Im Wald verblutet - heimatverein-muesiwa.de

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xx Es ist nun schon bald 100 Jahre her, dass das Schicksal des jun- gen Albert Wrede (1899–1921), der 21jährig im Wald verblute- te, die Gemüter der Sichtigvor- er Bürger stark aufwühlte – und beinahe wäre es zu einem Akt der Lynchjustiz gekommen! Von Albert-Friedrich Grüne „Wo unbegrenzte Menschenwut vernichtete mein junges Blut, da bleib o Wanderer eine Weile und bet für mich, wenn auch in Eile.“ Diesen klagenden Vers hatte Anna Grüne (1885–1943), die ältere Schwester von Albert Wrede, sei- nerzeit für ein Gedenkkreuz ent- worfen, das am Waldesrand unter- halb des Loermunds am oberen Wanderweg von Sichtigvor nach Belecke aufgestellt wurde (und lei- der jüngst dem Sturm „Friederike“ zum Opfer fiel). Was war damals passiert? Am Sonntag, dem 3. April 1921, bei gutem Wetter zur Hochamtszeit hatten sich vermutlich neun junge Sichtigvorer am Erlenbrauk für ein Scheibenschießen verabredet. Ge- wehre waren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg keine Mangelwa- re, da es eine geordnete Entwaff- nung der kaiserlichen Armee nicht gegeben hatte. Das Scheiben- schießen war für die jungen Leute sicher auch interessanter, als den meist unverständlichen lateini- schen Worten des erzkonservati- ven Pfarrers Friedrich Reinike (1865-1952) in der Sonntagsmes- se zu folgen. (Einige hatten in ihrer Jugendzeit auch schon Kontakt mit seinen „geweihten“ Händen bekommen, was eine Zuneigung bestimmt nicht förderte ...) Der Schießwettbewerb blieb aller- dings nicht lange unbemerkt. Der Jagdpächter Westhoff war im Re- vier auf Pirsch und hatte die Schüsse vernommen. Vielleicht vermutete er, dass am Ortsrand Wilddiebe ihr Unwesen trieben. Wilddieberei wurde im Möhnetal in der schwierigen Zeit nach dem Krieg von etlichen Sichtigvorern zum Teil mit großer Akkuratesse betrieben, um den kargen Speise- zettel der meist großen Familien zu bereichern. Wilddieberei wurde aber, wenn sie jemanden nachge- wiesen werden konnte, ohne wei- teres mit mehreren Jahren Zucht- haus bestraft. Dem Jagdpächter Westhoff muss- te eigentlich klar gewesen sein, dass es bei der großen Anzahl von jungen Leuten zur Hochamtszeit nicht um Wilderer handeln konnte. Vielleicht wollte er ihnen auch nur einen Denkzettel verpassen, weil sie unerlaubt in seinem Revier Schießübungen veranstalteten. Im Wald verblutet Das Drama um den 21jährigen Albert Wrede aus Sichtigvor Geschichte Wer kennt es nicht, das Kreuz am Waldesrand unterhalb des Loermunds am oberen Wanderweg von Sichtigvor nach Belecke? Das erste Gedenkkreuz an dieser Stelle war nach rd. 60 Jahren morsch geworden und eine dankenswerte Initiative der lokalen CDU hatte es in den frühen 1980iger Jahren erneuert. Nach nunmehr fast weiteren 40 Jahren ist es im Februar 2018 – schon wieder etwas morsch - dem Sturmtief „Friderike“ zum Opfer gefallen. Foto: Ludwig Marx, Bildarchiv Heimatverein Mülheim-Sichtigvor-Waldhausen

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Es ist nun schon bald 100 Jahre her, dass das Schicksal des jun-gen Albert Wrede (1899–1921), der 21jährig im Wald verblute-te, die Gemüter der Sichtigvor-er Bürger stark aufwühlte – und beinahe wäre es zu einem Akt der Lynchjustiz gekommen!

Von Albert-Friedrich Grüne

„Wo unbegrenzte Menschenwut vernichtete mein junges Blut,da bleib o Wanderer eine Weile und bet für mich, wenn auch in Eile.“

DiesenklagendenVershatteAnnaGrüne (1885–1943), die ältereSchwestervonAlbertWrede,sei-nerzeit für ein Gedenkkreuz ent-worfen,dasamWaldesrandunter-halb des Loermunds am oberenWanderweg von Sichtigvor nachBeleckeaufgestelltwurde(undlei-derjüngstdemSturm„Friederike“zumOpferfiel).

Was war damals passiert? AmSonntag, dem 3. April 1921, beigutem Wetter zur Hochamtszeit

hattensichvermutlichneunjungeSichtigvoreramErlenbraukfüreinScheibenschießenverabredet.Ge-wehrewareninderZeitnachdemErstenWeltkriegkeineMangelwa-re,daeseinegeordneteEntwaff-nungderkaiserlichenArmeenichtgegeben hatte. Das Scheiben-schießenwarfürdiejungenLeutesicherauchinteressanter,alsdenmeist unverständlichen lateini-schen Worten des erzkonservati-ven Pfarrers Friedrich Reinike(1865-1952) inderSonntagsmes-sezufolgen.(EinigehatteninihrerJugendzeit auch schon Kontaktmit seinen „geweihten“ Händenbekommen, was eine Zuneigungbestimmtnichtförderte...)

DerSchießwettbewerbblieballer-dingsnicht langeunbemerkt.DerJagdpächter Westhoff war im Re-vier auf Pirsch und hatte dieSchüsse vernommen. Vielleichtvermutete er, dass am OrtsrandWilddiebe ihr Unwesen trieben.Wilddieberei wurde im MöhnetalinderschwierigenZeitnachdemKrieg von etlichen Sichtigvorernzum Teil mit großer Akkuratessebetrieben,umdenkargenSpeise-zettel der meist großen Familienzubereichern.Wilddiebereiwurdeaber,wennsiejemandennachge-wiesenwerdenkonnte,ohnewei-teresmitmehrerenJahrenZucht-hausbestraft.

DemJagdpächterWesthoffmuss-te eigentlich klar gewesen sein,dassesbeidergroßenAnzahlvonjungen Leuten zur HochamtszeitnichtumWildererhandelnkonnte.Vielleichtwollteerihnenauchnureinen Denkzettel verpassen, weilsie unerlaubt in seinem RevierSchießübungen veranstalteten.

Im Wald verblutetDas Drama um den 21jährigen Albert Wrede aus Sichtigvor

Geschichte

Wer kennt es nicht, das Kreuz am Waldesrand unterhalb des Loermunds am oberen Wanderweg von Sichtigvor nach Belecke? Das erste Gedenkkreuz an dieser Stelle war nach rd. 60 Jahren morsch geworden und eine dankenswerte Initiative der lokalen CDU hatte es in den frühen 1980iger Jahren erneuert. Nach nunmehr fast weiteren 40 Jahren ist es im Februar 2018 – schon wieder etwas morsch - dem Sturmtief „Friderike“ zum Opfer gefallen.

Foto: Ludwig Marx, Bildarchiv Heimatverein Mülheim-Sichtigvor-Waldhausen

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Wie es genau geschehen ist, istnicht zuverlässig überliefert. Je-denfalls hat eine Kugel aus derWaffe des Jagdpächters den jun-genAlbertWredeamOberschen-kel getroffen (Der Totenzettelspricht–sorgfältiggetextet–voneiner „meuchlerischen Kugel auföffentlichem Wege am Waldes-rand“).EristnochanOrtundStel-leverblutet.

DieNachrichtvonderTatgingso-fortwieeinLauffeuer imOrtum.InihrerWuthabenAlbertsFreun-deunmittelbardieVerfolgungdesJagdpächters aufgenommen undihn während seiner Flucht wohlauchmalträtiert.Erkonntesichinseiner Verzweiflung noch, durchdieMöhnewatend,nachMülheimhinüberrettenundverstecktesichdort in einem Keller, wo er aberbald ausfindig gemacht wurde.Eine Menschenmenge forderteseineHerausgabe.DieLynchjustizkonnte nur durch das beherzte

Eintreten des Dorfpolizisten Kas-parSchmidt,derzwischenzeitlichalarmiert worden war, verhindertwerden. Als Respektspersonkonnte er der Menge Einhalt ge-bieten. „Macht den Mann undeuch nicht unglücklich!“, soll erderaufgebrachtenMenschenmen-ge zugerufen haben. Das zeigteWirkung.DasSchlimmstewarfürWesthoffimAugenblickabgewen-det worden (nach mündlicherÜberlieferungsollerdanachnichtmehrlangegelebthaben),aberfürdieandenSchießübungenundanderVerfolgungbeteiligtenSichtig-vorergabesnocheinstrafprozes-suales Nachspiel. Nun war guterRatteuer.Werkonntehelfen?

Schnellwarklar,eskamnureinerin Frage: Dr. jur. Max Ostwald(1884-1943),der1884 inSichtig-vor in einem jüdischen Haus zurWeltgekommenwar,Jurastudierthatte und mittlerweile in Dort-mund am Ostenhellweg eine An-

waltspraxisbetrieb.Erhattenochlaufend Kontakt nach Sichtigvor,da seine Mutter, die allseits be-liebte Phillipine Ostwald (1849-1934), dort noch im elterlichenHausamHammerbergwohnte.

Fürdendamals38jährigenAnwaltdürfte die Verteidigung der Sich-tigvorer (folgende Namen sindüberliefert: Anton Cramer, For-mann,Beele,Bracht,Gröblinghoff,Lenze,vonHütter,MichelausMül-heim, Fastnacht) nicht ganz ein-fachgewesensein,dadasAmts-gericht in Warstein allein 18Zeugen geladen hatte. JedenfallsscheinterdieSichtigvorermitBra-vourverteidigtzuhaben,dennkei-nervonihnenmussteinsGefäng-nis. Wer was vor mehr als achtMonaten genau getan hatte, ließsich wohl im Januar 1922 nichtmehr zweifelsfrei feststellen. DerZeitaufwand für die Anreisen ausDortmund und die Verteidigungs-vorbereitung waren hoch. Für je-

Anna Grüne, geb. Wrede (linkes Bild), textete den Spruch auf dem Kreuz; Kaspar Schmidt, „Hausname Webers“ (rechtes Bild), Dorfpolizist und Respektsperson, verhinderte durch sein ent-

schiedenes Auftreten, dass am Jagdpächter Westhoff Lynchjustiz verübt wurde. In der Mitte der Totenzettel von Albert Wrede.

Fotos: priv. Sammlung Albert-Friedrich Grüne

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den beteiligten Sichtigvorer wur-den trotz Vorzugspreis noch 200Mark an Anwaltskosten fällig –eine stolze Summe, obwohl dieMarkschondurchdieNachkriegs-inflationstarkgeschwächtwar.

Dass ihr Anwalt die Sichtigvorervor Schlimmerem bewahrt hatte,habensie ihmnie vergessenundwarnochJahrzehntenachdenEr-eignissen immer wieder Ge-sprächsthemaimOrt.

Die Familie Wrede war natürlichdurchdenToddes jüngstenSoh-nes Albert und die dramatischenEreignisse schwer getroffen. UndauchMaxOstwaldkonntedamalsnoch nicht vorhersehen, welchesUnheilihnundseineFamiliedurchdieUntatenderNazistreffenwür-de. Nach der sog. Reichskristall-nachtimNovember1938,welchesich in diesem Jahr zum 80. Maljährt, wurde er ins KZ Sachsen-hausen eingeliefert, nach ver-

schiedenen ZwischenstationenwurdenerundseineFrauHedwigdannimJuli1942nachTheresien-stadtdeportiert,woeram7.Sep-tember 1943 umgekommen ist.

SeineFrauHedwigwurdeimApril1944 nach Auschwitz deportiert,woauchsieumkam.AlsamtlichesTodesdatum wurde der 8. Mai1945 (!) festgehalten. Seine bei-den jungen Söhne Martin undErnst hatten sie gerade nochrechtzeitigübereinender letztenKindertransporte nach Englandrettenkönnen.

Diese Geschichten wären sicher-lich lang vergessen, wenn dasKreuz an der Todesstelle von Al-bert Wrede nicht schon fast 100Jahredaranerinnerthätte.

Der in Sichtigvor geborene Anwalt Dr. Max Ostwald vor seiner Anwaltspraxis in Dort-mund mit seinen jungen Söhnen Martin und Ernst, Aufnahme ca. 1932.

Foto: priv. Sammlung Albert-Friedrich Grüne

Desolater Zustand des Kreuzes durch das Sturmtief „Friederike“, Anfang 2018.Foto: Albert-Friedrich Grüne