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In der Wahrheit leben Texte von und über Ludwig Mehlhorn Stephan Bickhardt (Hrsg.)

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ISBN 978-3-374-03011-8

EUR 13,80 [D]9 783374 030118

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In der Wahrheit lebenTexte von und über Ludwig Mehlhorn

Im Mai 2011 verstarb Ludwig Mehlhorn. Der Dissident und Mittler zwischen den Kulturen hinterließ zahlreiche Schriften. Der vorliegende Band versammelt Texte von und über Ludwig Mehlhorn. Sie geben Einblick in seine Kindheit im Erzgebirge und in sein Engagement in der Evangelischen Studenten­gemeinde und bei Aktion Sühnezeichen. Die Texte erzählen von seinen Kontakten zur polnischen Opposition und von seinem Wirken als Mitbegründer von Demokratie Jetzt. Mehlhorn, der in kirchennahen Gruppen arbeitete, der Lesungen in sei­ner Wohnung organisierte, selbst oppositionelle Schriften verfasste oder aus Polen in die DDR schmuggelte und über­setzte, stand im Fokus der Staatssicherheit. Sein Engagement als Christ führte ihn in die Opposition gegen die Diktatur und für eine Zivilgesellschaft. Die europäische Verständigung zwischen Ost und West galt ihm als wichtige Gegenwarts­aufgabe. Neben den Texten Mehlhorns zeichnen Autoren, Wegbegleiter und Freunde den Lebensweg des Bürgerrechtlers auf eindrückliche Weise nach.

Jede Revolution benötigt Vorkämpfer und Vorkämpferinnen, die auch dann schon »versuchen, in der Wahrheit zu leben«, wenn der Ausgang noch völlig ungewiss ist.

Ilko­Sascha Kowalczuk

Stephan Bickhardt (Hrsg.)

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In der Wahrheit leben

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Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR

Band 13

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Stephan Bickhardt (Hrsg.)

In der Wahrheit lebenTexte von und über Ludwig Mehlhorn

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

2. Auflage 2013

© 2012 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Printed in Germany · H 7508

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Gesamtgestaltung: behnelux gestaltung, Halle (Saale)

Umschlagbild: Maria Gąsecka © ECS / Mit freundlicher Genehmigung des

Europäischen Solidarność-Zentrums. Das Bild zeigt Ludwig Mehlhorn

neben dem polnischen Premierminister Donald Tusk auf der Tagung

»Die Solidarność und der Fall des Kommunismus«, die vom Europäischen

Solidarność-Zentrum im Juni 2009 in Gdańsk organisiert wurde.

Druck und Binden: Druckhaus Köthen GmbH & Co. KG

ISBN 978-3-374-03011-8

www.eva-leipzig.de

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Ludwig Mehlhorn, im Jahr 1997

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Vorwort

Erinnerung bereitet Wege zur Versöhnung, wenn sie sich bemüht, genau und dialogbereit zu sein. Darüber hinweg-reden, vertuschen, verunklaren behindert und gefährdet alles.

Ein Versöhner und Anreger des Dialogs im besten Sinne des Wortes war der DDR-Oppositionelle, Bürgerrechtler, der gute Freund, Christ und Menschenzusammenbringer Ludwig Mehlhorn. Ein Organisator und Koordinator, ein charmanter und diskreter Provokateur dem gegenüber, was unmöglich zu sein schien. Er gehörte nicht zu den bekanntesten DDR-Oppositionellen, aber garantiert zu den wichtigsten. Der erste Nachruf auf ihn erschien in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza.

Dieses Buch mit einigen seiner Texte und biografischen Anmerkungen zu ihm zeigt, welche Überraschungen im Fun-dus der abseits vom Staate und auch schon gegen den Staat DDR arbeitenden Opposition möglich sind. Aus einem klei-nen Ort in Sachsen stammend, über ein Studium in Freiberg und Ludwig Mehlhorns Arbeit in der dortigen Studenten-gemeinde ging es nach Ost-Berlin, um Europäer zu werden und zu sein. Über seine Aktivitäten Richtung Polen gibt es viel in diesem Band zu lesen.

Spannend ist auch der Beitrag von Ilko Kowalczuk, der gut herausarbeitet, was Staatssicherheitsakten entnommen werden kann, selbst wenn diese nur lückenhaft überliefert sind. Sie dienen nicht dazu, sich mit der Staatssicherheit zu beschäftigen, sondern die politischen Bedingungen in anderen Bereichen der Gesellschaft zu erhellen. Wichtige Dinge stehen nicht in ihnen. Auch weil Ludwig Mehlhorn so manches vor dem MfS zu verbergen wusste. Und weil das grobe ideologisch-politische Denken von Partei und Stasi nicht imstande war, die diskrete Intensität des literarischen und politischen Wirkens eines Ludwig Mehlhorn wirklich zu erfassen. Es gehört zu den Absurditäten der Oppositions-

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geschichte in der DDR, dass zwar vielfältige Repressions-maßnahmen fixiert wurden, aber die Akten da sehr lücken-haft geraten, wo die Macht verwaltenden Organe ausgetrickst worden sind.

Ludwig Mehlhorn initiierte mit seiner Frau eine der spek-takulärsten nicht öffentlichen Lesereihen im Ost-Berlin der 1980er Jahre. Er war ein charmanter Gastgeber und zugleich eitelkeitsfreier Diskussionsanreger. Einmal trat zum Beispiel der Westberliner Autor Hans-Christoph Buch auf − ein sehr unabhängiger Linker, ein deutsch-deutscher Abend, der einen konsequent demokratisch-antikommunistischen Blick im Sinne der osteuropäischen Erfahrungen in die deutschen Diskurse einbringen wollte. Die Staatssicherheit ließ sich flei-ßig informieren, nahm aber die rein politischen Aktivitäten wesentlich ernster.

Wer dieses Buch liest, merkt, dass es für politische Akti-vitäten, spiritueller und geistiger Kraftquellen außerhalb der Politik bedarf. Deshalb ist Mehlhorns Aufsatz zur Wirkung des grandiosen polnischen Lyrikers und Nobelpreisträgers Czesław Miłosz so wichtig.

Es bleibt ein Erbe der osteuropäischen Opposition, die Politik nicht nur Berufspolitikern zu überlassen. Die Kraft des Außerpolitischen für die Politik hilft, jede Normalität auch heute als eine fragile, gefährdete zu erkennen. Norma-lität gerät zu schnell zum Befangenheitswort, mit dem Erin-nerungen oft glattgebügelt, verdrängt, ja verdammt werden. Und dann gibt es Dinge, die helfen, Erinnerungen wachzu-halten, zu reaktivieren. Die helfen, konkret zu werden und anderen Erfahrungen zu vermitteln. Dazu braucht es eine Wahrnehmungskompetenz, eine Erinnerungslust, und im glücklichsten Fall erwächst daraus dann Beurteilungskom-petenz – oder ganz einfach Neugier. Zum Beispiel auf dieses Buch und seine Texte, das von dem Bürgerrechtler, Pfarrer und Publizisten Stephan Bickhardt kongenial zusammenge-stellt ist – einschließlich der Fotos und Aufsätze zur Person.

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Dieser Band soll der Neustart einer Buchreihe sein, die mein Vorgänger Michael Beleites – von Anfang an mit tatkluger Begleitung von Dr. Nancy Aris – installierte. Dank der Auto-ren und einer guten Verlagsarbeit wirken die Bände in die interessierte Öffentlichkeit hinein – weit über Sachsen hinaus, ohne den lokalen Bezug zu verleugnen. Diese Reihe versucht, einen gut lesbaren Zugang zu wichtigen, aber auch vernach-lässigten Aspekten der DDR-Geschichte und ihrer Präsenz in der Gegenwart zu vermitteln.

Ich danke allen, die zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben. Besonders danke ich Heimgard Mehlhorn, die den Band von Anfang begleitete und erst ermöglichte.

Lutz RathenowSächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen

Dresden, der 15. Dezember 2011

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Editorische Hinweise des Herausgebers

In Deutschland ist wenig bekannt, wie sehr Ludwig Mehlhorn in Polen geschätzt wird. Ludwig Mehlhorn gehört dort zu den Menschen, die das Bild von den Deutschen neu geprägt haben. Der Botschafter der Republik Polen in Berlin, Dr. Marek Prawda, fasst Anerkennung und Kritik in seiner Leipziger Rede zur Demokratie am 9. Oktober 2011 in einen Satz: »Ich habe das Gefühl, dass man in Deutschland zu wenig darüber weiß, wie sehr Ludwig bei uns bekannt und respektiert war, und was er – dieser bescheidene Mensch – getan hat, damit sich Deutsche und Polen besser verstehen!«

Worin liegt die Ursache für diese Unbekanntheit? Sind Menschen, die zusammen mit tschechischen, polnischen und ungarischen Kritikern des ehemaligen Staatssozialismus in Mitteleuropa gegen Diktatur und für eine an den Menschen-rechten orientierte Politik eintraten, im wiedervereinigten Deutschland überhaupt interessant? Sind Christinnen und Christen, sofern sie eben nicht parteipolitisch einzuordnen sind, aber doch absichtsvoll öffentlich wirken wollen, rigorose Personen, zu denen die Zeit und der Zeitgeist nicht passen?

Die religiöse Entscheidung, die Menschenrechte und der mitteleuropäische geistige Zusammenhalt der Systemkritiker – das sind Ausrichtungen im Leben von Ludwig Mehlhorn, die er in Deutschland mit anderen teilt.

Nach seinem frühen Tod fanden sich mehr Manuskripte und Briefe, als der zurückhaltende Autor seinen Weggefähr-ten je bekanntgegeben und erläutert hat. Über 100 Texte, die der Veröffentlichung wert sind – darunter Essays, Arti-kel, Vorträge, Übersetzungen −, manche von ihnen verstreut erschienen, galt es zu sichten. Rundfundkommentare, hand-schriftliche Briefe und Skripte mussten im Blick auf eine Ver-öffentlichung unberücksichtigt bleiben.1 Die in diesem Sam-melband vorliegende Textauswahl ist somit nur ein kleiner Ausschnitt, der lediglich einen Einblick in die Gedankenwelt

1 Es erfolgte eine Sichtung des umfangreichen Nachlasses, die auch die Daten auf verschiedenen Computern einschloss.

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des Ludwig Mehlhorn zu geben vermag. Es wurden vor allem solche Texte ausgewählt, die die gedankliche Entwicklung Ludwig Mehlhorns aufzeigen, die nachvollziehbar machen, welche Einflüsse prägend waren und die schließlich Ludwig Mehlhorn als Übersetzer zu Wort kommen lassen. Trotz gründlicher Abwägung der Auswahl war eine thematische Überschneidung einiger Artikel nicht zu vermeiden.

Den Auftakt des Sammelbandes bildet ein Beitrag des Herausgebers, der den biografischen Prägungen Ludwig Mehlhorns nachgeht. Danach folgt eine Auswahl von Lud-wig Mehlhorns Texten.

Ludwig Mehlhorns Liebe zu Polen und der polnischen Literatur kann als der Ausgangspunkt seines Schreibens ver-standen werden. Im Sommer 1970 schrieb er auf einer Post-karte an seine Frau Heimgard Mehlhorn: »Die Polen sind Leute, zu denen man sofort einen herzlichen Kontakt knüpfen kann. Ein Nachbarland, das man kennen lernen muß.«

Ludwig Mehlhorn lernte Polnisch, bildete seine Gedanken von Ost nach West. Ein Unbedingtes haftete dieser Bemü-hung an und so stehen in diesem Band am Anfang Aufsätze und Essays, die er als Ost-West-Dialog verstanden wissen wollte. Diese Beiträge begründen einen Weg zu Versöhnung und Rechtsstaatlichkeit, zu Zivilgesellschaft und Zivilcourage sowie zur religiösen Kraft. In dieser Denkbewegung gelang es Ludwig Mehlhorn, eine ganz eigene Sprachmacht zu ent-falten – gegen die Abgrenzungspolitik der SED gegenüber Polen und der Solidarność und gegenüber dem Westen und der Bundesrepublik − hin zu Öffnung und Demokratie Jetzt. Ein Brief, einige Artikel und Dokumente sind dazu im Buch enthalten.

In den 90er Jahren bewährte Ludwig Mehlhorn die Per-spektive des Zusammenwirkens gesellschaftlicher Gruppen in Europa, indem er, paradox formuliert, fortsetzte, was zuvor unmöglich war. Sein Traum vom Bürgereuropa wurde in dieser Zeit auf die Probe gestellt. Die Krise der ostdeutschen

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Gesellschaft, die Verwerfungen in den Regionen, die zöger-liche Vergangenheitsbewältigung und die rechtsextremis-tischen Übergriffe forderten ihn zu Stellungnahmen heraus. Die im letzten Teil der Textauswahl veröffentlichten Aufsätze befassen sich damit. Es gehört zum Auswahlprinzip dieses Buches, hier einen weiteren Schwerpunkt zu setzen. Andere Themenbereiche, etwa die Frage nach der Zukunft der Kir-che müssen späteren Veröffentlichungen vorbehalten bleiben. Dafür rundet eine kleine Auswahl an Übersetzungsarbeiten die Textauswahl ab.

Die Texte über Mehlhorn werden mit der Frage von Widerstand und Repression eröffnet. Ilko-Sascha Kowalczuk geht der Frage nach, wie Ludwig Mehlhorn von der Staats-sicherheit verfolgt wurde. Trotz der angesichts der Akten-vernichtung schwierigen Quellenlage bietet der Aufsatz ein erstaunlich dichtes Bild der Überwachung.

Es folgen Beiträge mit grundlegender Aussagekraft, die Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements im zukünf-tigen Europa aufzeigen. Hier kommen Wegbereiter, Freunde und Kollegen zu Wort. Die Anmerkungen zu den Beiträgen stammen von den jeweiligen Autorinnen und Autoren.

Der letzte Abschnitt enthält ausgewählte Nachrufe und die Trauerrede von Dr. Rüdiger Sachau.

Ludwig Mehlhorn warb für einen gemeinsamen Weg der Bürger Polens und Deutschlands. Der Begegnungsstätte für Europäische Verständigung, in Krzyżowa nahe Wrocław gele-gen, galt seine Bemühung.

Ludwig Mehlhorn, der Mathematiker und Bürgerrechtler, der Studienleiter für Mitteleuropafragen an der Evangelischen Akademie zu Berlin und Inspirator 1000er Dialoge fehlt vie-len. Ob sein Denken nun andere erreicht, die sich nach Inspi-ration für europäisches und solidarisches Engagement sehnen? Trägt der mitteleuropäische Geist einer Zusammengehörig-keit von Ost und West wenigstens in der Mittellage des Kon-tinents? Weggefährten und Freunde versuchen, in den beiden

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Schlussteilen des Buches mit eigenen Beiträgen die Quellen und Prägungen, ja das Vermächtnis, das Ludwig Mehlhorn hinterlässt, zu heben. Dazu gehört auch seine Standhaftigkeit, gegen die Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit der DDR aufzutreten und wahrhaftig im Tun zu bleiben.

Die Kraft des Widerstandes entdeckte Ludwig Mehlhorn in Polen. Er empfand tiefste Achtung vor den Bauern in den Masuren, den Diskutanten im Klub der Katholischen Intelligenz in Wrocław, seinen vielen Bekannten in den Streikkomi-tees oder des heutigen Parlaments und der Regierung. Von den Menschen im Nachbarland her lernte er den deutschen Widerstand gegen Hitler kennen und schätzen. Dass die Kraft des Widerstands ein Ethos braucht, um zu bestehen, dem nun galten und gelten seine Schriften. Solidarität und Freiheit – untereinander und für andere, könnte er sagen – leben und bewähren, das war seine Absicht.

Den Mitwirkenden an diesem Buch danke ich, zuerst der Ehefrau Heimgard Mehlhorn. Mit ihr konnte ich die Auswahl der Beiträge diskutieren. Sie besorgte die Auswahl der Fotos. Dr. Nancy Aris, Annemarie Franke, Annemarie Cordes, Lutz Rathenow und Dr. Ilko-Sascha Kowalczuk gaben wertvolle Hinweise zu den teils verstreuten Veröffentlichungen und Akten und deren Einordnung in das Buch. Sie halfen, Ludwig Mehlhorns einmalig zu nennendes Zeugnis herauszuarbeiten.

Stephan Bickhardt

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Inhalt

Vorwort (Lutz Rathenow) 7

Editiorische Hinweise des Herausgebers 10

Stephan Bickhardt Stationen einer Biographie im Widerstand 19

I. Texte von Ludwig Mehlhorn

Essayistik aus dem Untergrund

Die Zeit ist reif, dass sich die Geister scheiden − Versöhnungsdienste der Aktion Sühnezeichen 47

Wir brauchen ein Dialog förderndes Klima − Europa und der Dialog zwischen Deutschen und Polen 50

Der geschändete Mythos – Die Reflexion von Macht und Gewalt im 20. Jahrhundert im Werk von Czesław Miłosz 57

Start einer Zeitschrift: Res Publica 83

Das mit dem Essen und Heizen ist nicht das Schlimmste – Notizen nach einem Besuch in Siebenbürgen 87

Initativen für Demokratie Jetzt

Die Berliner Mauer – Brief an die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg 103

Synodalantrag »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« 115

Von der Ungerechtigkeit auferlegter Abgrenzung – Bemerkungen zum Seminar »Abgrenzung und Öffnung« 119

Aufruf zur Einmischung in eigener Sache 122

Pfiffe für die Opposition – Beim Thema »Polen« bekommen die DDR-Oppositionellen wenig Beifall 126

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»Die Mauer muss weg« – und nun? 131

Demokratie − Lebenselixier der zivilen Gesellschaft 133

Die DDR-Opposition und die nationale Frage in den 80er Jahren 137

Aufbruch in Mitteleuropa

Anmerkungen zur Rezeption Dietrich Bonhoeffers in Polen 146

Meine Begegnung mit Polen 155

Nach 15 Jahren – was bleibt? 169

Moralische Grundlagen und politische Lernprozesse – Rede zur Verleihung des Dialog-Preises 174

Krise der ostdeutschen Gesellschaft und der Rechtsextremismus

Volksgemeinschaft versus Zivilgesellschaft – Rechtsextremismus in den neuen Ländern 180

Kontinuitäten und Brüche: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland 191

Die Verfassungspatrioten stehen mit dem Rücken zur Wand: Beitrag für das Forum der Fremden 198

Der Übersetzer Ludwig Mehlhorn

Czesław Miłosz: Von Engeln 204

Slawomir Mrożek: Hühnerfarm 205

Slawomir Mrożek: An den Sicherheitsdienst 208

»Das Leben im Wartesaal« − Fragmente eines Redaktionsgesprächs 208

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II. Texte über Ludwig Mehlhorn

Widerstand und Repression – Ludwig Mehlhorn und die Staatssicherheit

Ilko-Sascha Kowalczuk

Im Blick des Staatssicherheitsdienstes – Ludwig Mehlhorn 214

Wirkungen von Ludwig Mehlhorn

Gerd Poppe Wahrheit und Öffentlichkeit – Ludwig Mehlhorns Beitrag zum Ende des Kommunismus 242

Annemarie Franke Wahrheitsanspruch gegen jede Diktatur – Ludwig Mehlhorns Beitrag zur Kreisauer Gedenkstätte für Widerstand und Opposition 248

Annemarie Cordes Europa von unten aufbauen – mit der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung 256

Nachrufe auf einen Freund

Rüdiger Sachau Predigt zur Beerdigung von Ludwig Mehlhorn am 9. Mai 2011 274

Marek Prawda Abschied von Ludwig Mehlhorn, 9. 5. 2011 Botschafter der Republik Polen in Berlin 285

Katarzyna Madon-Mitzner Nachruf auf Ludwig Mehlhorn 289

Autorenverzeichnis 296

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Stephan BickhardtStationen einer Biographie im Widerstand

Am Berg in BernsbachVon der Stadt Aue her geht es den Berg hinauf, oben liegt der Spiegelwald, einer der Höhenzüge des westlichen Erz-gebirges. Ich fahre nach Bernsbach, dem Geburtsort Ludwig Mehlhorns. Die Straße geht steil herab in den Ort. Der nächs te Berg, die Morgenleithe zieht vor das Auge. Davor, ganz unten im Tal, fließt das Schwarzwasser. Dieses Blickfeld ist es, das dem Freund in den Jahren der Kindheit und Jugend vor Augen stand. Den Südhang, den manche den Balkon des Erzgebirges nennen, geht es nur noch ein Stück bergab. Die Straße heißt einfach Berg. Das Geburtshaus ist freundlich von außen zu betrachten. Die Schieferplatten auf den Geh-wegen und die Schindeln aus gleichem Material an den umlie-genden Häusern geben einen Eindruck von der Verbunden-heit der Menschen mit steinigem Boden und rauem Klima. Ich komme das erste Mal nach Bernsbach.1 Was hat Ludwig Mehlhorn mitgenommen aus seiner Heimat, als er seine Hei-mat verließ? Die herzliche Begrüßung im Haus ist wohltuend. Einst, vor dem Ausbau, haben die vier Geschwister mit den Eltern auf engstem Raum gelebt. Wenn es die Witterung zuließ, war der Platz der Kinder im Freien. Mit dem nächst-jüngeren Bruder Matthias – Ludwig war der Älteste unter den Geschwistern – versorgte er zuweilen Schafe. Überhaupt zog es ihn ins Freie. Der Neunjährige schreibt an seine Patentante: »Vati und ich müssen eben in den Wald. Auf den Waldwegen – wenn sie auch noch so schön sind – hält man es beim besten Willen nicht aus.« Unterholz und Pilze sammeln hatten es ihm angetan, aber auch der Schulgarten. Mit dem alten Leh-rer Engewald gestaltete er den Schulgarten, verbrachte seine Freizeit dort, zog rote Rüben. Viele Jahre später machte er dann aus solchen Rüben seine allseits beliebte Rote-Rüben-suppe – barszcz czerwony nach polnischem Rezept. In jenen

1 Der Besuch in Bernsbach fand am 23./24. September 2011 gemein-sam mit Heimgard Mehlhorn statt.

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Jahren im Garten zu Hause und in der Schule wuchs dann auch sein erstes Interesse am Beruf des Gärtners. Aber erst einmal mussten die langen Abende im Gebirge überstanden werden. Es mutet ein idyllisches Bild an, wenn erzählt wird von Vater Gotthard, der am Abend vorlas im Kreis der ganzen Familie und die Mutter Handarbeiten verrichtete.

Natürlich lasen die Kinder selbst und manches Buch dann schon zum 10. Mal. »Onkel Toms Hütte« hatte den Vorzug im Gebirge. Der Vater ging tagsüber seiner Arbeit in den Blechformwerken Bernsbach nach, er war Werkzeugmacher – und ein zeitkritischer Geist. Für Paul Oestreicher, den angli-kanischen Priester und Friedensaktivisten, oder Willy Brandt interessierte er sich. Eher selten erzählte der Vater von seinen Lebensstationen. Die Zeit in der französischen Kriegsgefan-genschaft von 1945 bis 1948 wurde dann beschrieben. Im Besonderen erzählte er – der als Flieger ausgebildete Soldat, der ein einziges Mal zum Einsatz kam – von französischen Fremdarbeitern, die aus Deutschland zurückgekehrt waren und von heimlich hilfsbereiten Deutschen berichteten. Die

Die Geschwister Siegfried, Matthias, Sigrid und Ludwig in Bernsbach / Erz­gebirge 1964

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Lage für den kriegsgefangenen Vater wurde seither spür-bar besser. Dass praktische Auflehnung gegen die Diktatur aus Nächstenliebe in Frankreich gute Nachwirkung hatte, bewegte die Familie. Das erste Mal erfuhr das Kind von den verschlungenen Pfaden der Versöhnung. Mit den Worten »nicht noch einmal« lehnte es Vater Gotthard ab, an der Flie-gerei in der »Gesellschaft für Sport und Technik« (GST), einer vormilitärischen Jugendorganisation in der DDR, mitzuwir-ken. Es sollte nicht allein beim Lesen, Vorlesen und Erzählen, manchmal auch Basteln und Schnitzen bleiben.

Der Mauerbau, das Deutschlandlied und die Kirch gemeindeIn den ersten Augusttagen 1961 schafften die Eltern einen Fernseher an. »Wir schauten nur Westfernsehen«, äußert heute die Mutter bestimmt. Die Bilder vom 13. und 14. August 1961 hatten eine schockierende Wirkung. »Das war einfach nur schlimm, eine Grenze mitten durch das Land«, erzählt der Bruder. Die Geschwister nahmen genau wahr, wie der elfjährige, große Bruder sich zu Mauerbau und Stacheldrahtgrenze einstellte. Das Politische drang mit diesen Bildern in die kindliche Welt ein. Es war nicht so sehr die Ablehnung der kommunistischen oder sozialistischen Ideo-logie, vielmehr mochte die Familie die DDR nicht, das ver-unsicherte und brutale Bonzentum, den Atheismus sowie die Abgrenzung und Abriegelung. Aus jener Zeit, genau gesagt dem darauffolgenden Jahr, ist eine Episode überliefert, die Ludwig Mehlhorn zeigt, wie ihn später viele erlebt haben. In den Posaunenliederbüchern, die den Bernsbachern aus dem Westen geschenkt worden waren, fehlte eine Seite. Sie war schlicht herausgerissen worden. Der Zwölfjährige ließ nicht locker. Das Deutschlandlied war es also, das im voraus-eilenden Gehorsam der Selbstzensur herausgelöst worden war. Er achtete darauf, wo das Lied sonst zu finden war, hörte im Deutschlandfunk davon und fand die Melodie in Josef Haydns

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Kaiserhymne. Eines Tages nahm er die Trompete unter den Arm, stellte sich auf die Dorfstraße und blies diese Melodie des Deutschlandliedes im Freien. Das brachte ihm heftigen Ärger bei den Eltern ein. Zum Dorfgespräch wurde diese Aktion aber nicht.

Im Jahr 1990 bekannte sich Ludwig Mehlhorn nicht zu dieser Nationalhymne in der Textfassung von Hoffmann von Fallersleben. Er sah in Bertolt Brechts Kinderhymne wie so viele andere eine geeignete Textgrundlage für eine neue Natio-nalhymne, die der Zäsur des Jahres 1989 angemessen erschiene.

Der Posaunenchor, die lutherische Kirchgemeinde und die Gottesdienste gehörten zum Lebensalltag der Familie. Die Kirche von Bernsbach, ein barocker Zentralbau, zeigt einen mächtigen Altar, in dessen Mitte Relieffiguren das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern der Gemeinde zur Verehrung anbieten. Die Figurengruppe beeindruckt in naivem volks-tümlichen Charakter, der für ein barockes Schnitzwerk eher

Die Geschwister Ludwig, Sigrid, Siegfried und Matthias beim Musizieren im Garten, 1967

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ungewöhnlich erscheint. Ludwig Mehlhorn äußerte sich nicht nur einmal ablehnend über die allgegenwärtige erzgebirgische Volkskunst, einen inzwischen kommerziellen Erwerbszweig. Hat aber möglicherweise dieser Bernsbacher Altar seine Liebe zur polnischen Volkskunst vorbereitet, einer unkommerziel-len, im Unikat gegebenen Schnitzkunst von Bauern und Handwerkern, fröhlich, verschmitzt, einfältig? In den 1980er Jahren beteiligte er sich an der Herausgabe eines ansehnlichen Bandes von Hans-Joachim Schauß zu dieser Kunst und den sie gestaltenden Menschen aus den ländlichen Re gionen Polens. Der christliche Glaube, aktiv in der Bernsbacher Gemeinde von einer Mehrheit der dort ansässigen Menschen gelebt, bestimmte die Atmosphäre untereinander. Man half sich gegenseitig, hockte aber nicht aufeinander und traf sich in der Kirche.

Das Freiheitsrecht für die ErziehungEin bemerkenswertes Zeugnis des Mutes holt die Mutter Ludwigs Mehlhorns aus einem Karton voller Dokumente der Familiengeschichte heraus. Die Eltern versandten am 29. Dezember 1964 ein Schreiben an die Staatliche Bildungs-kommission beim Ministerrat der DDR. In den Weihnachts-tagen fanden sie Zeit, dem sozialistischen Erziehungskalkül, das nach dem ganzen Menschen greifen wollte, zu wider-sprechen. Dem »einheitlichen sozialistischen Bildungssystem« traten sie entgegen und verteidigten die Rolle eines freien Elternhauses. Eine sozialistische Ganztagsschule zur Indok-trination sollte eingerichtet werden. »Wir erheben aber auch unsere Einwände, wo wir das aus innerer Wahrhaftigkeit und um der freien Gewissensentscheidung willen glauben, tun zu müssen«, schreiben sie schon am Anfang. Sie widersprechen der Auffassung, die sozialistische Weltanschauung könne zur gesetzlichen Grundlage der Erziehung erhoben werden: »Wir haben das unveräußerliche Recht, unseren Kindern die Erfah-rungen unseres Glaubens zu sagen und sie in diesem Sinne zu

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erziehen«, schreiben die Eltern weiter. Sie widersprechen der Anschauung, dass die Arbeit im Mittelpunkt der Erziehung stehen solle: »Für uns ist die Arbeit nicht nur ein Mittel zum Geldverdienen, sondern ein von Gott gestellter Auftrag und als solcher ein ethischer Begriff.« Diese Weihnachtsbotschaft aus den Bergen an die SED-Oberen in Berlin hat es in sich. Der Ganztagsschule als »Zentrum aller Erziehungseinflüsse« halten Hilde und Gotthard Mehlhorn etwas entgegen. »In der prak-tischen Durchführung würde es dennoch eine Beschneidung der elterlichen Rechte bedeuten, denn diese würden zum blo-ßen Ernährer und Versorger ihrer Kinder degradiert. Wir füh-len uns voll verantwortlich für unsere Kinder und protestieren gegen diesen Plan, die Ganztagsschule zu ent wickeln.« Die Mehlhorns behaupteten, keine alltägliche Widerstandsarbeit gegen das System zu leisten. Das sollte sich dann allerdings bei ihrem Sohn genau in diese Richtung entwickeln. Sie widersprachen der Einschränkung der Religionsfreiheit und der Aufrichtung der Erziehungsdiktatur an ihren Kindern. So wurde aus der Bemühung, das christliche Bekenntnis frei leben zu können, ein Freiheitszeugnis überhaupt. Die Totali-tät des Anspruches reichte tief und war für den Einzelnen durchaus schwer zu erfassen. Ludwig Mehlhorn sollte diesen Weg der Analyse des Systems fortsetzen und die Atomisierung der Menschen in der Diktatur wiederholt betonen. Der Frei-heitswille und seine Bekundung ermöglichten in der atomi-sierten Gesellschaft wieder ein religiöses Bekenntnis, das den Menschen stärkte. Und genau in dieser Überzeugung schätzte und bestaunte er die Verbindung von polnischer Opposition gegen die kommunistische Partei und katholischer Kirche. Im Widerspruch der Eltern gegen die Erziehungsdiktatur nahm er eine Tragfläche der Unter minierung des Systems wahr. Selbstbehauptung und Selbst bestimmung wenigstens in der Familie wollten sich viele nicht nehmen lassen. Die Gemein-schaft im innersten Kreis gefährdet zu sehen, forderte heraus. Hier griff die SED in ein tief in unserer Kultur verankertes

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Bewusstsein ein, welches ihr mit massenhafter Flucht sowie individuellem und gruppenbe zogenem Widerstand das Ende bereiten sollte. Wer die Familie und das christliche Bekennt-nis angetastet sah und widersprach, lieferte dazu einen lebens-nahen Beitrag – ohne das Ende des Systems deshalb schon zu intendieren. Ludwig Mehlhorn nahm dieses Zeugnis der Eltern auf seinen Lebensweg mit, nicht in dem Bewusstsein, in einer bestimmten Weise etwa mit einem Auftrag versehen zu sein. Die Eltern hatten in der Not widersprochen und damit den Kindern eine systemuntypische Offenheit mit auf den Weg gegeben. Dass sich dies alles im Alltag mit anderem vermengte, hat diese Offenheit nicht zerstört. Im lutherisch geprägten Erzgebirge wurde Hilde Mehlhorn die Finanz-verwalterin in der Gemeindeverwaltung von Bernsbach. Ihr ältester Sohn zog aus, verließ das strenge und gütige Eltern-haus, ging nach Gera und nahm eine Berufsausbildung mit Abitur auf. Gemüsegärtner mit Abitur erlernte er nun nach dem Abschluss der 10. Klasse. Im Internat in Meilitz bei Gera lernte er neue Freunde kennen.

Begegnungen bei Aktion Sühnezeichen und die militä-rische Besetzung der ČSSR im August 1968Elisabeth Berger hatte über ihren Vater von Aktion Sühnezei-chen, eine im Jahr 1958 begründete Organisation, die aktiv für die Wiedergutmachung von nationalsozialistischen Ver-brechen eintrat, gehört. Ludwig Mehlhorn wusste von sei-nem Vater über die Kriegsverantwortung und interessierte sich für diese Gruppe. Zu hören war von jungen Leuten aus verschiedenen Ländern, die sich zu gemeinsamer Arbeit an Gedenkorten des Krieges trafen. Im Juli 1968 nahm er erst-mals an einem Lager dieser Aktion in Potsdam teil und traf auf einen jungen Slowaken. Familie Lauscher aus Prag, die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatte, war zu Gast. Die jungen Leute diskutierten über den Vietnamkrieg und begriffen, ein Gedenken an Vergangenes reibt Fragen der

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Gegenwart in das Denken und Fühlen. Die Erfahrung einer Gruppe, nicht geführt von einem kirchlichen Mitarbeiter, dieses Aufkommen der Themen und die manchmal endlos folgenden Diskussionen, drängten ihn in eine neue Lebens-phase. In Potsdam begegnete ihm Heimgard Wieschke, die den Beruf der Buchhändlerin in Leipzig erlernte. Sie brachte ihn zur Literatur. Gemeinsam gingen sie durch Potsdams Buchhandlungen. Mit ihr entdeckte er in den kommenden Jahren Johannes Bobrowski, Siegfried Lenz und Heinrich Böll, die mit ihrem literarischen Werk halfen, ein Klima der Verständigung zwischen West und Ost vorzubereiten. Die Sommerwochen im August verbrachte Ludwig Mehlhorn dann wieder in seiner Heimat. Die vielen neuen Eindrücke im vertrauten Umfeld zu verarbeiten, war ihm willkommen. Es kamen aber die sowjetischen Panzer. Viele Orte im Erz-gebirge gehörten zum Aufmarschgebiet der Invasionstruppen, die den reformorientierten Prager Frühling im Nachbarland niederschlagen sollten. Die Tage zuvor hatte er noch mit dem slowakischen Jugendlichen verbracht. Befürchtungen, Ohn-macht und Wut mischten sich. Wo wollen die Truppen hin? Bei uns sind sie stationiert, dann also ins Nachbarland.

Seine Mutter erzählt vom Spaziergang am 21. August 1968 über die Felder am Südhang von Bernsbach gemeinsam mit ihrem Sohn. Am Tag des Einmarsches überflog eine sowje-tische Transportmaschine in Richtung Tschechoslowakei den Ort. Da erhob er beide Fäuste und schimpfte zum Himmel. Die an diesem Tag empfundene Ohnmacht sollte sich ihm einprägen, vergleichbar mit den Fernsehbildern vom Bau der Mauer in den Kindertagen. Ludwig Mehlhorn wollte diesen Himmel der Zerstörung herunterholen und überwinden hel-fen. Der Weg ging nun zum Studium nach Freiberg an die Bergakademie und in die Evangelische Studentengemeinde.

Bevor ich aus dem Gebirge zurückfahre, höre ich von einer zweiten Geschichte vom Fernsehen. Sie wirft ein Licht auf die Breite widerständigen Verhaltens und zeigt den Drang

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zu Neuem in den 1980er Jahren. Die Bernsbacher bildeten 1985 eine Antennengemeinschaft, um besser Westfernsehen zu sehen. Flugs kamen sie zusammen und verlegten von Haus zu Haus die Kabel, die Antenne hatten sie oben im Spiegel-wald aufgestellt. Und heute funktioniert sie noch bestens.

Freiberg in Sachsen und das Jahr 1970Freiberg nun begründet wirklich einen neuen Lebensab-schnitt. Ludwig Mehlhorn hatte sich für das Mathematik-studium entschieden und war an der Sächsischen Bergakade-mie angenommen worden. Zum Herbstsemester 1969 kam er in die Kleinstadt und wurde immatrikuliert. Die Akademie erlebte gezwungenermaßen eine erhebliche Umstrukturie-rung. Denn schon 1968 wurde die Fakultätsstruktur aufgelöst und stattdessen Sektionen eingerichtet – mit dem Ziel der so genannten besseren gesellschaftlichen Kontrolle und einem Zurückdrängen der akademischen Ausrichtung. In dieser Atmosphäre hatten sich die evangelische und die katholische Studentengemeinde zu behaupten. Ludwig Mehlhorn erlebte Petra Hinske und Dietrich Schildbach als Sprecher bzw. Ver-trauensstudenten der Gemeinde, mit denen ihn eine langjäh-rige Freundschaft verband.2

Als Jahresthema war von den Studenten »Nation« gewählt worden mit entsprechenden wöchentlichen Vortragsthemen. Am 1. Dezember 1969 entschlossen sich die Freunde, einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Nixon zu verfassen: »… uns lehrt das Evangelium, daß jeder Krieg ein Verbrechen ist, weil er Elend, Tod und Verrohung unter die Menschen bringt.« Der Antikriegsbewegung in Amerika wird die Sym-pathie erklärt und der Präsident zu neuen Schritten ange-regt, den Vietnamkrieg zu beenden. Mehlhorn selbst folgte als Sprecher in den Jahren 1970/71. Zuvor, im Januar 1970, aber war ein Mitstudent und Gemeindemitglied, Wolf Ger-lach, aus politischen Gründen exmatrikuliert worden. Ludwig Mehlhorn zeigte Mut und wie Petra Hinske beschreibt, war

2 Das Gespräch mit Petra und Wolfgang Hinske sowie Heimgard Mehlhorn fand am 17. Oktober 2011 statt.

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er immer ein Stück weiter, ungeduldig auch. »Wir müssen konkret werden« war einer seiner liebsten Sätze. »Wenn Ludwig vor der Gemeinde sprach, fühlten wir uns gefor-dert«, berichtet ihr Mann Wolfgang. Mehlhorn leitete die gut besuchten Gemeindeabende gemeinsam mit dem Stu-dentenpfarrer. Diese Erfahrung, vor anderen zu sprechen, und die aufge ladene politische Atmosphäre seit dem Jahr 1968 ließen in ihm ein Gefühl der Entschlossenheit aufkom-men. Die Lektüren zu Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer,

Studienzeit in Freiberg: eine Aufnahme von Ludwig Mehl­horn mit dem polnischen Studenten Marek Durski und dem Kommilitonen Dietrich Schildbach (von rechts nach links)

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die Ökumene, die Kneipenabende, und dies immer gemein-sam mit anderen Studenten währten, durch all die Jahre des Mathematik studiums bis 1973. Die Freiberger Zeit bedeutete auch, »über den Tellerrand hinausschauen zu wollen«. Der Geophysik student Andreas Hanske, heute Maler und Web-designer in Leipzig, rief ihm zu: »Du musst schreiben, du musst schreiben.« Er meinte wohl, literarische Texte zu erstellen und zu verteilen. Ludwig Mehlhorn entschied sich für einen ande-ren Weg. Er lernte Polnisch, übersetzte Gedichte und Texte aus dem polnischen Samisdat 3, der Untergrundpresse, und verteilte diese in den folgenden Jahren. Seine Freundin Heim-gard Wieschke kam regelmäßig aus Dessau angereist, brachte Biermann-Tonbänder mit, die Freunde bei Wolf Biermann in der Wohnung in der Chausseestraße in Berlin-Mitte abgeholt hatten. Auf den Budenabenden mit den Freunden wurden auch Gedichte von Reiner Kunze gelesen, freie Diskussionen geführt. Eine oppositionelle Haltung wuchs in diesem geistigen Klima. Über den Tellerrand zu schauen nahm Ludwig Mehl-horn sehr persönlich auf. Donnerstags besuchte er regelmäßig die Orgelandacht im Freiberger Dom, ein Ort, den er bis ins letzte Lebensjahr regelmäßig bei den Fahrten in seine Heimat ansteuerte. Freiberg schließlich ermöglichte ihm die Verbin-dung zu Rainer Alisch, der seit 1974 Geologie studierte. Mit ihm wird Ludwig Mehlhorn bis zu dessen Verhaftung 1977 politisch zusammenarbeiten und Texte der Charta 77 und des polnischen Komitees zur Verteidigung der Arbeiter verteilen.

Nach den ersten Monaten des Studiums zwischen Weih-nachten und Neujahr fährt Ludwig Mehlhorn zum Jahrestref-fen der Aktion Sühnezeichen und nimmt den Impuls des ersten Sühnezeichenlagers in Potsdam auf. Dort lernt er den Nestor der ostdeutschen Versöhnungsarbeit gegenüber Polen kennen, Günther Särchen, katholischer Sozialpädagoge aus Magde-burg. Ludwig Mehlhorn bewirbt sich für das Aufbaulager in der Jesuitenabtei Święta Lipka (Heiligenlinde) für Sommer 1970 in den Masuren. Diese Reise wird zu einer Zäsur in

3 Der Samisdat (aus dem Russischen: Selbstverlag) veröffentlichte und ver breitete alternative, nicht systemkonforme Bücher, Mappen und Flugblätter aus Opposition, Kunstszene und Kirche auf nicht offiziellen Wegen.

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seinem Leben. Am Lager nimmt auch der polnische Student Marek Durski teil, der ihn bis 1977 häufig in der Berliner Wohnung besucht und mit Informationen aus dem Nachbar-land versorgte. Durski war seit 1977 Mitglied in der Ordens-gemeinschaft von Taizé.

Die Mutter des Verstorbenen erzählt von dieser Reise 1970. Er sei zurückgekehrt und sei verändert gewesen und rauchte. Sie berichtet von einer apodiktischen Feststellung ihres Sohnes im Familienkreis: »Die Polen hassen die Deut-schen und haben Grund dazu. Sie haben sehr leiden müssen unter der deutschen Besatzung.« Die Schwere von Krieg und Unrecht, in ihrem Ausmaß als Katastrophe zu begrei-fen, hat sich ihm mit dieser ersten Reise nach Polen dau-erhaft ins Bewusstsein geschrieben. Seine Ernsthaftigkeit, das Ringen um Genauigkeit im moralischen Urteil, dürfte auf diesem Weg einen Anstoß bekommen haben. Mitten in fröhliche Runden hinein konnte Ludwig Mehlhorn manch-

Ludwig Mehlhorn als Student auf Besuch zu Hause

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mal Wahrheitssätze rufen, die haftenblieben. Er selbst hat seine erste Reise nach Polen mehrfach beschrieben. Im Interview mit Ulrike Kind spricht er über die Wirkungen der Reise: »Für mich war das ganz klar erst mal eine Hori-zonterweiterung. Hierzu gehörten die Gespräche und der Austausch darüber innerhalb der kleinen privaten Kreise von Sühnezeichen, der Studentengemeinde, in denen ich damals verkehrte. Politische Opposition gab es zu der Zeit in der DDR jedenfalls nicht als öffentlich wahrnehmbare Formation. Es waren immer nur einzelne Dissidenten. Aber ich war damals Anfang der 1970er Jahre noch nicht in Ber-lin und somit auch von gewissen Zentren abgeschnitten. Die Erfahrungen in Polen haben insofern meine Wahrneh-mung der DDR verschärft, indem mir klar geworden ist, wie groß das Maß an Freiheitsbeschränkung ist, das uns auferlegt wird. Damals habe ich hieraus noch keine poli-tischen Konsequenzen gezogen.« 4

4 Interview Ulrike Kind: Es wehte einfach ein freierer Geist. Zeit-zeugengespräch mit Ludwig Mehlhorn, in: ad hoc international, 3. Jg. Heft 6, September 2009, S. 6 f.

Trotz der schwierigen Themen sind die Treffen der Aktion Sühnezeichen ein ausgelassenes Miteinander: Ludwig Mehlhorn (vorn links) mit anderen Teilnehmern bei einem Treffen in Greifswald 1971

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Was haben wir Deutschen angesichts der Geschichte und der gemeinsamen Zukunft von Polen zu lernen? Diese Frage beschäftigte ihn fortan.

Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und die Freunde in WrocławLudwig Mehlhorn begann, den biblischen Versöhnungs-gedanken mit einer aktiven Haltung für Veränderungen zu mehr Freiheit und letztlich auch für Demokratie und Men-schenrechte zu verbinden. Dass er den Versöhnungsgedanken angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus persönlich ergriff, dankten ihm gerade Menschen der älteren Generation in Polen. In den Jahren 1968 –1970 prägte sich eine Geistes-haltung aus, die über Jahrzehnte ein Kraftfeld blieb. Ludwig Mehlhorn war im Sommer 1970 viel unterwegs. Mit seiner Freundin Heimgard Wieschke besuchte er die Studenten aus Poznań, die er in Święta Lipka getroffen hatte, noch im Som-mer 1970 in einem anderen Sommerlager der Aktion Sühne-

Ludwig Mehlhorn, Heimgard Wieschke, Marek Durski und Helena Gronowska bei einem Treffen der Aktion Sühnezeichen in Pozna 1971

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zeichen in Greifswald. Treffen der Aktion Sühnezeichen waren in Poznań und Oświęcim 1971, in Nowa Huta bei Krakau 1972, in Neustadt an der Dosse 1973 und in Wrocław 1974.

Es schlossen sich daneben weitere Einzelreisen an. Die Tage in Wrocław waren von Tiefe und Freiheit der Begegnung getragen. Ludwig Mehlhorn leitete das Lager gemeinsam mit Jadwiga Czaplińska, der ältesten Tochter des Vorsitzenden des Klubs der katholischen Intelligenz. Ihre Eltern waren im Urlaub und hatten der Gruppe das Haus überlassen. Ungarische, pol-nische und deutsche Jugendliche lebten und arbeiteten zusam-men. Die Nachmittage und Abende, natürlich mit Kochen und freier Zeit verbunden, hatten ein Thema. Schulbücher wurden verglichen auf die jeweilige Darstellung der Verbre-chen des 2. Weltkrieges hin. In selbstbestimmter Atmosphäre wurde hier sorgsam gearbeitet, Bildungsarbeit am Küchen-tisch betrieben. Marek Suchar und Maciej Ziemba wurden in jenen Tagen bleibende Freunde für Ludwig Mehlhorn, die Jahre später die Arbeit des Studien leiters für Ostmittel - euro pa an der Evangelischen Akademie zu Berlin unter-stützten. Mehlhorn begegnete in diesen Tagen auch Dr. Ewa Unger, der Vizepräsidentin des Klubs, die seit 1988 auf pol-nischer Seite zum Motor der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung wurde.

Im Anschluss an Ludwig Mehlhorns Beerdigung am 9. Mai 2011 wurde in der Berliner St. Bartholomäuskirche eine Kondolenz namhafter Familien aus Wrocław verle-sen, in der diese Zusammenarbeit betont wird: »Indem wir zusammenarbeiteten und beteten und uns oft stundenlang unterhielten, suchten wir nach Gemeinsamkeiten, trotz vieler wichtiger Unterschiede, ohne dabei schwere Fragen zu ver-meiden. Gleichzeitig versuchten wir, zusammen die Realität des Kommunismus in beiden Ländern zu verstehen. Ludwig kam oft nach Wrocław, u. a. nahm er an vielen Seminaren teil, was für ostdeutsche Oppositionelle besonders schwierig und riskant war. In den 1970er Jahren brachte er sich in die

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aktive Zusammenarbeit mit der polnischen demokratischen Opposition bzw. mit KOR ein. Und seine Teilnahme war gar nicht nur symbolisch. Ludwig sammelte Spenden in der DDR und schmuggelte über die Grenze beeindruckende Geldsum-men für die verfolgten polnischen Arbeiter. Dafür hat er auch persönlich seinen Preis zahlen müssen. Er wurde entlassen und lange Jahre verfolgt.«

KOR war ein Wort, ja eigentlich eine Abkürzung, welches viele Menschen, auch in Deutschland aussprachen. Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) war etwas Neues. Auf eine Streikbewegung in Radom und Ursus bei War-schau folgten Entlassungen der Arbeiter und reale soziale Not in Familien. Es bildete sich das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, mit Persönlichkeiten wie Jacek Kuroń, Bronisław Geremek und Tadeusz Mazowiecki. Kuroń schrieb ein Aktionsprogramm, Ideen für ein Aktionsprogramm (Myśli o programie działania) hieß der Titel. Die Verbindung von Arbeiterschaft und oppositionellen Intellektuellen und Stu-denten war geschaffen. Ludwig Mehlhorn las und übersetzte das Programm 1977 in Krakau. Der »Zweite Umlauf« (drugi obieg) begeisterte ihn – die illegal gedruckte und verbrei-tete Literatur und im weiteren Sinne alle gesellschaftlichen Aktivitäten, die bewusst in Abkehr von staatlichen Strukturen organisiert wurden, wie z. B. die Fliegenden Universitäten. Das bedeutete die Abkehr von einem Programm des demo-kratischen Sozialismus von oben. Ludwig Mehlhorn wurde selbst aktiv. Mit Freunden sammelte er Geld und verbreitete oppositionelle Texte in Ostdeutschland.

Samisdat heißt Selbstverlag und ProtestDer erwähnte Rainer Alisch, inzwischen Theologiestudent in Leipzig, brachte die übersetzten Gründungsdokumente der Charta 77. Alisch hatte Kontakte nach Prag, fuhr auch nach Warschau und sammelte polnische Dokumente. Letztere übersetzte Ludwig Mehlhorn und gab sie weiter. »Der Akt des

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Weitergebens war noch wichtiger als das Lesen, es ging um die neuen Räume«, sagt Rainer Alisch heute. Am 9. Dezember 1977 erschien der Staatssicherheitsdienst der DDR an Ludwig Mehlhorns Arbeitsplatz in der Hochschule für Ökonomie und nahm ihn mit zur Vernehmung. Auch an mehreren darauf-folgenden Tagen musste er sich zum Verhör in der Zentrale des Staatssicherheitsdienstes in der Magdalenenstraße melden. Der Maßnahmeplan der Stasi schloss eine Haus suchung ein. Zahlreiche Abschriften wurden konfisziert. Heimgard Mehl-horn hatte eine Schreibmaschine von ihrer Mutter überlassen bekommen. Das Paar schrieb nicht nur politische Texte ab, sondern auch literarische, etwa von Reiner Kunze, Bernd Jentzsch und Wolf Biermann. Im Dokumentenkarton von Mutter Mehlhorn liegen heute noch Zeugnisse dieser Ver-teilschriften. Das belegt, dass Heimgard und Ludwig Mehl-horn schon Mitte der 1970er Jahre den Samisdat wirkungsvoll betrieben, ohne dies selbst so genannt zu haben. In jenen Jah-ren kursierten vielfach Abschriften. Das Buch »Die wunder-baren Jahre« von Reiner Kunze wurde geradezu zum Inbegriff für diese Bemühungen. In den Dezembertagen 1977 wurden u. a. Eckhard Maier, Hildegart Stellmacher, Erika Hörner, Petra und Wolfgang Hinske zu Verhören bei der Stasi vor-geladen. Der Nachweis illegaler Gruppenbildung unter den Verteilern und Lesern kritischen Schrifttums sollte gefunden werden. Noch im Dezember 1977 trafen sich einige der Ver-nommenen und lernten sich das erste Mal kennen. Rainer Alisch aber traf es besonders hart. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. 1979 wurde er vorzeitig und unter Zwang in den Westen entlassen. Für Ludwig Mehlhorn folgte ein sukzessives Berufsverbot. Es begann damit, dass er keine Stu-denten unterrichten durfte. Wenig später erhielt er auch keine Arbeitsaufträge mehr. Die persönliche Lage wurde deprimie-rend. Das andauernde Reise verbot durch die 1980er Jahre hindurch und gesundheitliche Einschränkungen mussten ertragen werden. Schließlich wechselte er in das von seiner

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Frau geleitete Kinderheim und arbeitete als Nachtwache. Ein Theologiestudium, für Laien ausgerichtet, stärkte seine Vorliebe für das Alte Testament und die Psalmen. Ludwig Mehlhorn gründete keine unabhängige Gruppe, wie in den 1980er Jahren die politischen, insbesondere die Friedensgrup-pen sich charakterisierten. Erst mit Gründung des Radix-Verlages bzw. der radix-blätter und der Initiative »Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung« im Jahr 1986 sollte dies anders werden. Allerdings unterschrieb und verfasste er, häu-fig auch mit anderen, Petitionen und Eingaben zu Friedens- und Menschenrechtsfragen, traf sich mit Freunden aus der Opposition in einem deutschlandpolitischen Arbeitskreis, organisierte Polenseminare, später nach Anna Morawska, der polnischen Intellektuellen und Bonhoeffer-Forscherin benannt, mit anspruchsvollen Veranstaltungen im Rahmen der Aktion Sühnezeichen und übersetzte polnische Literatur.

Aus einem Gefühl heraus, mit Schweigen zu versagen, griff er des Öfteren ein. Im Jahr 1975 war er – nach der Unter-zeichnung der Schlussakte von Helsinki – mit einem Plakat und der Aufschrift »Für die Menschenrechte in aller Welt« zu einer offiziellen Kundgebung gegangen und wurde zur so genannten Aussprache im Betrieb vorgeladen. Im Dezember 1981 protestierte er gegen die Verhängung des Kriegsrechts in Polen. Pfarrer Rudi Pahnke verlas den gemeinsam mit Ludwig Mehlhorn formulierten Unterstützungsbrief für die Opposi-tion an den Warschauer Kardinal Glemp in der Berliner Elias-kirche während der Christvespern des Weihnachtsabends. Im Sommer 1983 kritisierte Ludwig Mehlhorn gemeinsam mit mir die These einer Studie zur Sicherheitspartnerschaft im gespaltenen Europa, die beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR herausgegeben worden war. Die Rede von »einer polnischen Krise« verkannte, dass »innerstaatliche Repression oder zwischenstaatliche Antagonismen« um des Friedens willen zu benennen seien.

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Noch einmal die Mauer und die freie KommunikationLudwig Mehlhorn schrieb einen Brief an die evangelischen Bischöfe in Ost- und West-Berlin, datiert auf den 27. August 1986. Die Bischöfe verharmlosten in seinen Augen in einem kalkulierten öffentlichen Briefwechsel ihrerseits die Berliner Mauer und ihre mörderischen Folgen. Des Verfassers Antwort war ein Beispiel dafür, dass aus klarer geistiger Orientierung neue gesellschaftliche und kirchliche Realitäten konkret zur Entfaltung kamen. Die viel diskutierte Abgrenzungspolitik der SED hatte mit seiner suchenden und scharfsinnigen For-mulierungsgabe eine wichtige argumentative Zurückweisung erhalten. In all den Jahren war es die polnische Literatur und die vielen gastfreien Versammlungen in der Wohnung, die ihn am Leben erhielten, stärkten und froh machten. Die in den 1980er Jahren in den Wohnungen Mehlhorn und Bick-hardt abgehaltenen Schriftstellerlesungen waren solche Orte plötzlicher und freier Kommunikation.5 Später versuchten die Germanisten Roland Berbig und Klaus Michael, diese Reihe teilweise zu rekonstruieren.6 In einem Brief vom 24. Novem-ber 1986 an den damals bereits in West-Berlin lebenden Jurek Becker luden Mehlhorn und Bickhardt diesen zur Lesung ein. Sie beschrieben die Abende wie folgt: »Die Lesungen finden mangels öffentlicher Möglichkeiten seit etwa zwei Jah-ren einmal monatlich in unseren Wohnungen statt. Vor 8 bis 80 Zuhörern haben inzwischen nahezu 20 Autoren gelesen, in der Regel nicht veröffentlichte oder bei uns nicht zugäng-liche Texte.« Ob Hans Christoph Buch oder Uwe Kolbe, ob Johano Strasser, Detlef Opitz oder Lutz Rathenow und viele andere – diese Lesungen waren Ereignisse und meist gut besucht. In Künstlerkreisen, unter Oppositionellen und Friedensbewegten hatte man gehört, Sonnabend ist wieder Lesung. Die Gastgeber reichten Tee, manchmal eine Suppe

5 Auch Frank-Wolf Matthies, Ekkehard und Wilfriede Maaß und Gerd und Ulrike Poppe hatten schon solche Lesereihen in ihren Wohnungen veranstaltet.

6 Im Typoskript liegt eine unvollständige Zusammenstellung »Lesungen bei Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn« vor. Roland Berbig veröffentlichte zum Thema ein Interview mit Bickhardt in: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 4 (2001), S. 224 –238.

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nach polnischem Rezept. Am Rand gab es Verabredungen und Informationen über selbst verlegte Zeitschriften oder Ausstellungen in Kirchen. Treffen der Initiative für Frieden und Menschenrechte konnten angekündigt werden. Überhaupt kamen eben auch Oppositionelle zu diesen Lesungen, Wolf-gang Templin beispielsweise. Es kam zu Begegnungen von Menschen, die in unterschiedlichen Szenen vernetzt waren. Gegenöffentlichkeit hieß das Programm. Das Tor zum Haus in der Knaackstraße 34 am Kollwitzplatz in Berlin, Prenzlauer Berg, war niemals verschlossen. Ganz oben wohnten Heim-gard und Ludwig Mehlhorn und auf derselber Ebene noch andere Freunde. Eine widerborstige Gemeinschaft war dort in der obersten Etage vereinigt: Die eine hatte ein Telefon, Ludwig und Heimgard Mehlhorn hatten die neue Wasch-maschine, eine Schreibmaschine hatte jeder und brauchte jeder. Und einer war Zahnarzt, eine gute Verbindung zur Schmerzbehebung. Durch das Treppenhaus mit den muffeln-den Toiletten auf halber Treppe und dem Knarren der Dielen ging es nach oben. Ludwig Mehlhorn hatte die Treppenstufen untersetzt mit jeweils einem Ziegelstein, Bruchgefahr drohte im oberen Bereich. Er kannte die Treppen genau, holte er doch für die alten Bewohner im Winter die Kohlen herauf.

Die radix-blätter und die Bürgerbewegung 1989 Einmal stand Ludwig Mehlhorn mit mir an seinem Bücher-regal. Wir zogen einen Band von Paul Celan heraus, eine in Ostberlin verlegte Sammlung von Gedichten unter dem Titel »Die Silbe Schmerz«. Über eines der Gedichte spra-chen wir später intensiv. Es trägt den Titel »Radix, Matrix«. Der jüdische Dichter deutscher Sprache gedenkt darin sei-ner ermordeten Eltern. Radix, Wurzel – die Phantasie ging über, die Not machte erfinderisch und Ludwig akzeptierte den Gesamttitel der bald erscheinenden Reihe. Neue kri-tische Gedanken sollten sich verteilen. Die radix-blätter waren geboren – das selbst verlegte Periodikum in einer Auflage von

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100 bis 3.000 Exemplaren, das am Rande der Lesungen, in Wohnungen, und in Kirchenkreisen verteilt wurde.

Ludwig Mehlhorn versammelte polnische und deutsche Texte im Buch »Oder« 1987, und übersetzte die polnischen. Und der Slawist Joachim Zeller und Michael Bartoszek halfen mit. »Oder« – Grenzfluss und Alternative – der pol-nische Erstbeitrag zum Sturz des Kommunismus. Ludwig Mehlhorn konnte unter seinen Freunden und zu deren Erschrecken sagen: »Ich bin Antikommunist.« Er wusste um die Missverständlichkeit dieser Äußerung. Darum sprach er nicht öffentlich davon. Er wollte Nazibefürwortern und Geschichtsleugnern nicht im Leisesten die Hand reichen. Er wusste darum und argumentierte, dass sich die Zerstörungs-kräfte der beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in nichts nachstünden. Die Gründung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt am 12. September 1989 war darum, mit seinen Worten ausgedrückt, längst überfällig.

Der Physiker Hans-Jürgen Fischbeck hatte den Entwurf einer Erklärung formuliert und mit Christa Wolf diskutiert. Während der Gründungsversammlung in der Wohnung von Hannelore und Michael Bartoszek fand die Aufforde-rung, zu einer solidarischen Gesellschaft gelangen zu wollen, seine Zustimmung. Da war es wieder, das Wort, das durch die 1980er Jahre getragen, eine machtvolle Gewerkschafts-bewegung, den Runden Tisch und Demokratie hervorge-bracht hatte, Solidarność. Im ostdeutschen Diskussionszu-sammenhang dachte der Gründerkreis an eine Reform des staatssozialistischen Systems von unten, in zivilgesellschaft-licher Perspektive. In den Tagen der zahlreichen Treffen der Bürgerbewegung fühlte sich Ludwig Mehlhorn zunehmend befreit. Gemeinsam mit Konrad Weiß brachte er die Dis-kussion um die deutsche Einheit für Demokratie Jetzt voran. Der Drei-Stufen-Plan zur deutschen Vereinigung wurde erarbeitet. Mehlhorns Aktivitäten und die erstaunliche Zahl der Manuskripte und Veröffentlichungen aus den Jahren

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1988 erschien in den radix-blättern »Aufrisse Zwei. Über das Nein hinaus« mit der Titelgrafik von Friedar Heinze

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1989 –93 sind verblüffend. An seine Familie nach Bernsbach sandte er weiter hin Post mit dem, was er für wichtig hielt. So findet sich in der entsprechenden Kiste in Bernsbach ein aufschlussreiches Interview, das Giovanni di Lorenzo für die Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 8. Dezember 1989 mit ihm führte. Auf die Frage »Welches ist denn Ihre Alter-native?« antwortete Ludwig Mehlhorn: »Demokratisierung ohne Adjektiv, ohne Wenn und Aber. Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts für die hier lebenden Menschen, aber keine Kolonialisierung, auch keinen Glanz und Glimmer durch den Westen. Wir müssen die Chance haben, jenseits von der Macht des Geldes zu einer demokratischen Ordnung zu kommen. Und die Aporie besteht darin, daß ich nicht weiß, ob die Zeit reicht.«

Deutsch-polnische Initiativen werden nun neu formu-liert und umgesetzt, seit Juni 1989 verstärkt die Idee für eine Begegnungsstätte am Widerstandsort des Kreisauer Kreises in Krzyżowa nahe Wrocław.

1989 und die FolgenIn den ersten Januartagen des Jahres 1990 reisen DDR-Oppositionelle, unter ihnen Ludwig Mehlhorn, zur demo-kratisch gewählten Regierung nach Warschau. Die polnische Opposition hatte die Macht übernommen und Bärbel Bohley und Jens Reich vom Neuen Forum, Demokratie-Jetzt-Gründer Michael Bartoszek, Edelbert Richter vom Demokratischen Aufbruch und Wolfgang Templin führten Gespräche mit Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, dem Fraktionsvor-sitzenden der Solidarność-Fraktion im Parlament, Bronisław Geremek, dem Publizisten Adam Michnik und anderen. Michnik plädierte für einen gemeinsamen Auftritt der Opposition bei den anstehenden ersten freien Wahlen in der DDR. Ludwig Mehlhorn kannten alle. In einem weitsich-tigen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Januar 1990 schreibt Ludwig Mehlhorn über das deutsch-polnische

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Verhältnis und reflektiert die Warschauer Gespräche. Gegen Ende führt er aus: »Was bisher ideologische Diktatur und Repressions apparat im Zaum hielten, kann sich nun ausleben. Auf jeden Fall fürchtet man in Polen im Falle einer schnellen deutschen Einheit die Stärkung des rechtsextremistischen Wählerpotentials und gegen eine solche Analyse lassen sich kaum stichhaltige Argumente anführen.« Vom Januar 1990 stammt eine Grundsatzerklärung zum deutsch-polnischen Verhältnis auf Initiative des Klubs der katholischen Intelligenz Warschau und des Berliner Kreises des Anna-Morawska-Seminars in der Aktion Sühnezeichen. Ludwig Mehlhorn gehörte auf deutscher Seite maßgeblich zu den Verfassern. Der Demokratisierungs prozess in beiden Ländern wird gewürdigt, die Grenze an Oder und Lausitzer Neiße für dauerhaft erklärt und antipolnisches Ressentiment zurückge-wiesen. Die polnischen Unterzeichner trugen auch folgende Passage zum Selbstbestimmungsrecht mit: »Allein von den Deutschen in der DDR wird es abhängen, ob sie sich für die Erhaltung der vollen staatlichen Souveränität, für eine partnerschaftliche Vertragsgemeinschaft mit der Bundesre-publik Deutschland oder für die Vereinigung im Rahmen eines staatlichen Organismus entscheiden.«

Ludwig Mehlhorn nahm 1992 die Stelle des Studienleiters für Ostmitteleuropa der Evangelischen Akademie Berlin-Bran-denburg an. Tagungen, Gedenkstättenseminare, Studienfahrten wurden nun sein erstes Handlungsfeld. Seine Stellungnah-men zu aktuellen Konflikten fielen bisweilen deutlich aus und könnten ein eigenes Buch füllen. Friedrich Schorlemmer kriti-sierte im Berliner Tagesspiegel vom 25. April 1993 den Prozess gegen Hans Modrow bezüglich der Wahlfälschungen bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989. Ludwig Mehlhorn ging es in seiner Antwort um die »dringend notwendige Debatte über die Verankerung demokratischer Werte in einer postkommu-nistischen Gesellschaft«. Die Aufdeckung dieser Wahlfälschung war bekanntlich der Anfang der Demokratiebewegung in Ost-

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deutschland und dies sollte in Erinnerung bleiben. Schorlemmer bat die 98 Prozent der Ostdeutschen, die durch Wahlbeteiligung die Wahl einst halfen zu fälschen, dem politischen Schauspiel dieses Prozesses ein Ende zu bereiten. Die Debatte werde »eher erschwert«, so die unveröffentlichte Antwort von Mehlhorn, »wenn 98 Prozent der DDR-Bevölkerung für die Wahlfäl-schung mitverantwortlich sein sollen«. Die Einmischungen Ludwig Mehlhorns zeigen vor und nach 1989 eine Kontinuität. Es sind die bohrenden Fragen, die er auch gegenüber naheste-henden Menschen zum Ausdruck bringen konnte. Mehlhorn weiter: »Und die übrigen 2 Prozent (vielleicht auch 10 Prozent, die in der Wahlarithmetik einer Diktatur bereits eine heim-liche Mehrheit bilden würden – die Wahlen waren ja gefälscht, was auch Schorlemmer nicht bezweifelt) sollten sich die Frage vorlegen, warum es ihnen nicht gelang, die Gesellschaft zu mehr Widerstandsfähigkeit gegen das ›kaputte System‹ und die ›gescheiterte Ideologie‹ zu veranlassen, statt schon immer alles besser gewusst zu haben.« In seiner Nachdenklichkeit und Eindringlichkeit fand er in der Akademie Partner. Der Direktor Rolf Hanusch unterstützte seine Reisen und Begegnungspro-jekte in verschiedene Länder des Ostens. Hanusch gehörte zu den wenigen westdeutschen Theologen, die die biographisch eingeschriebene Unbedingtheit vieler Bürgerrechtler verstanden, weil er selbst jahrelang zivilgesellschaftliche Projekte in Hessen und Bayern trotz Gegenwind entwickelt hatte.

Das polnische Krzyżowa und die LebensgeisterUnter den vielen Projekten steht in den 1990er Jahren eines im Vordergrund, die breit angelegte Dauerausstellung im Schloss Kreisau. An einem historischen Ort des Widerstandes gegen Hitler fügt die Ausstellung Beispiele des Widerstandes gegen den Faschismus und gegen den Kommunismus in einer europäischen Perspektive zusammen. Dass Jacek Kuroń, intellektueller Kopf der antitotalitären Idee der unabhängigen, parallelen Gesellschaft und Arbeitsminister in der ersten frei

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gewählten polnischen Regierung, zur Ausstellungseröffnung am Juni 1997 anreiste, machte Ludwig Mehlhorn und die Mitarbeiterinnen des Projekts einfach glücklich. In Anleh-nung an einen Buchtitel von Václav Havel steht die Ausstellung unter dem Motto »In der Wahrheit leben«. Ludwig Mehlhorn wäre nicht er selbst, hätte er nicht nach den wirklichen Hin-tergründen für das Zustandekommen der Begegnungsstätte gefragt. In einem Beitrag für eine Festschrift zum 80. Geburts-tag von Mieczysław Pszon, dem langjährigen Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny, vom September 1995, erwähnt er: »Pszon war Berater von Tade-usz Mazowiecki, dem Dissidenten und ersten demokra-tisch gewählten Ministerpräsidenten Polens, und hatte den Ort Krzyżowa, also das Kreisauer Schloss des Hitlergegners Helmuth James Graf von Moltke, gegenüber der deutschen Seite als Begegnungsort für ein Treffen Helmut Kohls und Mazowieckis im November 1989 durchgesetzt.« Da waren sie wieder, die polnischen Dissidenten, die diesmal die Bundes-regierung auf die deutsche Widerstandstradition in Schlesien hinwiesen.

Ludwig Mehlhorn verbrachte ein glückliches Jahrzehnt und versandte an seine Familie und an den Freundeskreis eine Einladung zu seinem 50. Geburtstag mit den Worten »Der

Stephan Bickhardt und Ludwig Mehlhorn am 21. August 2010 in Prag, im Garten des Wallen­steinpalais

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Wahrheit tapfer ins Auge sehen – Ihr wisst, dass das fast immer eine meiner starken Seiten war.« Ludwig Mehlhorn setzte seinen Weg beharrlich fort. Weiter ging er den Dingen auf den Grund, manchmal bis an die Grenze der Überforderung. Beispielsweise begründete er die deutsch-russischen Herbst-

Ludwig Mehlhorn mit seiner Frau Heimgard und seinen Neffen Robert und Matthias auf dem Kollwitzplatz im März 2011

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gespräche, eine jährlich stattfindende Begegnungstagung für zivilgesellschaftliche Gruppen. In Gremien, die Erinnerungs-arbeit und Verständigung sowie Demokratie beförderten, wurde er berufen, Preise für sein Engagement erhielt er.

Im Oktober 2010 musste er sich – im 61. Lebensjahr – einer Krebsdiagnose stellen. Er durchschritt den Lebens-raum, einen möglichen Sterbeprozess im Bewusstsein. Er vermochte es nicht, seinen polnischen Freunden aus eigener Kraft von der Krankheit zu erzählen. In seine Tapferkeit kam Unruhe hinein, die er in den Lebensjahren zuvor so aktiv für andere mobilisieren konnte. Seine Frau Heimgard und einige Freunde und Weggefährten erlebten, mit welcher Klarheit er für sich Wesentliches ergriff, die Kantaten von Johann Sebastian Bach, die Psalmen, die Autobiographie von Jacek Kuroń, die Gedichte von Czesław Miłosz, die Berliner Parkanlagen, Gespräche. Zu Festen bei Freunden erschien er. Schmerz musste er zulassen, Klinikaufenthalte akzeptieren. An den letzten vier Tagen seines Lebens kamen Freunde und Verwandte zu ihm, wurde Mahlzeit gehalten, über die Stasi gespottet, Sławomir Mrożek und Dietrich Bonhoeffer vorge-lesen. Auch Stille war und Kampf. Ludwig Mehlhorn starb in einem Kreis von Familienangehörigen, seiner Mutter, seiner Ehefrau und einer ganzen Reihe von Freunden und Kollegen. In diesem Buch wird auf seine Schriften abgehoben. Ludwig Mehlhorn zog Menschen aber in Begegnungen, zu allererst dies. Zu den Bildern der Gesprächs- und Aktionskreise gehört nun auch das Bild von Menschen, die bereit waren, ihn gehen zu lassen. Das hat er angenommen. Sein Bruder Matthias erzählt von der Abschiedsreise in das Erzgebirgsdorf. Meter-hoch lag der Schnee zu Silvester 2010 /11. Ludwig Mehlhorn habe lang am Grab seines Vaters verharrt.