also hinter dem Publikum gelegen, welches in der

Berliner Philharmonie um das Musizierpodium herum auf weinbergartigen

Terrassen angeordnet ist. Unklar bleibt in dem Bericht aus zweiter Hand,

was Müllers Anteil gewesen wäre. Festzuhalten ist, dass Müller spätestens

in den achtziger Jahren Anregungen aufnahm, in eine musikalische

50 Edgar Wisniewski, Die Berliner Philharmonie und ihr Kammermusiksaal. Der Konzertsaal als Zentralraum, Berlin: Gebr. Mann, 1993, S. 205, in der Bild-

legende.

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Richtung hin zu arbeiten, die möglicherweise auch auf seinen Kontakt mit

Wilson zurückgehen könnten.

Müller und Wilson Müller und Wilson arbeiteten ab 1983 zusammen, sie hatten sich aber

schon 1977 in Kalifornien kennen gelernt. Ab diesem Zeitpunkt wurden

Wilsons Inszenierungen zunehmend textorientiert, wie Christel Weiler fest-

stellt.51 Allerdings sind nur wenige und kurze Texte Müllers explizit für

Wilson entstanden. Der deutsche Teil von Wilsons internationalem Thea-

terprojekt, the CIVIL warS: a tree is best measured when it is down, sollte

von Heiner Müller dramaturgisch begleitet werden. Letztlich steuerte Mül-

ler zur Uraufführung 1984 in Köln nur eine Textcollage aus eigenen

Stücken bei und hat darüber hinaus nur als Ideengeber für die Gestaltung

anderer Szenen gewirkt. Auch zu Wilsons Death Destruction and Detroit II (1987) steuerte Müller einen kurzen Text, den »Brief«, bei. Später über-

nahm Wilson Teile von Müllers Medeamaterial für ein Stück und in-

szenierte verschiedene von Müllers Stücken, wie Hamletmaschine und

Quartett, außerdem inkludierte er den Müller-Text Bildbeschreibung in

sein Alkestis-Projekt.52

Trotz der beinah gegensätzlichen Arbeitsweise bestand also ein Aus-

tausch zwischen beiden Theatermachern, auf den auch in der Theatertheorie

eingegangen wird. Hinsichtlich der Wahrnehmung von Musik und musik-

bezogenen Arbeitsweisen im Theater der achtziger Jahre lohnt sich ein

Überblick.

51 Christel Weiler, »Zusammenarbeit mit Robert Wilson«, in: Lehmann; Primavesi

(Hg.), Heiner Müller Handbuch, 2003, S. 338–345, 338 (siehe Fn. 38).

52 Ebd., S. 339. Siehe auch den Beitrag von Matthias Dreyer in diesem Band.

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»POSTDRAMATISCHES THEATER«, »COMPOSED THEATRE«, »MUSIKALISIERUNG DER THEATERSTIMMEN« Eine Musikalisierung des Theaters der achtziger Jahre stellen verschiedene

Theoretiker fest und fassen das Phänomen in unterschiedlicher Weise.

Unter dem Sammelbegriff des postdramatischen Theaters findet sich nach-

träglich auch eine Würdigungen der Arbeit mit Klang im Theater.53 Zum

postdramatischen Theater zählt Hans-Thies Lehmann neben vielen Tanz-

und einigen Musiktheaterschaffenden zuerst Robert Wilson und unter »Au-

toren, deren Werk mindestens teilweise dem postdramatischen Theater

verwandt ist: im deutschsprachigen Raum zumal Heiner Müller«.54 Den

Zeitraum gibt Lehmann mit grob siebziger bis neunziger Jahre an.55

»Die Theatermittel emanzipieren sich im postdramatischen Theater gleichsam aus

ihrer jahrhundertealten, mehr oder weniger stringenten Verlötung. Sie verselbständi-

gen sich, so als sei die tradierte kohärente Ganzheit aus Elementen, als die wir uns

die Form des dramatischen Theaters denken können, gleichsam auseinandergeplatzt.

[…] Woraus sich das Theater zusammensetzte (Körper, Gesten, Organismen, Raum,

Objekte, Architekturen, Installationen, Zeit, Rhythmus, Dauer, Wiederholung,

Stimme, Sprache, Klang, Musik…) – all dies hat sich nun verselbständigt, befindet

sich im Moment der Aufnahme in unterschiedlicher Entfernung vom Zeit-Ort der

Explosion, ist in unterschiedliche Richtungen auseinandergejagt, referiert auf seine

Herkunft mehr oder weniger deutlich, geht aber zugleich neue fragmentarische

Beziehungen ein.«56

(Hans-Thies Lehmann, 2005)

Eine ähnliche Kategorie beschreiben David Roesner und Matthias Rebstock

mit dem Begriff des »komponierten Theaters«, womit sie das auf außer-

musikalische Parameter erweiterte Komponieren meinen, das als »experi-

mentelles Musiktheater«, beispielsweise von Dieter Schnebel und Mauricio

Kagel, schon früher bekannt geworden ist. Im »composed theatre« liege der

53 Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, 2008, S. 155f. (siehe Fn. 14).

54 Ebd., S. 24f.

55 Ebd., S. 27.

56 Ebd., darin: »Vorwort zur 3. Auflage« (2005), [S. 7] (siehe Fn. 14).

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Fokus auf der Komposition von Aufführung und Inszenierung, aber eben

auch in der Anwendung musikalischer Vorgehensweisen im Schaffen von

Theatermachern wie Robert Wilson, Christoph Marthaler oder Einar

Schleef.57

»In the case of Wilson, it is arguable that he should be seen as a practitioner of

Composed Theatre. Obviously the precision and the formal character of movements,

lights and choreographies make his theatre very musical. But this seems to be true in

a metaphorical way rather than a literal sense. Wilson’s artistic strategies and his

thinking might more usefully be related to visual thinking than to compositional

thinking.«58

(Matthias Rebstock, 2012)

Interessanterweise interpretiert Rebstock hier die Behandlung sichtbarer

Parameter in Wilsons Theater als musikalisch, ohne auf die hörbaren An-

teile einzugehen. Er konzediert, dass es sich um andere Strategien als musi-

kalische handeln könnte. Hingegen weisen andere Forschende gerade auf

die Musikalisierung der Stimmen bei Wilson hin. Helga Finter hat als eine

der ersten Theaterwissenschaftler die musikalische Stimmbehandlung im

Theater analysiert und damit die Nähe von gesprochenem Text und Musik

aufgezeigt.

»Doch trotz Dramatikern wie Brecht, Müller, Bernhard, Jandl, Jelinek oder auch

Achternbusch, die einen dramatischen Text vorschlugen, der in der poetischen

Stimme das Andere der Sprache hören lässt, schien und scheint das Verhältnis zur

Theaterdichtung, zum deutschsprachigen poetischen Text auf der Bühne lange Zeit

heillos gestört. Eine Wende hat sich schließlich in den letzten zwanzig Jahren mit

Theatermachern angedeutet, die den (Dramen-)Text in Bezug zur Musik setzten: Die

Ebene des Sinns tritt dabei zurück, während die musikalische Ebene des Textes als

57 David Roesner, »Introduction: Composed Theatre in Context«, in: Matthias

Rebstock, David Roesner (Hg.), Composed Theatre. Aesthetics, Practices, Pro-

cesses, Bristol: Intellect, 2012, S. 9–14, 11.

58 Matthias Rebstock, »Composed Theatre: Mapping the Field«, in: ebd., S. 18–51,

46.

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Rhythmus und Klang ausgestellt wird, so bei Robert Wilson und Einar Schleef«.59

(Helga Finter, 2009)

Im Hinblick auf die Klangarbeiten für das Theater von Wilson und Müller

durch Kuhn und Landy ist also der generelle Wandel des Theaterschaffens

– wenigstens eines Teils – bedeutsam, zu einem größeren Gewicht von

Klang. Da dieses neue Theaterschaffen in Folge von Arbeiten der frühen

achtziger Jahre von Kuhn und Landy beschrieben wird, möchte ich behaup-

ten, dass beider kompositorische Theaterarbeit dazu beigetragen hat. Mu-

sikhistorisch und audiotechnologisch haben sich zu dieser Zeit Geräusche

als musikalisches Material endgültig etabliert und sind in elektroakustischer

Musik oder daraus abgeleiteter Geräuschmusik für akustische Musik-

instrumente, wie Helmut Lachenmanns Musique concrète instrumentale,

verwendbar. Neuartig ist ihr Einsatz in Geräuschkompositionen durch

Kuhn und Landy im Theater, womit sie zwischen Sounddesign und

Bühnenmusik liegend eine neue Form von Theatersound schaffen. Zur

Veranschaulichung dessen folgt ein kursorischer Überblick.

59 Helga Finter, »Mit den Ohren sprechen«, in: Nikolaus Müller-Schöll, Heiner

Goebbels (Hg.), Heiner Müller sprechen, Berlin: Theater der Zeit, 2009, S. 62–

72, 68.

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GERÄUSCHE: AUDIOTECHNOLOGIE IM THEATER Eine Geschichte der Theatergeräusche würde von den frühen Geräusch-

maschinen und Perkussionsinstrumenten zu Audio-Speichermedien wie

Schallplatten, Tonbändern und Digitaltechnik führen.60 Zunächst erschwert

die Theatergeschichte eine Fokussierung, da historisch nicht ohne weiteres

in Sprech- und Musiktheater unterschieden werden kann61 und die Theater-

effekte, akustische wie optische, in Opern wie Sprechtheater gleichermaßen

eingesetzt wurden, woran sich die neuen Gattungen wie Radiohörspiel und

Film anschlossen.

Ende des 19. Jahrhunderts stellte ein Bruiteur oder effects worker die

Geräusche im Theater hinter der Szene62 oder im Stummfilm neben der

Leinwand als Ergänzung zur Instrumentalmusik her. Die als Vorläufer des

Kinofilms angesehenen Panoramen, Laterna-Magica-Projektionen oder

Schattenspiele wurden oft von Musik oder eben Geräuschemachern beglei-

tet, um die Illusion zu verstärken. Soundeffekte wurden live im Theater, im

Radio der Vor-Tonband-Zeit,63 im Stummfilm und im frühen Fernsehen

eingesetzt, bevor sie auf Speichermedien wie Schallplatten und Samplern

verfügbar waren oder auf Tonbändern und Computern selbst aufgenommen

und bearbeitet werden konnten.

60 Eine Geschichte der Audiotechnologie im Theater bleibt ein Forschungs-

desiderat. Eine Bibliographie von 1982 listet zwar Einträge, die von akustischen

Problemen bis zu Soundeffekten reichen und zwischen dem 19. Jahrhundert und

etwa 1980 erschienen sind, stellt aber nur eine Quellenauswahl dar, die nicht

ausgewertet wird: John T. Howard, Jr., A Bibliography of Theatre Technology.

Acoustics and Sound, Lighting, Properties, and Scenery, Westport, London:

Greenwood, 1982, S. 15–31, Eintrag-Nr. 163–511.

61 Siehe dazu Ursula Kramers Beitrag in diesem Band.

62 In seinem 1917 aufgeführten Theaterstück Les Mamelles de Tirésias integrierte

Apollinaire ganz avantgardistisch den Geräuschemacher samt Geräuschetisch in

die Handlung. Adrian Curtin, »Noises On: Sights and Sounds in Apollinaire’s

The Breasts of Tiresias«, in: Lynne Kendrick, David Roesner (Hg.), Theatre

Noise: The Sound of Performance, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars

Publishing, 2011, S. 124–138.

63 Robert L. Mott, Radio Sound Effects. Who Did It, and How, in the Era of Live

Broadcasting, Jefferson, London: McFarland, 1993, 2005.

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Ebenso problematisch wie die Trennung in Gattungen und Genres, in

denen Geräusche eingesetzt werden, erweist sich die Trennung der Geräu-

sche von der Musik, wie sie theoretisch und anhand von Berufen im Thea-

ter und Musiktheater ebenso wie im Film zeitweilig vorgenommen wurden.

Letztlich haben Geräusche und Musik die Tendenz, zusammengeführt zu

werden, wie die Arbeiten von Hans Peter Kuhn und Leigh Landy zeigen

und wie es in den großen Hollywood-Filmscores ab den neunziger Jahren

beobachtet werden kann, in denen die Geräusche teilweise in der Filmmu-

sik aufgehen. Historisch kann man ebenso argumentieren, da mit der Thea-

termaschinerie der Barockoper zwar Donnergrollen64 synthetisiert wurde,

es sich aber ebenso von Musikinstrumenten nachgeahmt in den Partituren

finden lässt. Solche Effektgeräte waren um 1980 noch in unrenovierten

Theatern zu finden.

»Interessant ist ein Donnerwagen, ein Resonanzkasten, der mit seinen holprigen

Rädern über die Galerie gerollt wird und dabei durch seine Spezialfüllung ein

rollendes Donnergeräusch hervorruft. Die Regenmaschine, mit Sand gefüllt und wel-

lenförmigen Blechaußenkanten versehen, erzeugt ein äußerst echtes Geräusch.«65

(Karl Kronberg, 1982)

Im zwanzigsten Jahrhundert wurden dann auch die neuen Schallspeicher-

medien schnell im Theater eingesetzt, so dass die Geräusche nun teilweise

von Schallplatten eingespielt wurden:

»Neuerdings [1936] stellt die Schallplattenindustrie den Bühnen Originalgeräusche

auf Schallplatten zur Verfügung. Sie führen zu einer beträchtlichen Verstärkung der

Illusion des Zuschauers, sich nicht im Theater zu befinden. […] Unsres Wissens

64 Insbesondere zur »Kultur des Geräuschs« und der Wirkung von Geräuschen in

Philosophie (Burke) und Literatur, vgl.: Florian Nelle, »Theaterdonner – Ge-

räusch und Illusion um 1800«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen –

Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Gunter Narr, 2002,

S. 493–506, 498ff.

65 Karl Kronberg, »Historische Theater – moderne Technik? Kongreß in Reggio

Emilia im November 1982« [Bericht der Besichtigung von Theatern in Modena

und Reggio Emilia in Italien 1982 mit Fotografien der Effektgeräte], in: Büh-

nentechnische Rundschau (1983/2), S. 10–14, 11.

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geschah die erste Verwertung von Schallplatten durch Piscator. Er verwertete das

neue Mittel vollkommen richtig. Bei der Aufführung des Stückes Rasputin [Urauf-

führung am 10.11.1927 an der Piscator-Bühne, Theater am Nollendorfplatz] wurde

eine Schallplatte mit der Stimme Lenins vorgeführt. […]

Es ist richtig, die Schallplatte ebenso wie das Orchester sichtbar zu plazieren. Wenn

jedoch eine solche Maßnahme das Publikum allzusehr schockieren würde oder zu

großes Amüsement erregte, unterließe man sie lieber.«66

(Bertold Brecht, 1936)

Brecht plädiert in diesem Zitat für die Offenlegung der Quelle: eine Ton-

aufnahme. Normalerweise sollte diese Klangquelle natürlich versteckt wer-

den, um eine Illusion hervorzurufen: das akustisch Wiedergegebene sollte

als pars pro toto eine optisch nicht vorhandene Person repräsentieren, die

scheinbar real und live anwesend sein müsse, so vermittelt es die Stimme.

Über die Illusion hinaus geht der Einsatz von Klang als Mittel einer Über-

wältigungsästhetik: Ebenso von Schallplatte ließ Antonin Artaud in Les

Cenci in Paris 1935 Geräusche und skandierende Stimmen einspielen. Bei

Artaud waren für die Wiedergabe sogar vier Lautsprecher in den Ecken des

Saals aufgestellt,67 so dass das Publikum von Klang umringt war, was für

die Zeit außergewöhnlich ist. Dabei waren die Aufnahmen höchstwahr-

scheinlich unsynchronisiert.

Nach der Schallplatte wurde in den späten vierziger Jahren das Magnet-

tonband als Schallspeichermedium auf den Markt gebracht. Schon in einem

1949 verfassten, ein Jahr darauf erschienenen Theaterlexikon wird neben

der Schallplatte auch das Magnetophon für die Wiedergabe von Bühnen-

musik oder Geräuschen aufgeführt:68 »Magnetophon, Gerät zur Wiedergabe

66 Bertolt Brecht, »Beschreibung der Kopenhagener Uraufführung [vermutlich:

Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, UA 4.11.1936]« (1936) [in: Gesammelte

Werke 17, S. 1087–1096], zitiert nach: Joachim Lucchesi, Ronald K. Shull

(Hg.), Musik bei Brecht, Berlin-Ost: Henschelverlag, 1988, S. 168–170.

67 Nach: Erika Fischer-Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwech-

sel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen, Basel: Franke, 1997, S. 32.

68 Eintrag: »Elektroakustische Anlagen«, in: Walther Unruh, ABC der Theater-

technik. Sachwörterbuch (Theatertechnische Bücher, Bd. 1, hg. von dems.),

Halle/Saale: Carl Marhold, 1950, S. 53. S. a. »Glocken«, ebd., S. 65.

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von Tonstreifen bei elektroakustischen Anlagen im Theater und Rund-

funk«.69

»Elektroakustische Anlagen, im Theater: Übertragungsanlagen für Ton und Sprache,

die sich der Mittel der elektroakustischen Schallübertragung bedienen, das sind

Mikrophon, Verstärker und Lautsprecher; weiterhin Telefon-, Klingel-, Hupen- und

ähnliche Signal- oder Alarmanlagen.

Elektroakustische Übertragung wird benutzt für Tonverstärkung für szenische

Zwecke, z. B. Glocken, Geräusche, Musik, für mechanische Tonerzeugung durch

Schallplatten, Magnetophon usw. und für Tonverbesserung, das ist die Ausfüllung

schallarmer Raumteile im Saal.«70

(Walther Unruh, 1950)

Offenbar hat sich innerhalb der nächsten Jahre nicht allzu viel verändert.

Hinzu gekommen ist in der Auflistung der tontechnischen Möglichkeiten

die Klangbearbeitung und Manipulation, die Stereophonie und die Klang-

bewegung im Stereopanorama. In einem Bühnenhandbuch von 1966 heißt

es:

»Im modernen Theater werden Geräusche fast ausnahmslos mit Hilfe der elektro-

akustischen Anlage (Ela-Anlage) erzeugt […]. Man nimmt dazu Mikrophon, Schall-

platten und Tonbänder und ist in der Lage, mit mehreren Lautsprecherkreisen

natürliche und unnatürliche Töne und Geräusche in beliebiger Tonstärke und von

beliebigen Stellen des Zuschauer- oder Bühnenraumes aus ertönen, ja sogar stereo-

phonisch im Raum herumwandern zu lassen, zu verzerren, ihren Nachhall zu verän-

dern und anderes mehr. Die Überblendung der Umbaupausen mit Bühnenmusik und

elektroakustischen Geräuschen ist damit im Schauspiel stark in Mode gekommen.«71

(Walther Unruh, 1966)

69 Ebd., S. 84.

70 Eintrag: »Elektroakustische Anlagen«, in: ebd., S. 53. Hervorhebung im Origi-

nal.

71 Walther Unruh, »Theaterbau und Bühnentechnik«, in: Martin Hürlimann (Hg.),

Das Atlantisbuch des Theaters, Zürich, Freiburg/Breisgau: Atlantis, 1966,

S. 100–168, 140.

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1960 stellte Stereophonie die elektroakustische Höhe der Technik der Zeit

dar.72 Eingespielt wurde der Klang von den Speichermedien Tonband oder

Schallplatte und über Mikrofon. Künstlicher Nachhall wurde über Hall-

platten oder Laufzeitverzögerungen in Lautsprecherketten erzeugt.73 In dem

Jahrgang der Bühnentechnischen Rundschau finden sich eine Reihe von

Beschreibungen der bühnentechnischen Ausstattung von Theatern, die alle-

samt auch über eine »Elektroakustische Anlage« verfügten, über die bei-

spielsweise Lautsprecher- und Mikrofonanschlüsse auf der Bühne und im

Zuschauerraum über das Mischpult geregelt wurden. Das bedeutet, dass

durchaus Lautsprecher im Zuschauerraum positioniert werden konnten,

über die dann eventuell eine räumliche Beschallung erreicht wurde. Aller-

dings gibt es dazu keine Beschreibungen, wenn wir von Artauds Les Cenci aus den dreißiger Jahren und Hans Peter Kuhns Arbeiten ab den späten

siebziger Jahren absehen.74

Auch Klang von oben wird immer noch äußerst selten eingesetzt. Ne-

ben Leigh Landys Soundkonzept für die Philoktet-Inszenierung 1987, bei

der eine Geräuschkomposition über Lautsprecher, die auch unter der Decke

des Zuschauerraums angebracht waren, wiedergegeben wurde, und eine

72 H. Petzoldt, »Verwendung von Nachhallanlagen und Stereophonie in Theatern«,

in: Bühnentechnische Rundschau (April 1960/2), S. 27–28. In den fünfziger Jah-

ren begannen die ersten Versuche stereophoner Rundfunkübertragungen. In

Deutschland wurde die Rundfunkstereophonie 1963 eingeführt.

73 Ebd.

74 Offenbar verwandte auch Luigi Nono in seiner Theatermusik zu der Erwin-

Piscator-Inszenierung von Peter Weiss’ Ermittlung (Theater der Freien Volks-

bühne West-Berlin, 1965) mehrkanaliges Tonbandzuspiel. Für den Hinweis

danke ich Irene Lehmann. Allerdings handelte es sich allem Anschein nach um

traditionelle »Zwischenmusiken« (Spangenmacher), die ausdrücken sollten, was

sprachlich nicht gesagt werden konnte. Friedrich Spangenmacher, Dialektischer Kontrapunkt. Die elektronischen Kompositionen Luigi Nonos zwischen 1964 und 1971, Saarbrücken: Pfau, 1983, 2006, S. 164. Unklar ist auch, ob die Laut-

sprecher, wie in Nonos La fabbrica illuminata (1964), nur im Bühnenraum ver-

teilt waren oder tatsächlich wie bei Kuhn um die Zuschauenden positioniert

wurden. Immerhin ist erwähnenswert, dass am sogenannten »Piscator-Theater«

die vielfältigen Experimente mit Bühnentechnik der Vorkriegszeit fortgeführt

wurden.

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ähnliche Konstruktion in Hans Peter Kuhns Ton für Death Destruction & Detroit I 1979, habe ich nur eine weitere Erwähnung von Schall von oben

gefunden: In einem Opernhaus wurde um 1960 offenbar das Zuspiel der

Glocken in einer Inszenierung von Wagners Parsifal von oben arrangiert:

»Eindrucksvolles Beispiele der Leistungsfähigkeit einer modernen [elektroakusti-

schen] Anlage [1960] dieser Art sind das Ertönen der Parsifal-Glocken aus der

Kuppel des Zuschauerraumes, das Hin- und Hergeistern der unirdisch schwebenden

Stimme des Homunkulus oder das kraftvolle Aufklingen des Orgelspiels in der

Kulisse.«75

(Holtz, 1960)

Hier ist auch die Rede davon, »den Ton über die Bühne ›wandern‹ [zu]

lassen«.76 Dafür gibt es erst ein dutzend Jahre später, Anfang der siebziger

Jahre, ein Effektgerät, den Action Regler: »Mit diesem Gerät können

bestimmte monophone Schallereignisse in den Bewegungsablauf auf der

Bühne miteinbezogen werden.«77 Über eine Reihe von zwei bis zehn Laut-

sprechern wird das Tonsignal zeitlich versetzt wiedergegeben und ver-

mittelt so den Eindruck von akustischer Bewegung.

In den frühen achtziger Jahren wurden immer noch Tonbandmaschinen

verwendet, dann allerdings Mehrspurmaschinen, wie die 16-Spurmaschine

im Nationaltheater München.78 Damit sind räumliche Wiedergaben von

Ton und Musik möglich, die ein komplexeres Klangbild so abbilden, dass

es dennoch ›durchhörbar‹ bleibt. Auf diese Weise sind auch ›Vordergrund-‹

75 Holtz, »Die bühnentechnische Industrie Westberlins«, in: Bühnentechnische Rundschau (1960/6), S. 58.

76 Ebd.

77 Gisbert P. Lackner, Kurt Greiner, Arnold Dawidowicz, »Gerät zur Darstellung

akustischer Bewegungsabläufe«, in: Bühnentechnische Rundschau (1972/3),

S. 38–39.

78 D. Behne, A. Dewidowicz, R. Delion, »Elektronische Tonregie- und Akustik-

einrichtungen im Nationaltheater München«, in: Bühnentechnische Rundschau (1983/2), S. 20–22.

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und ›Hintergrundklänge‹ und damit ›Klanglandschaften‹ simulierbar. Mitte

der achtziger Jahre gab es bereits computergestützte Audiotechnik.79

Mit der Erweiterung des musikalischen Materials durch Geräusche in

der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts und der dadurch veränderten

Komposition für das Theater, wie Hans Peter Kuhn und Leigh Landy es in

den achtziger Jahren umsetzten, indem sie das Sounddesign und die

Komposition nicht mehr trennten, kann man den Begriff »Geräusch« heute

weiter fassen. Die Herausgeber und Autoren des Bandes Theatre Noise

haben diesen Begriff sogar auf alle Klangebenen im Theater bezogen sowie

auf deren politisches Potenzial.80

Geräuschmusik im Theater

Dem Klang wird in der Theaterrezeption und -dokumentation zu wenig

Aufmerksamkeit geschenkt. Das zeigt sich an der problematischen Quellen-

lage der Theaterinszenierungen der achtziger Jahre. Eine einfache Video-

dokumentation – auch visuell oft nicht hinreichend – scheitert an dem

räumlichen Klang, den die Theaterbesucher über um den Zuschauerraum

verteilte Lautsprecher erfahren konnten. Leider wurde diese Hörerfahrung

kaum in Rezensionen beschrieben, so dass man annehmen kann, den

Rezensenten »fehlten die Worte«, um neue akustische Eindrücke, wie sie in

der experimentellen Klanggestaltung von Hans Peter Kuhn und Leigh

Landy erfahrbar wurden, beschreiben zu können. Eine Ausnahme stellen

die zeitgenössischen Texte von Helga Finter und wenigen anderen dar.

Für die »Spätgeborenen« (Matthias Dreyer) stellt sich nun das Rezepti-

onsproblem ein: Wie kann man heute – fast ohne hinreichende Quellen –

über diese damals neuartigen Theaterproduktionen sprechen? Wie kann

79 Gisbert P. Lackner, »Das neue Mischpult des Schiller-Theaters Berlin. Eine

rechnergestützte mikroprozessorgesteuerte Tonregie-Einrichtung«, in: Bühnen-

technische Rundschau (1984/6), S. 17–18.

80 »›[T]heatre noise‹ is a new term which captures an agitatory acoustic aesthetics.

It expresses the innate theatricality of sound design and performance, articulates

the reach of auditory spaces, the art of vocality, the complexity of acts of audi-

ence, the political in produced noises.« Lynne Kendrick; David Roesner (Hg.),

Theatre Noise, 2011, S. xv (siehe Fn. 62).

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man diesen Teil der Theatererfahrung im Nachhinein erfassen, dessen

Potenzial der Komponist Kurt Weill folgendermaßen zusammenfasst:

»Alle Experimente im musikalischen Theater haben unabweisbar bewiesen, daß ech-

te Theatermusik [damit meint er auch Oper] eine großartige treibende Kraft ist, die

eine Szene mit unvergleichlicher Geschwindigkeit und Direktheit ihrem Höhepunkt

zuführen kann, daß sie die Atmosphäre einer Szene augenblicklich herstellen kann,

während der Autor dazu oft lange Dialoge benötigt. Die Musik kann das leisten, was

der begabteste Schauspieler auf der Höhe seines Könnens leistet: sie kann den

Zuschauer durch Leidenschaft für sich gewinnen, sie kann eine aufnahmebereite

Stimmung erzeugen, die es wesentlich einfacher macht, der Phantasie des Dichters

zu folgen und diese zu akzeptieren.«81

(Kurt Weill, 1936)

Ein halbes Jahrhundert nach diesem Zitat waren die experimentellen Musi-

ker mit der Auflösung der Trennung von Geräuscheinspielungen, wie sie

neben dem Filmsoundtrack nun auch im Theater eingesetzt wurde, und

elektroakustischer Musik beschäftigt. Damit wurden »Klanglandschaften«

ins Theater eingespielt, welche die auf der Bühne befindlichen visuellen

»Landschaften« ergänzten und erweiterten. Vor allem erfüllten die Ge-

räuschkompositionen und Stimmprojektionen den Zuschauerraum, so dass

sich das Publikum in einem Hörraum befand, gegenüber dem gerahmten

Bühnengeschehen.

81 Kurt Weill, »Die Alchemie der Musik« (Original: »The Alchemy of Music«, in:

Stage (November 1936), deutsch von Ulrich Wünsch, in: ders., Musik und Thea-

ter. Gesammelte Schriften, hg. von Stephen Hinton, Jürgen Scherbera, Berlin:

Henschel, 1990, S. 109–114, 112.

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Robert Wilson, Doctor Faustus Lights the Lights, Berlin 1992. Charcoal and graph-ite on Schoeller Durex paper. 28 3/4" x 40" (72.8 x 101 cm). © Robert Wilson. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York. Photo: Geoffrey Clements